Muzikološki zbornik Musicological Annual XXIX, Ljubljana 1993 UDK 78.03:001.891 (437.2) JinFukaè DIE STÄDTISCHE UND LÄNDLICHE DIMENSION DER Brno MUSIKKULTUR MÄHRENS (UND ZUM TEIL ÖSTERREICHISCH-SCHLESIENS)1 Vielleicht bleibe ich doch bei der Sache, wenn ich mein Referat mit vier kurzen Überlegungen eröffne, die sozusagen die Rolle einer allgemeineren und methodologisch aufgefaßten "Einführung in die Kolloquium-Thematik" erfüllen sollen und zugleich versuchenwerden, die Grundprämissen meiner eigenen Auseinandersetzung mit der Problematik Mährens zu formulieren. 1. Schon zweimal haben wir in den letzten Jahren hier in Brunn versucht, an die musikhistorische Problematik des mitteleuropäischen Terrains bzw. Kulturorganismus heranzugehen, wobei wir differente Aspekte des Ethnonationalen und Regionalen (darunter auch des Inter- oder Transregionalen) in Betracht nahmen. Nebst nützlichen Verallgemeinerungen, zu denen wir gelangt sind, wurden freilich viele einzelne Phänomene konkret erörtert. Und nicht anders soll es sich mit uns auch diesmal verhalten: wieder wollen wir über Ereignisse sprechen, die an einzelne Lokalitäten, Territorien oder einem konkreten regionalen Ambiente entsprungene individuelle Musikaktivitäten gebunden waren, um letztlich die allgemein typologische Deutung derartiger partieller Erscheinungen präzisieren zu können; außerdem soll die Relevanz der mitteleuropäischen Thematik nochmals betont werden, indem wir die Musikgeschichte der heuer jubilierenden Stadt Brunn und darüber hinaus auch des Landes Mähren irgendwie in den Vordergrund unseres Interesses stellen möchten, zweier topographischer Entitäten also, die im eigentlichen Herzen Mitteleuropas situiert sind. 2. Keineswegs ist die nun schon drei Jahre dauernde Bemühung, sich im Rahmen unserer Kolloquien mit dem Phänomen des Regionalen zu befassen, nur einseitig motiviert. In der Musikwissenschaft selbst setzt sich nämlich immer stärker öle Überzeugung durch (am merklichsten in mehreren Arbeiten Oskar Elscheks formuliert), daß unser Forschungsgegenstand nicht nur systematisch und historisch (bzw. synchronisch und diachronisch) untersucht werden soll, sondern auch vom Standpunkt der territorialen Verankerung aller relevanten Sachverhalte aus. Und da jeder Forscher zugleich als Mensch zu fühlen und als Bürger zu handeln hat, reagieren wir mit der Akzentuierung des letzteren Aspektes noch auf weitere Probleme, die uns die aktuellste europäische Zeitgeschichte reichlich anbietet: ich meine die Versuche vieler Volksgruppen sowie auch Regionen, ihre Identität aufs Neue zu bestätigen, laut zu deklarieren und manchmal sogar mehr oder weniger gewaltsam zu erkämpfen. Die Wissenschaft kann zwar nur zu einer objektiveren 1 Einführungsreferat am Internationalen musikwissenschaftlichen Kolloquium "Stadt und Region als Schauplätze des Musikgeschehens", gelesen am 4.10.1993 in Brno. 121 Bewußtwerdung jener manchmal heikligen, ja schon brennenden Fragen beitragen, aber just dies kann die demokratische Öffentlichkeit Europas von uns erwarten. Im Zusammenhang mit der politisch-gesellschaftlichen Umwandlung, die die ehemalige Tschechoslowakei im Jahre 1989 durchgemacht hat, wurde sogar zu einem solchen Problem auch die Frage der mährischen verwaltungspolitischen, territorialen und sogar ethnischen Identität. Es wird also in Mähren herum leidenschaftlich diskutiert, in Polemiken werden historische Argumente gebraucht wie mißbraucht, jedenfalls spielen da aber die Stimmen solider Geschichts- und Kulturforscher, Soziologen und anderer Wissenschaftler eine sehr positive Rolle eben bei der Suche nach einem allgemein akzeptablen menschlich-politischen Konsens. 