/^^, ^, ^/ Nnßlands i l» n c r c s L e b e it. Dritter Band. D>'ti und dreißigjährige Ersah run gen eines Deutschen i n N ußla n d. Drei Vänbe. Zweite Ausgabe. Dritter Band. Vrauii schweig, Druck l!,id Verlag v lni Geor^c W^stcv>na!i n, «855. Inhalt des dritten Dan des. Ecite. Stimmen ans dm Kcrkcrn....... 1 Kirche. Schule......... 63 Dcffcntlichcs und Privatleben. Bürgerstand. Ndcl ... 113 NcgicnmgZzcit Nicol.nls 1........ 163 Stimmen aus den Kerkern. Mnßlmid. ill. Allmächtig! Wir kömmi lcincu Floh erschaffen, und Wir tödtc» Mcnschc». Vlut vcrgicßcn wir. Und lodm dich! 1 Petersburg hat an ciner Stelle dcn Inbegriff seines Lebens so ziemlich vollständig architektonisch ausgesprochen: Lachen, Tanzen, Singen, Essen, Trinken, Reisen. Beten, Heimchen >. e. Fleischeslust, Weinen, Gaunern, Eleganz, Glend, Geheimnisse. Die Hauptgebäude dieses zusammengedrängten Gcsammtaus-drucks sind: das steinerne Theater, das Proviantamt mit den Magazinen, Branntwein- und Weinschenken, das Fremdenburcau, die Nikolai- und Gefäugnißkirche. und das große Gefängniß. Von dieser mächtigen Stadt. Gouvernements- und Staatsan-stalt ist allein hier die Rede. Nicht zu verwechseln ist dieser wohlverwahrte Ort mit dem wohl-cingcrichtetcn Institut, in dessen hcil'ge Hallen nur Diejenigen in anständigen Wagen mit Begleitung ciner standesgemäßen (commission alls ihren Behausungen abgeholt werden, welche falsche Wechsel über Summen von 300,000 Rubel und mehr. oder andere im Commerz und bürgerlichen Leben gebräuchliche Dokumente verfälscht und ausgestellt ; oder ehrliche Leute. Unmündige, Wittwen, Waisen el,o. um Hab nnd Gut betrogen, oder ihren Mitbrndern Mark und Blut ausgesogen haben, und gelegentlich bei einer Spazierfahrt an der Börse erklärten, das; sie es jetzt für Zeit nnd ihren bereits getroffenen Maßregeln für angemessen hielten, den Forderungen ihrer Crcditoren 1" 4 Stimmen aus den Kerkern. cin für allemal cm Ende zu macheu, und sie durch Anzeige vou Insolvenz zu Ruhe zu verweisen. falls sie sich nicht mit 25 Prozent lind weniger zufrieden gäben. Diese in allgei«eiuer Achtung bleibenden Herren Haufen dann Tage, Wochen, Monate, je nachdem nachgeholfen wird, in diesem sogenannten Schuldengefangnisse, führen ein bequemes Leben, empfangen Visiten, gehen und fahren nach Belieben aus, übernachten zu Hallst und stellen sich am Morgen wieder cin, freuen sich über das durch den schändlichsten Betrug Gewonnene, und lachen ihren Gläubigern dafür in's Gesicht. Anders runzelt das Vchmgcricht die Stirn über Die, welche tö dem großen, in drei Straßen ausgedehnten Eriminalgefängniffe überliefert. Wen es darunter versteht, das wird sich ergeben, wenn wir in diese Bastille mit stillem Schauer treten, und einer Stimme von Innen lauschen, die leise fragt: ,,Wollt Ihr die Hölle sehen? Fürchtet Euch nicht, ich bin nicht der Teufel! Als aber der Teufel nicht wußte, wie er mir einen Schabernack spielen sollte, da fragte er die Polizei und Justiz um Nath." Hat der vorhergehende Abschnitt gezeigt, wie cö in den Tribunalen hergeht, so muß sich der Blick auch in der Anstalt ergehen, wohin diese Behörden ihre Produkte liefern. Gäbe es denn in Europa eiue Gesetzgebung, welche geböte, unmenschlich zu sein gegen Gefallgene? Keine! Allein wo die Humanität außerhalb der Strafanstalt den Schiedsrichter über den Wolken sucht, weil sic keinen gerechten unter den Menschen findet, da wird sie die Hoffnung auch nicht innerhalb nach einem Troste senden. Der russische Eioilprozcß öffnet den gräßlichsten Ungerechtigkeiten alle Pforten, worauf sollte sich das Vertrauen stützen, daß das Crinünal-verfahrm ein menschlicheres Herz zeigm würde? Stimmen aus den Kerkern. ti So ist cs auch nicht. Das Kops- oder Kriminalgericht selbst bevölkert mit Mitgliedern auö seiner Mitte das Gefängniß. Der Winkel, in dein cs angelegt ist, enspncht dein Schancrlichcn. Ich habe ine von cincin menschenfreundlichen Gemüthe in dessen Tschi-nownikzahl gehört. Ich habe zwei daraus gekannt. Hn! Seelen-vcrkäuser! Für ans den Schlachtfeldern allem Gefühl abgestumpfte, Fcldschcrer durste ich sie halten, dic verlangen konnten, der Schmerz solle lachen. Und dieses Collegium, dem Wobl, Weh, Ehre. Leben, Schuld und Unschuld in die Hände gegeben sind, bat nie einen Mann gehabt, der als Criminalist fähig gewesen wäre, ein Verbrechen in Wurzeln, Säften, Zweigen und Blättern zn erkennen, Schuld in ihren Nnanlus in »tulu, nämlich ein Institnt für noch höhere Knltur, wo die Ilinnlniioi-i^zimll docirt werden, cm feuchtes Loch, zu welchem Diejenigen Zutritt haben, welche die Instiz des Obersten, oder die Laune eines Mitgliedes des Gesängnißconnts dahin befördert. Es genügt nämlich nicht, dafi Einer allein befehlige. Jedes vornehme Mcmbrum des znm Wohl der Gefangenen sich gebildeten Comites fühlt sich zu ctwas Vesserem aufgelegt, als nach gesundem Brot oder nahrhafter Snppc zu forschen, und sich wohl gar in die Verlegenheit zn bringen, davon zn tosten. Es würde sich überdcm nicht zum Beitritt in die Gesellschaft verstanden haben, wenn sein Name nicht in der kaiserlichen Familie als Theiluchmer am öffentlichen Wohl genannt werden könnte. Ein solches Mitglied maßt sich «x.!m'0 luttn!'!»^ si'w<< 0lc. das Recht au, zn befehlen, und seine Wichtigkeit fühlen zu lassen. Hält z. B. ein Eingekerkerter die an ihn gestellten Fragen für Naseweisheit und Nnberech-tigimg. und er will nicht antworten, oder beunzt er das Almosen, welches ihm das Gesetz zugeworfen hat, im engen Hofraum auf-und abzugehen, das Mitglied will es aber nicht erlauben, nnd der Gefangene weigert sich, gleich zu gehorchen i so musi der Widerspenstige in jenes feuchte Loch hinter Pallisaden bei Wasser und Arot auf 3 nnd mehr Tage. Es müßte mit Wundern zngehen, wenn der Wille des Menschen "icht nach und nach wie Vaumschwamm weich gerieben und salpc« 2' 20 Stimmen aus dcn Kerkern. trisut werden könnte, daß jeder Hcr/lknecht seine Pftift damit anstecken kann. Mitten in der verwilderten, verpesteten Menschcnnatur fällt der Blick auf andere lebende Bilder. Sie haben kcine heitere Miene, aber jede Menschenbrnst fühlt sich von ihnen angezogen. Sie nehmen nicht Theil am Schwärme des Lasters, und das Laster hat Ehrfurcht vor ihnen, wenn eö noch Ehrfurcht fühlen kann. Im Gesicht liegt der Schmerz des erleidenden Unrechts. Die Zunge flucht nicht, denn die Ohnmacht des Fluches kann die Elfen band er, die der Freiheit angelegt sind, nicht zerschmettern. Die Augen liegen am Himmel und warten, wann die Blihc niederfallen. Die Bilder gehören zum großen Menschen« jammer. Wer ein Herz hat, weine.' Nicht in dcn Maliern der Gewalt! Weinen kann man nur in Gottes freier Einsiedelei. Sich diesen Nüssen! Ein ehrlicher, gutmüthiger, schuldloser Mann. Er ist reich, und mit seinem Vermögen ein Wohlthäter der Armen, auch hier im Gefängniß Wohlthäter des Adels. Seit vier Monaten ist er durch die Polizei seiner Familie entrissen, und weiß bis diese Stunde nicht warum. Noch hat ihn Niemand nach Schuld oder Nichtschuld befragt. Er hat sich schriftlich und durch seine Frau und Freunde mündlich an die Mächtigen gewendet, die von seiner Verhaftung wissen müsseu. Er bleibt ohne Antwort, und die mündlich Bittenden läßt man nicht vor. Ein Minister, ein Deutscher, hat sich endlich erbarmt, und ihn wissen lassen, wo er sich nach der Ursache seiner Haft zu erkundigen habe. Er thut es, und erhält den Bescheid, wenn er 2000 Nubel — sage zweitausend Nnbcl, zahle, so wolle man ihn gleich wieder in Freiheit lassen, widrigenfalls man ihn in einen Criminalprozeß ziehen werde, Stimmen ans den Kerker». 2t indem einer seiner Verwandten einen falschen Wechsel ausgestellt habe, und anzunehmen sei, daß er als naher Verwandter darnm wisse. Kein Mittel ist zu schlecht, oder zu hoch es von, Zanne zu brechen, um Geld zu erpressen. Des Manncö Vermögensvcrlnst wächst dnrch scinc Haft mit jedem Tage. Er würde die 2000 Rubel für die unverschämte Forderung den Korsarcn bezahlen, allein bekennt er sich dann nicht schuldig? Ist die Schlinge nicht sichtbar,, welche die Intrigue ihm gelegt hat? Er zahlt also nicht. Da dreht man die Danmschranbcn schmerzhafter. Man raubt ihm den einzigen Trost, seine Frau und Kinder, die der Gram zernagt, des Sonntags einige Minuten zu sehen, cine Wohltat, an welcher das Gesetz mitleidig alle Verbrecher theilnehmcn lasit. — Die einzige Beruhigung einem Unglücklichen aus Gefühllosigkeit rauben, ist unmenschlich, aus Hoffnung anf Geld es thun, ist niederträchtig. Dort hat sich ein junger Mann hinter einen Pfeiler gedrückt. Er weint bitterlich. Seine Gefährten in der Behörde, wo er angestellt ist, haben gegaunert. Sein Chef macht ihn dafür verantwortlich, nnd überlieferte ihn der Bastille. Seine Mutter erwartete ihn den ganzen Tag vergeblich. Niemand sagt ihr mehr, als daß ihr Sohn ins Gefängniß geschickt sei, weil sich Jedermann scheut, mehr gegen den Obern auözusprcchcn. Am Morgen eilt sie der Bastille zu. Der Eintritt in das schauerliche Gewölbe erschüttert ihre Seele im Tiefsten. Hier soll sie ihren Sohn wissen, den sie so zärtlich liebt' Sie sieht, sie bettelt um die Erlaubniß, ihn zu sehen und zu fragen, wärmn er in Hast. Gefühllos wird ihren Thränen die Bitte abgeschlagen, und doch am nämlichen Tage viel Andern gestattet, die Ihrigen zu sprechen. Bebend kehrt sie znrück, und kalim in ihre Wohnung getreten, vollendet der Schreck seine Macht an ihr, sic stirbt. Man ließ es dem Sohne wissen, vcrwei- 22 Stlmmc» auö den Kerkern. gerte ihm aber, die todte Mutter noch einmal zu sehen, oder sie an das 6nab zu begleiten. Da sitzt er mm allein lind weint. Was hat dieser ruhig schlummernde 18jährigc Jüngling verbrochen? Nichts, gar nichts. Seine Verbrechen sind Armuth und halber Blödsinn. Er besitzt durch Erbschaft der Eltern in Petersburg ein Hauö. Seine leibliche Schwester benutzte seine Geistesschwäche. Sie setzte sich iu sein väterliches Erbe mit Hülst ihres Bräutigams, und stieß den Bruder ans dem Hause, unbekümmert was aus ihm werde. Der junge Mensch hatte keinen andern Er« werb, die Noth zwang ihn zum Vetteln. Die Polizei griff ihn auf und übergab ihn der Fürsorge des Bettlercomitö. Diese Wohlthätigkeitsanstalt fühlte keinen Drang, ihn zn unterstützen, sie sorgte für ihn, indem sie ihn in das Gefängniß in die Gesellschaft der adligen Verbrecher schickte. Als cr den abgerissenen Rock abzog, stand er nackt, nicht ein elendes Hemde hatte ihm die wohlthnende, vornehme, reiche Societat geschenkt. Hier liegt er bereits mehrere Wochen. Und seine Zukunft? -— Die fängt an, am Horizonte sich aufzuklären. Mit dem nächsten Etappemommando wird cr mit einer Bande Verbrecher forttransportirt, und im Pultawaschcn Gouvernement abgeliefert, um — um dort zu betteln, und nicht in der Residenz. So wird der Armnth geholfen. Auf diese sehr gewöhnliche Weise wird entfernten Provinzen das Elend zugeschoben, und dem Auge des Kaisers entzogen. Wessen ist dies Portrait eines rüstigen Mannes? Ein gutmüthiger, dienstfertiger Tschinowuik, der sich freiwillig dem Gefängnis, überliefert hat. Er ist schon stit Jahren des Dienstes entlassen. In seinem Abschiede steht ,,wegen schlechter Aufführung/' Auf dieses Attestat konnte er natürlich nirgends eine Versorgung er-langen. Um sich und seine Familie zu ernähren, suchte er nach Stimmcu aus dcn Kerkern. 23 iedcm redlichen Mittel, cr scheute kcinc Arbeit. Er bemühte sich sogar um ein Unterkommen als Nn-m-ink (Hausknecht). Noth und Gefühl für seine Kinder machten ihn willig, sich den niedrigsten Arbeiten, dem Straßenfeam zu unterziehen, er wollte nur Brot für sich und die Seinigen, um das elende Leben vom Tode zu trennen. Wie groß war eines Tages seine Freude, als ihn ein Kaufmann als l^voinlk gemiethet hatte. Am andern Morgen verlangte der Hauswirth sein Attestat. Er gab cs mit dem Schwur aus vollem Herzen, er werde durch sein Leben beweisen, daß er dies Zeugniß nicht verdiene. Der Brotherr las, gab ihm das Papier augenblicklich zurück, und wies ihn aus dein Hause. Er fristete von nun an sein Leben durch Almosen. Arbeiten wollte er, Vetteln war ihm das Schwerste und Drückendste. Er gab sich in der Verzweiflung einem Polizeiuntcroffizier als Bettler an, und ließ sich auf die Polizei führen, die ihn dem Gefängniß überlieferte. So hat er nun scholl über ein Jahr Nahrung für sich selbst, dic Seinen sind im Elend geblieben. Er hat darum nachgesucht, seinem Adel gegen Ausstellung eines Domestikenzeugnisses entsagcn zu dürfen. Kcinc Antwort darauf. Jetzt ist der Befehl gckommm, ihn frei zu lassen, aber Niemand hat sich seiner erbarmt mit einer Hülfe. ,,O Gott!" seufzt er mit Thränen über seine Freiheit, ,,ich muß ihr entsagen, bald bin ich wieder hier, der Bettelstab ist mir als einzige Stütze gelassen!" Weß Bild ist hier? Ein Baron X., ein Ausländer. Ueber ein Jahr war er Eigenthum der Bastitte. Eine ehrliebcndc Seele. Er hat 15 Jahr im Militair gedient, untadelhaft. und mit zwei Orden belohnt. Er nahm dcn Abschied, und erhielt eine Eivilstelle. Ein Anderer, begünstigt von Großen, drängte ihn aus seinem Posten. Er kam uach Petersburg, ging cineö Gesuchs halber eines 24 Stimmen aus dcn Kcrkern. Winterabends zn cmcin Mächtigen, vergriff sich im Dämmerlicht beim Weggehen, nahn, statt seines Mantels dm daneben hängenden des Großen, und ging damit langsam nach Hause. Der Diener bemerkt gleich darauf den fehlenden Mantel seines Herrn, und eilt dem Baron nach. Er holte ihn ein, und kam mit ihm zurück. X. bat seines Irrthums wegen um Verzeihung. Brutalität fuhr ihn aber an, ein Wort gab das andere, und gereizt, als Mann von Ehre und Rcchtschaffenhcit gar des Diebstahls beschuldigt zu werden, schleuderte er in der Hitze die Worte hin: ,.Es ist bekannt, wer in Petersburg stiehlt, von Solchen können Sie so reden, aber nicht von mir, ich habe meine Orden verdient, Ihnen hat man sie geschenkt; ich bin ohne Protektion, ich bin in Ihrer Gewalt. Sic können mich unglücklich machen, ich traue es Ihnen zu, ich lasse mir aber von Ihnen und von keiner Macht die Ehre ranbcn!" Auf der Stelle ward er arrctirt. Man machte ihm den Criminal-prozeß als einem gemeinen Diebe, und nachdem er fast zwei Jahr im Gefängnisse geduldet hattc, erschien das Urthcl: daß er aus Rücksicht ans seine 15 jährige Dienstzeit im Militair nur nach Sibirien auf Lebenszeit verwiesen werde. Diese furchtbare Verdammung hatte weder er noch Jemand crwckrtet, der seine Geschichte kannte, und je unerwarteter sie war, desto mächtiger wirkte sie auf den Mann voll Kraft und Muth. Was ihm wie ein Dolch in das Herz stach, war der Gedanke an seinen unmündigen Sohn. Das Vatcrherz diktirtc ihm die Bitte an dcn Monarchen nur um die Begnadigung, daß er nach einem entfernten europäischen Gou-vernemeut verwiesen werde, damit ihn wenigstens die Hoffnung begleite, seinen Sohn vielleicht noch einmal dort wiederzusehen. Auch der Sohu richtete sein kindlich ftommcs Gesuch in gleicher Gränze an den Kaiser. Stimmen aus den Kerkern. 