115 Cathrin Nielsen VERWANDTE DES LEBENS. ‚INKLUSION‘ NACH FINK 1. Im Wintersemester 1952/53 hält Fink an der Universität Freiburg eine Vor- lesung unter dem Titel Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft. Weni- ge Jahre nach der sogenannten Stunde Null und dem ungeheuerlichen Kollaps der Humanität, der ihr voranging, beschäftigt ihn die Frage, wie �seltsam und fast unbegreiflich die ‚Lebensoffenheit‘ der Menschen füreinander ist und wie rätselhaft die in solchem Miteinander gründenden Gemeinschaftsformen.“1 Fink deutet die verschiedenen Formen und Belange des Lebens bekanntlich nicht nur sämtlich als �maskierte Formen der menschlichen Selbstbekümme- rung“, also des �einen brennenden Anliegens, das unser eigenes Leben ist.“2 Sondern die menschliche Selbstbekümmerung ist zugleich eine, die immer und zwingend im Plural geschieht. In das �brennende Anliegen, das unser ei- genes Leben ist“, sind die Anderen, ist der, die und das Andere immer schon hineingewoben. Und zwar nicht nur der Andere, mit dem wir unmittelbar zusammen leben und arbeiten, mit dem wir also unser Leben im Sinne ei- nes intersubjektiven Geflechts gegenseitiger Rechte und Pflichten, aber auch Freuden, Herausforderungen und Belastungen teilen. Dieses aus den Bezie- 1 Eugen Fink, Existenz und Coexistenz. Grundprobleme der menschlichen Gemein- schaft, hrsg. von Franz-Anton Schwarz, Königshausen&Neumann, Würzburg 1987, S. 15. 2 Ibid., S. 7. 116 PHAINOMENA XXVI/102-103 hungsfäden freier Einzelpersonen geknüpfte plurale �Mit-sein“ bildet ledig- lich eine Seite menschlicher Gemeinschaft, eine, die, wie Fink sagt, unserer Vereinzelung verschuldet ist und somit immer nur als ein (sozusagen nach- träglicher) Zusammenschluss von zunächst isolierten Individuen verstanden werden kann. Das geteilte Leben, das das soziale Urphänomen ausmacht, soll jedoch nicht nur ein geteiltes Leben von Kolleginnen und Kollegen sein, von Nachbarn und Zeitgenossen, von Ich und Du, ein �Bund der Lebenden“. Es umfasst auch die dunklen, schwer entwirrbaren Enden unserer Personalität. So weise auf den �kollektiven Charakter“3 unseres Seins bereits die schlich- te Tatsache, dass wir gezeugt und geboren wurden und sterben müssen, uns in unserem gegenwärtigen Dasein demnach als Angehörige einer Kette von Kommenden und Gehenden, von lebenden oder verstorbenen Müttern und Vätern, von Großeltern, aber auch von ungeborenen Kindern erfahren. Das Selbst bzw. die Person ist also bereits Teil einer Gemeinschaft, die es hervorge- bracht hat, und zwar einer Gemeinschaft, die in ihrer doppelten Konnotation von Sippe bzw. Stamm und Sexualität auf die �impersonalen Sinnmächte“ (wie Fink gerne sagt) des Todes und der Geschlechtlichkeit hinweist. Die Zugehö- rigkeit zu Geschlecht und Tod bezieht sich auf das Allgemeine am Mensch- sein; jeder wird durch eine Liebesvereinigung von Mann und Frau wiederum als Mann oder Frau geboren, gehört somit lebenslang einer fragmentarischen und ergänzungsbedürftigen Lebensgestalt an, und jeder ist sterblich; zugleich sind diese dunklen Tatsachen Bedeutungsquellen, auf die wir immer schon bezogen sind, ohne sie einfach durchschauen oder manipulieren zu können. Fink geht noch weiter, wenn er nicht nur eine primäre Gemeinschaft zwi- schen den Lebenden und den Toten, den Gegenwärtigen und den Ungebore- nen nahelegt, sondern sogar die Frage aufwirft, ob nicht am Ende die Lebenden überhaupt �nur deswegen füreinander und miteinander und gegeneinander zu sein vermögen, weil die kurze Spanne ihres gleichzeitigen Anwesens ih- ren Sinn aus den Bezirken der Abwesenden [schlicht: derer, die nicht mehr da sind]“4 erhalte. Diese Behauptung ist ziemlich stark: Es ist der wesentliche Bezug des Daseins zum Nicht-Präsenten, zum Nichtsein, zum Nicht-mehr- 3 Ibid., S. 227. 