Uebrr Lalobiotik. Von Heinrich v. Littrow. (Separatabdruck aus der Laibacher Zeitung.) Baibach. Druck und Verlag von Jgn. v. Kleinmayr L Fed. Bamberg. 1870. Gegenstand der Kalobiotik ist, wie bekannt, das Schöne im wirklichen Leben -- somit nach der Etymologie dieses aus dem alten Griechischen neu gebildeten Wortes: „Die Kunst schön zu leben." Obwohl cs nun für so Manche schon eine schöne Kunst ist, überhaupt zu leben, so mag cs allerdings noch kunstvoller scheinen, s ch ö n zu leben —- und dennoch ist dem nicht so — denn selbst der Schöne oder die Schöne leben noch nicht schön nicht kalvbiotisch, wenn ihnen die Götter auch schon in der Wiege Apollo's und der Venus herrliche Gestalten und liebliche Züge verliehen haben; das wahrhaft ästhetische Leben muß das Verbin¬ dungsglied zwischen dem Guten und Nützlichen, der Genuß muß ein uachhaltender, dauernder, wicderholungS- fähiger, Geist und Sinuc fesselnder sein — die Grenzen müssen festgestellt und der Gebrauch ein allgemeiner werden, ohne deshalb in Oetroyirungen auszuarten; die individuelle Freiheit, die gewissenhafte Berücksichti¬ gung der Umstünde und Verhältnisse müssen gewahrt sein und trotz der Bauden, trotz der Fesseln die vollste Freiheit herrschen. Die Kalobiotik kann trotz ihres aristokratischen Ursprungs, dem sie als ästhetische Lehre angehört, doch nur eine eoustitutiouelle Monarchie sein die Patrizier müssen so gut als die Plebejer mit Sitz und Stimme in ihrem Parlamente vertreten sein — nur mit dem I 2 Unterschiede, der freilich jede dieser parlamentarischen Verhandlungen vereinfacht und erleichtert, daß cs keine Rechte und keine stinke, keine Regierungspartei und keine Opposition gibt, sondern nur ein Centimu, unser Herz mit seinem «ngeboruen oder anerzogenen, hcrangebildeten Drange nach dem wahren Schönen. Zwei Kräfte sind es, die den Menschen lenken: Natur gab ihm Verstand, um recht zn denken; Um recht zu handeln, gab sie ihm das Herz. Blnmaner. Ich sage unser Herz, obwohl die Anatomen und Pathologen oder besser die pathologischen Anatomen das arme Herz schon längst unter die Depossedirten, unter die Entthronten versetzt und sein Herzkammershstem nur für den Transitv der Gefühle bestimmt haben, während die Quellen für Export und Import weitab liegen. — Dag Herz hat sein Freihafcusystem auch eingebüßt, wie so viele andere Stapelplätze, aber was es jetzt als En- irepot leistet, kann, wenn vernünftig und ästhetisch gere¬ gelt und überwacht, weit mehr fruchten als seine frühere Freiheit. Nichtsdestoweniger ist dem depossedirten Herzen, wie das schon so Sitte ist, sein Titel geblieben und Alt und Fung, Reich und Arm, Ignoranten und Gelehrte, Her¬ scher und Knecht, nennen das Her; doch noch immer „Majestät," beziehen jedes Gefühl auf seinen Einfluß, seine Macht, leiten die Quellen aller Empfindungen aus seinen Tiefen und lassen alle Bäche, Flüsse, Ströme und Katarakten unseres Gefühls in diesen Ocean münden. Wie wir unseren kleinen unbedeutenden Planeten, die Erde, noch immer die Welt nennen; wie wir unter Himmel ganz etwas anderes verstehen alö der Astronom; wie nur Feuer, Wasser, stuft und Erde noch immer sälschlich „Elemente" nennen, wie wir göttlich und himm- 3 lisch Alles heißen, was uns scheinbar nur einige Zolle über die Erde hebt, und wunderbar alles finden, was wir nicht begreifen oder erklären können: so schieben wir alle unsere Regungen dem Herzen zu, machen cs zum Alpha und Omega unserer Gefühle, unserer Inspira¬ tion, unserer Apathie, unserer Begeisterung und unserer Abspannung, unserer Freude und unseres Schmerzes, un¬ serer Lust und unseres Leides, unserer Heiterkeit und unseres Trübsinns, unserer Heldcnthaten und unserer Kindereien, unserer geistreichen, witzigen Einfälle und un¬ serer armseligen Dummheiten. Da unser Herz im Tage 115.200 Schläge macht, da es unter allen Organen das zäheste, daö dauerhaf¬ teste ist, — da es, wenn auch von tausend Stürmen durchtobt und von unserer frühesten Kindheit an verwen¬ det, gebraucht, mißbraucht und mißhandelt, doch auch im höchsten Greisenalter seinen Dienst nicht versagt, ja bei der Autopsie des Herzens sich keine Spur von Verbrauch, von Abnützung zeigt, während andere Organe und Glie¬ der, selbst die lebensfähige Zunge, im hohen Alter an Leistungsfähigkeit verlieren, da das Herz einer zarten Jungfrau in der anatomischen Zergliederung ganz so frisch wie jenes der alten Kamelien - Dame dasteht: so wollen auch wir es in Berücksichtigung seiner Dauerhaftig¬ keit noch als Functionär betrachten und ohne Rücksicht auf die neuen richtigen Lehren auch in der Kalobiotik mitspiclen lassen, und es noch mit dem Titel „Eure Ma¬ jestät" ansprcckcn, obwohl wir wissen, daß cs kaum mehr in unserer Organisation, unserer Constitution zu den verantwortlichen Ministern zählt. Das sogenannte Herz also, das sich im Seelen¬ leben so vorzudrängen weiß, dos sich durch sein unge¬ stümes Pochen so bemerkbar macht — manchmal so zu¬ dringlich, so unwiderstehlich wird, daß wir unwillkürlich 4 darnach greifen — und vergessen, daß es nur der Tun¬ nel ist, durch den die Züge unseres Hirnes brausen. — Dies arme Herz spielt eben in der Kalobiotik eine sehr wichtige Rolle, und e« muß ebenso wie der Kopf am rechten Flecke sein, wenn wir in der Kunst schön zu leben, excelliren und als wahre Kalobivten dastehen wollen; denn eigentlich ist cs doch der Manometer oder Dasymeter — der Druck- oder Dichtigkeitsmesser, der die Spannkraft und Expansion unseres Geistes, unserer Gefühle, unserer Seele authographisch anzeigt — und eben als solcher wichtiger Theil unseres Organismus nicht unbeachtet bleiben darf. Das Herz, sagt Möring in seinen sybillinischcn Büchern, bleibt doch die stärkste Feder, das Herz allein treibt zum Großen und Edlen; das Herz trieb Colum¬ bus, Amerika zu cnidecken, — denn, daß cs noch einen Continent geben müsse, war auch andern Gelehrten und Gescheidten als Bermuthung klar, aber dennoch entdeckte ihn keiner. Das Herz trieb Alexander an den Indus, Hannibal nach Nom, Peter den Großen nach Saar- dam und Pultawa, Napoleon von den Pyramiden an die Moskwa, Humboldt vom Himalaya zum Chimbo- rasso; es schwoll zur Weltgeschichte in Dantes ckiviim LOmraöckia,; cs klagte in Petrarca, es begeisterte Ca- moens, Sheakspeare, Schiller und Göthe, und auf Na- sael's Palette mischte es die Farben. Das Herz trieb Winkelried in die Spieße, spannte Wilhelm Tcll's Bo gen, es stählte Luthers Muth. Das Herz lehrte Kepp¬ lern Hungers sterben für die Himmelstochter Astrono¬ mie, und das Herz sprach unter den zuckenden Schmer zen der Tortur durch Gallilei's Zunge die Worte: Lpxurs, 8i muovo! Das Herz ist es, das alle Mär tyrer der Wahrheit, der Freiheit und Liebe zu Heroen macht, ohne Erlaubniß der Polizei. Die dümmste Bäue¬ rin ist in ihrem Herzensiustinctc, der Mutterliebe, poe- 5 tischer, empfindungsreicher und sublimer, als eine sterile Königin. Das Herz war die Größe einer Ieanne d'Arc, einer Charlotte Corday, einer Maria Theresia und ihres Sohnes Josef. Die pathologischen Anatomen mögen es wie immer elassificircn, Hand aus'S Herz, es existirt als