2ä „Sie rauschen auf, sic rauschen nieder, Den Jüngling bringt keine wieder I" V. mußte mit cincm Transporte Verbrecher den Weg nach Sibirien antreten. Wer spricht ans diesem Bilde? Habe Geduld, laß Dein Fra-gen! Drei Bilder überdeck ich noch mit Flor. Das cine will ich England, das zweite Polen, und das dritte meinem Vaterlande zeigen, wenn es Zeit scin wird. Obgleich hier in den Mauern der Gewalt, so gehören sie doch in einen andern Salon, der offen wird, sobald die Frühjahrsnebel sich legen, und nicht nur die Koppen der Höhen vergoldet sind, sondern auch die Abhänge und Thäler im flüssigen Golde verschwimmen. Dieser Sommer kommt auch. Gehen wir in der Bastille weiter. Das Stockwerk unter dem des Adels enthält den Schatz der nngcadclten Verdienste. 30 bis 4tt Talente in Hemdcuniform hausen in jeden: der düstern Gewölbe. Was Satanas in seinem Tornister tragt, das ist hier deut' lich in Mmschciiform ausgedrückt. Des Teufels Haut sitzt jedem Mitgliedc der Gesellschaft wie angegossen, und Haut für Haut hat auch jedes mit dem Satan getauscht. Welche Spitzbnbcngcsichtcr! Die stechende List in dcn Augen! Hier wählte Lconorens Ritter seine Suite. Und doch wird dem Beschauer der Bastille beim Herumgehen der Rath ertheilt, seine Taschen mehr im obern als untern Stockwerke zu schützen. Am Morgen und Abend stellt sich diese Compagnie im Doppelglicde auf. Sie wird gemustert. On-ginalköpfe! Mancher darunter versuchte zu entkommen. Deshalb ist sein Frcihcitösinn gezeichnet. Der Kopf ist halb von der Mitte der Stirn bis in die Mitte des Nackens nicht abgeschoren, sondern glatt wie ein Bart abrasirt. O scheußlicher Anblick, die nackte dlauschimmcrnde Hälfte neben dem hohen schwarzen oder hellen Gc- 26 Stimmen ans den Kerkern. sträuche. Heisa! Gesiudcl lustig! An der Pallisade hängt die roth» gefärbte Knute! Spielt, singt, rauft Euch. reißt Zoten, laßt Euern Witz los! Es amüsirt die Lcibcomvagnie oben. Eure drei Scharfrichter sehen zu. Von drüben applaudircn die zarten Weiber. Hört Ihr den Beifall, das Gelächter? Wir sind im größten Theater der Residenz. Wenigstens tausend Schauspieler sind immer m-gagirt. Wir sind auch im Tempel der Gleichheit. Denn von der Minute an. da die Bastille Jemanden aufnimmt, er sei Fürst oder Sklave, Hausknecht. Gelehrter, Vagabond, Künstler, Schuldloser oder Mörder, hört aller Unterschied dcs Standes auf. Fort auch mit dem Unterschiede der That! Ob sie der Unschuld. dem Irrthume, der Bruderliebe oder sonst einem sittlichen Motive gchörc. oder ob dem Giftmischer, der Bosheit, dem Straßmbanditcn, dem leiblichen Bruder des Teufels, was thut's? That ist That. Das fehlte noch, sie alle zu prüfcu und zu sondern. Rußland ist nicht zwei Qnadratmeilen groß. Es hat andere Rücksichten zu nehmen, und andere Philosophie nöthig. Seine Dichter mögen immerhin nachsmgcn, was die kleiue Welt dort jenseits der Grenzen muckert und träumt, aber hurtig mit Donncrgepolter entrollet die Staats-voesic nicht Lyrik und geflügelte Träume, sondern sie kettet an die Wirklichkeit, und söhnt Poesie und Prosa nach festen, wohldurchdachten Negelu aus. Ob der Dachdecker im Fallen einen Vorübergehenden todtschlägt, oder der Laurer im Walde mit der Keule, gleichviel! Hiucin in die Zwingfestc zu gleicher Behandlung, zu gleicher Geltung! Was und wieviel daran zu schaben ist, das wird sich in der Polizei, im Kriminalgericht, im Senat später finden. Zärtlich liebende Eltern hatten das Unglück, daß ihr Kind, als cher von der Knute Geschundene wird noch lange ein im Organismus zerstörtes Leben fortschleppen? Oder sollte es der russischen Justiz so schwer fallen, gleichviel welches Vergehen in den Umfang des Hochverraths zu ziehen? Der Wolf springt dem Lamme gleich an den Hals, ein Biß tödtct cö, er will cö nicht quälen. Die Kaiserin Elisabeth schaffte die Todesstrafe ab. Wenn man auf daö Leben voll Abscheulichkeiten dieser Kzarin blickt, so sperrt sich die Seele gegen den Glauben, daß in der Mitte des 18tm Jahrhunderts ein Weib auf einem europäischen Throne saß, deren Herz Niemandem in ihrem Reiche das Leben gleich nehmen, sondern das Menschenleben lieber entehren, zerhauen, zerfleischen, schinden, zerstückeln >md noch aus alle mögliche Weise langsam martern wollte, um von ihrem knutewolleuden Volke und dessen Nachkommen wegen ihrer Civilisation und Humanität gepriesen zu werden. Die Tochter hatte alle Härten vom Vater geerbt. Scheu wendet sich das menschliche Gemüth von Peters Kindermorde, aber die menschliche Hand kommt in Versuchung, sich an einer hinterlistigen Katzcnnatur zu vergreifen, welche mit der Beute erst bis auf's Blut spielt, und langsam zu Tode kratzt. Der Abbö l'l^pi'c'. lichen Rohbeit zu handeln? Kann es sich rühmen, daß sein heuti-3N' Strafcodex die Fahne humancrcr Gesinnungen aufgepflanzt habe? Fühlt sich Europa jetzt mcbr zu Rußland angezogen, oder hat nicht vielmehr dessen Strafverfahren ganz vorzüglich alle Idiosynkrasien aufgerührt? Es ist nicht nöthig, über die Greuzc des gemarterten Polens zu gehen, um aus den Wunden der Todtgepcitschten die steckengcbliebcnen Ruthcnstücke als Zeugnisse zu ziehen. Petersburg baucht von den nämlichen Blut- und Rachcstcnen. 1K43 wurde der Mörder des Fürsten Gagarin vernrtheilt, von 6000 Mann zcr-steischt zu werden, bis er den Geist aufgebe. Nach dem Geißeln von 2500 Mann stürzte cr nieder. Er wurde in das Lazarett) 36 Etimincn aus den Kerkern. gebracht, um dann abermals an ihm zu versuchen, wie lange das Menschenleben Qualen der Art aushalten könne, ehe die Seele vom Körper sich sckeide. Nnr der barmherzige Himmel gab das nicht zu. Der Gequälte starb früher. 1844 wurden 8 Erblentc auf eben diese Weise gemartert, weil sie sich an ihrem tvraunischen Herrn thätlich vergangen hatten. Alle Leibeigene in der Residenz wurden befehligt, dieser furchtbaren Geißelung zuzusehen. Mißhandelt nicht dm Schöpfer im Geschöpf! Der Marternde ist frecher Gottesläugner. Iu der Bastille, ist eine Abtheilung Gefangener besonders ausgezeichnet, die sogenannte Arrestantenrotte. Eic ist den zur Galeere oder Sibirien Condcmnimn gleichgestellt. Alle sind infamirt. Der Kopf ist von der Mitte der Stirn bis in die Hälfte des Nackens abrasirt. Jacke und Hosen sind zur Hälfte auf einer Seite dunkel auf der andern Hellgran. Diese (vlcnden erliegen bald den schwer» stcn Arbeiten bei einer Kost, an die sich höchstens herrenlose Hunde wagen. Wenn das Gesetz gerichtet hat, tritt die Menschlichkeit vor, und ergreift die Hand des Gerichteten. Wo nach dem Frieden mit dem Gesetz noch die unbarmherzige Faust wachst, da tönt in der Luft ein ewiges, schmerzliches Ach. Gegenüber dem Gcbände für die gefangenen Männer ist der Flügel für die weibliche Gesellschaft in ähnlichen Abtheilungen wie dort. Die vornehmste Klasscndame darin, die bald entlassen wird, ist eine Gcneralin, die ihr Krbmädchm todt geprügelt hat. Dafür sind ihr vier Jahre Gefängniß zuerkannt. Wie mag es diese Hyänin versehen haben, eingesperrt zu werden! Kindermord, Dicbstahl, Widersetzlichkeit gegen die Herrschaft, Unzucht in's gar zu Tolle getrw Tti'mmcu aus den Kerkern. 37 ben, sind die gewöhnlichen Ursachen der Gefangenschaft dieses jugendlichen und alten Weiberzirkels. Die Fürstin N. erscheint oft in diesem Gebäude. nicht weil Langeweile, sondern das Herz sie hinführt, um wohlzuthun und in Wahrheit zu helftn. Gottes Segen ihrem lieben Gemüthe. Wenn ihr Wagen einrollt, geht ein freundliches Gestirn am finstern Himmel der Unglücklichen auf. Warum nur Gin Stern in der dunkeln Nacht. In Landern der Humanität haben sich Gesellschaften gebildet, dem Staate in seinem Willen Gutes zu thun. durch Unterstützung zu Hülfe zu kommen, uud auch die Gefaugcnen fühlen zu lassen, daß sie von der Civilisation nicht vergessen sind. Da diese Theilnahme sich öffentlich darstellt, so hat auch Nußland nicht angcstan^ den, an den Tag zu legen, daß der weiche Pulsschlag auch seine, Nerven berühre. Das Ocfängnisieomit<; in Petersburg ist von hohem Range. Mitglieder sind Große des Reichs, «cni lj'i«<1 «äem des Hofes, Fürsten, Grafen, kaiserliche Kammcrherren, Präsidenten, Millionäre, überhaupt Wohlthäter, die für eine einzige Soiree mehr verschwenden, als zehn arme Familien ein ganzes Jahr zu ihrem Unterhalte brauchen. Gs ist ihnen Genuß, Hunderte für die Peintriller einer Taglioni hinzugeben, uud sie dünken sich voll Religiosität, wenn !ic einer hungrigen Familie einen Rubel haben hinaustragen lassen, von dem der Bediente noch die Hälfte für sich abzieht. Ihre vierspännigen Wagen verengen die Straßen, um für unerhörte Summen den Sprüngen und Sciltänzereien eines Fingervirtuosen zuzusehen, denn von Mnsik versteht ihr Ohr uud Herz doch nichts. Die Mitglieder dieses Comite besuchcu die Stubcu der Gefangenen, sehen nach, ob die Wände geweißt sind, hören Dies und 38 Stimmen aus dcu Kcrkcrn. Jems cm, versprechen recht viel, ja Allen soll geholfen und allen Klagen abgeholfen werden, gchcn sort und haben wichtigere Geschäfte als sich mit Bagatellen abzugeben. Es ist eine gar lächerliche Rolle, die sic spielen, und cs ist unbegreiflich, wie gebildete, liebe Männer, die es unter ihnen giebt, sich zu solchen Mummcreieu hergeben können. Es geht so weit, daß die Gefangenen, iibcrdrüßig dieses Charlatanismus, Spott mit ihnen treiben. Graf X, kommt. An den Ersten richtet er die Frage, die cr ihm schon hundertmal gethan hat: „Warum sind Sie hier? „Ich habe meinen Bruder erschlagen, aber nachher wollte er mich todtschlagen. An den Zweiten: Warum Sie? Ich habe für eine Million Rubel falsche Banknoten gemacht, ich hatte aber kein Papier dazu. An den Dritten: Wärmn Sie? Ich habe eine Schildwach auf den Degen gespießt und über eine Mauer geschleudert. Und so geht er an Allen die Runde herum, ohne sich etwas bei Frage und Autwort zu denken. Da kommt Graf Y. Es ist eben Mittag. Er kostet die Suppe, spuckt sie aus und sagt: sie ist gut, nur etwas sauer, aber gesund. „Herr Graf! wir hungern, wir können aber die Suppe nicht genießen." „Was? Nicht genießen? Sie wollen wohl Trüffeln?" Da kommt cin wichtiges Mitglied, ein russischer Kaufmann. Der hilft gewiß seinen Collegm m enieoro! 0 ».-meta simpli-eitas! Die Blutegel und Insekten in dem Trink- und Waschwasser haben alle diese Herren gesehen, aber Keiner hat sich um eine Aen- Stimmen ans dcu Kerkern. 39 dcrnng bekümmert, bis das Lazareth bevölkerter ward, und der menschenfreundliche Doctor nut seiner Vorstellung durchdrang, daß das Comit6 sich erbarme und monatlich 25 Rubel Bank» mehr für ein Pferd verausgabe, um Waffer aus der Newa zu holen. Wozu die Komödie mit dergleichen Societäten! Außer den Mitgliedern des Gefangniöcomitü werden noch andere Formalmänncr zn den Gefangenen geschickt, so das; der Zuschauer dieser Formalitäten durch den Glauben getäuscht werden kann, die Fühlhörner der Justiz waren vom feinsten Zartgefühl. Da spazirt der Gouverncnmtts-Procureur herum, Adjutanten des Kriegsgouverneurs, sogar ein Gouvernements-Advokat, der seinen Tisch for-maliter auf dem Hofe aufschlägt und verkündet, bei welchem Tribunale die Akten über die Untersuchung jedes Gefangenen sich befinden. Welch ein Wichtigthun, das die Nase nicht hoch genug schrauben kann, und das an der Brutalität dieser Staarmatze desto ekelhafter ist. Und das Resultat und Sublimat von den Thaten dieser Komödianten? Nichts! Es ist Gewürm, das nur schaden kann, und wenn es nühen könnte, so möchte es nicht. Es ist den Gefangenen gestattet, Bittschriften in der Schreibstube der Bastille zu schreiben. Gewöhnlich bleiben sie fromme Wüuschc, oder fallen als faule Aepfel in den Schooß zurück, ohne von den Excellenzen einer Rücksicht gewürdigt zu seiu. Konute die russische Negierung 1844 auf alle Bittschriften des In- und Auslandes in der Indeuange-legenheit öffentlich antworten, es sei keine Ursache vorhanden, darauf Rücksicht zu nehmen, so ist der Schluß auch uicht schwer auf dic Wirkung der Bitten der Gefangenen. Alle Bittschreiben derselben müssen erst durch die Hände des Procurators, und er hat sich noch 40 Stimmen aus den Kerkern. nie cm Verdienst wenn auch nur wegen schneller Beförderung erworben. Darin liegt ja eben im Allgemeinen die Pein für jeden Gc> schäftsgang in den russischen Behörden, das; erst unzählige Schritte durch erbärmliches, nur von Plackerei sich nährendes niederes Gestrüppe gethan werden müssen, ehe man da steht, wo man sein will nnd sein sott. Die Mücke kommt als Elephant dahin, oder umgc. kehrt der Elephant als Mücke. Das klarste Recht gelangt verspätet, entstellt, verdreht, unkenntlich an das Ziel. 1642 ward der Kaiser im Gefängnisse angemeldet. Alle ließ die Hoffnung eine Verzeihung in diesem Schritte erblicken, wenigstens eine Milderung und die Gewißheit einer raschem Entscheidung ihres ungewissen unglücklichen Looses. Je mehr jähre- uud monatlange Pein dieser Ungewißheit und der dic Gesundheit verzehrende Kerker sie abgemartert hatten, desto mehr hob sich wieder cm Puls der Freude. Jeder bereitete sich vor, feme Rechtfertigung uud Bitte in wenig Worte zu fassen. Einer half dein andern Uuglücksbnider dabei. Es war ein allgemeines Freudenfest. Stieß ein Zweifel an Begnadigung anf, so schlug ihn das Vertrauen nieder, der Monarch nahe sich nur mit seinem schönen Vorrechte, die Strenge des Gesetzes zu mildern, und seinem eigenen Herzen einen seligen Tag zu bereiten. Die edelsten Vorsätze wurden gefaßt. Aus jeder Brust stieg der Entschluß, sich die erlittene Qual zur Warnnug dienen zn lassen. Die Freude ließ uicht schlafen, der Wisch und Maurer-pinstl auch nicht. Die Nächte wurde gewaschen, gebohnert und angestrichen, genäht und geplättet. Der Quas änderte seine Natur, aus dem Getränk, das dcn Gekreuzigten gereicht wurde, verwandelte er sich in einen delikaten wcinartigcn Trank. Aus dem Brote fuhr der üble Geruch und dic dunkle Mcrgelfarbc wie ein unsauberer Stimmen ans den Kcrkcrn. Hl Geist, es ward wohlschmeckend, und Semmeln erschienen weiß wie von kaiserlicher Tafel geliefert. Die Suppe roch schon den Tag vorher nach dem kräftigsten Bouillon. Kurz Alles war bereit, dcn Glauben einzuimpfen, daß es immer so sei. Der Kaiser fuhr ein in den Hof. Er kam in die Nummern der adligen Abtheilung. Die Stille. Ordnung uud Nciulichkeit gefielen ihm. Finsterer Miene trat er zu den Gefangenen, dic sich in einem Halbkreise ausgestellt hatten. Das Auge allein schon vernichtete jede Hoffnung, und die vorhergegangene Freude entfloh. An Jedem, der seine durchdachte Rechtfertigung anfing, ging er vorbei. Einer warf sich ihm zu Füßen. Er wurde begnadigt. Das Gesetz erlaubt, daß Freunde und Verwandte dcn Gefangenen des Sonntags unter Aufsicht eines Soldaten sprechen dürsen. Ein enger Korridor ist dazn bestimmt. Wird dem Soldaten nicht gleich ein Silbcrstück in die Hand gedrückt, so ist der Besuch mit einem augenblicklichen Gruße abgethan, und der Gefangene wird