4 Ibid., S. 22. ONE HUNDRED PER CENT 117 CATHRIN NIELSEN sein bzw. Noch-nicht-sein, der dem aufs Ganze gesehen kurzen Zeitraum der Gleichzeitigkeit zwischen Menschen seinen Sinn verleiht. Nur aus diesem Be- zug sollen die Lebenden überhaupt füreinander und miteinander und gegen- einander sein können, also jenes fast unübersehbare Geflecht an Beziehungen entwickeln, das den Teppich des gemeinschaftlichen, intersubjektiven Lebens bildet. Im Gegensatz zu einer Ausrichtung menschlicher Gemeinschaft an den heute favorisierten Kriterien der Person, des Bewusstseins oder gemeinsamer Interessen, die sämtlich präsenzorientiert sind, betont Fink somit, dass sich das menschliche Leben mitsamt seinen Formen der Nähe nicht auf die Ge- genwart beschränkt, sondern zugleich einer Verbindlichkeit gegenüber dem Vor und Nach des Individuums entspringt. Wir stehen auch mit denen, die vor uns waren und denen, die nach uns sein werden, in der für das personale Verhältnis charakteristischen �Struktur der Umkehrung“, in der �der Andere der Andere meiner selbst ist“.5 Aber mehr als dass dieser Andere meiner selbst für den auf rätselhafte Weise verschwundenen konkreten Anderen steht, tre- ten die Besonderheiten seiner individuellen Existenz im Tod jäh zurück hinter seinem �Gewesensein“. Die Bedeutung des Toten bestimmt sich nicht aus dem, was er für uns im Leben gewesen ist, sondern aus diesem Gewesensein, dieser Weisung ins Nichts, die er als Toter in unser Leben zeichnet – ich selbst erfahre mich in dieser Weise als zugleich gegenwärtig wie gewesen, als im Hier und Jetzt da und doch zugleich im Blick nach vorne, auf das Kind, das mich über- leben, mit mir den Tausch des Lebens eingehen wird. In den alten Mythen ist für Fink die Symbolkraft der Zweideutigkeit des Todes noch präsent: als Ende und Anfang zugleich, als Vernichtung und (in Verbindung mit der Liebe) das ,un-endliche Versprechen endlicher Geschlechter‘. (Auf die Rolle des Mythos als der durch die Generationen fortgesponnenen Erzählung dieses intergene- rativen Verschuldetseins werde ich im Folgenden noch zurückkommen.) Grundsätzlich geht es Fink also darum, das Menschliche am Menschen nicht erst mit dem Individuum, dem Selbst, der Freiheit der Person beginnen zu lassen, sondern bereits mit seiner Geschlechtlichkeit und seinem Sterben- müssens. Wir verhalten uns zueinander nie nur als Personen, sondern immer 5 Ibid. 118 PHAINOMENA XXVI/102-103 aus dem Ganzen, und dieses Ganze ist charakterisiert durch das gegenwen- dige Zusammenspiel zweier Dimensionen, die Fink als �Anwesen“ und �Ab- wesen“ bzw. als die Lichtung distanzierter Unterschiedenheit und das Dunkel eines abgründigen, die Personalität auslöschenden Grundes beschreibt. Der Mensch lebt im mehr und weniger offenen Verstehen dieser gegenwendigen Grundbezüge, und es ist das Gerüst dieses Verstehens, welches die Lebensof- fenheit der Menschen füreinander bildet, ganz einfach, weil dieses Verstehen nie alleine stattfindet. 2. Der Mensch existiert also als ein Verhältnis, insofern er sich ‚verhält‘, und zwar nicht nur zu sich selbst oder zu anderen seinesgleichen, sondern zur Welt. Dies verleiht der Rolle des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Anderen und vice versa einen grundsätzlich neuen Sinn: Menschen begegnen einan- der nicht primär aus dem Horizont der Zwischenmenschlichkeit, sondern aus dem Akt des gemeinsamen Teilens von Welt, das heißt nicht aus einem inter- subjektiven, sondern aus einem �kosmologischen Akt“. Der Andere ist nicht nur der, mit dem ich konkrete innerweltliche Erfahrungen teile, sondern der Andere ist der, mit dem ich die ebenso unruhige wie unhintergehbare Selbst- betroffenheit menschlicher Existenz teile, die darin besteht, ein �Weltwesen“, ein ens cosmologicum zu sein. Dieses Miteinandersein bzw. das Teilen einer jeden von uns umfangen- den und tragenden Offenheit des Lebenssinnes ist nach Fink ein eigenartiges und begrifflich nur schwer fassbares Phänomen. Es bedeutet, dass wir ein- ander grundsätzlich �aufgetan“ sind, weswegen man das Gemeinschaftliche der menschlichen Gemeinschaft auch �als eine Weise der Unverborgenheit“6 betrachten könne. Das menschliche Leben existiert in einer ständigen ge- meinschaftlich vollzogenen Selbstvergegenwärtigung. Wir sind ein Gespräch, genauer ein unablässiges �Aufeinanderhören und Miteinanderreden“7, ein communicare (mit-teilen) in die und als Pluralität, das dialogisch geschieht, 6 Ibid., S. 39. 7 Ibid., S. 8. ONE HUNDRED PER CENT i t 119 CATHRIN NIELSEN auch wenn dieser Dia- oder Polylog nicht zwingend und nur im Wort statt- findet, sondern in großen Teilen (aber das wäre ein Thema für sich) über die symbolische Welthaltigkeit der Dinge. �Keiner“, so Fink, �steht allein dem Leben gegenüber, […]. Immer stehen wir in einem Feld gemeinsamer In- terpretation, – und wo einer sich vielleicht ganz ,original‘ wähnt, sind längst alte Meinungen um ihn, ja in ihm. Das menschliche Miteinandersein ist ein Miteinander im Raume der Lebenslehre, diese bildet gleichsam den gemein- samen Boden.