Trieb¬ feder, und wenn cs hämmert und Pocht, kann Niemand seinen Einfluß bezweifeln oder leugnen. Leider gibt es auch eine gewisse Herzensträgheit, die sich eben in der Kalobiotik sehr fühlbar macht und eine Apathie, eine Abneigung gegen alles Aufregende zur Folge hat. Wie cs eine Verknöcherung der Aorta gibt, so scheint es auch eine Erschlaffung zu geben. Hier muß die iiwrtig, durch das kleine Wort „Ich will" besiegt werden, von dem Halm so richtig sagt: Ich will, das Wort ist mächtig, Spricht's einer ernst und still; Die Sterne reißt's vom Himmel, Das kleine Wort: Ich will. Die Kalobiotik, als Lehre von der Verschönerung des Lebens, zerfällt daher nach Wilhelm Bronns Ein- theilung: 1. in die auffassende und 2. in die gestaltende. Die auffasscnde Kalobiotik hat die Aufgabe, eine schöne Ansicht vom Leben zu gewinnen, und begreift da¬ her das wirkliche Leben — d. h. die ganze Sin¬ nenwelt und das Jdeenlebcn, wozu alles Wißbare und W is s en swerthe gehört. Die auffasscnde Kalobiotik bildet somit den leichte¬ ren Theil, da Auffasscn immer leichter als Gestalten ist, und Auffassen immer dem Gestalten vorangehen muß. — Schöne Auffassung des wirklichen Lebens oder des Jdeen- lebens ist die Aufgabe aller schönen Künste, ist selbst eine schöne Kunst, die gepflegt und geübt werden muß. s Die darstellende Kalobiotik kann ohne die auf¬ fassende gar nicht gedacht werden. Stellen wir uns, um beide vereint zu versinnlichen, einen Menschen vor, der früh Morgens falle Kalobiolen stehen gerne früh auf) aus seiner Wohnung in eine schöne Gegend tritt, die sich aber im Glanze der Morgensonne badet — von diesem Bilde inspirirt, Pinsel und Palette zur Hand nimmt und es auf die Leinwand zaubert, später bei Be¬ trachtung der gelungenen Skizze ein Gedicht auf den dämmernden Tag, z. B. ..Morgengruß" betitelt, schreibt, und weil cS kurz und poetisch gefaßt, sich für ein Lied, für ein Ständchen eignet, das Gedicht in Musik setzt, oder daß drei verschiedene Kalobioten diese 3 Leistungen übernehmen, kurz, daß derselbe Eindruck Stoff zu einem Bilde, zu einem Gedichte und zu einer Sonate gibt: — so haben wir die auffassende und darstellende Kalo¬ biotik in ihrer vereinten Wirkung. Auffassung und Darstellung ergänzen sich somit — und es handelt sich nur, beides zu erlernen. Je geläufiger uns die Auffassung wird, desto kalo- biotischer gebildet sind wir. — Die schönen Künste — Malerei Sculptur, Musik, Dramatik, Poesie und sogar der Tanz liefern uns die Praktischen Beispiele, die ver¬ läßlichsten'Anhaltspunkte für das Studium und machen uns urtheilsfähig. Ta das menschliche Urtheil aber größtentheils doch nur auf dem Vergleiche beruht, da wir meistens ohne zu wollen, ohne zu wiffeu, ja oft ohne es zu fühlen Parallelen ziehen, und z. B. groß nur das neunen, was uns neben dem Kleinen so verkommt, nur das als schön erklären, was als Antithese des Häßlichen unseren Sinnen schmeichelt, ja unsere Sinne selbst, an solche unwillkür¬ liche Vergleiche gewöhnt, gefesselt sind, so liegt im schnellen, richtigen Parallelenziehen oder Vergleichen die Basis für do T d! gl se sc T u ;c w d n r v r d e s s d h L v e r s i ! 7 das Urtheil und für die Kritik. — Antonio in Gölhe's Tasso sagt mit Recht: Wenn unser Blick was Uugeheu'rcs sieh!, Steht unser Geist auf eine Weile still ; Wir haben nichts, womit wir es vergleichen. Das Bessermachen — dort, wo wir tadeln, ist durchaus nicht bedingt — und Beurteilung wie Kritik gleichen in dieser Hinsicht ganz dem Schleifsteine — der selbst weder schneidet noch sticht, aber doch eine Klinge scharf und spitzig macht. Jedes Kind kann, sobald es Denk- und Sprachvermögen besitzt, zu unserem Richter und Rccensenten werden, und wenn wir ihm ein Spiel¬ zeug, eine gebrochene Puppe schlecht repariren, werden wir den gerechten Bormurf hinnehmen müssen, ohne daß der kleine Reccnsent im Stande wäre, es besser zu machen. In der auffassenden Kalobiotik spielt also das richtige Urtheil eine Hauptrolle — freilich muß man von Jugend auf dazu augeleitet und für das richtige Urtheil erzogen weiden. Und nicht die Lichtseiten allein des Lebens bieten schöne Ansichten, das wäre, wie mau es im gemeinen Leben nennt, die epikureische, die aus¬ schließend genußsüchtige Auffassung, und dadurch unter¬ scheidet sich der Kalobiot vom Bonvivant, welcher blos dem sinnlichen Gennsse leichtfertig nachjagt, die Schön¬ heit des Lebens einseitig auffaßt und die Zahl und Elasse seiner Genüsse dadurch verringert. Die Schattenseiten des Lebens, das Herbe in der menschlichen Existenz, gehört zum Bilde, erhöht die Licht¬ effecte und stellt den Geschmack des Süßen und Ange¬ nehmen erst recht heraus. Ist man einmal Kalobiot, so weiß man alles im Leben leichter zu ertragen. — Bewundert man wirklich mit Hingebung, mit Rührung einen schönen Sonnenaufgang, eine mit FrühlingSblüthen 8 übersatte Gegend, die windstille, glänzende See in ihrer bezaubernden Ruhe, ein rieselnder Wasserfall: so wird uns ein Sturm mit jagenden Wolken, eine tief einge¬ schneite Winterlandschaft, das Meer mit schäumenden Wogen, ein Katarakt oder ein feuerspeiender Vulkan — dieselbe Bewunderung abgewinnen; — die langsam einherkriechcude Schnecke wird unsere meditative Auf¬ merksamkeit so gut fesseln, als der kühne Stoß des Ad¬ lers über unserem Haupte; der Funke, den wir dem Feuersteine entlocken, wird uns ebenso freuen, wie der elektrischerer als zerstörender Blitz, mit rollendem Don¬ ner begleitet, aus den Wolken niederzüngell. Auf die Beobachtungsgabe, auf die unmittelbar damit verbun¬ dene Reflexion kommt es somit an — und je größer, je zahlreicher diese sind, desto größer, desto zahlreicher sind unsere Genüsse. Das scharfe Auge aber, das solche Genußstellen ent¬ deckt, die angeborene Geschicklichkeit, der feine Rüssel, der sie tropfenweise aufzusaugen versteht, den muß uns die Natur als köstliches Geschenk verleihen, oder eS muß eine sorgfältige, rationelle Erziehung den Sinn in uns wecken, läutern, kräftigen und, was das verläßlichste ist, zur Gewohnheit machen. Die teutonischen Racen sind in dieser Beziehung die geübtesten — aber ihre Beob¬ achtungsgabe wird leicht zur Grübelei, zur gelehrten Spekulation,* das formt dann specielles Studium und ge¬ hört zur subjektiven Kalobiotik, welche Anderen nur wenig Genuß verschafft, während die lateinischen Racen, * Mephisto sagt im „Faust": Ein Kerl, der speculirt, Ist wie ein Thier auf grüner Haide, Von einem bösen Geist im Kreis hermngefiihrt, Und rings herum liegt schöne, grüne Weide. Faust, I. Th. 1. Act. 9 besonders der Franzose und Italiener, schnell und scharf beobachten, ihre Entdeckungen gern und in gefälliger, ja beredter, oft sogar enthusiastischer Art mittheilcn, ohne sich in weitere Studien und Forschungen einznlassen. Das ist die objective Kalobivtik, die auch Anderen Genüsse verschafft und die eben durch die bereitwillige Eommunieative zur Lehrerin wird. Die objective Kalobivtik hat im Gegensätze zur subjektiven also auch die Lust der Production für sich, — der objective Kalobiot wird sich nicht lange bitten lassen, um uns ein Gedicht, das ihm