3. Solchen soliden Stimmen läßt sich übrigens ein ziemlich sympathisches Mähren-Bild entnehmen, welches auch vielen früheren oder heute von außen kommenden Beobachtern vorschwebt. Abgesehen von dem fast protohistorischen Großmährischen Reich hat die mährische Region in ihren jetzigen Grenzen nie die Rolle eines politischen Gebildes mit agressiven Machtambitionen gespielt; viel eher wurde sie zum Objekt machtpolitischer Ansprüche seitens der Nachbarländer und -Staaten. Ähnlich wie in der unmittelbaren östlichen wie nördlichen Umgebung entfaltete sich historisch auch in Mähren eine sehr bunte ethnische Lage, ja eine echte Multinationalität; die daraus resultierenden Probleme des Zusammenlebens wurden da aber mehrmals in der Geschichte positiver gelöst, als es anderswo in der Nachbarschaft (womit auch Böhmen zu meinen ist) der Fall war. Und dies gilt sogar für bestimmte weitere Aspekte: in der humanistisch-reformatorischen Epoche wurde beispielsweise in Mähren - wenn auch nur für eine relativ kurze Zeitspanne - solch eine Qualität der konfessionellen Toleranz erreicht, daß man da über eine mustervolle Vorwegnahme der offenen Gesellschaft sprechen könnte. Anders als im Sinne des Terminus von Karl Popper war die mährische Region und/oder Gesellschaft schon immer sehr "offen", sozusagen von der Natur her. Die Namen "Morava", "Mähren" und dergleichen sind Hydronyma und verweisen uns auf den Fluß March, der seit jeher als eine ideale Kommunikationstrasse diente. Das Land Mähren entwickelte sich also in eine Region bzw. politische Verwaltungseinheit, die man mit Recht als Durchgangsland bzw. "Pufferstaat" bezeichnen kann. Die Folgen jener besonderen Lage oder Rolle Mährens sind nicht nur archäologisch oder kunsthistorisch, sondern auch geistesgeschichtlich eruierbar, woraus sich folgende Charakteristiken ergeben können: Durchkreuzung verschiedener Strömungen in allen relevanten Weltrichtungen, große Rezeptionsfähigkeit und Kommunikationsfreundlichkeit, schwächere Formen (oder zumindest verspätete Wellen) beliebiger fundamentalistischer Tendenzen, einschließlich des modernen Nationalismus (übrigens: auch die jetzigen separatistischen Tendenzen einiger mährischer Politiker haben eine milde Form und sind nicht so ernst zu nehmen). Mit anderen Worten: eine ideale Euroregion lange vor der Entstehung dieses Begriffswortes und hoffentlich auch - diesmal im eigentlichen Sinne des Wortes - bald in der Zukunft! 4. Mit der dritten Überlegung scheine ich vielleicht aus der versprochenen Rolle des "allgemein einführenden Methodologen" ausgefallen zu sein, denn ich habe Mähren, eine Konkretheit also, beinahe im Geiste Herderscher Idealisierungen der Völker und deren Länder bzw. Stimmen gelobt und gepriesen. Der Eindruck, daß ich Mähren idealisiere, läßt sich aber mit einem Satz korrigieren: trotz den geschilderten und real vorkommenden positiven Dispositionen war die mährische Geschichte genau so bitter und dramatisch wie die der Nachbarländer. Was dann den Irren weg in der Richtung "allzu vorzeitige Konkretheit angeht", so war es mein Versuch, am Beispiel des Landes Mähren die geschichts- und kulturtypologische Eigenart aller analog offenen Regionen darzustellen, die im europäischen Raum festzustellen sind. Und auch dies wurde von mir mit einer rein methodologischen Absicht unternommen. Jeder Musikhistoriker, der sich mit der Problematik derartiger 122 Regionen befaßt, wird nämlich gestehen müssen, wie schwer sich die Musikgeschichte in solchen Fällen narrativ wiedergeben läßt. Dies hat weder mit der Größe des Territoriums, noch mit dem Mangel an kontinuierlichen Quellenaussagen viel zu tun. Wenn man über die Musikgeschichte einer großen Region (Europa, Frankreich, Deutschland u. ä.) bzw. Nation spricht und forscht, wenn man ausgeprägte und gut abgrenzbare Gebiete (wie Böhmen) in Betracht zieht, ja wenn man mühsam relevante Fakten sammelt, die die Musikhistorie einer Stadt, eines Dorfes, Klosters oder Schlosses ausmachen, dann hat man immer mit greifbaren (natürlich meistens den außermusikalischen) Strukturphänomenen