“8 Den Begriff der �Lebenslehre“ borgt sich Fink bei Sokrates, der Phaidros gegenüber in dem gleichnamigen Dialog bekanntlich erklärt, die Bäume könnten ihn nichts lehren in Bezug auf die Frage �Wer bin ich?“, wohl aber das Beobachten und Befragen der Anderen. Sie alle sind �existierende und in die Unruhe der Existenz getauchte Interpretation[en] des Daseins“9 und als solche Lehrinnen und Lehrer dessen, wer wir sind: �[W]ir sind als diese Deutung; wir leben in ihr, wir geschehen als die Geschichte der Interpretation des Menschseins […].“10 Fink bezeichnet dieses vielstimmige wechselseitige Deuten und Gedeu- tetsein als eine Spiegelung gewissermaßen durch den Anderen hindurch auf mich selbst zurück, die mich von Anfang an (ins Ganze) ‚er-gänzt‘, ohne dass ich meinem endlichen, fragmentarischen Dasein damit entkommen könnte. Ganz im Gegenteil bekräftigt sie den Symbolcharakter des menschlichen Da- seins, also das Bruchstückhafte unserer Existenz, die als solche bekundet, dass wir eben nicht nur das sind, was wir zu sein scheinen: Individuen im Hier und Jetzt. In dem Maße, in dem ein Mensch einen anderen anspricht und von ihm angesprochen wird, wird er selbst (wie Fink einmal sagt) �vom Anderen her ver-andert“.11 Weil jeder von uns jeweils auf sich zurückgeworfen ist, sind wir nie das Ganze, sondern finden uns ausgesetzt in das Ganze – und eben diese gemeinschaftliche, aber eben zugleich individuelle Aussetzung zieht die jewei- lige �Welthabe“ nach sich, über die wir uns in unserem Sein wechselseitig ‚auf- zeigen‘ oder belehren. Das Selbstverständnis des Menschen und seine jeweilige 8 Ibid., S. 45. 9 Ibid., S. 44. 10 Ibid., S. 48. 11 Fink, Eugen, Pädagogische Kategorienlehre, Königshausen& Neumann, Würzburg 1995, S. 177. 120 PHAINOMENA XXVI/102-103 Lebensauslegung sind dabei wie gesagt nie solipsistisch (als könne man sich aus sich allein heraus deuten), sondern immer und notwendig eine vielstim- mige Deutung des menschlichen Lebens überhaupt, die sich letztlich auf eine Welt bezieht. Denn dass ich mir selbst immer auch entzogen bin (und dem- nach deuten muss), oder dass, formaler ausgedrückt, Ich und Du als �Welt- wesen“ in einem Verhältnis zueinander stehen, das, wie Fink sich ausdrückt, in einer �großen Lebensflutung“ wurzelt und daher Formen der Nähe in sich birgt, die wiederum im Entzug gründen – all dies macht uns zum symbolon für den �Riss“, der durch die Welt selbst geht. �Der kosmische und der existenziale Weltbegriff “, so Fink, �durchscheinen einander immerzu, weil die Welt eben nicht dort und der Mensch hier, der Kosmos nicht weit draußen und das Men- schenland in nächster Nähe ist. Der Mensch ist das ausgesetzte Wesen, weil er als das endlichste, um seine Endlichkeit wissende Einzelding hinaussteht ins Grenzenlose und Ungeheure und sich dennoch dagegen behauptet: […]. Die aenigmatische Zweideutigkeit des Weltbegriffs bildet den Hintergrund und die Spannweite unserer ganzen Besinnungen auf die menschliche Gemein- schaft. Denn das Miteinandersein bedeutet nichts anderes als das menschli- che In-sein in einer Welt, die wir teilen – und doch nicht zerstücken.“12 Das Besondere von Finks Weltbegriff beruht gerade darin, dass die änigmatische Zweideutigkeit aller Verhältnisse eine solche Zerstückung vermeidet und statt dessen die komplexe Verschränkung einander entgegengesetzter Richtungen ausbuchstabiert: Wir verhalten uns immer aus dem �Riss“ heraus, das heißt, sowohl aus der Vereinzelung bzw. Individuation wie aus dem Gemeinsamen der ‚panischen Entrückung‘, aus der Freiheit wie der Natur, aus einem getrüb- ten Licht und einer aufgelichteten Finsternis. Das heißt, wir existieren in einer Pluralität der Geschichten, in und als kommunikative �Welthabe“, in der Weise einer Selbstinterpretation, die grundsätzlich ebenso von Erkenntnis und Licht durchdrungen ist wie von Dunkel, von Freiheit und Verstehen ebenso wie von Irrtum, Missverständnis und Verstummen. 