selbst gefällt, zu dcclamiren — ein Licblinqslied vorzusingen, oder irgend eine andere Fertigkeit, sei sie zu was immer für einem Zweig der schönen Künste gehörig, zu produciren und dadurch die Gesellschaft angenehm zu beschäftigen. Man lhut Unrecht, wenn man solcher Productionslust die Eitelkeit als Motiv unterschiebt, der eigene Genuß ist oft der Grund, der Andern Genüsse verschafft, und die Gesellschaft kann solchen Leistenden nur dankbar sein, während die verschlossenen Vielwisser kalobiotische Egoisten sind, die ihr Talent vergraben, statt eS durch die reich¬ sten Zinsen, durch den Mstgxnuß, lu verwcrthen und zu Zinseszinsen zu erhöhen. Auch hier hat der Altmeister Göthe recht, wenn er sagt: Mann mit zugeknöpften Taschen, Thut dir Niemand was zu lieb? Hand wird nur von Hand gewaschen, Wenn du nehmen willst, so gib! Freilich spielt hier wieder der Geschmack die Rolle des Tyrannen, er verfolgt, uns angeboren, jeden unserer Schritte wie unser Schatten. Ueber den Geschmack läßt sich auch beinahe gar nichts feststellen — der Geschmack bleibt ganz Geschmackssache, um so mehr, als nicht blos 10 unser Gaumen, sondern jeder unserer Sinne individuell gestaltet ist, so daß dem Einen das köstlich mundet, was dem Anderen Ekel erregt — der Eine das für Hochgenuß erklärt, was der Andere pcrhorrcscirt — nach dem strebt, was der Andere vermeidet, das wünscht was der Andere fürchtet — das segnet was der Andere ver¬ flucht. UebrigenS eine glückliche, zweckmäßige, heilsame und auf die Erhaltung des Geschlechtes klug berechnete Ein¬ richtung, diese Verschiedenheit des Geschmacks, da der Conflict unabsehbar, unberechenbar sein würde, wenn der menschliche Geschmack coincidenk und bei Allen gleich wäre, wenn Alle gleich begeistert für Poesie, für Musik — für Tanz — für dieselben Speisen und Getränke — für dieselben Spectakel-, für Moschus-, Patschouli- oder Knoblauchdust schwärmen würden, ja wenn nur dieselben Menschen, abgesehen davon, daß es Damen sein könnten, als Idole auf denselben Altar gestellt wür¬ den. Hat doch in dieser Beziehung schon die Mytho¬ logie der Alten diese Nothwendigkeit erkannt und vor¬ gesorgt, indem sie in der Götlerhierarchie eine gewisse Rang- und Dienstordnung einsührte, die Protektorate je nach Bedürfniß, ja nach Geschmack möchten wir sagen, vertheilte, die Bittschriften, Gesuche, Klagen, Oden und Hymnen der Dichter dem Apollo zur Erledigung zuwies, während Merkur z. B. sich mit Börsengeschäf¬ ten und dem Postanite befaßte — Mars, Pluto, Vulcan wieder anderen Ministerien vorstanden, Venus und Diana weibliche ^Angelegenheiten^ der zartesten Natur? schlichteten oder auch, wie es bei Processen zu gehen pflegt, statt zu schlichten, verwickelten, was besonders im Departe¬ ment Venus bei ihren vielen Unterabtheilungen, von der Anadyomene, Aphrodite, Amathusia, Cythere, Urania bis zur Pandemos oder der Vulgivaga und Kallipygos nur zu oft vorkam; und hat das spätere Zeitalter nach dem Heiden- tl r, Z v § r r t f l I I s 1 11 thume nicht demselben Principe gehuldigt und wurde in unse¬ rem Lcgendarium nicht auch St. Crispinus für die Schuhmacher, St. Otto für die Schuhflicker, St. Ge¬ org für die Cavaleric, St. Joscphus für die Tischler, Santa Cecilia für die Musikanten, St. Nicolaus für die Seeleute und die Santa Barbara für die Kanoniere, St. Rochus gegen die Pest, St. Florian gegen das Feuer, St. Hieronymus und St. Martin die Patrone des Weines als Ersatz für den alten Bachus, St. An¬ tonius von Padua für verlorene Sachen, St. Tobias für die Todtengräber, Antonio Sammatei für die Bar¬ biere, St. Silvestra für die Köche, St. Omobono di Cremona für die Schneider, St. Concordia für die Am¬ men (mit und ohne Heb-), St. Pietro für die Fischer, St. Valmar für die Kutscher, St. Giosia für die Ker¬ kermeister und St. Cyriacus sogar für die Scharfrichter und Henker, endlich St. Augustin für die Buchdrucker und Setzer, natürlich nachträglich, da die Buchdrucker« kunst erst 1000 Jahre nach seinem Tode erfunden wurde — in Italien haben sogar die Ouagliatrici di latte, also die Buttcrfabricantinncn und Milchverpantscherinnen in der heiligen Julie ihre Beschützerin — als Protekto¬ ren, Beschützer und Patrone augestellt? Der Geschmack wurde also respectirt und ohne diese zarte Rücksicht kann es keine Kalobiotik geben. Der Dichter Marsano schildert uns in einer poeti¬ schen Erzählung, die er „Ein Zusammentreffen auf dem Berge Karmel" betitelt, die verschiedenen kalobiotischen Tendenzen von vier Nationen. Dieses noch nie veröffentlichte Gedicht dürfte hier am Platze sein, weil cs eben die Freiheit und Verschiedenheit des Ge¬ schmackes beleuchtet. 12 Gin Znslimiimltrtffen auf drm Aergc Karmel. Bon Marsano. Ans dem Karmel, in deni Kloster, Hat einmal des Zufalls Macht Ganz verschiedene Personen Abends nnter Dach gebracht. Singend kamen zwei Franzosen, Springend über Stock nnd Stein, Leichter Sinn nnd leichte Kleider, Geist moussirend, wie ihr Wein. Witzeln über einen Bergsturz, Dem sie kaum entronnen sind, Eines Abeudteuerü denkend Mit dem Beduineukind; Reden lachend von dem Blitze, Der beinah' den Banin gefällt; Leicht selbst mit dem Tode spielend, Leichtsinnige Herr'n der Welt. — Zwei langweilige Gestalten, Dünn nnd mager, traten ein, Ueberdrnß in den Gesichtern -- Mußten Eiigeländer sein. Setzten sich nnd sprachen wenig, Blickten selten in die Höh', Gähnten — seuszken auch zuweilen, Weil noch fertig nicht der Thee. -- Großer Lärm erhob sich draußen, Als käm>rm rin Regiment, Das, in hcft'gem Zank begriffen, Wild zu heißem Kampf entbrennt. Doch es waren nur zwei Männer, Die erschienen, und zum Glück Nur von Seidenwürmern sprachen Mit solch' heftiger Mimik. Wollten nicht dem Führer zahlen, Was contractlich ausgemacht, Weil er fünf Minuten später Sie an Ort und Stell' gebracht. 13 An dem Lärmen, Hellen Stimmen, Der Bewegung mit der Hand, Hatte leicht m diesen Fremden Italiener man erkannt. D'rauf erschienen noch zwei Männer, Hustend, fröstelnd, klein geblickt, Al« ob alle Wissenschaften Sie mit ihrer Last erdrückt. Grüne Brillen ans den Nasen, Voll von Schriften ihr Kamcel, Röcke, Mäntel, Regenschirme, Drunter Westen von Flanell. Kaum im Hau« gleich Tintenfässer Schon zur Hand, dann schrieben sie lieber diese« Landes Lage, Völker und Oekonomie. Aßen auch dabei beträchtlich, Tranken mitgebrachten Wein, Rauchten Mcißnerköpfc — mußten Deutsche Schulpcdanteu sein. -- Auf dem Teppich in der Ecke Saß ein aller Muselmann, Schweigsam, mit gekreuzten Beinen Sah er sich da« Treiben an. Rauchte erlist mit langen Zügelt Seine Pfeife, mit der Hand Seinen langen Bart sich streichend, Lehnt' er still dort an der Wand Von den Franken ward der Türke Laut lind schonungslos verlacht Ob dem Ernste seiner Mienen, Seinem Schweigen, seiner Tracht. Und sie wollten in der Kammer Es dahin noch dringen schon. Daß man diesen Türken gebe Chart' und Constitution. 