zu tun und die Logik der lokalen Musikgeschichte kann eben in Bezug auf diese Strukturiertheit gedeutet werden. Je offener sich aber eine Region oder Population verhält, desto verlorener scheint diese Logik als roter Faden unserer Narration in der Verflechtung kontinuierlicher wie diskontinuierlicher Geschichtsvorgänge zu sein. Und genau vor dem Problem des Herausgreifens solches roten Fadens standen und stehen alle mit der gesamtmährischen Problematik sich befaßenden Musikhistoriker. Meine Auseinandersetzung mit den städtischen und ländlichen Aspekten der mährischen Musikkultur soll nun zeigen, wie die vorhandenen Deutungen entstanden sind und wie man sie eventuell kritisch korrigieren könnte. Vor gewaltigen Problemen stehen nicht nur die mit Mähren sich befassenden Musikhistoriker, sondern auch Musikhistoriographen, die sich mit derartigen Deutungen jener Historiker befassen wollen. In dieser Position befand ich mich selbst, wenn ich vor Jahren für die geplante "mährische Nummer" der Österreichischen Musikzeitschrift diese Problematik bilanzieren sollte. Der Aufsatz ist dann in der Nummer 4 des Jahrganges 42-1987 veröffentlicht worden und sein Titel "»Mähren in der Musikgeschichte« als Problem" beeinflußte die Herausgeber der Zeitschrift in dem Maß, daß auch das Heft als "Mähren in der Musikgeschichte" betitelt wurde. Genauso hieß auch ein damaliges Brünner Forschungsprojekt: seine Benennung wollte die Überzeugung manifestieren, daß sich die Geschichte der Musik in Mähren (geschweige denn die der mährischen Musik) nicht so effektiv auffassen läßt wie die Position dieses Landes in der Musikgeschichte breiterer Regionen. Übrigens sind indirekte Spuren dieser Denkart auch bei älteren Autoren zu finden. Dlabaès "Allgemeines historisches Künstlerlexikon" (1815) berücksichtigte, wie bekannt, die Musikgeschichte in Bezug auf "Böhmen und zum Theil auch ... Mähren und Schlesien" (d.h. auf die historischen böhmischen Länder) und der Brünner Statistiker und Geschichtsvielschreiber Christian Ritter von d'Elvert faßte seine "Geschichte der Musik in Mähren und Oesterr. - Schlesien" (1873) sogar so auf, daß er zuerst den allgemeinen, den mitteleuropäischen und den allböhmischen Kontext beschrieben hat, um die mährische Problematik (nun schon mit Recht als Einheit mährischer und österreichisch-schlesischer Realien angesehen) irgendwohin ordentlich einbetten zu können. Und als der Komponist Janaèek nur ein wenig später seine Anlehnung an mährische kontinuierliche Musiktraditionen publizistisch manifestieren wollte, fielen ihm nur ganz wenige geeignete Beispiele ein. Viel besser ging es nicht einmal jenen Musikforschern, die versucht haben, mindestens die Kontinuität der tschechischen Musikaktivitäten in Mähren zu schildern, denn diese beginnt erst mit Janaèek bzw. mit dessen Vorgänger Pavel Krizkovsky. Der Brünner Musikwissenschaftler Vladimir Helfert und seine Schüler suchten nach einigen "Filia-tionen", indem sie mehrstufige Reihen vom Typus "mährischer bzw. schlesischer Lehrer-mährischer bzw. schlesischer Schüler" für das 18. und 19. Jahrhundert konstruierten, aber 123 auch dadurch wurde keine merklichere Kontinuität substantieller musikalischer Qualitäten (z.B. des Stils) entdeckt. In dem zitierten Aufsatz habe ich mich dann bemüht, ein struk-turalistisches Modell der Geschichte der Musik in Mähren (bzw. Mährens in der Musikgeschichte) darzubringen, das die Periodisierungsverfahren mit synchronischer Stratifikationsversuchen kombinierte. Das Bild, welches dem Modell entspringt, wirkt etwa folgendermaßen: - Bis zur Zeit Janäöeks keine Konzentration von Musikerpersönlichkeiten, die für den allmährischen Kontext maßgehend gewesen wären, ja sogar fast deren volle Äbsenz. Dazu sei bemerkt: a) Komponisten, Interpreten bzw. Theoretiker, die besonders im 18. und 19. Jahrhundert (und was die