12 Fink, Existenz und Coexistenz, op. cit., S. 82. ONE HUNDRED PER CENT 121 CATHRIN NIELSEN 3. Fink hat dieses Gespräch, das wir sind (wie man in Anlehnung an Hölderlin sagen könnte: �Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander“), das man nicht umgehen kann, wenn man über menschliche Gemeinschaft nachdenkt (weil sich eben dieses Gespräch immer schon einmischt und mit-spricht, weil wir gar nicht anders können, als zu unsresgleichen zu sprechen) kurz vor seiner Emeritierung auf eine interessante, selbst irgendwie vermittelt ,polylogische‘ Weise noch einmal aufgegriffen.13 Ich meine seine philosophische Deutung von Cesare Paveses Gespräche mit Leuko. In diesem Buch lässt der 1950 durch Selbstmord aus dem Leben geschiedene Pavese in knapp dreißig dialogischen Miniaturen Gestalten aus der griechischen Mythologie auftreten: Götter, Ken- tauren, Chimären und Nymphen, die miteinander, aber auch mit sterblichen Männern und Frauen, die sich wiederum in ganz unterschiedlichen Lebensal- tern befinden, ins Gespräch treten. Thema ist das menschliche Dasein in sei- nem Paradox, zugleich �weltoffen“ zu sein wie �erdoffen“, das heißt geöffnet gegenüber etwas, das sich dem phänomenologischen und hermeneutischen Zugriff entzieht und dennoch auf eigentümliche Weise im Sein des Menschen da ist. Immer neu und immer anders geht es in diesen szenischen Auslotun- gen mit anderen Worten darum, wie der Mensch das, was ihm uneinholbar vorausliegt, was ihn durchdringt, durchhaust und durchwirkt, für sich fassbar zu machen versucht – ein kaum systematisierbares Kaleidoskop menschlicher Bezüge, Widerfahrnisse und Pathologien im Zusammenhang eines Weltgan- zen, das eine Seite des Lichtes, der Grenzen und Unterschiede kennt und eine nächtliche, ‚panische‘ Seite der Aussetzung und des Verstummens. Fink liest diese Miniaturen im Sinne einer, wie er selbst sagt, �unaufhörliche[n] Spiegelung“,14 als eine Art kaleidoskopisches, nie zu vollen- dendes Selbstgespräch des Menschen – aber nicht als fürsichseiendes Subjekt, sondern als vielstimmiger Chor einer geschichtlich-mythischen Existenz. Er öffnet die Anthropologie somit hin zur Geschichte, genauer, hin zu einem In- 13 Eugen Fink, �Zu Cesare Pavese Gespräche mit Leuko“, in: Epiloge zur Dichtung, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1971, S. 53–112. 14 Ibid., S. 58. 122 PHAINOMENA XXVI/102-103 Geschichten-verstrickt-Sein, das sich dem dunklen Geheimnis der Sterblich- keit und damit dem unablässigen, umfänglichen Tausch verdankt, der das Le- ben selbst darstellt, den Tausch von Leben und Tod. Bei Pavese entdeckt Fink die Möglichkeit, diesen Tausch (oder Schuldzusammenhang)15 in Narrativen zu fassen, die als Existenzchiffren, als menschlich-allzumenschliche Antworten auf die todübergreifende Kontinuität des Lebens zu lesen sind. Die mythologi- schen Gestalten, die Pavese auftreten lässt, stellen somit selbst Verdichtungen von Existenzbezügen dar; die Zeit des Mythos ist mit anderen Worten nicht die vergangene Antike, sondern jener ewige Austausch (in einem doppelten Sinne: als Lebenstausch und als Gespräch) zwischen den Lebenden und den Toten, der sich nicht dem Gegensatz und der Chronologie verdankt, sondern ihrem Zugleich. Auf diese Weise holt Fink nicht nur den Mythos als eine Form der Selbstverständigung in die philosophische Reflexion zurück, in das zur Sprache kommen kann, was sich der diskursiven Verhandelbarkeit entzieht. Mit der Einsicht in den generativen Schuldzusammenhang des Lebens, also die jeder Form von Gemeinschaft zugrunde liegenden Tatsache, dass sich Leben ande- rem Leben verdankt, rehabilitiert er zugleich eine ethische Grundeinsicht, die alles sachliche Wissen von Anfang an um ein spezifisches �Mitwissen“ berei- chert – eben jenes �Weltteilen“, von dem oben die Rede war, das sich wie eine Grundzeichnung in allen menschlichen Belangen niederschlägt und in dem der Andere immer schon und unausweichlich mitgewusst wird. Das Teilen von Welt ebenso wie der Tausch des Lebens sind etwas, was sich den Göttern grundsätzlich entzieht. Interessant an diesen kleinen, vertikal zur Zeit verlaufenden offenen Mythen (im Sinne von ewig weitergewobenen Erzählungen), in die sich Pavese und Fink und jeder auch von uns irgendwie deutend einbringt, ist für mich gerade das Herausstellen dieser menschlichen Mitwisserschaft als einer ganz eigene Form der �Unsterblichkeit“ gegenüber der Ewigkeit der Götter. Es ist eine Verwandtschaft des Lebens im Sinne des bios, die sich den Göttinnen und Göttern entzieht und auf die sie bei Pavese daher auch zumeist verständnislos und