wieder abgeführt. Es ist ein Anblick, der Steinen Herzen giebt, wenn man diesen Korridor entlang geht, hin an lauter unglücklichen Familien, eine an die andere gedrängt. Da hat ein Vater oder eine Mutter dcn Sohn im Arme. Dort schluchzen zum Abschiede Söhne. Eltern, Geschwister. Ein Gatte scheidet für immer in das Land wo nur das Unglück wächst, nach Sibirien. Hier drückt die Schwester dem Bruder das Lebewohl auf die Lippen, den die Wachc in sein Gefängniß zurückführt. Dort flucht der Oberst und verjagt eine Familie, die nach seiner Laune schon zu lange verweilt. Da werden die Zurückgeführten durch und durch visitirt, ob sie nicht cin Mcsscrchen, ein Bncfchen. ein Stückchen Bleistift, eine Cigarre erhalten und verborgen haben. Dort tragen Verwandte die gebrauchte Wäsche Derer nach Hause, welche die anekelnden Hemden H2 Stimmen aus den Kerkern, des Kerkers nicht tragen mögen. Wurden dic Thränen dcr Unschuld, die in diesem Korridore geweint werden, zn Leiden für das über zwei Welttheile ausgestreckte Nußland, so hätte es dcr Last derselben längst schon erliegen müssen. Oder wird ein Zweifel aufstoßen, ob Von Personen nnd Gerichten, wie sie bereits vorschwebten, die Unschuld in die Bastille gestoßen sein könne? Des Himmels Langmnth ist groß. Uns Menschen will sie manchmal gar zu groß vorkommen. Man denke sich in diese Bastille mit dem verworfenen Leben den gebildeten, gefühlvollen, an Thätigkeit gewöhnten, mit dem Geiste ^ arbeitenden, eingekerkerten Mann, entweder völlig unschuldig, oder eines Versehens, einer That wegen, für deren Begehung Natur und Moralität mächtiger sprachen, als ein kaftes Gesetz deren Unterlassung gebot. Was wäre ihm jcht ein Blatt Papier, eine Nußschale mit Dinte, der Stummel einer Feder! Er kann es steh von den Wachtern des Verbots erkaufen. Gern giebt er jedes Metall dafür, aber er muß das Erkaufte wie Dicbssachcn verstecken. und jeden Augcw blick sich umsehen, damit nicht heimlich ein Auflaucrcr sich einschleiche und es ihm wieder cntrnsie, wenn auch nur um neues Geld zu erpressen. In allen Thüren sind kleine Fenster für das Auge des Lauercrs und Verräthers. Eine entdeckte Zeile, die nichts sagt, als daß er noch lebe. wird mit dem harten Verluste bestraft, daß dcr Gefangene die Eeinigen nicht mehr des Sonntags sehen darf. Was dem Gefolterten außer den unsäglichen Leiden des Kerkers die Marter mehrt, sind die Gesellschaft, die gekränkte Unschuld, das blutende Ehrgefühl, der Gram um die kummervollen Theuren, für dic vielleicht Niemand sorgt. Dazu der peinigende Schnecken-gang dcr Zeit für seine Sehnsncht nach den fünf Minuten eines Stimmen auö den Kerkern. 43 Wiedersehens nach acht Tagen, und das empörte 65efühl über die scheußliche Behandlung ohne Rücksicht anf Schuld oder Unschuld. Wenn dieser Mann am Abende hört, morgen werde er vor 'Gericht zum Verhör geführt, da bricht er vor Schreck am Morgen fast zusammen, denn er muß mit acht bis zehn Scheusalen zusammen in einen Verbrechelwagen kriechen. Er wird in einen langen Kasten gedrängt, so niedrig, daß er die Zähne zusammenbeißen und gebückt kauern mnß, um durch die Stößc des Karrens den Kopf an der Decke nicht wund zu schlagen, wenn der verschlossene Käsig, mit Soldaten umringt, polternd über das aufgefahrene Pflaster durch lange Straßen iu eiuen Gerichtshof raffelt. Icht dringt gar die Nachricht in des Unglücklichen Ohr, daß Jemand der Seiuigen gefährlich krank liegt, oder gestorben ist. Er wird nicht auf eine Minute, selbst unter Wache nicht, hinaus gelassen, den Kranken durch sein Erscheinen zu beruhigen, noch einen liebevollen Blick vom Sterbenden zu empfangen, oder das Herz, das ihn so treu geliebt hat, an seine Ruhcstellc zu begleiten. Er Niuß in seinen dicken Mauern, in cincr theilnahmlosen, wohl gar um ihn herum fluchenden oder jubelnden Menge verworfener Wesen wit seinem brennenden Schmerze bleiben. Er sieht am Fenster hinauf nur einen winzigen Fleck am Himmel, der die Angst in seinem Blicke aufnimmt. Dies Fleckchen ist das einzige theilnehmcndt Gemüth, vor dem er stumm wie ein Vernichteter, wie ein von der Erde Verstoßener steht. Dem erwiesenen gräulichsten Verbrecher kann nicht mehr geschehen denn ihm. Kann so namenloses, und doch so wahres Unglück je wieder gut gemacht werden? Wodurch? Ach, und wie viele der Opfer, in weit schreienderen Qualen als Pinsel und Feder zu malen vermögen, werden fast täglich an den Ort geliefert, aus dem Ver- HH Stimmen ans dcn Kerkern. wünschungcn der Gequälten mit dcn empörendsten Flüchen erschallen, aber aus dein auch die Thränen der Unschuld wie beredte Ankläger vor dcn Nichtcrstuhl der Gerechtigkeit Gottes stündlich sich erheben. Wie kann eS da anders sein, wo Menschen und Einrichtungen in und für einander paffen! Vs sind die Diener der Monarchie, welche diese Mondklüste ausgehöhlt haben, die das Gute nicht wollen anftounnen lassen, weil sie in diesen Klüften ihr Gewerbe treiben, die als große Finsterlinge daö Neich. das Volk, die Zeit, ihren Wirkungskreis nicht kennen und nicht lieben, und die als kleine Irrlichter nur auf Sümpftn sich nähren und für Sonnen sich halten. In der Luft der Schlucht meist erwachsen, treten sie mit düsterm Sinne in die Atmosphäre des Tages, erblinden entweder oder inkrustiren. und setzen sich am Ende gar wie Schalenthiere an die Austcrnbank des Hofes. Es ist ein Unglück für dcn Kaiser, daß aus dem Firmamente, welches ihn umgicbt, auch gar zu wenig erwärmende, erleuchtende Strahlen ans ihn selber und sein Volt fallen. O wie viele umstehen den Thron, die sich ein Verdienst zu erwerben meinen, wenn sie sich in Alles mischen und Alles verstehen wollen, da doch ihr Wesen ein Nichts ist. Sie kennen keine andere und höhere Tugend, als die mit drei Ellen rothem oder blauem Seidenbaudc sich ausmessen uud belohnen lässt. Sie sind es. die das Zwergwäld-cheu um sich wählen, aus welchem sie die Masten dem Staate liefern wollen. Sie sind es, die das Unkraut düngen, damit es mehr noch wuchere. Das Neich leidet an Engbrüstigkeit, sie stellen cs zur Kur unter dcn Rczipienten und pumpen die Luft aus. Weil der Monarch in seinem Vertrauen zu ihnen sich irrt. dünken sie sich Astronomen auf dem Observatorium dcr philosophischen Fakultät, und bewundern sich selbst als große Geister, wenn sie durch das Stimmen aus den Kerkern, 43 Fernrohr mehr sehen als mit nnbewaffnetem Auge, sie wiffcn aber nicht, daß gerade die Astronomie am dcntlichsten lehrt, wie klein das Bischen menschliche Wissen ist. Sie meinen, sie wären nur des Aburthclns wegen da, um eine chemische Analyse brauchten sie sich nicht zu kümmern. Auch ihre beste Erziehung ist Mosaik. Stückchen farbigen Glases aneinander geflickt, aber die Spalten sind sichtbar. Dieses und der enge Zirkel, in welchem sic politische Rücksichten, falsche Demüthigungen, eingebildeter Zweck umschließen, machen sie bei ihrem Dünkel unerträglich oder lächerlich, achtungö-werth nimmer. Geist nnd Herz in den Russen müssen erst da sein, ein energi> scher Wille an der Spitze soll bleiben, und es wird sich in Rußland leben lassen, aber nicht eher, und wenn zehn Kaiser, jeder mit einem Engclöwillcn auf dein Throne säßen. Treu und Glaube muß erst da sein, der Eckstein der menschlichen Gesellschaft. Die Habbegierde ohne Maß und Ziel der Großen und Kleinen muß erst ftrn, und das Gefühl in ihnen rege sein, daß sie das Oberhaupt der Gesellschaft in seinen Sorgen sür das allgemeine Wohl nicht allein stehen lassen dürfen, daß ihre Achtung nicht nur dem sichtbaren Regenten zn huldigen hat, sondern auch dem unsichtbaren Drgan des allgemeinen Willens. Namen geben sie freilich Allein, aber keinen Sinn. Schiller hat sic daguerreotypirt: „Das Gcspinnst der Lüge umstrickt den Vcstm, der Redliche kann nicht durchdringen, die kriechende Mittelmäßigkeit kommt weiter als das geflügelte Talent, der Schein regiert, und dic Gerechtigkeit ist nur auf der Bühne." Wenn die Feder des Monarchen, der Tadel und Drohung über gewissenlose Erfüllung der Pflichten seiner Veamtcuwelt öffentlich ausspricht, die drei Worte „dül po »omu!" (Dem sei H6 Stimmen aus den Kerkern. also) zeichnen soll, die einen seiner Unterthanen in das Land der Verbrecher verdammen. wie quälend muß der Gedanke seiner Scclc sein: haben meine Diener auch ehrlich gehandelt und gerecht gcur> theilt? Es geht nicht um Gold und Silber, mn metallenen Kram, es geht um den moralischen Todschlag eines Menschen, um das Wohl und Weh wer weis; wie vieler Familien, die in dem Einen wurzeln. Der Monarch lieset im kalten Wortgcdrängc mir die äußere That, denn die innern Motive können ihm seine Diener nicht sagen, weil sie selber dieselben uicht kennen und nicht verstehen. Denn es gehört mehr Fleiß, mehr Wissen, Scharfsinn und Mcnschenkenntniß dazu, dic Wahrheit und das Recht zu erforschen, sie ab- oder zuzusprechen, und den dünnen unsichtbaren Fäden einer Handlung nachznspüren, als man auf dem Sattel, vor einem Nc-gimcnte, oder im Stickgas der Schreiberstuben, oder auf der Leiter zu Fortuna's Mühenknopfe erwerben und beweisen kann. Oder wenn der dem Lande nützlich gewesene, nicht uutcrthänige Ausländer aus Unkenntniß der täglich sich mehrenden Gesche fehlte und irrte, oder wenn er schuldlos wie der Sonnenstrahl, der die Feder bei dem Unterschreiben des Machtspruchs beschien, durch das bekannte Laster und die Ignoranz der Diener dem Monarchen als schuldig vorgeführt und außer Landes verwiesen werden sott, darf oder muß da nicht die heimliche Scheu ergreifen, daß man sich hüte, die redenden Zeugen der Ungerechtigkeit auch in fremde Länder zn senden, wo man sich doch die erdenklichste Mühe giebt, für gerecht und gewissenhaft gelten zu wollen? Weiß dcr Kaiser wohl. daß die Diener seinen Willen hinterdrein sogar noch entstellen, und den Vcrurthciltm ärger martern, je mehr dcr Anssvruch der Verurthcilung davon entfernt war, weil er ihnen dic hingehaltenen habsüchtigen Hände uicht versilberte? Stimmen aus dcu Kcrkcrn. i7 Der in sein Vaterland zurückgewiesene Franzost, Engländer, Deutsche u. s. w. wird nicht trauern, dcu russischen Himmel mit Innern heimathlichen zn vertauschen. Er geht überall dahin, wo jeder Winkel freundlicher und gemüthlicher ist, als alle bewunderten seelenlosen russischen Paläste. Wenn der Kaiser nichts mehr verlangt, als dasi der Ausländer seilt Reich verlasse, ist cö löblich oder abscheulich, das; alsdaun seiue Diener, anstatt ihn fortzulassen, ihn Wochen und Monate noch wie den schwersten Verbrecher behandeln? Dürfen sie ihn in jenem Höllcugcbäude, in jeuer Gesellschaft einkerkern, wo der noch unverdorbene Mensch, wenn er nicht recht fest ist, zu Grunde gehen oder sich Flecke anschmutzen kann? Weis; es der Kaiser, daß man dm Ausländer endlich, nachdem die Bosheit mit vergeblichen silbernen Erwartungen sich befriedigen muß, ohne Rücksicht auf seinen Stand oder das Maß seiucr Schuld, ohne Rücksicht auf den Willen des Regenten, mit einer Menge des abscheulichsten Gesindcls, zur Schau wie den wildesten Nebelthäter tranöportircu läßt? Ist ^r unbescholtene Name eines Menschen ein .ionjou, niit dem man "ach Belieben spielen kann, und besonders Diejenigen, die ihren scheinbar guten Nuf nur behaupten, weil die Welt ihre Thaten uicht kcnut, die sie ihren Augen zu entziehen verstehen, und aus deren Mitte der Monarch selbst einen nach dem andern als Taugenichts schlendert.' Welches Vertrauen kaun ein Ausspruch für seine innere Halt» l'arkcit fordern, dessen Aussprcchcr sich im Leben so schlecht bewähren. Wer vor den Priestern deö Gesetzes steht, ist der schon ein erklärtes ungesundes Glied der Gesellschaft? Soll nicht erst geprüft Werden, ob und wo eine Krankheit ist? Und sind jene Priester lci- 48 Etimmcn aus den Kerkern. der nicht gar zu oft dic Charlatane, die dcm Gesunden cinc Krankheit andichten? Die Gerechtigkeit wird gewiß da schwer zu finden sein, wo nur das positive Recht als Mauer gegen das Laster aufgeführt ist, wo nicht das höhere, ungeschriebene, aber tief in die Seele der Tugendhaften eingravirte Recht neben dem geschriebenen waltet. Nur wo das Sittengefch bei dem in Buchstaben sichtbaren steht, da ist die Nationalwürde ein gemeinsames Gut, da sagt auch die Gerechtigkeit : Hier ist ein Tempel. Ist nicht eine Regierung das öffentliche Gewissen des Staates? Ein reines Gewissen scheut keine Orffentlichkcit seines ärztlichen Urtheils über Kranke und Gesunde in seiner Gesellschaft. Es giebt nicht zu, daß der Egoismus sich hinter die Wahrheit verberge, und Das für Recht und Vernunft anpreist, was seinen Capricen schmeichelt. Despotische Verfassung nährt in sich den Erbfeind aller Gerech' tigkcit, den Machtspruch. Wer würde nicht gcrn den Glauben an dessen Existenz in Nußland wie einen reibenden Verband auf einer wunden Stelle des Körpers von sich werfen, wenn für das Dasein dieser Hyder unter den Gesetzen nicht öffentliches Zeugniß redete. Ein Machtspruch erkennt die eigenen Gerichte des Landes nicht an. Er ist Willkühr in ihrer Nacktheit, die nur Straft und Begnadigung als das einzige nnd wahre nnd höchste Recht in ihren Rechten hält. Was soll die Gnade, wo das Gesetz Nichter sein soll! Welcher tugendhafte Mensch will aus Gnade frei sein. aus Gnade Recht bc-kommm, aus Gnade selig werden? Der Major Tscheglowski wurde eines aufgehobenen Damen-Handschuhs halber durch die Eifersucht Potcmkins nach Sibirien verwiesen mit einer Hast der Grausamkeit, daß ihm der Feldjäger Stimmen aus den Kerkern. 