14 Dort die beiden Italiener Stritten mit einander heiß, Ob man nicht erzeugen könne Käs auch hier zum türk'schen Reis'? Und sic konnten nicht begreifen, Daß nicht Manlbecr hier stall Birk' Und Cyprcssen cultivire Solch ein ungläubiger Türk'. Trotz deni kalten stolzen Glcichmuth Waren doch voll inner'n Hvhn's Anch die beiden blassen, langen, Stummen Söhne Albions. Und sie dachten ihrer Meetings, An den Clubb — das Parlament, Konnten gähnend nicht begreifen, Das mau Türken Menschen nennt. Unsre Schulpedanten rauchten, Schnupften stritte« nebenbei, Wie das stand zu acquinren Und der Türk' zu taufen fei'? Ob als Christ er stntherancr, Ob katholisch werden muß - Doch sie brachten nicht Politik Und nicht Religion zum Schluß. Da allmälig ward es stiller, Demi die Nacht brach tief herein — Die verseh ied'nen Nationen Schliefen endlich alle ein. Morgen ward's. -- Wie Dust und Nebel stag es dämmernd auf der Welt, lieber die zum ferne» Meere Attsgespanul das Himmelszelt. Und die Schatten schwanden mälig, Roth im Osten glomm's empor, Und von lausend glüh'ndcu Rosen Wdlbtc sich das Sounenthor! IP Frischer Lebenshauch ergießt sich Von den Bergen lief ins Thal, Die uralten Wälder rauschen Ihren mächtigen Choral. Und das Licht streut seine Strahlen, Ein Verschwender, rings umher, Eine Krone, lag die Sonne Dort ans purpnrrothem Meer Und des Klosters Glocken klingen Weit hinüber in das Land; Orgeltönc Kunde bringen, Daß ein neuer Tag erstand. — Die zwei Frauken schleichen leise Einer jungen Fellach nach, Die, den Krng ans ihre» Schullern, Niederwandelt zu deut Bach. Albions Sohne dehnen schläfrig Ihre laugen Glieder ans, Klagend einsilbig nnd gähnend, Daß kein Comsort in dem Haus'; Finden, daß das Brot nicht frisch ist, Und der Thee wie trock'iics Heu, Daß die Lond'uer Clubbtaverne Besser als der Karmel sei. Unten sind die Italiener Mit halb Syrien im Krieg, Jeder mäkelt um die Preise, EH' er noch sein Pferd bestieg; Finden Alles viel zu theuer. Finden, daß man sie geprellt, Daß die Menschen Räubcrhorden Und Betrug die ganze Welt. Unsre deutschen Philosophen Trugen schon hinab ins Thal Thermometer, Barometer, Jnstrumeute ohne Zahl. 16 Sie versolg'n in Höh'n und Tiefen Himmels und der Erde Spur, Und berechnen philosophisch Alle Schritte der Natur. Untersuchen Luft und Wärme Stundenlang auch Gras und Stein — Ob sic wohl noch je bemerkten Blumenduit und Sonnenschein? Um dcn Karmel ward'S lebendig, Laut der Karavanen Troß, Das Kaniecl hob seine Bürde Und den Boden stampft das Roß. Zum Tumulte wirb das Lärmen, Jede Sprache zum Geschrei — Bis das Zeichen tönt, daß alles Zn der Reise fertig sei. Unten in der Berge Schluchten Zich'u die Schatten noch der Nacht, — Oben nur die grünen Zinne» Sind ;um neue» Licht erwacht. — Dorten ragt ein cinz'ler Felsen Ob dem Land hinein ins Thal, — D'ranf ergießt die junge Sonne Ihren ersten Morgcnstrahl. - Dorten stand — wie goldumflossen — Tief versunken im Gebet Jener Muselmann vor Gvttes Wunderbarer Majestät!! — Beugt sein Knie und schaut gen Osten, G'rad der Sonn' in'S Angesicht, Die mit ihren ersten Strahlen Durch die Morgendcimm'rung bricht. Dankt dem Allah — daß er wieder Licht und Wärme il,m geschenkt, Während jeder von den Andern Sich als Herrn der Schöpfung denkt. 17 Die Schönheiten durch Vergleiche und Unterschiede herauszufinden, wird also die Hauptaufgabe der Kalobio- tik. Am meisten tragen hiezu, wie wir bereits gesagt, Künste bei, denn an ihnen können wir die schöne Lebens¬ auffassung am besten lernen; die Verbindung aber zwi¬ schen der poetischen und praktischen Auffassung des Le¬ bens darf hiebei nie außer Acht gelassen werden und die bloße Schwärmerei gehört gar nicht hieher. So schwer auch manchmal die Grenzen zwischen der Poesie, die frei¬ lich immer eine reelle Basis haben muß, und zwischen der hohlen, gehaltlosen Schwärmerei zu ziehen sind, so wird man die Flamme des Idealen doch immer an ihrer Wärme erkennen, und diese zu erhalten, soll in jeder Familie eine Lebensaufgabe sein. Der Stand, die Classe, die Conditiou haben da keinen Einfluß — sic ändern das Genus des Idealismus nicht — sondern nur die Species. Wo ausschließlich der Geschmack für Geld, Putz, Kleiderschmuck, Equipagen, Logen und andere der¬ lei Luxusbcdürfnisse vorherrscht, wo man den äußeren Glanz, sei er nun wirklicher Neichkhum oder blos Sand in die Augen, zum einzigen Streben, zur Lebensaufgabe macht: da wird, da muß die Flamme des Idealen ver¬ löschen, da wird Ignoranz, diese pcrcnnirende Wucher- Pflanze, Wurzel fassen, dem goldenen Kalbe alles ge¬ opfert, und man schämt sich weit eher über ein etwas aus der Mode gekommenes Kleid, als über einen un¬ orthographischen Brief, über eine schlechte Handschrift oder Unkenntniß der gewöhnlichsten Lchrgegeustände un¬ serer Schulen. — Vom Idealismus allein kann man nicht leben, denn nicht jede Bildung verschafft Brot und Ehrenstellcn — das Leben aber ohne geistige Anregung, ohne höheren Seelengenuß ist kein Leben, gleicht der thierischen Existenz, und der Reiche, dem die Mittel ge¬ boten sind, kalobiotisch zu genießen, steht, wenn er trotz seiner Gedankenfreiheit ohne Gedanken- ist — als Bett- 2 18 ler verachtet neben dem Armen da, der in seinen Kennt¬ nissen, in seiner Bildung, in seinen tausend Mitteln znm geistigen Genüsse eine Welt zu seinen Füßen hat, die er benützt, ja dominirt blos durch Kalobiotik, während der Ignorant mit all seinen CrösuS-Schätzcn ein Sklave ist, der von seinem Schneider oder van der Marchandc-dcs> Modes, vom Friseur, vom Koche, vom Kutscher ab¬ hängt, die ihm, wenn es den Künstlern beliebt, daß Le¬ ben verbittern und ihn unglücklich machen können. Dem Poeten, der bei der Theilung der Erde zu spät kommt und dem Jupiter zum Tröste sagt: Was thuu? — die Welt ist weggcgebeu, Der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr niciii, Willst du in meinem Himmel mit nur lebe», So oft du kommst, soll er dir offen sein — dem Poeten konnte Zeus als reichliche Entschä¬ digung für alles Irdische, das er verlor, den Himmel antragen — was würde ein Anderer damit angcfangen, welche Verlegenheit würde ihm der Herr des Olymps damit bereitet haben, wenn er verlorne materielle Inter¬ essen mit Idealen hätte answicgen müssen. Was hilft mir der Himmel, hätte der Materielle ihm geantwortet. Was soll ich thuu mit deinem schönen Himmel, Wenn ich Elysiums Sprache nicht versteh', lind wcnu ich ohne meine Bollblnt-Schimmel Vielleicht dort gar zu Fuße geh'. Wenn die Bedienten ohne Goldlivrccn, Die Cherubs keine Opcrnsäuacr sind, Und wenn wir dort nicht nach der Mode gehen, Und unser Äug' für das Balletcorps blind. Ambrosia mag und Nectar freilich muuden, Pasteten aber mit Champagner sich' ich vor, Die Geistrsplageu habe ich empfunden, Gib die Genüsse mir, die ich verlor. 