voller Spott oder aber neidisch reagie- 15 Dazu teilweise auch mit Blick auf Fink: Stephan Grätzel, Dasein ohne Schuld. Di- mensionen menschlicher Schuld aus philosophischer Perspektive, Vandenhoeck & Rup- recht, Göttingen 2004. ONE HUNDRED PER CENT 123 CATHRIN NIELSEN ren, und höchstens in diesem �schiefen Blick“ fast, aber immer nur fast in die Nähe des Menschlichen geraten. (Bios als �Lebensform“ oder �Menschenle- ben“, also nicht das Leben im Sinne von griechisch zoe – das ewige Leben des Vegetativen oder der Götter, zoe im Sinne des ‚nackten‘, in sich kreisenden Lebens kommt ja auch den Göttern zu). Ich möchte im Folgenden zwei kleine Beispiele geben für die Art dieser dialogischen Spiegelung. Um verschiedene Weisen der Zeitlichkeit und die den Sterblichen vorbehaltene Dimension des Gedächtnisses geht es zum Bei- spiel in einer Zwiesprache zwischen Odysseus und Kalypso (�Die Insel“)16. Der schiffbrüchige Odysseus befindet sich auf der Insel der Göttin Kalypso, einer ganz in die Zeitentrücktheit versunkenen Gottheit, deren Insel Fink als ihrer- seits �schlafend in der Zeit“ charakterisiert. In diesen Schlaf, in diese �Stille des Pan“ (dem Hirtengott Pan gehört die Stunde des Mittags, in der die Zeit für einen Moment lang stehenbleibt und Lebende und Tote miteinander ver- mischt – in unserem Fall sind es Sterbliche und Unsterbliche) tritt nun Odys- seus ein �wie ein Traum“. Vom Moment dieses Eintritts an begehrt die Göttin bei Pavese danach, ihren �Schlaf “ (also ihre Göttlichkeit) mit Odysseus zu teilen, um sie �ertragen“ zu können, und beginnt damit das Erwachen in die Traumlosigkeit in dem selben Maße zu fürchten wie die Menschen den Tod. Odysseus lehnt diese �Teilhabe“/dieses Teilen der zeitlosen Gegenwart (�Insel des Augenblicks“) jedoch ab, da er ein anderes, ein �menschliches Schicksal“ in sich trägt. Im Gegensatz zu Kalypso ist er nämlich �auf die Zukunft ausge- richtet“, genauer auf die Heimkehr zu seiner Frau Penelope, die ihm erinnernd gegenwärtig ist. Seine Seinsweise als die eines Sterblichen ist somit nicht die Zeitentrücktheit, sondern die, wie Fink sagt, unstillbare Beunruhigung durch einen �Vorgriff in die Zukunft und einen Rückgriff auf die Vergangenheit“ als seine Form der �Unsterblichkeit“, die er nicht gegen die göttliche Seinweise ,tauschen‘ kann und möchte. (Hier sind kein Tausch, keine Verwandtschaft, keine Mit-Teilung möglich.) In einer anderen dieser mythischen Miniaturen oder Miniatur-Narrative spöttelt Leukothea (Leuko, die Namengeberin von Paveses Dichtung) gemein- sam mit Kirke über diesen merkwürdigen �Ernst der Zukunft“ und die Unfä- 16 Fink, �Zu Cesare Pavese Gespräche mit Leuko“, op. cit., S. 98ff. 124 PHAINOMENA XXVI/102-103 higkeit der Sterblichen, sich ganz dem Augenblick hinzugeben. Ihre unabläs- sige Vorbereitung auf den Tod, ihr maßloses Angezogenwerden von ihm stelle zwar, wie Kirke trocken bemerkt, eigentlich eine �Wiederholung“ dar, da sie ja als Sterbliche um dieses ewige Ankommen dieses Sterben immer schon wüss- ten – aber dieses Wissen sei für den Sterblichen eben nicht als �an sich“ lebbar, sondern immer nur individuell, �für mich“. Eben dies ist nach Fink auch der Grund, weshalb sich Odysseus weder in ein Schwein noch in einen Gott habe verwandeln lassen, sich mit der Halbgöttin also weder als Tier noch als Gott gepaart, sondern sie eines Abends mit dem Namen Penelopes angesprochen, wodurch er einerseits ihre abgründige sexuelle Anziehungskraft gebannt und andererseits in ihr die menschliche Regung der Scham hervorgerufen und sie somit �fast zu einer Sterblichen gemacht“ habe. Indem er sich weder am gött- lichen noch am tierischen Sein orientierte, sondern umgekehrt die Göttin mit dem Namen einer Sterblichen ansprach, hat Odysseus in das geschichtslose Dasein der Kirke eine Artikulation der Zeit eingezeichnet, als die er nun ihr selbst (wenn auch nur als traumartige Erscheinung) auch nach seiner Abreise gegenwärtig bleiben wird: das Moment der Erinnerung. Platon greift bekanntlich immer dann auf Mythen zurück, wenn das The- ma keine andere Form der Annäherung erlaubt, weil es uns zu nah ist, ja weil wir selbst es sind, über die da verhandelt wird. Statt also mit Begriffen, Kategorien und Argumenten umzugehen, die sich üblicherweise auf Gegen- stände außerhalb von uns beziehen (und uns selbst auf diese