49 nicht einmal einen Abschied von seiner Mutter gestattete. In einer furchtbaren Wildniß zimmerte er sich selbst eine Hütte, in welcher er fast volle 70 Jahr sein elendes Leben hinbrachte. Seit dies geschah 1774 regierten Katharina II., Paul I., Alexander ein Vier-teljahrhundcrt und Nicolaus bereits 17 Jahre, ohne daß die Gerechtigkeit mit der gesammtcn Beamtenschaft sich ein einziges Mal dieses Lcbendigbegrabcnen erinnert hätte, bis der Znsall einen Offizier nüt einem Menschenherzen dem gegen Leiden schon stumps gewordenen schuldlosen Manne zu Hülfe kam. und die Entdeckung dem Kriegs' Minister bei der Rückkunft nach Petersburg 1841 meldete; welcher nicht sanmtc, die Thatsache dem Kaiser mitzutheilen. Daran war nun kein Zweifel, daß Tschc glow ski ans seiner Todtengruft herausgezogen werden wurde. Allein was ist dadurch anders geschehen, als daß der Kaiser nur eine Pflicht übte, und die nnter seiner Großmutter begangene Abscheulichfeit wissentlich nicht theilen Mochte. In seinen Worten zu dem Zurückgekehrten, daß sein Un-glück längst aufgehört haben würde, wenn es ihm, dem Kaiser, eher bekannt geworden wäre, legte er selbst nur sein natürliches Gefühl von Gerechtigkeit an den Tag, ohne darauf im Entferntesten einen Anspruch auf Verdienst gründen zu wollen. Nur die Speichelleckerei spricht von Beguadignng und Belohnung. Was hatte Tschcg-lowski verbrochen, um begnadigt, was gethan, um dafür belohnt zu werden? Für das Opfer etwa, welches in ihm russische Justiz auf ihrem Altare schlachtete? Denn daß sein Körper gegen den gewöhnlichen Lauf der Natur 70 Jahre in diesen Leiden ausdauerte, gehört das zur Entschuldigung der Grausamkeit? Wer sein Lebelang Schmerz- uud Krenzträger gewesen ist, würde dem durch einen Ucuen gefunden Körper das vorige Leiden vergolten? Ein Machtspruch dcö Herrschers entkleidet den Menschen seiner Nuhlaiid, III. H vo Stimmen auö dcn Kcrkcru. ganzen Herrlichkeit. Er spricht ihm die Vernunft ab, «klärt ihn, gerade mil cr scinc Vernunft reden läßt, siir verrückt. Vor einigen Iahreu konnte ein Nüsse dm Wolken nicht länger gebieten, die scinc mißmüthigm Gedanken über sein Vaterland durch seine Brust trieben. Das Gewölk seiner Unzufriedenheit lagerte sich in einem Moskowschen Journale. Der Aufsah galt für Verbrechen. Ein Machtspruch schritt vor. und schuitt dem Verfasser den Weg zu Gericht und Rechtfertigung ab, cr erklärte ihn für wahnsinnig. Auf allerhöchsten Befehl mußte dcr verständige Unterthan sich der Brutalität eines Arztes täglich und geraume Zeit unterwerfen, dcr alle Symptome dcö Geistcsalibi mit roher Härte ihm aufdrückte, ihm sogar mit dem Trepan drohte, und ihn zum Gespöttc der Mitmenschen durch Zungcausstreckeu und plumpe Fragen wie an Ver-staudlosigkeit marterte. Sogar der ausgezeichnete Lobhudler Rußlands Grctsch, der unverdrossen daran arbeitet, den Deutschen, Franzosen und andern einfältigen Nationen die russische Civilisation zu lehren und zu iuokuliren, und wahrheitsliebende Männer Lügen zu strafen, ist nicht vermögcud, dies Faktum abzuläugnen. Wer wird lange wählen, entweder allein und ungesehen auf den Eisfeldern Evitzbergcus zu erfrieren, oder im Hohu und zuschancn-dem erbärmlichen Mitleiden seiner Mitgcschöpft von brutaler Gewalt sich mißhandeln zu lassen! Wer würde nicht die Freiheit aus dcr Mündung einer Pistole rascher ergreifen, als wic ein Narr znm öffentlichen Gelächter sich ausstellen lassen, und wic ein kriechender zusammcngeprügeltcr Hund gehorchen, die Zunge auf Kommando besehen, und den Löffel mit dcr Narrenmedizin in den Mund stecken lassen! Alle guten Geister loben Gott dcn Herrn! Nur kein erbetteltes Leben! Nur nicht in dcr Manege dn Laune an der Leine trotti- ^timmcn aus den Kcrkcrii. 3t rcn! Ist Gott mein Vater, so bin ich auch sein Kind. Ich höre es an der Mutterbrust, in dcr Schule, in der Kirche, in der Natur, M Echo inciner Seele. Soll ich dcr Menschenmacht weniger sein, als dcr Allmacht? Nein! „süße Gewohnheit des Daseins nnd Wirkens", du hörst ans das Höchste zu sein, wenn die Hcrmandad Mit deiucm Schmetterlinge in ihr'cr Hand spielt und ihn erdrückt, wenn er fragt: soll das Menschengeschlecht Heu srcffen? Die Wahnsinnigkeitöerklärung ist überhaupt eine in Nußland oft gebrauchte Sänfte, durch welche allerlei mcnschcnattiges Gewürm seine Schandthaten in Sicherheit bringt. Ich habe öfters in einem Irrcnhansc einen recht gebildeten jungen Mann gesprochen, der auf Befehl eines Gouverneurs über 3 Jahre Wohnung nnd Gesellschaft mit den Geisteskranken theilen mußte, bis eine Erbschaftoangelegen-heit regulirt war, die man nicht kürzer und gewisser als dnrch eine Erklärung von Geistesabwesenheit des Hanpterben aequinren konnte. Nnr Einer der Angestellten bei der Anstalt kannte die Intrigue und die scheußliche Willkür des Gouverneurs genau. Das Verbrechen war aber so verschanzt, daß es unmöglich war, eine Bresche beizufügen, ohne das Unglück für den jungen Mann zu vergrößern. Daß die Menge dcr Aerzte, welche die Kranken der Anstalt behan« dcltcn, ihm jeden Tag eine neue Ursache von Geistcszerrüttung selbst aus seinen kräftigsten Beweisen von gesundem Verstände andichteten, bm'uber konnte man sich nicht wundern, er stand auf der Liste der wahnsinnigen, mehr bedürfte ihr Scharfsinn nicht. Wohl aber konnte man staunen, daß der nnglücklichc Mensch in seiner Gesellschaft den Verstand nicht verlor, sondern soviel innere Kraft besaß, die Besinnung zu behalten. Man mußte zuftieden sein, daß man cö zn seinen Gunsten unvermerkt und nach und nach dahin zu bringen im Stande war, daß er in dcr Anstalt selbst menschcnfrcnndlich 4* ' 82 Stimmen aus dcu Kerkern. behandelt und der jedesmalige dujourirende Arzt getäuscht werden tonnte. Von seinem Vermögen sah er nur Brosamen wieder, die von der reich gewordenen Herren Tische gefallen waren. In cimm der größten Hospitäler Petersburgs erklärten erst vor einigen Jahren zwei Feldschcrer einen Nckonvaleszentcn für wahnsinnig, weil er sich weigerte, ihre Medizin einzunehmen nnd ihnen drohte, ihre Spitzbübereien anzuzeigen, indem er nnd andere Kranke gesehen hatten, daß sie die von: Arzte verordneten Medikamente stahlen, nnd die Kranken mit andern Dingen fütterten. Sic schilderten dem Doktor die Anfalle eines schon gefährlichen Wahnsinns, sie fanden Glauben und der Mann mnßtc in's Irrenhaus. Ich will dem rnssischm Strafverfahren Einiges über die Deportation nach Sibirien beifügen. Sibirien, das Land. bei dessen Namen die Phantasie flugs alle Marterwerkzeuge herbeischasst, nnd der Russe, sich kreuzigend, seinen Blick mit einein ,,<'m^,i nnd KK>l!jl^! selbst gewesen waren, um Handelövortheilc zn erringen, entsagten gern sür ein zweites Mal allem Gewinn, um Sibirien nicht wieder zu berühren. Und Stimmen aus dcu Kerkern. 87 doch smd die genannten und andere Oerter wenigstens bewohnt, wenn anch so weit von einander cntscvnt, daß jeder in sich cincn abgeschlossenen Welttheil bildet. Ucbcrall giebt es Verbannte, überall keucht der schon längst grausam Bestrafte unter der fortdauernden Straft. Sie arbeiten in Bergwerken. Steinbrüchen, in Waldungen, an neuen Dstrogö zur Aufnahme künftiger Dcportirtcn. sie ziehen Postbote und Proviant-kähnc dic Flüsse entlang. Strecken von hundert und mehr Meilen. Wer nicht zu Grubenarbeiten verdammt ist, kann für 500 Nubel Banko in einer Einöde ein fertiges Haus als Eigenthum kaufen, wo er dann zusehen mnß, sich durch Jagd und Fischerei das Leben zu fristen. Dic Grenzgegcnden Sibiriens vom Uralgcbirge an. hin an der südlichen Bergkette dnrch ganz Asien bis an dic südöstlichste Spitze Utzkoi und von da Kamtschatka hinan nach Norden, sind mcist mit Verbannten gefüllt, welche die Keuchte liefern. Mehr in der Mitte und nach Norden werden die am meisten Gcsürchtetcn verwahrt, dit Verwiesenen wegen politischer Vcrgehungen. Die Ostrogs bei den Bergwerken sind nur für die zur Arbeit darin Verdammten evbant, die von Soldaten-Commandos bewacht, und zur Arbeit getrieben werden, theils mit, theils ohne Kette». Wehe dem Unglücklichen, dessen Blut noch nicht genug abgekühlt ist, und der sich mit einem Worte über Härte beschwert oder sonst vcrgistt! Denn hier. wo er keinen Namen mehr hat, sondern nnr unter einer Nummer eingeschrieben und gekannt ist, wie das zu Markte getriebene Vieh. wird nicht danach gefragt, ob das Leben, an dem die Nummer hängt, erschlagen. und ein anderes unter dieselbe Nummer gesteckt wird. In dem vierzehnjährigen Prozeß war ersichtlich, daß in Petersburg die Gerechtigkeit auch nach Nummern 88 Stimmen aus den Kerkern, geht und nirgends zu finden ist, wird man sic am Baital suchen wollen? Unstreitig würde keiner der Deportirten das lebenslängliche Elend ertragen, ohne den Versuch einer Flucht zu wagen, wenn sie nicht erführen, daß sie am südwestlichen Ende durch Entkommen über die Grenze aus der Scylla nur in die Eharybdis stillen, daß sie bei den rohen asiatischen Horden, deren Sprachen ihnen fremd sind, kein besseres Loos haben, als bei den civilisirten Russen, nud längs der chinesischen Grenze hat die russische Regierung dnrch schöne Summen für Auslieferung der Neberläufer, die Lust zu entfliehen benommen. Der habsüchtige Chinese peitscht den russischen Deserteur erst auf seinem Territorium durch, weil er sich unterstand, das himmlische Ncich mit seinen Füßen zn beschmutzen, und dann tauscht er ihn gegen die verheißene Summe aus. Die Fee, die den Menschen aus den Gärten der Hcsperidcn auch in die Hölle uach Ncrtschinsk trägt, die Phantasie wird Jedermann sagen, welches Loos sich dann nach der Rückkehr gestaltet. Ist der Deportirte auf eine bestimmte Reihe Jahre zu eiuer harten Arbeit verurthcilt, und sein Körper ist stark genug, diese Zeit zu überleben, so wird ihm dann ein Aufenthaltsort angewiesen. An einen Erwerb durch Anbieten seiner Dienste ist nicht zn denken, weil Niemand da ist, der ihrer bedarf. In Tobolsk, Omsk, Orenburg und in Kathariueubmg giebt es für das Eleud in sofern eine Milderung, daß daselbst Freie, Hüttenbcamte und andere Beamte wohnen, wo sie wenigstens Vrod und nicht nur dessen Surrogate haben. Am Schauerlichsten hingegen ist die Verbannung in die Barabinskische Steppe, einen ungeheuren, unfruchtbaren Erdstrich, wo Katharina II. die ersten Ostrogs anlegen ließ. Wie viele dem lebenslänglichen Elende Anheimgefallene, Schuld Stimmen aus dcn Kerkern. 89 und Unschuld, mögen in den fürchterlichen Einöden verloren und vergessen worden sein! Ist Tschcglowski kein Beispiel? Wic viele der Kriegsgefangenen von 1812 werden dort noch verborgen sttn. Ans Betrieb des französischen Gesandten v. Varan tc wurden mehre nach mehr als zwanzigjährigen Leiden aufgesucht und frei gemacht. Alexanders I. Humanität gehört das Verbot der Verstumme kling und Brandmarknng der nach Sibirien Perurthcilten. Ks ivnrde ihnen, nach erhaltener Knnte, die Nase von beiden Seiten aufgerissen, unter neuen namenlosen O,ualeu mit einem glühenden Cistn ein >V (W,»v Dieb) auf die Stirn gebrannt, und die Wunde dann mit Pulver cingerieben. Die Ursachen, welche zur Deportation reif machen, beschränken sich nicht allein auf die im ssoder, von 1835 bestimmten Verbrechen, sondern erstrecken sich auf Alles, was möglich ist, nach russischer Verfassung und Ex/gcse für ein Verbrechen erklärt zu werden. Zwei Jahre daranf wurden z. B. das Feld der Ursachen durch gesetzliche Bestimmung und nach vorangegangener Prüfung des Reichs-raths dahin ausgedehnt, daß Jeder, der einer Handlung obgleich ohne Beweise beschuldigt und angeklagt wird, welche eine kriminal-untersnchnng nach sich zieht, und er selber diese Beschuldigung durch Owgen nicht von sich ablehnen und seine Nnschnld beweisen kann, oder wenn zwei Drittel seiner Gemeinde sich sträuben, ihn wieder als Oemeindeglicd anznnehmen, eben so wie jeder vollkommen überführte Verbrecher nach Sibirien verwiesen wcrdm soll. Die Verurthcilung nach Sibirien ist ein Ehescheidungögrund. In der Verbannung kann sich dafür der oder die Heiratslustige 9leich wieder einen Schatz aussuchen, und noch dazn einen freien, Wenn dieser Neigung fühlt, sich Amors Pfeil von einem Mörder so Stimmen aus den Kerkern. oder andern liebenswürdigen Gauner in's Herz drücken zu lassm. Auf die Bevölkerung Sibiriens ist also in allen Beziehungen sorg-fältig Rücksicht genommen, und aus die Vervollkommnung des moralischen Gefühls der Sibirier nicht minder. Es würde der Regierung schwer fallen, willige Beamte in diese Äo.-Miui« des in»el-ipUmi8 uuinei-cil,6c8 zu finden, wenn nicht allc diejenigen Civilisten. welche auf Kosten der Krone in einem Institute erzogen sind, die ersten sechs Jahre nach ihrer Entlassung mit Gehalt zu dienen verpflichtet wären. Sie dürfen dagegen nicht murren, welcher Ort im ganzen Reiche zu ihrer Bestimmung ausge« sucht wird. Ein Pharmazeut. Legger. Bergakademist, Architekt. Uni-versitätözögling u. s. w,, dem daS Geschick an seinen Christbanm kcinc Protektion gebunden hat, bildet sich jenseits des Urals vom Eismeer bis an Dschamils Vorposten weiter aus. Wmn die znr Deportation Verurtheilten ans deu Gefängnissen der Kouverncmcntsstädte transportirt werden, so geschieht dies am frühsten Morgen. In Petersburg werden sic in einem Kasten bis an den Moskowischcn Schlagbaum gefahren, wo das zum Transport bestimmte Etappencommando wartet und mit ihm Frcnnde und Verwandte, die den Verwiesenen für diese Welt das Lebewohl sagen. Sie werden hier an eine Kette geschlossen, und — die Musik des Teufels beginnt. Fort bewegt sich der Zug, der von Stadt zu Stadt sich vergrößert. Schon die Kcttc allein peinigt. Setzt sich einer der eng znsammen Geschlossenen, so muffen die andern entweder mit sitzen oder gebückt stehen. Der Aufstehende zieht die Liegenden mit in die Höhe. Die Fessel wird niemals gelöset und wirft die Unglücksgcfahrten dcs Nachts nebeneinander gedrängt auf die bloße Erde. In den Begleitern, den Etappcnsoldaten. Kosaken, Tataren, ist jeder Funke von Mitleid durch deu täglichen Anblick Stimmen aus den Kerkern, 61 erloschen, und sie nehmen vom Biffm Brote des Elenden auch noch nn Stück. Mitleidige Hände am Wege reichen ihnen einige Kopeken, und wenn sie diese nicht mit den Bewaffneten theilen wollen, so setzen sie sich Mißhandlungen ans. Man denke sich dazu außer dcr kärglichen Nahrnng von Wasser und Brot, das Klima rauh wie sein Volk und dessen Fluch, wo in: Winter die Thräne gefroren an der Wange hangt, und im Sommer die Sonne wie heißes Visen auf den Kopf brennt, und auf die in Lumpen gcwik-keltcn Füße. Die Fessel reibt, der Schweiß frißt, oder der Frost schneidet. So geht es täglich gegen drei deutsche Meilen, der dritte Tag ist Rasttag. Das Ziel der Reise liegt in einer Entfernung Von über 2000 bis 10,000 Werst. Der stärkste Transport, der je von Petersburg alls die schauderhafte Neisc angetreten hat, auf welcher Viele den Tod finden, war 182s». Frauen, die um die Gnade nachsuchen, dem Christcnthume treu bleiben und ihrem Manne anhängen zu dürfen, erhalten die Erlaubniß, ihren menschlichen Gefühlen zu folgen nnd ihren Mann zu begleiten. Die Beispiele sind selten. Desto schöner steht die That der Fürstin Trübetzkoi, welcher Marquis Custine zuerst öffentliche Anerkennung widmete. Er hat snnem Werke scholl dadurch einen dauernden Werth erworben. Was von seinen Feinden an seiner Darstellung widerlegt werden sollte, ist Wasser, das die Sohlen bespült, an den Werth und dic Wahrheit hat es nicht zu dringen vermocht, und alle Widerlegungen haben nur aufgedeckt, welch eine todte Ninterlandschaft in: rus-sijchen Herzen sich spiegelt, wo nicht ein Schneeglöckchen den Hanch einer wärmern Jahreszeit verkündet. Unter den Ausländern in Petersburg ist die That der Fürstin gewürdigt worden. Daß die Russen thcilnahmloser schienen, liegt 62 Stimmen aus dcn Kcrtern. in dem wohlthätigen Fell über ihren Nerven, welches sie selbst im freundschaftlichen 5lreise vor jeder'freimüthigen Aeußerung bewahrt, und das auch damals sie um so mehr schützte als allgemein be^ kannt war. wie ungnädig der Entschluß der Fürstin bei Hofe aufgenommen worden war. Dem Nesidcnzvlcbs hätte sie freilich wenigstens nasse Thränen cutlockt, wenn die cdeldcnkendc Seele in der Zeitung bekannt gc-macht hätte, sie werde im Moskowschcn Prospekt sich in's Fenster legen, dem vorbeigcsührtcn Zuge heroisch zusehen und ihrem Gemahl nüt dein Schmlpftnch das Lebewohl zuwinken. ,,^ck K»k 8i^vuo!" (Ach wie herrlich!) hätte es dann geheißen. „lio^Iie mni, Kuli unu j>llU!