Deutschen anbelangt, sogar im 20. Jahrhundert) allgemein bekannt wurden, verließen Mähren vor ihrer Durchsetzung auf der breiteren Musikszene. b) Mährische Tätigkeit wichtiger Musiker fremder Herkunft (z. B. Jacobus Gallus) war meistens nur kurzfristig oder episodenhaft (nicht einmal Mozarts mährische Reisen sind mit dessen Aufenthalten in Prag qualitativ zu vergleichen). c) Die Forschung hat viele interessante, mit mährischen bzw. schlesischen Terrain eng, lange oder sogar dauernhaft verknüpfte Persönlichkeiten entdeckt (z. B. Vejvanovsky, Mfèa, gewissermaßen auch Dittersdorf), ihre Berühmtheit beruht aber darin, daß sie stilistisch oder typologisch ihren auswärtigen (z. B. den im Donauraum wirkenden) Zeitgenossen ähneln. - Bis zur Zeit um 1900 totale Äbsenz von musikalisch wichtiger Lokalitäten, die als Zentrum des mährischen Musikwesens anzusehen wären. Dazu folgende Bemerkungen: a) Wichtige Musikzentren hat es freilich in Mähren oder in Österreichisch-Schlesien seit der Spätrenaissance oder spätestens seit dem Hochbarock gegeben (Olmütz, Krem-sier, z. T Brunn oder Troppau, auch einige höfische Schloßkulturen) und es kam da sogar zur kontinuierlichen Konzentration von guten Musikern (auch wenn die Kontinuität manchmal strittig sein kann - so im Fall Kremsiers, wo sogar Jiff Sehnal als bester Kenner dieser Kultur an deren ununterbrochene Kontinuierlichket zweifelt), es ging aber nicht um Zentren mährischen Musikwesens, sondern um Bestandteile breiterer musikkultureller Netzwerke (z. B. der Kirchen- oder Hofmusik des Donauraums). b) Der einzige Vereinheitlichungsfaktor, der sich in der älteren mährischen Musikkultur entdecken läßt, wurde durch die Existenz der Olmützer Diözese gegeben, freilich nur für den kirchenmusikalischen Bereich. - In einzelnen mährischen Lokalitäten oder Teilregionen gibt es zwar viele interessante und wichtige Phänomene (Iglauer Meistergesang, Aufblühen österreichisch-schle-sischer adeliger Kapellen um 1750, hanakische Musikidiomatik, scharf profilierte Typen der Musikfolklore in Ostmähren usw.), keines von ihnen stellt aber eine "gesamtmähri-sehe" Erscheinung dar; viel eher können sie als Auswirkung auswärtiger Einflüsse oder sogar als Übergriff aus benachbarten Gebieten, bestenfalls als lokale Modifikation eines fremden Impulses verstanden werden. Dazu einige interessante Konstatierungen: das hanakische Idiom scheint vom Import oder Transport der polnischen ethnischen und z. T sogar höfischen Tanzmusik abhängig gewesen zu sein; die slowakischen Musikethnologen (z. B. Jozef Kresänek) haben mit Recht darauf hingewiesen, daß die in Ostmähren vorkommenden und ziemlich archaisch wirkenden Typen der Musikfolklore einfach als lokale Varianten der ethnischen Musik des Karpatenbogens anzusehen sind (als bestes Beispiel kann man die sog. waiachische Migrationskultur anführen), denn die Kulturgrenze lag in diesem Fall im Tal des Marchflusses (sie war also nicht identisch mit der historischen ungarisch-mährischen Grenze, die sich auf den Kamm befindet); die meisten Äußerungen der ethnischen Musik in Mittel- und Westmähren sind sonst klar mit der Musikfolklore Böhmens bzw. Österreichs verwandt. 124 - Und last but not least: keine heraushörhare Spezifität der Kunstmusik in Mähren vor Janäcek bzw. Krfzkovsky (wenn man nicht für spezifisch die Folgen der stilistischen Verspätung halten will, die sich bei den mährischen Repräsentanten der entstehenden tschechischen Nationalmusik etwa zur Zeit Smetanas konstatieren läßt), keine musikschöpferische Reflexion der mährischen vaterländischen, historischen oder mythologischen Landesthematik vor Gottfried Rieger (1797) - natürlich abgesehen von dem Fall der gut bekannten barocken Jaromefice-Opernallegorie von Mièa. Narrativ ist also dieses musikalische Mähren-Bild kaum zu wiedergeben. Die Musikgeschichte Mährens läßt sich tief