Weise zu verge- genständlichen), erlauben es Narrative wie die alten Mythen oder auch ihre Weiterschreibungen durch Autoren wie Cesare Pavese, konkrete Beispiele zu geben für das, was dann viel später (auch in einem sachlichen Sinne später) zu einem philosophischen Terminus wird. Hegel legt die Einsicht nahe, dass philosophische Begriffe letztlich als das Ergebnis bzw. die Frucht ihrer eige- nen Geschichte verstanden werden müssen. Dies würde wahrscheinlich auch Fink unterschreiben, aber anders als bei Hegel wäre es nicht die eine Vernunft in der Geschichte, die sich sukzessive in erfahrungs-‚gesättigten‘ Begriffen niederschlägt. Wie ich es eben anhand seiner Ausdeutung der Pavese’schen Miniaturen deutlich gemacht habe, wäre es eher ein ganzer Fächer von Exis- tenzchiffren, die durch den ontologischen Status der Zerrissenheit, den der Mensch innehat, unablässig fortgeschrieben werden. Weil die Geschichte die- ONE HUNDRED PER CENT iff letztlich als das Ergebnis bzw. die Frucht ihrer ig nen Geschichte verstanden w rden müssen. Dies würde wahrscheinlich au Fink unterschreiben, aber anders als bei Hegel wäre es nicht die eine t abe, äre es eher ein ganzer Fächer von Ex istenzchiffren, die durch den ontologischen Status der errisse eit, 125 CATHRIN NIELSEN ses �In-Geschichten-verstricktseins“ im Gegensatz zu Hegels Geschichte der Vernunft also nie endet, impliziert sie nicht nur unzählige Perspektiven, son- dern auch philosophische Revisionen, Neuvergewisserungen, Umdeutungen und ständige ,Kehren‘. Eine zentrale Revision stellen dabei Finks kritische Überlegungen zur Selbstdeutung des Menschen als eines animal rationale dar und der mit ihr ver- bundenen metaphysischen Ausrichtung am Tier bzw. Göttlichen (heute könn- te man sagen: an einem naturwissenschaftlich vermessbaren Körper und einer körperlosen Rationalität). Wir müssen nach Fink endlich damit aufhören, un- ser Selbstverständnis aus dieser Polarität gewinnen zu wollen, denn anders als das rein Physische und der Gott – die beide zoe sind, Leben in reiner, in sich kreisender Gegenwart – ist der Mensch (wie Odysseus) ein �Irrfahrer“, der �immer den Weg sucht und auf Heimkehr hofft“.17 Sein ausgesetztes Dasein ist daher prinzipiell nicht vom, heilen‘ Sein des Tieres oder Gottes zu fassen, und zwar nicht, weil es im Gegensatz dazu ein versehrtes oder unvollkommenes Dasein wäre, sondern weil der Mensch um seine Versehrtheit, Fragmentari- tät und Endlichkeit weiß. Er weiß um etwas, das sich dem Wissen, Gespür und Selbstverständnis der Götter (hier der Kalypso) und des Animalischen entzieht (beide, Tier und Gott, rücken in Paveses Dialogen nebenbei gesagt in eine fast unheimliche Nähe). Dieses Wissen um die Vergänglichkeit bringt Lebensformen und Zeitlichkeiten hervor, die sich vom In-sich-Kreisen der zoe unterscheiden, Lebensformen keines ,Kentauren‘ aus einem Naturkörper und einem körperlosen Geist, sondern Seinsweisen eines �Weltwesens“, die über- haupt erst das konstituieren, was wir �menschlich“ nennen würden: Zeitlich- keit, List, Abstandnahme, Krieg, aber auch Scham, Trauer, Hoffnung, Unruhe, Sehnsucht, Gedächtnis. In jeder dieser Regungen ist der Mensch ‚welthaft‘, das heißt, in keinem Aspekt seiner selbst ,weltlos‘, wie Fink betont – �auch nicht der schlafende Säugling“, auch nicht der Sterbende, auch nicht der (wie er sagt) �Primitive“ oder Wilde.18 Umgekehrt habe vielmehr die metaphysische Deu- tung des angeblich weltlosen, ungelichteten Daseins mit den Kategorien einer vormenschlichen Natur dazu geführt, dass das Menschliche bis heute �einsei- 17 Fink, Existenz und Coexistenz, op. cit., S. 84. 18 Ibid., S. 202. 126 PHAINOMENA XXVI/102-103 tig […] in unseren ‚Geist‘, in die Wachheit und Selbstheit, in unser vereinzeltes Selbstbewußtsein“19 gelegt werde. Mit dieser Feststellung kehren wir an den Anfang der Überlegungen zu- rück und zu der von Fink in Existenz und Co-existenz formulierten Aufga- be, das Wesen der menschlichen Gemeinschaft gerade nicht primär von dem Zusammenschluss vereinzelter souveräner Subjekte zu denken, sondern von der Lebensoffenheit her, die darin gründet, dass wir alle – vom schlafenden Säugling bis zum Sterbenden – gleichermaßen Weltwesen sind, Bewohner des Kosmos (polites kosmou). Was es bedeuten könnte, diese Kosmosbewohner- schaft wechselseitig zu leben, möchte ich nun anhand