>Ll>it! " (Mein Oott, wie ste ivciut!) Nnd Abends im Theater! Alle Augen hätten sich zu ihr gekehrt, und selbst ein Hurrah wäre von der Polizei nicht verboten worden. Ich nehme die Behauptung von Gretsch für wahr an, daß der Kaiser der Fürstin angeboten habe, ihre Kinder in einem Kron-institutc erziehen zn lassen, obgleich die Behauptung kahler steht wie mein Nichtzweifel daran, denn dieser gründet sich auf Vertrauen zum Monarchen. Allein das Gemüth, von der Religion in seinen Tiefen ergriffen, lieber das bitterste Elend zu wählen, alö die in ihm von Tugend zart gespannten Saiten nach gewöhnlicher Men-schcnweise zn zerreißen, dies Gemüth wird auch als Mutter Stolz genug besitzen, eine Gnade für ihre Kinder nicht anzunehmen, wo sie selbst Mittel in Händen l,at, dasselbe und auf freiem Wege zn leisten, was die Gnade ihr anbietet. Das, was eine solche Mutter ihren Kindern ist, können alle Militär- uud andere Institute nicht ersetzen. Die algebraischen Gleichungen und der mathematische Formalismus, die bei anderm unfruchtbar bleibenden Boden in diesen Anstalten erworben werden, stehen weit, weit unter dem Stimnnn attc< dcn Kcrkcrn. 62 2ichte. mit dem das gebildete Mntterherz den Kindcssinu zu erleuchten und zu crn'ärinen verinag. Der Einfluß cincr tugendhaft ten Mutter ist überhaupt mächtiger uud schöner als der aller Schul-und Kirchenweishcit. Wer nicht gehandelt hätte, wie die Fürstilt, sei wenigstens in Ü)re,n Elende nicht unmenschlich, und zwinge ibr seine kalten Reflexionen auf. Das nachdenkende Unglück hat eine andere und für sich selbst richtigere Analyse und Benchnnng als dcr stolz sich blähende, Wahn. Die That hat für Rußland nnr Nlchen gebracht. In seine Geschichte kann eo nun eine Perle fasstn, wie sie bisher noch nicht hatte, und die auf Rußland blickenden Fremden sehen, d"ß unter l>0 Millionen Herzen anch ein großes, himmlisches Herz sich erheben kaun, wie der Stern der Liebe, der einsam und still, abn göttlich schön über die unabsehbare, dunkle Waldung tritt. Daft unsre deutschen Rezensenten auf Autorität russischer Agcu-tur so breitmäulig über den Fnßsall des Fürsten den Stab brechen, und ihn ans ihrer Huld verstoßen, weil cr um Gnade für sein Le-bcn bat, bleibe ihrem befiederten Heroismus unbenommen, bei dem Zachsten Winde mausert er sich doch und läßt seiuc geschundene Hant blicken. Muß denn die Glocke, die dem Bauche znni Mittagstischc leitet, >ulch die allgemeine Harmonika der Ecelen sein? Wolleu lvir mit Verdlnmmmgsurthcilm immer gleich bei der Hand sein, Und gar nicht abwägen, ob ein Mann in einer That ganz allein steht, oder ob cr nach zwei Herzen und vier Armen beurtheilt sein kill? Ist die Frage etwa fade, ob der Fürst im Gefühl seiner Erinnerung, daß eiu Trubetzkoi die N o in a n o w s anf deu Thron ^'eben half, anders gehandelt hätte, wenn stin Leben nnd Dcnkell uicht an ein zweites Wesen gefesselt gewesen wären? Wenn der Fürst dcn Entschluß seines zweiten Herzcus kannte, ihn nicht zu 6i Etimmtu ans dcn Kcrkcrn. verlassen, lind von dicstm zu scinem Schritte aufgemuntert wlirde, sollte er sich beschämen lassen und das kürzere Uebel wählen, statt den höchsten Triumph dcr Liebe im finstersten Elende zn feiern? Können wir denn im Hintergründe des mcnschlischen Herzens immcr Das entdecken, was nach dem gewöhnlichen Schlendrian des Lebens gesncht wird? Oder weil die zwei Enden, an denen eine That aufgehängt ist, nicht stngs sichtbar sind, ist sie deshalb gleich zn verdammen? Als Portia sprach: ,.Brntns, es schmerzt nicht!" da hörte Brutus auf, unschlüssig zn sein, da fühlte sich erst dcr innere Held. In unserer heutigen Welt aber lauter Brntussc suchen, gehört wohl weder zur Welt- noch Menschenkenntnis?. Kann man eö doch schon für besondern göttlichen Einfluß und Wunder halten, daß sich noch Großherzige finden, die in einer wackelnden Masse den Muth nicht verlieren, fest und aufrecht zn stehen. Verdienen selbst Diejenigen keinen Mildernngsgrnnd im Urtheil über sie, die nicht aufhören, redliche Männer zn sein, die aber ermüden, ans einem spröden, rissigen Klotze eine Menschengestalt zu meißeln? Soll Menschcnurtheil den Selbstmörder steinigen, dessen Seelenfäden über Sein oder Nichtsein andere Lage hatten? Je schwächer in ihren Stützpunkten die Ueberzeugung von der Absicht einer Handlung ist, desto behutsamer wird der Verstand an ein Urtheil sich wagen. Wenn aber gar ,,urtheilen" nichts anders ist, als „nachsprechen, nachsingen," so kann von Urtheil nicht die Rede sein, sondern von Steinsalz, in das eine Zunge erst ein Loch zum Nachlecken vorgeleckt hat. Kirche. Schule. Wcini sich Gott nicht dci Tache erbarint, ich anncr Kai-scr »üd dcr »-rsrffmc ?»!ins wcrden's nicht ä»dcru. Kaiser Max. Rußland, lll. 8 Religion ist nine Anschauung dcs innern Zinnes. Sie ist knuc Erkenntniß und läßt sich in kein systematisches Gebäude bringe». Religion ist Liebe, rein wie diese im Blicke, fromm in der Sprache. Achtnng gebietend, fern von Leichtsinn, immer in Gesellschaft der Kngel der Schaam nnd der Unschuld, namenlos reich an unlerm Fnedcn und Vertrauen, und die Taube, die bei der Sünd-fluth das Oelblatt findet. Religion und Liebe stützen sich auf die zartesten Regungen dcs '^rzcnö. Beide drängen das Gemüth zu dem Glanbcn an ein ^ühtaufhören. Die Religion ist das Organ, durch welches das ^vigc und Göttliche den Menschen als seine vorzüglichste Offcnba-llMg ergreift, sie ist das unter der Zncht der beschauenden Vernunft wirkende Gemüth. Dies allein führt zu Ideal und in idcalische Welt, in dies Geburtsland der Religiosität. Was in Vermmft und Gemüth klar als Idee dasteht, hat keine ^smthümlichc Sprache, es muß die Sprache des Verstandes borgen. ">u das Inncnklare außer sich darzustellen. Das wußten die Bonzen zu benutzen. Nicht die körperlich Stärkern wurden die ersten Unterdrücker des ^"lschmgcschlechts. sondern die Klügcrn. 8" «8 Kirche. Schule. Sic gaben der Vcrstandessprache das mystische Gewand, unr machten aus der einfachen Klarheit unverständliche Himmelskarten. Sie erblindeten selber, indem sie das Heilige zum Gegenstände ihrer Speculation herabzogen und dadurch entwürdigten. Den warmen Frühlingshauch der Natur, der durch den Menschen geht, verwandelten sie in eine» Wintcrtag, an dem das Geistigflüssige erstarrt. Die Frucht der Noth uud Mühe des Menschen nahmen sie für sich, und versprachen ihm dafür und sür alle k'rdenlciden eine ewige Lust. Sie umhingen dk Religion mit allerlei sinnlichein Plunder und Zusatz, und warfen dadurch das Saamenkorn aus zu Fehde und Zank, denn nie stritten die Menschen um die Religion, sondern nm die pric-stcrlichc Zuthat. Die Menschen in der weichen Wiege der Phantasie ließen sich schaukeln, der trägen Unwissenheit siel immer das Zwei' feln zu schwer, und das Allesglauben zu leicht, und ohne die wenigen Mündigen, die mit dem Licht ihres Geistes cin Leitstern der Menschheit wurden, schliche über die ssrde nur ein erdrücktes Menschengeschlecht. Sollte wohl vor dem Pfaffenthumc das Gebet des Menschen, nicht als Pavian, sondern als Geschöpf mit der sich entwickelnden Vernunft, als ihn die Vernunft zur Verehrung ihrer Allmacht rief, nicht reiner, wahrer nnd natürlicher gewesen sein als nach der Bonzenzeit? War in dem goldenen Zeitalter das einfache Lob der Gottheit weniger Religion, als nachdem die Religion Theologie geworden war? Ans dem freien selbstthätigen Menschen im Arme GotteS ward ein kirchmfrommes Wesen gemacht, handelnd aus Gottes- und Men-schcnfurcht vor Strafen und aus Hoffnung auf Velohnnng. Man berechnete dabei genan, was der Mensch unter künstlich herbeigeführt ten Verhältnissen werden müsse. Statt durch Frommsein die sinn- Kirche. Schule. 69 lichcn Fesseln zu brechen, und es als Vorschule zur Tugend zu gebrauchen, die keiner Belohnung bedürft, benutzte inan dasselbe, vom ^ttigniß der Natur mehr ab uud in dic Satzungen der Menschen zu lenken, dcu Acker im Menschen uicl't uach seinem geistigen Eigen-lhumc zu bestellen, sondern uach Priesterweise zu besäen. Unter allen Glaubensbekenntnissen der unzähligen Kirchen findet baö Gemüth das wahre Element seines Lebens uur im khristen-^)»mc, iu deffen Liebe, welche das gesammte Menschengeschlecht nm-!u5 ukril des russischen Kircheugesangs gelten, eine Idee von Kirchenmusik gehabt hat, das negire» mchr seine Kompositionen, als daß sie seine Kenntnisse bestätigen. Man braucht kein 76 Kirche. Tchule. Pcrgolesi zu scin, uln zu hören, daß nicht nur Dissonanzen, Verzierungen und Gänge, sondern ganze lvhörc dieser Kompositionen und der czarischen Kapelle, der Oper, aber nicht der Kirche gehören. Bässe, und zwar sehr tieft, haben die Russen in Menge, aber die Tenor-, Alt- und Sopranparticn fehlen ihnen desto mehr. Der Obcrhirt der russischen Kirche, war bis 1702 der Patriarch. Peter I. vereinigte diese obcrbischöflichc Würde mit seiner weltlichen Macht, und setzte als höchstes geistliches Gericht und Kirchenaufseher den Synod ein, dessen Mitglieder wie die des Senats von« Pzar ernannt werden, und in welchem hente ein General und Flügeladjutant als Obcrproknrator das Seelenheil besorgen hilft. Peter I. fungirtc selbst als iwnM'ex iul»xi„ni8 vor dem Altare. Dem Obcrhirten folgen im Range die Metropoliten (Erzbischöfc), die Archimaudriten (Aebte der Klöster), die Archiercen (Bischöfe), die Protoftovcn (ältesten Geistlichen an den Kirchen). Die Geistlichkeit hat durch dic Reform Peters an Macht nnd Ansehen, folglich anch au Einfluß gewaltig verloren, und an Kenntniß nichts gewonnen. Die russische Geschichte bezeugt, daß die größten Verbrechen von der Geistlichkeit geheiligt wurden, und daß sie der ruchlosesten sszarentyraunei willig die Hand bot. Wo blieben Priester jc zurück, wenn es galt, ein Volk in Sklaverei und dunkler Geistcsnacht zu halten! In dieser Hinsicht gewann eigentlich die Czarenmacht dnrch die Verbindung mit dem Kirchenscevter wenig oder nichts, wohl abcr und desto mehr durch die dadurch erlangte nnbeschräuktc höchste absolute Macht, die es ans der Erde geben kann. Höher hinauf als zum Alleingebietcr nach Willkür über Leben, Geist, Person und Eigeutbum geht es in den menschlichen Einrichtungen nicht. Höher als selbst anßcr dein Gesetz zn stehen, nnd doch alles Andere an Gesetzen zu gängeln, ein einziger, unbedingter, angebeteter Erden» Kirche. Schule. 77 gott zu sein. höher, und nicht einmal so hoch, hat es sogar der Dalai Lama der Kalmüken nicht gebracht, denn wahrend der Dauer cincs Prozesses unter den Fürsten der Horden, welchen er zu entscheiden hat, bekommt der Dalai Lama nichts als Mehl und Essig zur Speise, damit er das Urtheil beschleunige. Verdient Nachahmung ! Unter den Metropoliten war der von Petersburg und dem Newskikloster der einzige, dessen greises ehrwürdiges Haupt der frühern Macht der Kirchenhäuptcr eingedenk war. nnd der sich dem regierenden Kaiser bei mehren Gelegenheiten opponirte. Der sszar ließ den Greis einst persönlich vor sich fordern. Er verlangte seine Einwilligung zu einer kirchlichen Vcrandcrnng, nnd als er Widerstand fand und bei seinein Verlangen beharrte, so legte der Metropolit sein Kreuz auf deu Tisch und sprach: „Ich gebe meine Würde dem Pzar zurück, hier ist mein Haupt, ich kann nicht anders! " Das Begehrte unterblieb, allein was der Kaiser dem weißen Haare nachgab, dessen dürfte sich kein anderer Prälat erstellen. „Haben wir nicht jetzt zum allgemeinen Besten geordnete Gesetze? " fragte der sszar denselben zu einer andern Zeit. „Ja", versetzte unerschrocken der Metropolit, ,,nnd einen großen Abgrund darunter!" Die obere Geistlichkeit wird aus den Klostergeistlichen gewählt. In die Klöster läuft Jung und Alt mit dein Vorsätze, sich zum Heiligen zu beten. Mönche und Nonnen siedeln sich daher gern in Familien an, wo sie die meiste Leichtgläubigkeit finden, und nicht selten gelingt es ihnen, junge Leute zum Klosterleben zu bereden. Kaufleute, Prikaschtschiks nnd Lehrjungen werden Mönche, um einst aus der Urne der Heiligkeit das große Loos zu ziehe», als Heiliger angebetet zu werden. Den letzten Heiligen, dessen unsterbliche Hülle unversehrt gefunden wurde, und der bereits alle Hände voll zu thun 78 Kirche. Schule. hat, die Bittschriftm seiner Anbeter aus dm Sargen in Empfang, zu nehmen, schuf der Kaiser Nikolaus. Daß diese Heiligen Wunder thun, dic Alles wcit hinter sich laffcn, was das höchste Wesen in seinen Welten wirken kann, daran wird der Verständige am wenigsten zweifeln. In Nowgorod z. B. ist der große Mühlstein zu scheu, auf welchen, der dort unvergeßlich ruhende heilige Ant on ins von Rom durch das mittelländische, atlantische, deutsche und baltische Meer direkte nach Nowgorod schwamm. Eines der Hauptklöster des Reichs ist das Alexander - Newski-Klostcr in Petersburg, zu Ehren des Großfürsten Alexander erbaut, der an dieser Stelle ein feindliches Heer schlug. Seine Milde allein schon mnßte ihm einen Platz unter den Heiligen verschaffen, denn nach Karamsin schleifte er am Schweift scincS Pferdes die in einer Schlacht gemachten Gefangenen im Lager zu Tode herum. 1723 wurde sein Gebein von 400 Geistlichen von Wladimir nach dem Kloster gebracht. InPetersI. gestiftetem Alexander-Ncwski-Ordcn, an rothem Bande mit rothcmaillirtem Kreuz und goldenen Adlern, lebt sein Andenken in den höchsten Ehren, der heilige Andreas am blauen Bande steht jedoch über ihm. Das bedeutendste russische Kloster ist das Dreiciniakeitsklostcr zu Kiew, wohin ein Fürst Go litzin den zwölfjährigen Peter in Sicherheit brachte, als er in einem Aufruhr in Moskau ermordet werden sollte, wofür sich nachmals der Bruder bei der Schwester Sophia damit bedankte, daß er ihre Anhänger vor ihren Fenstern an Galgen hängen ließ. In den Gewölben dieses Troitze-Monastör liegen eine Menge schwarzbraunc Heilige in Haut und Knochen aufbewahrt, zu denen aus dem ganzen Reiche gläubige Seelen wallfahrten, und wobei die Mönche nicht ermangeln, für ihr Kirche. Schule. 