in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts nur als Inbegriff von Geschichten der Musik bzw. Musikkultur einzelner Lokalitäten, natürlich vor allem der Städte, und Regionen (hier am meisten der ethnischen) auffassen. Und will man schon diese Geschichte erzählen, so wird zu deren Handlung keineswegs ein Aufschwung spezifisch mährischer Kräfte und Produktionsweisen, auch keine kontinuierliche und lokalspezifische Stilentwicklung, sondern viel eher die immense Vielfältigkeit des Geschehens, das sich auf den Trassen der Migration von Leuten und Kulturimpulsen zwischen Mähren und Ausland abspielte. Derartige Migrationsvorgänge formierten dabei sowohl das städtische als auch das ländliche Milieu, da auch die ethnische Musik Mährens ihre Ausdiffer-enziertheit und Buntheit den Übergriffen von außen verdankt. Das mährische Musikalisch-Autochthone ist also eine Illusion. Genau diese Illusion erwies sich aber als nützlich, wenn die Komponisten begannen, ihren eigenen Idiolekt als eine Art von musikalischem National - bzw. Regionaldialekt zu verstehen. In Mähren handelte es sich bei Krfzkovsky zuerst um Reflexionen der Liedertexte mährischer Provenienz und um die Suche nach einem zeittypischen "Volkston", Janäcek setzte sich schon ganz bewußt und konsequent mit dem spezifischen Klang mährischer Volksweisen auseinander, der freilich nur der Musikfolklore ostmährischer Gebiete bzw. Ethniken eigen war (von diesem Moment an wird man einfach unter mährischer Musik die ostmährische Musikfolklore bzw. deren artifizielle Bearbeitungen und Stilisierungen verstehen). Und wo es den Mangel an realen ethnischen Populationen sogar in Ostmähren gab, hat man sich ihre Existenz künstlich ausdenken müssen. Der Brünner Ethnologe Richard Jeräbek hat unlängst bewiesen, daß z. B. die sog. Lachei (wo auch Janaceks Geburtsort liegt) ein künstliches Produkt jener folkloristischen Aktivitäten ist, die sich eben um Janäcek herum gruppierten. Zum Schauplatz dieser intensiven Suche nach vermutlich autochthonen ländlichen Wurzeln wurde freilich - von der ethnographischen Arbeit und von dem damals so beliebten Verweilen städtischer Bürger im Terrain abgesehen - die Stadt, konkret die damalige mährische Landeshauptstadt Brunn, wo Janäcek der sich herausbildenden tschechischen bürgerlichen Musikkultur eine immense Dynamik zu verleihen wußte. Brunn wurde so immer mehr zu einer profilierten Musikstadt, zum Hauptquartier einer "mährischen Kompositionsschule" und zum wahren Zentrum des mährischen Musikwesens. Von dort aus begann sich jener Prozeß zu vollziehen, der den Werdegang der spezifisch mährischen Musik und den Anfang deren nun endlich schon erzählbaren Geschichte darstellt. Die Oszillation zwischen Städtischem und Ländlichem, oder anders ausgedrückt: Urbanem und Ruralem, wurde letztlich zum unverwechselbaren Kennzeichen mährischer Kunstmusik überhaupt: sie läßt sich auch aus Janaceks Spätwerken, z. B. aus der Sinfonietta, oder aus dem stark modal gefärbten Schaffen der Brünner Neoavantgarde der 50-er bist 70-er Jahre heraushören. 125 Dennoch stellt nicht einmal diese happy-end-Geschichte eine Angelegenheit dar, die nur auf innere mährische Kulturzustände zurückführbar wäre. Auch in diesem Fall handelte es sich um Auswirkungen des erwähnten Geschehens auf den Trassen und Achsen, die als Koordinaten das System des mährischen Kulturwesens seit jeher ausmachen. Es ist doch auffällig, daß auf die erwähnte Art und Weise die tschechischen (und nicht die im 19. Jahrhundert noch viel ausgeprägteren deutschen) Musikaktivitäten Mährens dynamisiert wurden. Die Komponisten seit Krfzkovsky und Janäcek strebten nämlich im Einklang mit den allgemeinen Tendenzen der tschechischen Sprachkultur in Mähren nach dem qualitativen Ausgleich mit der Situation in Böhmen: zum höchsten Ziel wurde die Entstehung einer spezifisch mährischen Alternative der