eines konkreten Bei- spiels (oder seinerseits einer story oder �Existenzchiffre“) andeuten. Ich meine unser Verhältnis zum �Idioten“, zum geistig Behinderten oder politisch kor- rekt-euphemistisch �Andersbegabten“, den wir bis heute mehr oder weniger als ein ‚weltarmes‘ Geschöpf betrachten, als jemanden, der in einer anderen, eigenen Welt lebt, einer Welt, die dem göttlichen, tierischen oder gar pflanzli- chen Leben näher ist als ‚unserem‘, und der nicht selten als Projektionsfläche dient entweder für eine tierische oder aber göttliche Selbstzufriedenheit (das Kreisen in sich). Mein Erzähler und Kombattant wird dabei der japanische Autor Kenzaburo Ôe sein – einem seiner Romane habe ich übrigens auch den Titel meines Beitrages entlehnt. 4. In einer gewissen Analogie zu Paveses Gesprächen mit Leuko finden wir nämlich auch in der Erzählwelt Ôes ein Kaleidoskop von dialogischen Selbst- vergewisserungen, hier nicht zwischen Göttinnen, Chimären, Nymphen, Halbgöttern und Sterblichen, sondern zwischen Menschen. Genauer: zwi- schen Müttern und Vätern, Kindern, Schwestern, Brüdern usw. von pflege- bedürftigen Angehörigen bzw., noch genauer, zwischen zahllosen Masken des Autors selbst, der sich im permanenten Selbstgespräch über Jahrzehnte an eine ethische Haltung heranarbeitet, in der es ihm gelingt, seinem behinder- ten Sohn aus einer gemeinsamen �Weltoffenheit“ heraus zu begegnen. Hikari 19 Ibid. ONE HUNDRED PER CENT 127 CATHRIN NIELSEN (sein Sohn) wurde mit einer schweren Schädelmissbildung geboren, und von dem Moment an, in dem die Ärzte den Eltern auf die ihnen eigene sachliche Art mitgeteilt hatten, ihr Sohn werde im besten Fall eine �pflanzenhafte Exis- tenz“ führen können, fühlt sich Ôe bemüßigt, zum Sprachrohr eines �Idioten“ im buchstäblichen Sinne zu werden: der idiotes ist ja seiner ursprünglichen Bedeutung nach jemand, der in seiner eigenen Welt lebt, einer Welt, die nie zu einer �Lichtung“, nie zu einer öffentlichen, zu einer geteilten Welt werden kann. Der Vater begleitet das Erwachsenwerden seines Sohnes mit einer fa- cettierten Aufmerksamkeit und dem ständigen Durchspielen von Situationen, Eigen- und Fremdwahrnehmungen, die sich zu narrativen Miniaturen (oft mit alternativen Ausgängen) verdichten. Nicht nur die widersprüchlichsten Ge- fühle von Wut, Scham, Hoffnung und Überwältigung kommen erzählerisch zur Sprache (auch sie sind ja einem Sprichwort der Indios nach �Verwandte des Lebens“), sondern auch die subjektiven Qualen einer �heulenden Seele“, die den alternden, nicht selten an sich selbst verzweifelnden Autor an seinen Sohn, das scheinbar �ewige Kind“, binden. Es gibt ebenso groteske wie rühren- de Selbstidentifikationen und Symbiosen, und nicht selten tritt der behinderte Hikari als Außenseiter, absolutes Opfer oder aber geflügelter Heilsbringer auf, der das wahre Leben im falschen führt. Zugleich ringt dieser nach Selbstverge- wisserung suchende Vater nicht nur mit der Zukunft, sondern auch mit seiner Vergangenheit. Er versucht nämlich, den Selbstmord wiederum seines Vaters zu begreifen, der die Kommunikation verweigerte; eines Vaters, der nicht re- det, während er selbst der Vater eines Sohnes ist, der nicht sprechen kann. Im Laufe der Jahre erkennt Ôe nämlich, dass und in welchem Ausmaß sich Hikari durch einen individuellen �Habitus“ ausdrückt, durch eine Form der Kommunikation (�Mit-teilung“), in der er sich mit sich selbst und den anderen ins Verhältnis setzt und die Weltsicht und das Lebens- gefühl seines Vaters auf diese Weise von sich aus grundlegend mitgestal- tet. Fink sprach von �Welthabe“, durch die wir einander belehren. In der �Welthabe“ des mittlerweise erwachsenen Hikari spiegeln sich durch seine persönliche Situation gebrochen sämtliche ‚Grundphänomene des Daseins‘ wider: die Konfrontation mit Sexualität und Tod, das Kriegführen (auch gegen die selbst), die Arbeit, das Spiel. Auch Hikari �belehrt“, nicht zuletzt durch die Konzentration, die er zunehmend dem Komponieren kleiner Kla- 128 PHAINOMENA XXVI/102-103 vierstücke zuteil werden lässt, von deren jedes wiederum auf seine Weise eine Geschichte erzählt (also das Gedeutetwerden seinerseits deutet). �Als mein Vater“, so lässt der Autor die Schwester Hikaris in dem Roman Stille Tage sagen, �die Noten an seine Bekannten verteilte, behaupteten mehrere, sie hätten in dieser Musik einen mystischen Klang vernommen, der die Grenzen des Menschlichen überschreite. Ich fand diesen Eindruck senti- mental. […] Auch wenn mein Bruder seine Werke nicht wie in normaler Musiker beredt erläutern konnte, war er nicht von einer himmlischen Kraft inspiriert; er komponierte eine sehr irdische, menschliche Musik mit eben deren Motiven und Grammatik.