79 eigenes Körpcrhcil durch Kunststückchen dem Aberglauben dic nöthigen Gebühren abzuzapfen. Die frommen Rcsidenzbcwohncr wallfahrten am meisten auf der Newa zu dcm Kloster Tifen und in das nahe Troitzc-Kloster unweit Strclna. Durch eine Fußtour dahin werden alle Sünden durch die Mönche wieder abgewaschm, und wer dic wallfahrtenden Sünder und Sünderinnen beobachtet, wird sich überzeugen, welche Bigotteric in der Residenz herrscht. Es ist nicht von der wandernden l:,ox populi die Rede, sondern von den Gräfinnen, Burgc-meistermnen und andern Hänptlinginncn der sich vordrängenden Familien, im dicksten Staube auf der Landstraße, in der brennendsten Hitze, die Schuhe in der Hand. Die Menge junger kräftiger Mönche in diesen Klöstern verklärt den Gedanken, wie angenehm es fein muß. sich von ihnen die Sünden wegstreichen zu lassen. Die russische Kirche wird von einer Menge Parteien zerspalten. Die beiden Hauptscktcn siud die Orthodoxen und die Roökolnikm oder Separatisten. Den Grund der Spaltung legte ein Mönch durch seinen Folianten „der steinerne Glaube," in welchem das Dogma auf die ersten kirchlichen Gebräuche sich stützte, die sich dcm Iudcnthum näherten. Der Hauptstreit war über die Art, das Kreuz zu schlagen. „Wer die drei Finger beim Krcuzschlagcn nicht hält wie wir. läugnct die Dreieinigkeit!" riefen die Orthodoxen. Allein auch andere Ursachen sonderten die Noskolniks von ihnen ab. Diese erwarteten von Zeit zu Zeit den jüngsten Tag, kleideten sich an diesen Crwartungstagen weiß, und legten sich wie Leichen gekleidet in Höhlen und Gräbern nieder, um das Ende der Welt abzuwarten, bis dcm Magen die Zeit des Wartens zu lang wurde. Aufangs wurden die Noskolniks cxcommunicirt, Das half nicht, ihre Zahl mehrte sich. Beide Theile machten sich durch Schimpfen Luft, und 80 Kirche. Schule. verbreiteten wechselseitig von einander Skandalosa. Eine Nebensekte der Noskolnits bat sich beute noch nicht von der Anschuldigung frei gemacht, daß ihre Anhänger Versammlungen halten, in welchen Masculina, Feminina und Neutra nackend zusammen kommen. Peter I. griff mit gewaltiger Faust in diese Streitigkeiten und Unsaubcrkeitcn. Das Uebel ward nicht getilgt. Da uahm der Czar zum Spott stine Zuflucht. Er befahl, daß jedrr Noskolnik einen rothen viereckigen Lappen, hinten aus dem Kaftan genäht, tragen sollte. Das fruchtete etwas, allein die Separatisten ertrugen Trübsal und Spott, und blieben steinern in ihrem Glauben. Sie haben heute in der Residenz ihre Kirche, ebenfalls an andern Orten des Reichs, und ihre Anhänger haben sich jährlich vermehrt. Die alte Feindschaft ist geblieben, und sie hat sich so frisch crhaltm, daß die Noskolniks lieber Fremdgläubige in ihrer Kirche dulden, als die rechtgläubigen Nüssen, die sie aus dem Tempel weisen. Wie es möglich ist. daß eine Negicrung, die das Gesetz der Duldung für alle Neligionspartcien zu ihrer Richtschnur festgesetzt hat, die demungeachtet gegen die Juden und Katholiken hart verfolgend und gegen Lutheraner fortwährend cngbeschränkend und vroselutisch verfährt, die wie ein Muhamed mit Gewalt ihren Kirchmglaubm auszubreiten strebt, dennoch in ihrer Dulduugspraxis eine der scheußlichsten Sekten, deren Anhänger sich castrirm, ihr Unwesen treiben läßt, das hat noch keine Vernunft in Nußland begreifen können. Diese Regierung wüßte es nicht? Die lange Reihe glattlimügcr Geldwechsler in der Banklinic gehört zu dieser Sekte, ganz Petersburg weiß es, alle russischen orthodoxen Kaufleute kennen diesen öffentlichen Skandal; die Jugend, die diesem Verbrechen geweiht wird, geht laut klagend herum, und als der reichste b'astrat dieser Sekte, ein Matador, des Handelsstandes, vor einigen Jahren starb, Kirche. Schule. 81 und auf dem Friedhose des Ncwskiklosters mit Pomp beerdigt werden sollte, widersetzte sich der alte würdige Metropolit, der Leichnam innßtc außerhalb der Stadt, nach dem Troitze-Kloster gebracht werden. Der Charakter der rnssischen Religion ist Bilderdienst, Anbetung der Heiligen und Uebung einer Menge änßerer Ceremonien als Pflichten in der Gottesfurcht Sie verbindet das Auge des Geistes im Menschen bis znr Blindheit, und führt ihn bei den Sinnen tappend herum. Sie halt ihm als Christen nicht das Evangelium vor, sondern ihre äußerlichen Gebräuche, Bilder und Zicrrathcn, und beweist das menschliche Ebenbild Gottes dnrch die herrlichen Gebäude auf Erden, und durch die Bereitung des künstlichen Essens, Trinkens und der Kleider. Sie redet von Hoffnung, und versteht darunter den seligmachcndcn Glanbcn, und unter diesem die (Aanbensartikcl, die, wie Kriegsartikel dem Rekruten, ihren Rechtgläubigen eingetrichtert werden. Aus der Zahl :i multiplizirt sie das Qnadrat der 9 Seligkeiten. Der heilige Geist fängt im Embryo nnter dem Herzen der Mutter seine Heiligmachung an, und arbeitet dann ununterbrochen im Menschen fort. Sie verspricht ihren Anhängern die Auferstehung zur Regierung der Welt. Dem Todten wird daher tin förmlicher Paß unter den Kopf gelegt, in welchem die Kirche durch Siegel und Unterschrift attestirt, daß Iwan Nikiphoro^ witsch Schtschzlnibofsky der wahren Religion zugethan gewesen, und seine Pflichten gegen dieselbe ohne Anstoß geübt habe; der heilige Nicolans werde deshalb ersucht, demselben den richtigen Weg znr Himmrlsthür zn zeigen, und ihm seine Empfehlung an Petrus nicht vorzuenthalten. Die Reinheit ihrer ächtchristlichen Lehre bezeugt die russische Kirche am unzweifelhaftesten durch eine besondere Feier, eigentlich zwar nur gegen Nichtchristcn bestimmt, von orthodoxen Rnffen jedoch anf alle Nlchlaud, IN, s» 82 Kirche. Schule. seinen Glaubensartikeln fremden Neligionsbctenncr ausgedehnt. Jährlich nämlich an einem Sonntage wird das Fest der „Verfluchung" gefeiert. Vom Altar strömen, wie ersaufende Wolkcnbrüche., die fürchterlichsten Flüche über alle Ungläubigen aus, und das inbrünstige Gebet mit dem zahllosen ,,^o«po,ll pomilm", daß Gott seine Geschöpfe zur Hölle und zu deren unerschöpflichen Qualen stoßen möge. Selbst der Nuffe schaudert, wenn er auf Befragen antworten soll: „Heute ist Verfluchung!" O Himmel! wo die Kirche lant und schrecklich den Bannfluch über den schuldlosen Nächsten ausruft, und das Göttliche frech verunglimpft, da hat die Menschheit sich keine Hütten zu bauen. Und doch flöten die Papageien, Rußland habe die schöne Bestimmung, Kultur in den Orient zn übertragen. Schade daß aber auch Vieler Wünsche iu Nußland selbst unberücksichtigt bleiben müssen, der vulkanische Ausbruch der russischen Kultur möge sich in das Eismeer ergießen, und die Vorsehung sie zum Einschmelzen der Eisfelder verwenden, um die nordöstliche und nordwestliche Durchfahrt ohne Gefahr möglich zu machen, uno zum Heil unserer ill Geld verliebten Welt an den Pol kommen zu können, der unstreitig von gediegenem Golde ist, da sich der letzte goldene Schwanzstern des kleinen Bären, der Schwere wegen, fast nicht von der Stelle bcwegt. Zu den Sakramenten der russischen Kirche gehören die Tauft das Abendmahl, die Beichte, die Ehe. die letzte Oelung und die Salbungen. Bei der Einweihung des Menschen zum Christen durch die Taufe, nimmt der Pope das Kind ans die Arme. drückt ihm mit einem Kunstgriffe Ohren. Mund und Nasenlöcher zu, und taucht es im Namen der Dreieinigkeit dreimal ganz unter Wasser. Ob nun zwar Kirche. Schule. 83 dcr heilige Geist schon im Mutterleibe seine Gnadenwirknng begonnen hat, so scheint das russische Dogma dem Landfrieden nicht recht zu tränen, dcnn damit der „Diawol" den Neuling anf dcr Welt nicht gleich bei den Haaren faffm kann, schneidet dcr Pope demselben ein Büschel Härchen ab, knetet es in Nachs, und wirft es in die Badewanne. Er setzt sich hierauf an die Spitze aller Pathcn, nnd führt fic unter schnell von den Lippen rollendem Gebet dreimal um dic Wanne, wobei die Taufzcugcn beständig vernehmbar ausspucken müssen, dann erst ist allcs Diabolische ans dem Kinde getrieben. Dic Taufe macht geistlich verwandt, hindert aber Gevatter und Pathc nicht, sich in einander zu verlieben nnd zu heirathcn. Das Kind erhält bei dcr Taufc den Namen dcs Heiligen, dcr an diesem Tage im Kalender steht, daher feiert der Nussc seinen Namenstag, nicht seinen Geburtstag. Bei dem Abendmahl wird Brot in rothen Wein gebrockt, und dem Communicanten mit dem Löffel gereicht. (5in dreijähriges Ncbcrgchen des Abendmahls wird mit Kirchcnbuße bestraft. Cmc Vorbereitung zn diesem Sakramente sindct nicht Etatt. an demselben nehmen kleine Kinder ebcn so Theil wie Erwachsene. Ich tcnnc Tschinownike, welche nic zum Abendmahl gehen, dagegen für Ucbcr-smdung einer rothen Banknote (10 Rubel) als fleißige Abcndmahls-ttängcr bescheinigt werden. Die sieben Wochcn vor Ostern setzen dic gewöhnlich wohlbeleibten Popen ganz vorzüglich in Thätigkeit mit Nesselcscn, Beichte nnd Abcndmahlaustheilcn, dcnn der Communicant geht eine Wochc lang dreimal täglich in die Kirche. Diese Kircherci weiß nichts von einem Aufschwünge der Scele zu einem Wesen aller Wcscn. Ob der Mensch in cincm geistigen Reiche scinc Heimath hat, ob das Zeugniß von einer Urkraft im ^uscn rede. ob eine heilige Ahnung hin zn ihr führe, das geht 84 Kirche. Schule. das Formeln nichts an, cs führt als Leithammel die nudentcndc Hecrdc sehr richtig in den Stall an Rauft nnd Krippe. Vine Kirche steht an der andern. Paläste, Akademien, Casernen, Zenghänser, ssadettencorps, Schulen, Lazarethc. Institute aller Art haben ihre eigenen Kirchen. Die Glocken snmmen betäubend, sie bringen die drei Finger in die gesetzliche Lage znm Kreuzmachcn, sie rnfcn znr Liturgie, - Daus inania verb a Dans sine menlc soiiuiu. Aber die betende Seele bleibt in der Wolke des Räucherfasses und bei dein vergoldeten nnd nmperltcn Bilde ihres Heiligen, der dann das Weitcrc besorgt. Nicht zu ihrem Prinzip schwingt sich die Seele i>l ihrem Gebet, das Gedächtniß leiert nur einen Paragraph ab. Damit sich der Mensch nach der Karte ciner übersinnlichen Welt finden lerne, welche der Gottesdienst in der Verminst aufrollen soll, giebt ihm die russische Kirche die für seinen lvrdwinkel paffende Meßkettc, den geistig astronomischen Maßstab aber kennen weder der Pope noch seine Kirchengänger. Eo wenig ein Schreiber der Geschichte, der in den Begebenheiten nicht das in der Menschheit wirkende Universum spiegeln läßt, und weder religiös noch psychologisch aus dcn innern Menschen wirkt, für nichts als Gedächtnisiwcrk arbeitet, so wenig vermag ein Kircheuthmn, welches die Religion nicht als Geist, sondern als Körper ergreift, und mit dein falschen Schein eines Lichts sich und Andere täuscht, zu Idealität zu erheben nnd Vvlksreligiosität zu bewirken. Auch den denkenden Russen drückt eine finstere Macht, wenn er von seiner Religion zn reden aufgefordert wird. daher man ihn nur selten zu ciner Unterhaltung darüber bringt. Kirche. Tchüle. 88 Wer Gelegenheit hat, in der Residenz, wohin doch die gebildetsten der Popen gezogen werden. um der Menge Allsländer die Ignoranz im geistlichen Stande möglichst zu verbergen, sich mit diesen Geistlichen zu unterhalten, gewinnt die deutlichste Ansteht von dem Werth und Wesen, welches die, rnssische Kirche ihren Gläubigen bietet. Wo ist das Ansehen des Seelsorgers, wenn ihm das Volk den gemeinsten Schmutz, Betrug. Diebstahl und Laster und Verbrechen aller Art zmnnthet. Die Wunder, dic in Kirchen in allen Gegenden des Reichs fortwährend gezeigt werden, sind Beweise fnr das im Lande wohlthätig ausgebreitete Licht. Wir finden in Europa kein Volk mit der Hinneigung zum Fatalismus wie das russische; „ <^Iu<» lll^u!" (Was sott man machen!) sagt der Nussc bei Allem, was ihm begegnet, „es ist Gottes Wille!" Stirbt ihm sein Weib, ein Kind. eine Knh durch seine Schuld: ,,^I,l<» <,.v,i,,, ^ ist Gottes Wille!" „Was konnte Dich zum Stehlen verleiten?" ,,.V l^enlo ich bin der Freuden müde!" Ein allgemeiner Katzenjammer schließt sich an das Ende des Auftrstehungsftstcs und des Hochgenusses. Allopathen und Homöopathen, Ehirurgen, Bader, Apotheker, Popen und Sargmachcr fangen nun ihre Haupteinnahme an, und die Kirche. Schule. 89 Todtcngräber sind uic zufriedener mit der ärztlichen Hülfc und der kirchlichen Unterstützung, als nm diese Zeit, so wie nach allen langen Fasten und Festen. Eine Neise von Petersburg nach Moskau reicht allein durch Tausende von Kirchen zn der Ueberzeugung hin, welch ein Land der Frömmigkeit Nußland ist, nnd wenn einst durch sic die Zuversicht der Russen auf ein Universalrcich erfüllt ist, dann wird die Erde vor dem Bimmeln nnd Bummeln der Glocken in ihrer Nahn irre werden, und freudig gläubig um die neue Sonne an der Newa sich wenden. Gut, daß der Weltgeist. unbekümmert um Wünsche nnd Hoffnungen der Sterblichen, seinen eigenen Gang geht! 0>'<.'imi!>! An Kirche und Kloster ist eine der wichtigsten Staatsmaschineu errichtet, deren Walzen und Stampfen manchen Fremden schon irre geführt haben, ob er sie für Oel- oder Walkmühlen oder Papierfabriken halten soll, erst bei genauerer Erkundigung erfahrt er mit Gewißheit, daß in den vielen Gebäuden das Untcrrichtswcscn verarbeitet wird. Der Hauptzweck in diesen Lerngebäuben ist die ssrlanguug der höchsten Vollkommenheit in Gehorsam. Das Lehrsystcm darin rc-ducnt sich auf 1) einen starken Rücken, 2) einm betenden Mnnd und 3) gesunde Knie. Pope sagt von einer Art Schülern: „sie sehen ihren Lehrer an, und werden zu Narren." Daß cr jedoch die russischen Schulen nicht gemeint hat, geht klar daraus hervor, weil man in Rußland nicht fragen kann: „ist die Schule gut?" Sie sind hier alle gut. Noch hat kein Nuffc über Mängel und Gebrechen der Schulen seines Landes geschrieben, und sie thun sehr weise daran; wer trüge gern seine Haut zu Markte! In den jüngsten Zeiten hat sich Nußland durch cinc Menge an- 90 Kirche. Schule. gelegter Schulen zu dem Wahne gleicher Bildung mit den darin hervorragendsten Nationen emporgeschraubt. „Peter I. und seine Nachfolger," sagen die russischen Officiell-schrciber, „waren genöthigt, oft die nationale Eigenliebe durch ausländische Bildung zu verletzen, um der europäischen Kultur näher zu kommen. Aber was früher nothwendig war, ist es jetzt nicht mehr. Die Zeit der bloßen Nachahmung ist für Rußland vorüber, es darf jetzt nur seinem eigenen Antriebe folgen. Das russische Volk hat seinen ihm eigenthümlichen Geist, seine eigenthümliche Sprache und Religion, also mus; auch die Erziehung der Jugend in ihm mehr, als in jedem andern Lande, gemäß dein besondern Charakter der Nation gelcitct werden." llic Mwdu^, Inl! «allil! Diese Logik haben auch die kaukasischen Bergvölker, Türken, Polen, Perser, Deutsche, Finnen, und Nußland läßt sie doch nicht gelten. Die Thatsache der Menge neuer Schulen braucht nicht wegge-läugnet zu werden. Es ist nur die Frage, ob für den eigentlichen Zweck dnrch die todte Zahl etwas gewonnen ist, denn bei der den Augen der Welt vorgcmalten That darf man einer so fest und doppelt geknüpften Verfassung entgegnen: „kann dein Wille, Menschen zu erziehen, rein sein? darf er cö sein, wenn du das Wesen bleiben willst, in dem du dich so glücklich fühlst? Kannst du nicht das Ganze geben, sondern nur die Hälfte, ein Viertel, ein Achtel. waS ist dann deine Gabe, und wozu machst du sie?" Rußland verfuhr mit der Anlegung von Schulen ganz wie mit dem Hervorstampfen einer Legion Fabriken. Es kam nicht darauf an, w a s die Manufakturen lieferten, sondern nur daß sie lieferten. Gebäude mit Tischen und Bänken und einer Hcerde Jungen und Kirche. T chute. 