19 Gib schöne Kleider mir und Equipage, Die Dummen sind dann meines 9obcS ball, Und reite mich vor häufiger Blamage, Wenn mit Nernnnft'gcn ich verkehren soll. Was helfen mir Ideen und Gedanken, Mi! denen oft der Menschcntroß sich quält, Mit Gold und Flitter will ia> mich umranken, Es glänz' die Schale, wo's am Kerne fehlt. Ein untrügliches Zeichen kalobiotischcn Sinnes ist somit die Achtung vor Kunst und Wissenschaft. — Künstler und Gelehrte gehören in der menschlichen Ge¬ sellschaft zu den Aristokraten, ihnen gebührt als „Ritter vom Geiste" überall der Bortrilt, jede Classe der Ge¬ sellschaft wird durch sie geadelt und geehrt und der Kai¬ ser, der des Malers Pinsel vom Boden aufhob, der Kö¬ nig, der einem Humboldt den Ehrenplatz in der Hoflogc einräumt, der Ezar, der den Astronomen Struve vor allen Ministern, trotz ihre Sterne an der Brust, als den Kenner der Sterne am Himmel anSzeichnet, Na¬ poleon, der Madame Statzl aus der Menge heraussucht und begrüßt: ehren und erheben nur sich selbst, indem sie sich zu Knappen jener Ritter vom Geiste erniedrigen. Je weiter die Civilisation vorschreitct, desto weniger Classen wird es auch in der Gesellschaft geben. Hatten die alten Inder* die Gesellschaft in 4 und dieEghPter in 7 Classen Priester, Soldat, Nindcrhirten, Schwcinshirten, Gewerbetreibende, Nilschiffcr und Dolmetsche gethcilt, so genügt es unserer Zeit schon, sich in 2 zu trennen, Aristokrat und Bürger, und wie kaum fühlbar sind eben durch die allgemeine Bildung, durch die in alle Schichten der Gesellschaft eingedrungcnc Cultnr, wie kaum fühlbar sind diese Trennnngslinien geworden, so daß sich die Gescll- * Inder, Brahniauen, Krieger, Bisa« (Gewerbetreibende), Sudras (Diener), ähnlich den Parias nnd Ponliah« (Sklaven) der HinduS-Race. 20 schäft eigentlich heutzutage schon ohne Rücksicht auf Stammbaum, Paß, Condition und Confession beinahe nur in zwei Classen theilt, in Gebildete und Un¬ gebildete. Diese Bcrtheilung von Licht und Schalten wird und muß aber ewig bestehen, so lange es überhaupt menschliche Gesellschaften gibt, so lange die Leistungsfähig¬ keit des Talentes, des Wissens unser Geschlecht belebt, so lange der geniale Funke erleuchtet und erwärmt, so lange der geistige Genuß, der immer frische, immer wiederkehrende, unversiegbare Quell des Seelenlebens, bleibt, so lange cs Menschen gibt, die stundenlang vor einem schönen Bilde sitzen, zehnmal ein gutes Gedicht lesen und hundertmal eine geistvolle Sonate anhören können. — Solche Aristokraten werden immer die Angel¬ punkte der Gesellschaft sein ihr Interesse am wahr¬ haft Schönen wird der echte Mäcenatismns werden, von dem man kein Geld, keine Unterstützung verlangt, nur den Sinn für die Leistung, nur die Attraction, die Theilnahme, die Sicherheit zu fesseln, und darum hat Schiller recht, wenn er behauptet: Adel ist auch in der sittlichen Welt; gemeine Naturen Zahlen mit dem, was sic thu'n, edle mit dem, was sic sind, und da das Wort Aristokrat vom Griechischen Aristo- krateia kommt und „Regierung der Edelsten" bedeutet, — Wissen und Können aber das Edelste sind, das den Menschen der Gottheit nähert, so wird die Gesellschaft in ihren beiden Classen dem Aristokraten sein geistiges Adelsdiplom je nach seinem Wissen anSstellcn und den Fürsten ihren Serenissimus-Titel, wie es ursprünglich war, nicht nur mit „Erlaucht" und „Durchlaucht" — sondern mit dem mehrsagenden Prädicate „Erleuchtet" verleihen. Nächst der Kalvbiotik, die das wirkliche äußere Leben zum Gegenstände hat — wird die Kalvbiotik des 21 Jdeenlebeus die unentbehrliche Gefährtin. Was die eine als Naturkalobiotik leistet, liefert die andere als Cultur- kalobiotik. Alles, was mir denken, fühlen, was unsere Phantasie uns malt, gehört dahin, das ganze Jdeenleben des Menschen, mag es nun durch einfache Lebcnscindrückc oder durch Gedankencombination angeregt werden. Diesen Grundsätzen gemäß rufen wir daher dem Mndergebildcten zu: Strebe vom Leben angenehm zu denken, dem geistigen Aristokraten hingegen: strebe vom Leben schön zu denken, b. h. sei auffassender Kalobiot. Beide werden, wenn sie diesen Aufruf gehörig beherzi¬ gen, immer mehr verstehen und würdigen lernen, und der Miudergevildcte wird in dem Maße, als er an Bildung zunimmt, das Bedürfniß fühlen, in dem An¬ genehmen, was er sucht, zugleich auch Genuß und Befriedigung für seinen Verstand und für sein Gefühl zu finden, d. i. allmälich das Schöne aufzu- suchcn. Dieses Ziel erreichen wir am ersten, wenn wir so viel als thunlich allen Dingen, worüber wir denken, die schöne Seite abzugcwinnen suchen. Die beste Lehrerin bleibt hierin die Poesie. Sind doch die mei¬ sten Gedichte im Grunde nichts als Schilderung kalo- bivtischcr Lebensauffassung. Malen sie einfache Lcbens- eindrücke, so gehören sie zur Natnrpoesie, schildern sie hingegen Eindrücke mit Combinatiouen, Betrachtungen, kurz mit einem complicirten Jdeenspiele, fallen sie in die Sphäre der Culturpoesie. Daher gibt es auch Na¬ tur- und Cultur-Kalobiotik. Lyrische und epische Poesie gehören somit zur Na¬ turpoesie, da sie nur Eindrücke schildern, wie die Na¬ turkalobiolik cs auch nur mit schöner Auffassung solcher Eindrücke zu thun hat, — während die Kultur-Kalo- biotik wie die Kulturpoesie das ganze Leben in allen seinen Erscheinungen zum Gegenstände hat. 22 Geben wir im gewöhnlichen Leben auf den Sprach¬ gebrauch Acht, so finden wir, daß, wenn die Leute etwas interessant nennen, sic damit im Grunde nichts an¬ deres sagen wollen, als daß cö poetisch, daß es schön sei, d, h, sic fühlen darin das poetische, das gut zusam- mengcstcllte fesselnde Element. So wird das Wort „interessant" von einer Person wie von einem Buche, von einem Gesichte wie von einem Drama, von einer Situation im Leben wie von einer Gegend gebraucht — und doch brauchen Person, Buch, Gesicht, Drama, Si¬ tuation und Gegend nicht eigentlich schön zu sein — aber fesseln müssen sie den denkenden Menschen, das Ge¬ sicht muß B. einen Ausdruck haben, der uns zwingt, cs länger zu betrachten und darüber nachzudenken, die Gegend muß nicht blos mit allen Schätzen der Natur überladen eine regelmäßige Schönheit sein — aber sic muß unsere Phantasie cinladcn, sich hcrumzutuwmeln, zu betrachten, zu untersuchen, zu entdecken, wie jenes Gesicht, das nicht schön genannt werden kann, aber uns den Ausruf „interessant" entlockt und uns eine Idylle, einen Roman erzählt, während die wirkliche Schönheit wie eine Fensterscheibe ist, durch die wir auf etwas weit Fesseln¬ deres blicken als sie selbst ist. Somit hat das beinahe eingebürgerte Fremdwort „interessant" keine andere Be¬ deutung, als anziehend, einnehmend, reizend, fesselnd, so zwar, daß nicht alles Schöne, was sich uns darbietct, klar zu Tage liegt, sondern mehr oder minder errathcn werden muß, zum Studium anrcgt und je tiefer man indringt, desto mehr Schätze auslicfert. Schönheit ist z. B. beim weiblichen Geschlechte allerdings die Angel; Grazie, Bildung, Geist hingegen sind der Köder. Nur dumme Fische beißen an die Angel ohne Köder — sehr- kluge schnappen den Köder weg, ohne au der Angel hängen zu bleiben. — Ein Bild, das bis in das kleinste Detail scharf ausgevinselt ist, wo Bäume, Häuser re., 23 die in weiter Ferne liegen, ganz ebenso wie jene des Vordergrundes behandelt sind, wird einen widerliche» Eindruck wachen, ebenso widerlich wie ein mathematisch gehaltenes Gedicht — das uns jedes Studiums, jedes Nachdenkens überhebt und daher unsere Phantasie als überflüssig erklärt und müssig bei Seite liegen läßt. Um wie viel reizender ist da ein Bild, das sich nur mit dem Vordergründe befaßt und die