“20 Hikari �belehrt“ aber auch durch die Ergebenheit, durch das tiefe Wis- sen um seine Aussetzung und zugleich Angewiesenheit und durch die sanf- te Beharrlichkeit, mit der er der vorschnellen Vergegenständlichung seiner Person (durch die Unterstellung einer Vor- oder Übermenschlichkeit: Tier oder Gott) durch sein konkretes Sein und Handeln widerspricht. In seinen späten Aufzeichnungen, die unter dem Titel Licht scheint auf mein Dach (englisch, und dem japanischen Titel näher: A Healing Family)21 erschie- nen sind, befasst sich Ôe ausdrücklich mit der Frage, wie sich das mensch- liche Getroffensein (die fragmentarische Vereinzelung) und das Heilwer- den (die Er-gänzung im Anderen) in ihrer wechselseitigen Angewiesenheit zur Sprache bringen lassen. Oder wie, mit anderen Worten, der Prozess von Krankheit und Heilung, von Untergang und �Wiederauferstehung“ im weitesten Sinne als ein reziprokes Phänomen begriffen werden kann. Ôe bedient sich zur Veranschaulichung einer seinerseits aus verschiede- nen Erzählsträngen gewobenen, sehr speziellen Chiffre: des Bildes vom Lebensbaum, wie es im Schlusspoem von William Blakes Prophetic Books gezeichnet wird. Es heißt hier aus dem Munde Jesu: 20 Kenzaburo Ôe, Stille Tage, Fischer, Frankfurt am Main 1994, S. 148. 21 Kenzaburo Ôe, Licht scheint auf mein Dach. Die Geschichte meiner Familie, Fischer, Frankfurt am Main 2014. ONE HUNDRED PER CENT 129 CATHRIN NIELSEN Albion, fürchte nichts – denn stirbst du nicht, kannst du nicht leben; Sterbe ich, dann werde ich auferstehen, und du mit mir. Das ist Freund- und Bruderschaft; ohne sie ist der Mensch ein �Nichts“.22 Es geht, so scheint sich Ôe immer klarer zu werden, nicht darum, dem �Ergebenen“ etwas abzunehmen, ihm eine Stimme zu verleihen, ihm etwas zu geben, was ihm selbst angeblich fehlt. Es geht auch nicht darum (obwohl das der Sache schon näher kommt), ihn zu ,sich selbst‘, zu seinem �eigensten Sein- können“ zu befreien, wie Heidegger die �Fürsorge“ in Sein und Zeit bestimmt. Mir scheint, es geht in Ôes wie auch in Finks Überlegungen zum �Mit-sein“ darum, einander ,zur Welt zu bringen‘ in dem Sinne, dass wir den Anderen wie uns selbst immer wieder neu und anders aus dem ,Anspruch der Welt‘ (sie spricht uns an und nimmt uns zugleich in Anspruch) verstehen lernen. Der Baum des Lebens, jenes uralte Symbol der Fruchtbarkeit, der als axis mundi Himmel, Erde und Unterwelt miteinander verbindet, erinnert nicht nur an den ewigen Tausch zwischen Leben und Tod als �Verwandtschaft des Lebens“. Die in seinen Bedeutungshof gelegten Worte Jesu gemahnen auch daran, dass diese Lebensverwandtschaft immer wieder auch bedeutet, den Anderen in seiner Aussetzung, Individualität und Besonderheit/ Einzigartigkeit zu erken- nen und eine Freundlichkeit des Herzens zu kultivieren für die �‚vergebliche Leidenschaft‘“ seines Lebens – unser aller endliches Leben –, für seine, wie Jan Patočka es einmal formuliert, �Notlagen, seine Opfer, seine gebrechlichen Genugtuungen und das Zerbrechliche in ihm überall“.23 Und könnte Patočka nicht ähnliches im Sinn gehabt haben, als er in einem Brief an Eugen und Susanne Fink vom 3.  Juni 1970 schrieb: �Ich wünsche Euch beiden, Ihr lie- ben fernen herzensnahen Freunde, das Beste – einen großen Teil des Besten glaube ich schon bei Euch vorhanden zu sehen: [nämlich] in einer schlimmen Zeit miteinanderzusein, sich auf den anderen Teil des Spitzbogens stützen zu können, worin die Lebensgemeinschaft besteht. […] [W]as ist denn sonst die 22 Ebd., S. 149. 23 Brief Patočkas an Fink vom 6. Dez. 1970 (zu Finks 65. Geburtstag), in: Eugen Fink und Jan Patocka, Briefe und Dokumente 1933–1977, hrsg. von Michael Heitz und Ber- nhard Nessler, Kalr Alber, Freiburg 1999, S. 75. PHAINOMENA XXVI/102-103 130 Grundlage dieses Lebens als diese Ergebenheit, die der eine gerne gibt und der andere sich nicht scheuen braucht anzunehmen?“24 24 Brief Patočkas an Fink vom 3. Juni 1970, in: ibid., S. 128; Hervorh. C. N. ONE HUNDRED PER CENT c