91 Mädchen darauf, erhielten Schilde init allerlei Aufschriften: Krciö-schule, Armenschulc, Commcrzschule, Rechtsschnle, Dorfschule, Gymnasium, Universität. Der Gedanke ging dabei ganz fabrikanten-mäßig zu Werke! sind nur erst die Maschinen au Ort und Stelle, wie die Waaren verarbeitet werden sollen, dafür wird schon gesorgt werden. Es war Mangel an Maschinen, das erkannte sowohl der Czar als der Minister, dem die Besorgung dieser Art Industrie anvertraut war. Allein in despotischen Gouvernements köuuen Mangel und Mangel durch Machtsprüche zugedeckt uud ersetzt werden, wo andere Regierungen vergebens sich abmühen, oder große Schwierigkeiten zu beseitigen haben. Alles was der Despotismus ins Leben ruft, wird seinen Nr-sprung so wenig abläugucn. wie Das, was durch die Freiheit her-vorwächst. Der,Despotismus Asiens im slavischen Norden gerieth auf die Idee, das seinem Boden mit Leib und Seele verschriebene Volk zu curopäisiren. Die geistigen Kräfte, die er zur Erreichung dieser Tendenz brauchte, riß er durch Gcwaltnahmc germanischer Nationalbildung an sich. Aus der Beute machte er den Lehrer seines Reichs. Wie wäre diesem Lehrer aber möglich gewesen, seine Aufgabe zu lösen, und seinen Einfluß zu üben wie er wollte, wenn die germanische Nationalbildung, aus der Freiheit hervorgegangen, das slavische Grundprinzip des Despotismus nicht anrühren sollte! Das Product konnte höchstens ein Halbwesen sein, als welches sich Nußland i>l der That jetzt Europa gegenüber präscntirt. Daher das stets Befremdliche, Unhcimischc. Verdeckte, Scheue, brillantirt geschliffen Egoistische von russischer, und das Staunen, Unglauben, Idiosrmkratische, Zweifelnde von europäischer Seite. Daß Rußland jedoch nur scheinbar europäisch werden wollte oder sollte, geht aus dem Todschlage deutscher Bildung hervor, so« 92 Kirche. Schule. bald ihre Kraft dcm asiatischen Grundprinzip des blinden Gehorsams sich naht, sobald sic alls dcm zlir Erde gebückten Sklaven einen Aufwärtsblickeuden zu machen gedenkt, nnd aus dcm russischen Verlangen, daß dieser Todschlag als ein völkerrechtlicher Rechtsgrundsatz anerkauunt werden soll. Ist also die germanische Bildung in das Ruffenthum nicht übergegangen, wozu hat dann Rußland das vorgespiegelte Bedürfniß derselben anders benutzt, als Kenntnisse aus ihr zur Förderung materieller Kräfte zum Gelingen von Eroberungen an sich zu ziehen! Was war ihm das Guropäisiren anders als ein Vorhang sür Das, was es iu Scene setzen wollte, und mich dünkt, es sei gar nicht so schwer, von einem Vorhänge zu schließen, daß wirlich damit etwas verdeckt werden soll. Zu Peters Zeit gab es weder Schüler noch Lehrer, der Czar selbst war roher Stoff. Die Verfassung hat sich seit ihm nicht geändert, die Schüler, die er zur Erreichung seiner Pläne bedürfte, bedürfen auch heute keines höhern Schwunges, als die Flügel erlauben, die ein an der Oberfläche versteinerter Despotismus ansetzt. Um sich einen Dünkel anzuschuallen und Eliropa zu täuschen, ahmte Nußland deffeu Einrichtungen nach, und lcgtc deren Haupt-werth aus die Namen. Das Meiste, und Beste für Nnterrichtsinstitutc geschah uuter Alexander 1. Die spätere Zeit hat nur Rückschritte zu bedauern, und wenn mau sic dnrch neue Anlagen hat decken wollen, so hält doch die Nisseuschastlichkcit die Daumschraubcn in die Höhe, die ihr angelegt sind. Würde es in Rußland anders aussehen, wenn mau die Zahl der Schulen mit 2 oder 3 milltiplizirtc? Die Dunkelheit bleibt im Innern dieselbe, ob der Geist an 100 oder 1000 Gebäuden vorübergehen muß. Kirche. Tchnle. 93 Parochial Districts- Handels- Ackerbau- polytechnische- Militär-Bergwerksschulen, Gymnasien, Akademien, Universitäten, knrz alle Benennungen von Schulen prangen in Nußland, und zwar in cincr Eleganz, wie Deutschland nie an seine wissenschaftlichen Anlagen verwendet, weil ihm am Kcm und nicht an der Schale gelegen ist. Schweizer. Unteroffiziere, Schreiber, Soldaten, Ockonomen als Angestellte aller Art, stehen, lausen und faullmzm z. B. in einem Gymnasium, unaufhörlich wird gemalt, geweißt und gewaschen. Ein Dinten-fleck an der Wand zieht eine Härtcrc Ahndung nach sich als ein Schmutzfleck der Seele, und in cincm Gymnasium der Residenz mußte sogar der Director desselben um Entlassung von seiner Stelle anhalten, weil bei cincm hohen Besuche des Gymnasiums des Schweizers Stube nicht weiß genug gesunden wurde. Petersburg hat 3 Gymnasien. Zur Aufnahme in dieselben ist erforderlich ,,t«cl!li,i>l, und i>i»ll>, (schreiben und lesen) nämlich die russische Sprache. Ueber den wissenschaftlichen Betrieb in diesen Vorbcrcitungsschulen zur Universität urtheile man nach den Leistungen der Petersburger Universität, wo z. V. die lateinische Sprache mit Döring's in's Russische übertragenen Leitfaden zum Uebcrsetzcn, nnt den Elementen des Declinirens und Eonjugirens, und mit Uebcr-setzuugsversucheu aus dem Salust gehandhabt wird. Ein Knabe, welcher dürftig in seiner Muttersprache liest und schreibt, ist reif zum Gymnasiasten, ein Gymnasiast, welcher das Latein liefet, ist reif mit ml'üx.-l mm^al'M'm^c', m<'!!5!Ml seine Studien auf der Universität fortzusetzen. Die Petersburger Universität hat nur zwei Facultätcn, eine Philosophische nnd eine juristische. Philosophische Lehrsälc in einem despotischen Reiche, wo 43 Millionen sich nicbt einmal bis zum Declüurcn in einer fremden Sprache bilden dürfen, wo das Mini- 9t Kirche. Schule. sterimn des öffentlichen Unterrichts von diesen 43 Millionen sagt: „Zeichneten sie sich auch durch Fleiß und gutes Betragen aus, welchen Vortheil würde es ihnen bringen? Bald würden diesen jungen Leuten, die au eine Lebensweise, an eine Art zn denken und zu fühlen gcwöhut würden, die über ihrem Stande ist, die Arbeiten, welche sie nach der Heimkehr in ihre Familien wieder treiben müßten, unerträglich werden, und die Erfahrung hat bewährt, daß diese Menschen entweder in schwarzen Trübsinn verfielen, oder sich Ausschweifungen überließen, welche sie zuletzt iu's Verderben stürzten."! (Ministerialbcricht von 1836 an den Kaiser.) Mir sällt dabei der verbotene erleuchtete Hildcsheimcr katholische Katechismus von l845> ein, welcher viel ähnliche Fragen und Antworten enthält. „Warum sollen wir nicht stehlen?" Antwort: weil das Stehlen doch nichts hilft, und wir alle gestohlenen Sachen wieder herausgeben muffen. In der Iuristmfacultät werden russische Grundsätze, römisches Recht. Masenrecht und — das Völkerrecht gelehrt. Der Vortrag ist wie in allen Schulen dialogisch, und ein gntcs Gedächtniß ist das Hauptrcquisit eines tüchtigen Schulgängers, weil das ganze Studium in Nußland in Auswendiglernen und buchstäblichem Hersagen von Dictaten der Dictoren besteht, die Anstalt möge Akademie oder 8li«1.» heißen. Alles Lernen geht nach Urok (Lection). Man soll und will ja nicht denken und reden lernen, sonderu schweigen und gehorchen, denn das Reich bedarf dcs Organs, aber nicht der Kraft. Dic besten Köpfe sind Speicher mit Waaren ohne Absatz, und der beste Utfchitel (Lehrer) vermag nur den Mschinik abzustumpfen. Der Schüler kann an Gewicht gewinnen, aber nicht an Mark, eben so Kirche. Schule. 98 wit man in Petersburg auf dcn Märkten im Winter mit Stroh und Steinen vollgestopfte Gänse für fette verkauft. Bei jedem wichtigen Ereigniß in einem Staate, das Folgen für die Zukunft verspricht, fällt der Blick aller Männer, die ein Bewußtsein der Zeit haben, zunächst auf die Schnlc. Diee Aufmerken ist bei der despotischen Verfassung immer ängstlich, weil sie bei jeder Bewegung, deren Folgen zu iufluiren drohen, das Schwert des Damokles über sich erblickt. Eic versäumt daher auch nicht, den Inhalt des ihr gehorchenden Lebens so zu regeln und zn entfalten, daß die Hauptidee und der Hauptzweck ihres Reichs, nämlich die Fortdauer ihrer egoistischen Existenz, gesichert wird. An den Wegen des Verstandes legt sie Poststationen an. mit der strengen Vorschrift, wieviel Pferde ans jeder Station gehalten werden sollen, und wie groß die Entfernungen zn nehmen sind. Sie selbst behält das Regale, die Landstraße der Betrachtungen allein zu befahren, und die geringste Verletzung zieht die Strafe des Hochverraths nach sich. Ihrem Geiste nach darf und kann also die Erziehung ihrer menschenähnlichen Geschöpft nur in Formen geschehen, innerhalb welcher zwar Entwickelung geboten, den Formen aber der gehörige Stand-Punkt angewiesen wird, wo alle Hörrohren in die Ai'e des einen Drakels gelegt sind. um in den Schallstrahlcn die Sprüche desselben zu vernehmen. Streiten über Fehler oder Besseres kann daher nicht stattfinden, denn es ist Alles gnt wie in der Genesis. Daß es in der Kreisfläche solcher Umstände Wissenschaft geben kann, ist nicht zn bestreuen, wohl aber ihre Freiheit zn läugnen. Was eine Wissenschaft Materielles abgeben kann zum materiellen Fortschritt, das wird angenommen und verwendet, die geistigen Hvheupunkte der Wissenschaft hingegen zu besetzen, dessen wird nur lni Pönalcodcx gedacht. Das materielle Bestehen Nußlands bräche 9s Kirche. Schule. zusammeu, sobald die Wissenschaften beweisen dürften, was sie, als solche eigentlich wollen und bezwecken. In Rußland ist durch Wissenschaften nichts zu rcgencriren, weil sie sich in diesem Lande nie niedergelassen haben, und weil Rußland in seiner Stabilität mit ihnen nichtö abzmnachcn hat. Rußland könnte sogar in sich eine freiere Bewegung der Wissenschaften, als es der Fall ist, zulassen, und es ließe sich doch die Wahrheit behaupten, daß Wissenschaft in ihm nicht heimisch sei, denn die Wissenschaft will nicht zersplittert, fondern ein Ganzes sein, und ohne freie Einwirkung ihrer einzelnen Theile aufeinander fühlt sie sich ohne Würde. Rußland pcrhorrcscirt jede wissenschaftliche Vermittelung irgend eines Zwiespalts in seinem Innern, nicht sic, noch Gesinnung wird verlangt, sondern nur Eifer, und je fanatischer desto besser, für alle Symbole des Cultus der Verfassung. Die öffentliche Vorbereitung dieses Eifers geschieht in der Schule. Welch ein Staat musi dao sein, der sich scheuen kann, mit fei' nem Leben vor das Foruni wissenschaftlicher Beleuchtung zu treten, dcr sich lieber bei Angriffen vor einem scheinbar wissenschaftlichen Wesen, dem er die Wahrheit und das Mark zur Erkenntniß dcr Dinge vorenthalten hat, vertheidigen läßt. Einem Staate, dessen Recht an die Stelle kritischen Bewußtseins Mchtbcwußtsein und Autoritätsglauben setzt, der also den charakteristischen Unterschied dcs Menschen vom Thiere „Selbstbewußtsein" nicht anerkennt, dem fehlen doch wohl alle NttlMbea.nffe zur Benennung „ Staat". Wo cs wirklich Wissenschaftlichkeit giebt, da helfen auch alle Dämme gegen ihre Wntcrcntwickclungm nichts. Wir habcu keinen Staat, von dessen Regierung so viel für Unterrichts- und Erziehungsanstalten verwendet würde, wic in Nußland gcschicht. Man darf nur uicht außer Acht lassen, daß dcr Egois- Kirche. Tchule. 97 mus hinter diesem Verwenden seine eigennützigen Abstchtei: verbirgt. Der Freiheit der Privaterziehnng wird durch die Menge von Kronsanstalten und durch ihnen beigelegten Bevorzugungen vorgebeugt, und dic Habsucht der Nnssen opfert durch die Entfernung ihrer Kinder aus ihren Familien um so lieber die Heranbildung des Menschen, ic weniger ihnen Mtnschenwcrth bekannt ist. Je früher ein Faun-, lienvatcr ein Kind nach dein andern, sei es gegen eine jedenfalls mäßigere Zahlung als in Privataustaltm, oder auf Krouskosten. loswerden kann, desto glücklicher schätzt er sich. Durch dies Mittel bekommt die Negierung jede werdende Gene-ration der 11'/2 Millionen Nichtleibcigcnm in ihre Gewalt, nüt den andern 43 Millionen ist das Versteckspiel nicht nöthig. Damit das Aufziehen und Abrichten sür das Negierungslebc» nicht einseitig bleibe, wird für das weibliche Geschlecht auf eben die. Weift wie für das männliche gesorgt. Man betrachte z. B. ein in einem der beiden Hauptiustitute, dem Jungfern-Kloster nud dem St. Katharineustifte, erzogenes Fräulein, Es ist gekleidet, genährt, erzogen und unterrichtet uach dem Willen der Negierung. Der russische hohe und niedere Ndcl kennt keine bessere Erziehung. Aber nun konnnt eine deutsche Tochter aus eiuer dieser Anstalten m den Schooß ihrer Familie zurück. Sechs Jahre hiudurch hat sie nicht ein einziges Mal die Schwelle des väterlichen Hauses betreten dürfen. Sie ist Eltern nnd Geschwistern, denen dcS Sountags nur cin Stündchen vergönnt war, Kind und Schwester salonmäsng zu sprechen, fremd geworden. Ein geziertes, steifes, russisches Wesen, ist wiedergekommen, ein natürliches, deutsches ging hin. Unbekannt mit aller Häuslichkeit uud dem Hauswesen, stutzt so cin armes Geschöpf über den entwöhnten Anblick der Welt, in der es nun wieder leben soll. Der Kopf voll Phrasen ist uicht mehr werth als die Rnsil.uid. Ill, 7 98 Kirche. Echulc. Hefte, in welchen die Phrasen zierlich geschrieben stehen, und das Herz ist lccr geblieben zum Erbarmen. Die Muttersprache ist trotz aller grammatikalischen Uebungen verlernt. das Töchterchen spricht nur russisch, und weiß über Wetter, Piano, Tanz, über die Bc« suche der Kaiserin und der Hofdamen im Institut auch in französischer Sprache zu antworten, wenn sie darum befragt wird. „O Gott!" klagte mir einst mit Thränen eine dcntfche Mutter, der nach sechsjähriger Trennung ilne Tochter mit den lebendsten Zeugnissen aus dem Iungftrnkloster wiedergegeben war, „was ist aus meiner Sophie geworden! Mir blutet das Herz, wenn ich sie in ihrer Geistes- und Herzcnsarmuth ansehe. Vater, Mutter und Geschwister sind ihr gleichgültig geworden. Nie würde ich wieder ein Kind in diese Anstalten gcbcn, und sollten wir uns das Brot mit Stricken verdienen!" Ich kenne eine Menge dieser ohne ihre Schuld vcrfchrumpften Geschöpft, manche mit Anlagen, von denen aber nicht eine einzige benutzt und ausgebildet war. Die Kaiserin Maria Fcdorowna war den Zöglingen dieser Institute cine wahrc Mutter. Wöchentlich gewiß einmal kam sie zu ihren Kindern, wie sie alle ohne Ausnahme nannte. An ihr lag es nicht, wenn die Anstalten nicht so waren, wie sic sich in ihrem Herzen spiegelten, und auch vorgespiegelt wurden. (5s ist der Geist des großen Ganzen, der durch die Fensterscheiben wie Kälte und Wärme dringt. Die gegenwärtige Monarchin ist durch ihre Kränklichkeit gehindert, diesen Instituten Das zu sein, was die verstorbene Kaiserin Mutter war. Sie wünschte die deutsche Sprache mehr in Aufnahme. Sie sprach ihre Unzufriedenheit über die unreifen Früchte in dieser Hinsicht aus. „Wie kommt es," fragte sie einst tinm Lehrer, „daß die deutsche Sprache so erfolglos gelehrt Kirche, Schilfe. W Wird?" „Man hat im Allgemeinen zu wenig Lust dazu!" antwortete der Gefragte. „Das sth ich," fuhr die Kaiserin fort, „ aber man müßte dic Kunst verstehen, den Schüler» Lust zu macheu." Die Fürstin traf den richtigen Punkt, wenn dic Lehrer nur eine freiere Bewegung für sich hätten, und dem Eommandostabc andern Einflusses nicht unterthanig wärm. Das Ministerium des öffentlichen Unterrichts theilt durch Dirigenten und Aiifsichter überall den Zirkel aus, der genau die Grenzen des Unterrichts abmißt, und jeder Vorgesetzte ist mit geheimen Instructioncn versehen, wie weit er den Lehrern die Zügel schießen lassen darf. Wahrscheinlich wollte die Kaiserin einst auf das Ehrgefühl der Zöglinge wirken, iudem sie. bei einer Entlassung ans dem Institute vor