Ferne durch leise Andeu¬ tungen der Phantasie überläßt, — um wie viel nnziehen der ist die Poesie in einer rhapsodischen Skizze, als ein in alle Einzeluhcitcn und Nebenumstände eingehendes dcseriptives Gedicht, dessen Logik und Vernunftgründc und Schlußfolgerungen uns langweilen, weil man unse¬ rem eigenen Witze den Hochgenuß entzieht, die Moral der Fabel, des Pudels Kern, wie Faust sagt, selbst heranszufindcn. Wer am Meere wohnt und vor seinen Fenstern täglich dasselbe Bild, denselben Golf, denselben Wasser¬ spiegel erblickt, der sich entweder bis an den Horizont ausdehut, oder von fernen Gebirgen und Inseln be¬ grenzt wird, läuft keine Gefahr, sich an diesem Bilde zu übersättigen, tausend und tausend male wird er das¬ selbe betrachten, sinnend betrachten und immer bewundern. Wäre statt der glatten Ebene des Wasserspiegels eine ebenso große Wiese, ein Acker, eine ungarische Pußta, eine russische Steppe, eine amerikanische Prairie, eine afrikanische Wüste oder ein Eisfeld vor seinen Blicken aufgerollt, und blieben diese so unverändert, wie das früher erwähnte Meer, oder hätten sie auch die kleinen Variationen an Farbe und selbst an Bewegung, an Be leuchtung und Scenerie, wie sic das Meer zuweilen bietet: Wiese, Feld, Steppe, Pußta, Prärie und Wüste wür¬ den uns sehr bald langweilen und die Sehnsucht nach Abwechslung in uns erregen. Und der Grund dieses verschiedenen Eindrucks liegt nur "in dem mehr oder 24 minder Interessanten, das uns der Anblick des Meeres bietet, das Verschwiegene, Mystische, das unsere Phantasie provocirt, das uns zum Nachdenken, zum Studium einladet, das uns auf den Gedanken bringt: wie mag es unter jener glatten Flache, auf der sich der Himmel spiegelt, über der sich die Möven tummeln, aussehen, was mag es für eine Welt in jenen Tiefen geben — ist dort Leben und Tod — Liebe und Haß, Luxus und Elend, Armuth und Reichthum, Licht und Schatten ebenso vertheilt, wie bei uns? Diese Fragen stellt man sich unwillkürlich beim Anblicke der spiegel¬ glatten See, und es fällt uns nicht ein, unsere Phan¬ tasie in ähnlicher Weise beim Anblicke einer Prärie, einer ungarischen Pußia oder einer Wüste zu beschäf¬ tigen. Darum ist der Anblick des Meeres „inter¬ es s a n t." — Und wenn erst die leichte Brise seinen Spiegel in kleine zierliche Wellen kräuselt, wenn sich die Wolkenschatten an sonnenhellen Tagen auf seine smaragd¬ grüne Fläche legen, oder wenn der Sturm es peitscht, Wellen aufthürmt und Schiffe mit vollen Segeln darüber wegtanzen — und wenn die Nacht es umhüllt und der Mond sein Silbcrlicht herniedergießt, oder die dunklen Wolken der niederzüngelnde Blitz zerreißt — und das grausige Dunkel blendend erhellt:-erinnert das nicht wieder an die Physiognomie, die wir früher inter¬ essant nannten, ohne schön zu sein, in der sich Freude und Schmerz, Heiterkeit und Trauer, Liebe und Haß, Windstille und Sturm so magisch gestalten, ja ahnen lassen, wenn sie auch im Momente nicht sicht¬ bar sind? Und wie ein verschleierter Gegenstand immer mehr Reiz hat, wenn ihn die Phantasie umspielt, wie uns alles im Leben mehr fesselt, wenn wir noch etwas zu erwar¬ ten, zu errathen, zu entdecken haben, als wenn alles 25 offen vor uns liegt: so gibt uns die Kalobiotik als erste Regel den Satz: Sauge am Leben mit Lippen der Biene, Suche den Honig, den alles dir beut; Frendc, die gibt's auch in Mitte der Leiden, Wenn man die Mühe des Suchens nicht scheut. Wer sich auf Forschen versteht, der entdeckt; Wie das Metall im Schoße der Erde — Ist ost die Freude im Schmerze versteckt. In diesem Suchen und Ausfinden liegt aber der kalobiotische Genuß. Wir wollen hier nur an Hildebrandts, Rottmanns, Calame's herrliche Landschaften erinnern, deren Total¬ eindruck ein so mächtiger ist, ohne daß diese Maler sich mit Details befaßt hätten, und ebenso geht es im Style in der Poesie und in der Prosa. Wir wollen hier einige -Gedichte vergleichen. Kreislauf des Weines. Aus der Traube in die Tonne, Aus der Tonne in das Faß, Aus dem Fasse dann, o Wonne, In die Flasche und in'S Glas. Aus dem Glase in die Kehle, In den Magen durch den Schlund, Und als Blut dann in die Seele, Und als Wort dani: in den Mund. Aus dem Worte etwas später Formt sich ein begeistert Lied, Das durch Wolken in den Aether Mit der Menschen Jubel zieht. Und im nächsten Frühling wieder Fallen dann die Lieder fein Nun als Thau auf Reben nieder, Und sie werden wieder Wein. Karl Holtei. 26 Wie detaillirt, bis in das Einzelne zergliedert, ist hier der Proceß, den der Wein durchmacht, während weit weniger Worte genügt hätten, um Alles klar zu schildern, ohne Alles zu sagen. Als Gegenstück finden wir besonders bei Heinrich Heine die geniale Skizzirung des Gedankens, wo dem Leser durch wenige Anhaltspunkte Alles klar wird und die kalobiotische Auffassung der angeregten Phantasie überlassen ist, z. B. wie klar wird der Gedanke, die schauerliche Absicht in folgenden wenigen Worten: Am Kreuzweg wird begraben, Wer selber sich bracht' um, Dort wächst eine blaue Blume, Die Armesünderblum'. Am Kreuzweg stand ich und seufzte, Die Nacht war kalt und stumm, Im Mondenscheine winkt mir Die Armesüuderblum'. Wie viel ist da nicht gesagt mit wenigen Worten, wie klar ist der schauerliche Selbstmordgedanke hingestellt, ohne ausgesprochen zu sein; um wie viel weniger wirk¬ sam wäre das Gedicht, wenn ihm noch eine Strophe beigegeben wäre, z. B.: Ich hülle mich in meinen Mantel Und blicke rings herum, Wie süß mag sick's hier ruhen Mit Ciankalium! Eines der herrlichsten Gedichte in diesem Style, ein wahres Meisterstück, ist: Wer nun kränkt dich, schöne Rose, Wer verletzt der stiebe Pflicht'? Der dich welken läßt im Moose, Oder der dich liebend bricht? 27 und der „Der arme Thoms" von Joh.Falk. — Eine Essenz, ein äoubls 6xbrg,it von Gedanken, der Stoff zu einem mehrbändigen Roman ist hier in 5 Sirophen zusammen- gefcißi und durch die Wiederholung beinahe derselben Worte so ergreifend erzählt. Das ganze Gedicht zählt in 5 Strophen eigentlich nur 32 Worte, aber wie meister¬ haft sind sie zusammcngestellt, wie die sieben Noten der Musik. Der arme Thoms. Thoms saß am hallenden See, Ihm that es am Herzen so weh', Da klagten der Nachtigall Töne: Helene! Helene! So klagte der Nachhall am See. Thoms saß am hallenden See, Ihm that cs am Herzen so weh', Da sangen ein Klaglied die Schwäne: Helene! Helene! Antworteten Winde vom See. Thoms saß am hallenden See, Verblaßt ist die Wange zu Schnee, Versiegt ist die brennende Thräne; Helene! Helene! Ries dumpf aus den Tiefen der See. Ich folge, o hallender See, O kiihle das brennende Weh', Ob lachend die Welt es verhöne; Helene! Helene! Ries leise verhallend der See Wer wandelt so spät noch am See Und seufzet: o weh mir, o weh', Wer bist du, einsame Schöne? Helene! Helene! Such' Thoms im wallenden See! Joh. Falk. 28 Ganz falsch bleibt daher in der gesunden Leben s- philosophie, die sich jeder bewußt oder unbewußt jclbst bildet, die Nothwevdigkeit des klar zu Tage liegenden Genusses, davon es so wenige im Leben gibt und worüber Mephisto in Göthe's Faust (2. Theil 1. Aufzug) so richtig sagt: Daran erkenn' ich den gelehrten Herrn; Was ihr nicht tastet, steht euch meilensern. Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar, Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr, Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht, Was ihr nicht münzt, das, meint' ihr, gelte nicht, Es gibt Menschen, die blos in der Vergangenheit leben, wie man es oft unter älteren Leuten findet. Die wiederholten Parallelen, die sie zwischen ihrer längst ver gangenen Zeit und der Gegenwart ziehen, sind un¬ wahr und werden anderen und ihnen selbst lästig; — unwahr, weil sie mit ganz anderen Augen sehen, von einem falschen Standpunkte Alles betrachten und ver¬ gessen, daß sie selbst jung waren; — lästig, weil sich die Zeit, in der sie lebten, nicht zurückzaubcrn läßt in unsere wilde Jugend, die Denkungsart so wenig als die Mode, weil sich die Zeiger einer Uhr nicht nach rückwärts bewegen lassen, ohne die Uhr zu verderben. — Es gibt wieder Menschen, die blos in der Zukunft leben, ungestüme Progressiven — meistens junge Leute, bei denen der Schwerpunkt vor die Füße fällt — und die gleichsam gezwungen sind, nach Vorwärts zu drängen. — Es gibt endlich Menschen, die in der Gegenwart, aber in einer erträumten Welt, leben und eben in Folge ihrer Schwärmerei die Gegenwart verlieren. Die langen Mückenflügel — das Libcllenarlige ihrer kranken, un¬ praktischen Phantasie hindern sie am Gehen, am Schritt¬ halten mit den andern vernünftigen Wesen; sie sind im 29 Leben immer entweder einen Sprung voraus oder einige Schritte zurück — aber nie in Reih' und Glied mit ihrer Zeit. Sie kennen das größte Gehcimniß nicht: die Würdigung, den Werth der Gegenwart. Darin liegt eben das große Princip der Lebcnsphilosophie, das wohl zu beherzigende Geheimnis; der echten Poesie, der echten Kaloviotik. — Nur von diesem Standpunkte ausgehend, kann das Leben gedeihen, sonst ist cs boden¬ loses, verderbliches, nichtiges und ewig unbefriedigtes Streben nach Rückwärts oder nach Borwärts. Weit entfernt, im Auffinden eines vernünftigen Lebensgenusses zum Epikuräer, im üblen Sinne de« Wortes, zn wer¬ den, erlauben wir uns doch den Bergleich mit einem Menschen, der zu einer reichgedccktcn Tafel geladen ist. Der Zukunftsschwärmer entschuldigt sich bei dem gastfreundlichen, allgütigen Herrn des Tisches, indem er sagt: Ich werde morgen besser speisen. Der in der Vergangenheit lebende Nlterthümlcr und Bewunderer der guten alten Zeit — schlägt das herrliche Mahl aus und sagt: Ich habe gestern viel besser gespeist, und beide sind zum Hungern verurtheilt, der erste nagt an seinen Hoffnungen, der zweite an seinen Erinnerungen, und so setzt sich nur derjenige heitern Sinnes zu Tische, der den Zweck des irdischen Daseins erkennt; wer das Leben kalobiotisch aufgcfaßl hat, der findet dann auch immer, was ihm mundet. Aber rasch muß man leben, keine Mi¬ nute verlieren, so daß man in jedem beliebigen Mo¬ mente von der Bühne abtrctcn kann, und so arbeiten, als ob man noch ein Jahrhundert zu leben hätte. Rasch entschweben, Lieb und Leben; Darum eben Müßt ihr streben, Rasch zu leben. Mrei nach Beranger) 30 Solche Genüsse bieten sich im materiellen wie im Jdcenlcbcn - - und selbst die Poesie, die Blüthe des Jdeenlebcns, kann keine echte sein, sobald sie mit einer richtigen Lebensphilosophie nicht im Einklänge steht — und insoferne sie unö zur möglichsten Verschönung un¬ serer Ansichten über das ganze Dasein des Menschen verhilft, ist sie die höchste Potenz der aus fass en den Kalobiotik. Aber selbst die Poesie muß sich ans der goldenen Mittclstraßc bewegen, denn Rückert sagt: In allen Leben ist ein Trieb Nach unten und nach oben : Wer in der rechten Mitte blieb, Nur der ist zu beloben. In Hochmuth überhcb' dich nicht lind lass' den Muth nicht sinken: Mit deinem Wipfel reich' in's Licht Und lass' die Wurzel trinken. Au ihrer Hand, immer vorausgesetzt, daß sie nicht in Schwärmerei, d. i. in unrichtige, mit dem wirklichen Leben nicht im Einklänge stehende Scheiupoesie ausar- tet, gelangen wir dahin, auch im täglichen Leben dm Dingen ihre schöne Seite abzugewiunen, ohne vorläufig erst durch ein Gedicht darauf aufmerksam gewacht zu werden, d. h. wir bilden unfern angeborncn Sinn für poetische Lebensauffassung immer mehr aus, oder wir werden immer mehr auffassendc Kalobioten. Denn nicht Jener allein ist ein Dichter, der gute Verse macht oder sich überhaupt mit Poesie befaßt und schön in Reimen singt, o nein: poetische Auffassung in schlichter Prosa, die unser Ohr nicht durch den wohlklingenden Vers, durch den Reim, durch den Rhythmus besticht, sondern den ungeschliffenen Diamanten des kräftigen Gedankens, des wahren, warmen, tiefen Gefühles unserem Herzen zuführt, ist wahre Poesie — ja, und: 31 Vielleicht ist Der der größte Im weilet'. Dichtcrlaud, Der seine Sprache immer, Zu arm für Dichtung fand. Er fühlt den Duft der Blume Und ist davon entzückt, lind läßt sie harmlos blühen, Sie welkt, wenn er sic pflückt. Das sind die schönsten Lieder, Für die kein Wort genügt, Um deren zarte Glieder Kein Rciingewand sich fügt; Die tief in uns erklingen. Und still in uns verweh'n Und doch zu denen dringen, Die liebend uns verstehst!. Jul. Sturm. Drei wichtige Dinge stehen übrigens jedem Kalo- bioten oft hinderlich im Wege: Sitten und Gebräuche, die sogenannten Complimentc und die Mode. Alle drei können sehr hochmülhig, sehr lyranisch auftrcten — aber auch hier gilt das alte Dictum, daß die Geknechteten immer die Schuldlragcnden bei Tyrannei sind: Viel Klagen hör' ich oft erheben, Vom Hochmuth, den der Große übt; Der Großen Hochmuth wird sich geben, Wenn unsre Kriecherei sich gibt. Bürger. Und so kostet es auch hier nur den festen Willen, sich nicht zu fügen, und der Standpunkt ist überwunden. Nehmen wir z. B. aus dem Capitel Sitten und Ge¬ bräuche den Gruß der verschiedenen Nationen heraus — oder unsere Anrede — Titel! — Ohne das Sinn¬ lose: Wie befinden Sie sich? wie geht's; ooms 62 oomwöiit V0U8 portöL V0U8? Horv äo ^on äo? be¬ kritteln zu wollen, da cs dem alten lateinischen tzuomocio vales — so ziemlich gleich kommt, endlich doch nur eine Ouvertüre zum Discurse einer Ansprache ist und es auch Völker gibt, die sich mit der Frage „Wie schwitzen Sie?" begrüßen, ja cs nur zu oft vorkommt, daß der Fragende, der sich so angelegentlich um unser Befinden erkundigt, die Antwort gar nicht abwartct, sondern uns gleich seine eigenen Leiden in U-inoU vorjammert: so bleiben eben diese Grüße doch nur eine Redensart, un¬ ter denen das deutsche „Gott zum Gruße, Gott grüße Dich" — vielleicht die gehaltvollste, die herz¬ lichste ist: Gott grüße dich! kein and'rer Gruß Gleicht dem an Innigkeit, Gott grüße dich! kein and'rer Grnß Paßt so auf alle Zeit. Gott grüße dich! wenn dieser Grnß So recht von Herzen geht, Gilt bei dem lieben Gott' der Grnß So viel wie ein Gebet. Jul. Sturm. Wer von uns hat das spccicll österreichische „Ich küß' die Hand" nicht oft belächelt — es datirt wohl noch aus einer ritterlichen Zeit — ist aber sehr dcgene- rirt, hat heute zu Tage vielleicht nur seinen Werth, wenn der Handkuß