tschechischen Nationalmusik. Übrigens hat es Versuche über die Aneignung des "mährischen Tons" oder sogar der Substanz der östlichen mährischen bzw. slowakischen Musikfolklore auch in Böhmen (Dvoraks "Mährische Klänge") oder von Böhmen aus (Vftezslav Noväk) gegeben. Und man kann behaupten, daß die Überzeugung, Mähren sei ein klassisches Land der puren Folklore und ein echtes Reservoir des Authentisch-Ländlichen, aus Böhmen nach Mähren transportiert wurde. Um dies richtig zu verstehen, muß man sich auf Claude Levi-Strauss berufen, konkret auf seine semantische Interpretation der Achsen Ost-West und Nord-Süd (in der Schrift "Tristes Tropiques"). Was die erstere, das Morgenland-Abendland-Verhältnis symbolisierende Achse angeht, so soll sie den Unterschied zwischen dem chaotischen, wenn auch viel versprechenden Anfang einerseits und der bilanzierenden, ja erhabenen Schlußfolgerung andererseits zum Vorschein bringen. Dies äußert sich sowohl in der städtischen Urbanistik als auch in der Art, auf die die innere Logik eines regionalen Organismus gestaltet und verstanden wird. Diesem Erleben der Umwelt entspringen dann populäre Äußerungen über Landstrasse, wo Balkan, ja Asien beginnen soll und dergleichen. Vor einigen Jahren diskutierte man in der ehemaligen DDR die kulturpolitisch peinliche Tatsache, daß die Laustiz als Heimat der sorbischen Musikkultur als bloßes ländliches Gebiet (als Gurkeniand) ohne höhere Aspirationen angesehen wird. Die englischen Schriftsteller situierten mit großer Vorliebe ihre Vampire einmal in Transsylvanien (Bram Stoker), andermal in Steiermark oder sogar in Mähren (J. Sheridan le Fanu). Im tschechischen Kulturorganismus des 19. Jahrhunderts neigte man dazu, Mähren fürs tschechische Morgenland zu halten, mit dem man automatisch Konnotationen "rural", "volkstümlich", "autochthon-slawisch" u. ä. verknüpfte, obzwar die Folklore Böhmens genau so intensiv untersucht und auch schöpferisch ausgenützt wurde wie die mährische. Für die fortgeschrittene Kultur der mährischen Städte interessierte man sich in Böhmen viel weniger. Den mährischen Komponisten blieb dann nichts anderes übrig, als mit ihrem Schaffen die Nachfrage nach dem "Morgenländischen" zu befriedigen. Und was von der tschechischen Sicht her als östliche Exotik produktiv mißverstanden wurde, begann im Bewußtsein mährischer Komponisten die Rolle des eigenen heimischen Grundstoffes zu spielen. Daß es dabei zu einer Umpolarisierung des mährischen Kultursystems selbst kam, liegt klar auf der Hand. Die durchaus abendländische Kultur, die mit dem mitteleuropäischen Ambiente mittels ihrer städtischen und höfischen Musikbetriebe verknüpft war, stilisiert sich als Fundgrube morgenländischer Archetypen oder als Reservoir ländlicher Musikschätze, die tatsächlich nur in Ostmähren als Überreste der älteren Schichten des ethnischen Repertoirs zu finden sind. Eine Ideologie der mährischen Musik ist so entstanden, ein Falschbewußtsein, dem nichtsdestoweniger die Originalität und Dynamik der neueren mährischen Musikproduktion zu verdanken ist. 126 Mährens sprichwörtliche Vernetzung in die breitere und andere Kontexte ist aber auch so aufs Neue bestätigt worden. Um die neue Qualität seiner Musik bereichert blieb das Land Mähren eine offene und kommunikationsfähige Region. POVZETEK Muzikološka stroka ne stoji samo pred problemi oziroma dilemami historiènega ali sistematiènega, velenacionalnega ali mininacionalnega, ampak tudi pred vprašanjem objektivnega ukoreninjenja, vsestransko pretehtanega usidranja posameznih regij v nemalokrat skazeno podobo starega kontinenta. Gre torej za iskanje njegove identitete, saj naj bi Evropa bila Evropa regij in ne (le) narodov... Glede na lastne izkušnje s pisanjem zgodovine "glasbena Moravskem" oziroma "moravske glasbe" avtor ponuja vrsto pouènih modelov, kijih metodološko komentira in razrešuje. 127