wirklich angcwendet, wenn er nicht auf das Hirsch- oder Ziegenleder des Handschuh's applicirt, der leicht schwebende Steg zu dem jenseitige Ufer noch unerreichter Wünsche wird? Wer hat unter all' den tausend Lebensfällen nicht einmal wenigstens einer Dame den Arm geboten, und einmal wenigstens die Vorschrift nicht übel gefunden, daß sie am rechten Arm geführt werden muß — wo- 33 durch man so über den Schlag und Schall ihres Herzens schneller in's Reine kommen kann. — Wer hat die Freude über einen herzlichen Händedruck nicht schon em¬ pfunden, und hat im Gegensätze nicht das Peinliche, Un¬ heimliche einer Hand gefühlt, die uns kalt alle fünf Finger ohne den leisesten Druck entgcgenstrcckt? Um wie viel herzlicher, einfacher ist diese Begrüßung durch einen Händedruck, die sich allmälich cinbürgert und die wir den Engländern verdanken, als die früheren und leider noch üblichen Knixe auf Pesl-Quarantaine-Distanz? Verbannen wollen wir sie also nicht, diese unent¬ behrlichen Formen und Formeln der menschlichen Ge¬ sellschaft; aber die minder vernünftigen möchten wir an¬ passender machen — einfacher stellen, sie im kalobioti- schen Sinne auf ein Minimum beschränken, in gewisse Grenzen verweisen, denn wie Metastasio der Kaiserin Maria Theresia sagte, als sic ihm seine Freimüthigkeit vorwarf: In no8tru vita 8 troppo eurtu, p6r psrciors U tsnapo eon oomplimöirbi! In Deutschland, England und Frankreich haben sich Gesellschaften gebildet, die es sich znm Zwecke mach¬ ten, das Hntabnehmcn auf der Straße gänzlich abzu¬ bringen. Beim Militär besteht dieses Privilegium; die Damen, obwohl sie eben jetzt gar keine Hüte tragen, sondern nur Stirnblenden, erscheinen in der Gesellschaft, ja selbst in der Kirche mit dem Hut auf dem Kopfe; der Priester fungirt am Altäre mit seinem Käppchen: warum soll der Gruß, der Ausdruck der Verehrung auf der Straße bei Wind und Regen im Hntabnehmcn be¬ stehen ? Hätte so ein uuterihänigcr Diener, wenn er gnädig befragt wird, wie er sich befinde, nicht mit dem Hute in der Hand das Recht zu antworten: Ich danke, bisher gut — aber morgen wird mich ein böser Schnu¬ pfen quälen! 3 34 Oder sieht es wirklich besser aus, wenn einer, mit dem Hute bis zur Erde gebeugt, eine Betilcrstcllnng, die uns immer verführt, einige Kreuzer in dcu Hut zu werfen, mit fliegenden Haaren seine Versicherung der Ergebenheit, der Freude, des Respectcs ausdrückr, oder im Regen barhaupt die stereotype Phrase: Wie befinden Sie sich? vorbringt, oder auf diese Frage, unter einer Dachrinne stehend, mit der Lüge antworten muß: Ich danke, recht gut! Wie viel vernünftiger ist da nicht der Gruß des Orientalen, der mit seiner Hand aufeinanderfolgend Herz, Mund und Stirne berührt und sein „solum ulsiicum," der Friede sei mit Euch, weihevoll spricht und durch seine Pantomime sagen will: Im Herzen, im Munde und im Gedanken trage ich Dich! Er nimmt sein Fez oder seinen Turban vor keinem Großen der Erde und auch in der Moschee nicht ab und denkt vielleicht, wie der bekannte Wiener Sonnleitner, der von dem Segen spen¬ denden Erzbischöfe aufgefordcrt wurde, seinen Huk abzu¬ nehmen, und erwiderte: Ist der Segen gut, Dringt er durch den Hut, Ist der Segen schlecht, Sitzt der Hut ganz recht. Wenn man bedenkt, daß die Erde ans ihrem Wege um die Sonne, den sie in Einem Jahre beenden und l30 Millionen Meilen zurücklegcn ninß, sich mit einer kaum denkbaren Schnelligkeit bewegt und in Einer Se¬ kunde mehr als 4 deutsche Meilen macht, sich wäh¬ rend dieses Fluges durch den Weltraum, der jenen einer Kanonenkugel übertrifft, gleichzeitig mit einer bedeuten¬ den Schnelligkeit wie ein Quirl um ihre eigene Achse dreht und jeder Punkt ihrer Oberfläche in jeder Secundc Rotation auch l> deutsche Meilen zurücklegt; wenn mau 35 bedenkt, wic unangenehm uns schon der Luftzug in einem Waggon der Eisenbahn berührt, wenn mir während der Fahrt den Kopf zum Fenster hinansslrecken, wo dieser im Vergleiche zur Schnelligkeit, mit der sich die Erde in der Eklyptik bewegt, wie eine Schnecke kriecht und in einer Stunde der schnellsten Fahrt nicht so viel Weg zurücklegt, als die Erde in einer Sccunde; wenn man diesen Wirbel von Zugluft bedenkt, in dem wir uns befinden und dann noch Minuten lang mit dem Hute in der Hand stehen sollen und vielleicht ein Regen mit Bora auf einen Ehrfurcht gebietenden Kahlkopf nicder- gepcikscht wird — wer sollte da das Hutabnehmen noch als einen kalokiotischcn Gruß erklären und dafür in die Schranken treten wollen? Warum sollten wir also die Complimcnte, die sich nach und nach so unabänderlich in unsere Sitten und Gebräuche eingeschlichen haben, unter deren Joch wir seufzen, nicht auch ein wenig kalobiotisch rcformircn, um¬ somehr, als ihr Einfluß so mächtig geworden ist und sie, obwohl von Menschen geschaffen, sich zu einer Höhe und Macht emporgeschwnngen haben, von der sie Gesetze dic- tiren und ihre eigenen Schöpfer mit drohend geschwun¬ gener Geißel zum Gehorsam rufen. Wenn wir diese verschiedenen Abarten von Ge¬ bräuchen kosmopolitisch betrachten, so finden wir in ihnen das sonderbarste Gemenge, so daß sogar Einiges, was hier als Ehrenbezeugung gilt, dort als Beleidigung betrachtet wird. Unser Klatschen mit den Händen ist nur im Theater und ähnlichen öffentlichen Productionen gestattet, einem Prediger, der seine Aufgabe noch so glänzend löst, darf nur das tiefste Stillschweigen, mitunter auch Geschluchze, häufiges Schneuzen, den Beifall bezeichnen, wodurch sich freilich auch gleichzeitig diejenigen Sünder verrathen, 36 deren ooräs 8sn8ibls sein Wort von der Kanzel be¬ rührt hat. Das Pfeifen, das besonders in Italien so hänfig als Zeichen der Mißbilligung angewcndct wird, gilt ans allen Kriegsschiffen als Ehrenbezeugung, und noch gro߬ artiger und überraschender ist der Gruß mittelst Kanonen¬ schüssen, die einem hohen Gaste zu Ehren bei seinem Scheiden von einem Kriegsschiffe nachgefeuert werden. Dieser donnernde Gruß gehört zu den Evmplimenten der ersten Classe. Die Zahl der Schüsse richtet sich nach dem Range des Gastes — aber auch hier können Schmeicheleien mit Kanonen vorkommen und ein paar Schüsse über die Gebühr uä euxtawäg-rrr bsnsvolsntiam gegeben werden. Was sind solche überzählige Schüsse anders, als ein etwas tiefer als gewöhnlich abgenom- mcner Hut; was dort der Neigungswinkel des Hutes ausdrücken soll, das sagen hier zwei Kanonen. Zn Sitten, Gebräuchen und Complimenten gehö¬ ren natürlich auch die Titel. Abgesehen davon, daß cs noch immer Leute gibt, denen cS nicht unangenehm ist, mit einer höheren Titu¬ latur angcsprochen zu werden, als ihnen gebührt, wo¬ durch die Etymologie des Wortes Titel von ,MUInra," das im lateinischen „kitzeln" bedeutet, gcrechtferiigt ist, und dieses titillars meistens von einem wohlgefälligen Lächeln begleitet ist, so gibt cS unter den europäischen Sprachen wohl nirgends mehr solcher Anredelitcl, als im Deutschen und Italienischen. Engländer und Franzosen haben diesen unnützen Ballast in jüngster Zeit ganz über Bord geworfen, aber der Italiener gefällt sich noch immer in seinen Superlativen: 6llurl88imo, 6olsir