einigen Jahren, dieselben, dnrch die Geschenke der Kaiserin Mutter verwöhnt, von dem materiellen Werthe der Gaben abzulenken snchte. Die Ncugierde der Jugend war gespannt, als- auf Befehl der Monarchin ein verdeckter Korb an ihre Seite gesetzt Wurde. Sie rief jedeo Fräulein, welches die Anstalt verließ, einzeln zn sich, langte in den Korb, und beschenkte es mit einem Epheu-blatte zum Andenken ihrer Gnade. Wenn die Fürstin wüßte, wie dies innerhalb nnd außerhalb des Stifts aufgenommen wurde, so ssewänne sie eine deutliche Ansicht von dem Werthe der Erziehm;,g in diesen Anstalten. Die fünf deutschen Schnlcn in Petersburg sind alle zahlreich besucht, da auch vicle Nüssen ihre Kinder dahin schicken, um sic durch den Umgang mit deutschen Kindern wenigstens soviel »on der deutschen Sprache erobern zn lassen, daß sie als Ladenburschen verstehen, wenn ein Fremdling in der russischen Sprache, nach Band, Kaffee oder Zncker fragt. Unter diesen Schulen ist die Petrischnlc, welche bcn Gymnasien gleich gestellt ist, die größte. Sämmtlich erfüllen 7" 100 Kirche. Tchulc. sic ihren Beruf, trene und gehorsame russische Unterthanen zu liefern, nnd nach Ertheilung dieses Lobes wäre es unpassend, über Lehrende lind Lernende Tadel auszusprechen. Wissenschaften. Epra-chm und Künste haben sich nicht zu beschweren, dasi einc von ihnen ans dem Schnlplane vergessen wäre, und Hoffnung und Freude wuchsen, als in den letzten Jahren die vierzehn- nnd fünfzehnjährigen Kindlein dieser durch öffentliche Ezamen stets ausgezeichneten Schuljugend ans die Stuft erhoben wurden, ihren Scharfsinn durch dic Erlernung der Elementar-Geometrie ohne Beweise, nach besonders dazu gedrnckteu Vompendien, zu üben. Außer den öffentlichen Schulen zeichuen sich in gewissenhafter Bearbeitung rnssisch anthropologischer Produkte eine Menge Pensionate aus. Rußland hat sich überhaupt aus dein Vorwurfe des Mangels an Bildungsanstalten herausgearbeitet. So gut wie die Garde in Kasernen untergebracht ist, eben so ist dafür gesorgt, daß die Jugend gehörig einkasernirt ist. daher findet man in der Residenz nicht nur an den bestgelegenen Plätzen Pensionate mit Schilden, sondern anch in allen Winkeln mit und ohne Anshängczcichen. In Streben und Leistung sind sie gleich. Sniinimis pecuiiiain, Miniums in paLrijiai AsiMiiin o.l. ;isin;iii]. Ihr Unterschied liegt nur im Preist für Sitzen und leibliche Nahrung. Omc Deutsche, oder Französin, oder Nnssin legt ihr Kapitälchen an Geld oder Recommandationen am vorteilhaftesten in Errichtung einer Pension an, die Masknlina, denen weiter nichts gelingen will, ebenfalls. Es geht, denn die Speculation hat sich nur an folgende Dinge zu halten, an Anssnchen der wohlfeilsten Lehrer, an nnentgeldliche Erziehung eines Sohns oder einer Tochter Kirch c, 3chule. I0l einer einflußreichen Familie, an tüchtige« Prahlen und Tadeln aller andern Anstalten, an äußere Neinlichkeit. an ein elegantes Empfangszimmer, cm einen Salon zn Tanz und Er,amen, nnd wo möglich den reuommirtestcn Tanzuceistcr der Stadt. Alle diese Requisite sind in Petersburg nnd Moskau leicht in's Werk zu setzen. Was zmn ersten Etablissenlcnt fehlt, liefert der rnffischc Kaufmann auf Schuld gegen derbe Prozente und Betrug. Dies kann jedoch nicht abschrecken, da diese Etablissements lncilo auf das Recht sich fundiren, keinen Betrug ohne gleiche Vergeltung zu dulden. Eine der berühmtesten Mädchenpensionen war zn Kaiser Ale-zanders Zeit auf Wasili Ostrow. Cine Tochter, in dieser Anstalt nicht erzogen, konnte keinen Anspruch auf Education machen. Eine Schwester der Patronin leitete die Partie der Intelligenz, gab selbst ill der obern Klasse Unterricht in der Geschichte, nnd da ich das Glück hatte, von ihrem Besuche beehrt zu werden, nm durch meine Vcrwendnng Pensionärinnen zu erobern, so kam ich auch in nähere Bekanntschaft mit den Kenntnissen dieser Historikerin. „ L in schönes Gemälde!" rief sie einst aus, als sic cine Schweizersandschaft mit Wilhelm Tells Kapelle im Vordergründe betrachtete. „Lebt der Mann noch?" fragte sie mich in der reinsten Unschuld. „Ja wohl!" erwiederte ich. „Wo halt er sich denn jetzt auf?" „Nach den letzten Nachrichten hat er in Borneo eine Pension errichtet/' ,,So! das liegt ia in Spanien." ,,Oanz recht! dicht am Ebro." ,,Er ist also ein sehr gebildeter Mann! Warum ist er nicht lieber nach Rußland gekommen, mcinc Schwester sucht eben cium 102 Kirche, Tchnle. Lehrer für die Philosophie in der obemKlasse, kann cr darin wohl gründlich unterrichten? " ,,Ei ja wohl! l5r bewies cinmal einein österreichischen General und Kriegsgouverncnr das schwere philosophische Problem, daß die Philosophie eines Staats nicht in einem Hnte aus der Stange stecken könne!" ,,Es wundert inich, das« unser Kaiser nicht aufmerksam alls ihn gemacht worden ist! " , " ,,Sie irren sich, der Kaiser kennt ihn und seine Ideen, zn derm Ehren cr ihm auch in Zarskoe Selo ein lebendiges Andenken gestiftet hat. In der dortigen schönen kaiserlichen Schweizern führt ein ungeheurer ächte« Echweizerbullc den Namen ,,Wilhelm Tell/'" ,,So? Das ist doch schön! Ja, wahre Verdienste werden doch immer ausgezeichnet, da« lehrt auch die Geschichte. Wenn ich nach Zarökoe wieder komme, will ich nur den Ehrenmann doch ansehen!" Man denke hier nicht an Scherz. Dic Geschichtsvorträgerin florirt noch, Wilhelm Tell aber in Zarskoe ist. glauhe ich, todt. In derselben glorreichen Pension gab eö achtzehn- und mehrjährige Fränlein, auswendig ganz allerliebste Mädchen. Der Kriegs- und Gcncral-Gonvernenr von Petersburg, ein außerordentlicher Freund solcher Blüthen, unterließ daher nicht, diese Anstalt durch seine Besuche vor allen andern anözuznchmn. In die Hauptstuuden, die Tanzklassen, brachte cr auch seine Adjutantur mit, und als er gar anf dem Balkon nach der Straße seinen Thee mit den lieblichen Kindern einnahm, wurde cö den Eltern doch bedenklich, ihre Töchter in den höhern Graden der Gouvtlnements-Civilisation weiter ausbilden zulassen, und an einem Tage ließen sie dieselben für immer ans der Anstalt abholen. Die stand nun bis auf zwei erwachsene Individuen leer. Indeß „verzweifle Niemand je, dcni in der bang- Kirche. Schule. 403 ftcn Nacht der Hoffnung letzte Sterne schwinden!" Der General-Gouverneur unterlegte dem Kaiser, dasi es für die Residenz ein unersetzlicher Vcrlnst wäre, wenn dieses beste aller Institute eingehen sollte. (5r schlug vor, die Krone möge demselben 5000 Nubel Unterstützung augcdeihen lassen, und es geschah. Das Geld ward cingcsäckelt, nnd die Pension an den Nagel gehängt. Vivanl alle NohMäter! Ich habe hier den Lebenslauf eines Pensionats, ganz der Wahr-heit gcmas;, nur knrz angedeutet. Mit einem WaelMichtchen kann man sich im Dunkeln schon zurccht finden. Alle Schulen müssen jährlich ihre Werthe vor dem Publikum durch ein Examen beweisen, und der Fall eines Nichtbestehcns in dieser Vcwcisart ist niemals gehört worden, vielmehr erscheinen in solcher Zeit die Namen derjenigen Schulen mit Meldung ihrer ausgezeichneten Leistungen, welche sich zu Neujahr, Ostern nnd zu andern Zeiten durch cin reelles, pccuniäres Benehmen bei den Herren Echnlinspeetoren am meisten beliebt gemacht haben. Um auch in den Kenntnissen der Lehrer lind Lehrerinnen nicht irre zu gehen, müssen sie sich einem Examen bei der Universität oder einem Gymnasium unterwerfen. Dies kostet 56 Rubel. Ich habe vielfach bewundert, welche Leibes-Nahrung und Nothdurft für 14 Thaler erkauft werden kann, und vielfach gelesen, wie das Publikum vor namentlich bekannt gemachten Allsländern als Lehrern gewarnt Wurde, die es für abgeschmackt lind ihrer sshrc zuwider gehalten hatten, sich von russischen Leibern chikanireu lind prüfen zu lassen, und sich mit Iüngerlcin parallel zn stellen, die von der Universität entlassen, nun ohne die 50 Rubel das Recht hatten, als Lehrer aufzutreten, und die, wahrhaftig nicht zu stark gesagt, recht dumme Jungen geblieben waren. 404 Kirche, schule. Ich weiß aber auch, daß einsichtsvolle Familien gnade die mi-c^aminirten Lehrer aus begreiflichen Gründen snchten. In diesen: Theile der Lehrer, die sich der häuslichen Erziehung widmen, finden sich die tanglichsten und besten Männer, die abcr dem Verdacht der Regiernng nicht entgehen, das; sie Menschen erziehen, wie sie nicht will. In jenein erwähnten Ministcrialbcrichtc drückt sie lant ihre Scheu vor hänslicher Erziehung aus. „Dic Leiheigenen würden", heißt es darin, „dnrch ihre Anfnahmc in den Gymnasien manche Eltern veranlassen, ihren Kindern lieber eine häusliche Erziehung zu geben." Deck- und Stanbmäntcl sind billig! Wer würde sich, besonders bei den: Mangel an literärischer Unterhaltung in den beiden Hauptstädten, nicht nach einem Umgänge in dem gebildetsten Theile der Ausländer sehnen. und man findet unter ihnen sehr achtnngswerthe Männer, abcr auch einen Hansen Ignoranten. Wer die übliche Bestechlichkeit berücksichtigt, hat einen Maßstab znr Taxation Dessen, was in Rußland ein Unterkommen finden will, nnd nnr selten wird das Maß nicht paffen. Im Durchschnitt ist ein „rnssischer Lehrer" dnrch ein Subject, welches 50 Nubel entrichtet hat, vollkommen richtig desinirt. Ich spreche von dem UntcrriclMhccrc in der Residenz. Man denke sich von da in die Provinzen, wo man die Erleuchtung des Geistes suchen muß. wie König Ludwig von Vaiern eine Illumination in Athen mit der Laterne besah. Nedc ich etwa nnr von Hauslehrern und Gouvernanten? Nein! Man erschrickt vor der Ignoranz und Unmoralitat in öffentlichen Lehrämtern wohl noch mehr. Achtung vor dem allgemein nützlichsten Stande der Welt verbietet der Feder, weiter zn zeichnen. Wer sich in Petcrsbnrgs berühmtesten Lehranstalten umsehen will, findet dort noch jetzt Lübecker Ladendicner, Petersburger Studenten, allerlei Akadcinisten. Kirche. Tchttlr. 103 vormalige Trommelschläger. Putzmacherinnen ie. als Inspectoren und Lehrer angestellt, die alle einen csfeetiven Werth von 50 Pa-pierrubcln haben. Beispiele erläutern die Sache. Ein lockerer Ladendiencr in mm- deutschen Seestadt vergreift sich an der Kasse seines Patrons und muß die Flucht ergreifen. Er kommt nach Petersburg. Der Kopf ist leer, die Tasche auch. Er wird Diener bei einem Fürsten. Nach einigen Jahren verläßt cr die Stelle und wird Lehrer in einer russischen Familie. Von da tritt cr in Staatsdienste. Er ist bereits Eollegienrath, als cr bei einem öffentlichen Examen in einer Anstalt von einein ehemaligen Schulkameraden erkannt wird. Dieser eilt auf ihn zu. „Grüß Dich Gott lieber N., wie kommst Du hierher?" „Mein Herr, Sie irren sich, ich heiße S. und bin ein Engländer. " „O Du Spaßvogel! Du meinst wohl. ich erkenne Dich nicht? mach keine Flausen, sag' mir nur flüchtig, bist Du hier angestellt?" „Ich versichere, Sie irren sich! ich hcißc S." Der Camerad sah ihn erst lange au, und schied dann: „Nun, wenn Dn nicht erkannt sein willst, so hol' Dich der Teufel!" Der Hcrr Eollcgicnrath kommt in einen Weinkeller. Da sitzt wieder ein gewesener Schulkamerad. ,,O Du liederliches Thier, wo kommst Du denn her? ich erkannte Dich gleich, wie Du die Stufen herunter kamst." ,,Mein Herr, Sie inen sich, ich heiße S. und bin ein Engländer." Die Erkennungsscene endete wie im Salon des Examens. Während dieser Zeit hat der Vater des scinwollenden Engländers fallirt, und sitzt im Gefängniß. Da erfährt cr den Aufenthalt seines Sohnes und daß es ihm gut gcht. Er schreibt an ihn. 106 Kirche. Schule. Er stellt ihm sciuc Lage vor uüt der Bitte um einige Hülfe. Der Herr Sohn antwortet nicht. Dcr Vater schreibt nochmals. Dcr Herr Sohn antwortet nicht. Der Vater nimmt sich das Leben. Nlin kommt gar der leibliche Bnider des Herrn Eollegicnraths nach Petersburg. Er eilt zum Bruder. Dcr erschrickt. ,,Wenn Dn Dich unterstehst zn sagen, daß Du mein Bruder bist/' droht ihm dcr Rnssifuirte, ,,so sorge ich dafür, daß Dn gleich fortgebracht wirst, schweigst Du aber. so werde ich suchen, Dich irgendwo anzustellen. Das geschah nicht. Dcr Bruder schwieg. Er erwirbt sich kümmerlich Brot. Der Herr kollegicnrath verbesserte seine zeitlichen. Umstände immer mchr, und starb als Etatsrath. Zwei Universitätsmänncr in Petersburg hatten es übernommen, für eine bedeutende Summe einen jungen Deutschen zur Prüfung vorzubereiten, die derselbe bei dem Gencralstabe zu bestehen hatte, und die Eltern hatten wiederum geglaubt, am sichersten zn gehen, wenn sie ihren Sohn von akademischen Lehrern unterrichten ließen. Als diese ihn reif dazu erklärten', meldete er sich zum Examen und — fiel durch. Bei dieser Gelegenheit kam durch prodmirtc gc< schricbcne Hefte die krasseste Unwissenheit dieser akademischen Lehrer an den Tag, ja daß sie sogar als Deutsche ihre Muttersprache nicht einmal orthographisch zu schreiben verstanden. Ich habe mich da^ bei von Dingen überzeugt, die ich, von einem Freunde erzählt, kaum geglaubt haben würdc, wenn ich sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Die Hefte wurden mit ^zahllosen Conccturcn dcr von den Lehrern eigenhändig begangenen Fehler ihnen mit der Alternative vorgelegt, entweder zn gewärtigen, daß die Hefte dem Ministerium eingereicht würden. oder die Hälfte des genommenen Sündengeldes zurückzuzahlen. Sie wählten das Letzte, es schmerzte sic am meisten, die befleckte Ehre an: wenigsten, als sic vernahmen, Kirche, Schule. 40? daß die Sachc damit abgethan scin ftlle. Sie find Männer dcr Krone geblieben, und ft ausgezeichnet, daß wer ihre nähere Bekanntschaft zu machen wünscht, sie mir in den Regionen der Universität und dcr Akademie dcr Wissenscbaftcn erfragen kann. Nenn das Ausland in den Paar Blättern, die aus Rußlands Druckereien erscheinen dürfen, bisweilen lesen könnte, wie dieses, Land den Fortschritt seines Volks in Intelligenz glücklich preist und so gern über das französische hebt. weil Frankreich noch viele Gemeinden ohne Schulen habe! Frankreich ist ehrlich, indem es der ganzen Welt genau sagt: bei uns sind noch so uud so viel Gemeinden ohne Untcrrichtsanstalten. Rußland ist nie aufrichtig, cö hat immer zweierlei Maß und Gewicht bei der Hand. Es hüllt sich in den Schein, als ob es für das geistige Wohl seines Volks Mehr gethan habe als Gallien nud andere civilifirte Staaten. Scinc Volksschulen sind der Mondschein im Kalender bei schwarz bedecktem Himmel. Wie ans einen Dccimalbmch genau ist sogar angegeben, wie viel Jungen und Mädchen in dem ungeheuern Neichc in die Schlile gehen. ..Wie riel Todte auf feindlicher Seite hast Du geschrieben?" fragte ein General dcn Regimeutsschreiber nach einer Schlacht. ..Tausend!" war die Antwort. ..Ach Du Durak. schreib zwei Tausend. Nein. schreib drei Tausend. Halt, halt! ich weiß schon warum, schreib nur dreist fünf Tausend." Es geht dem russischen Ministerium dcr Volksanstlärung nicht eiu Haar anders. Der Schnlinspector, der Schulrath, die geistlichen und weltlichen Behörden, alle durch deren Hände die Berichte gehen müssen, alles ist russische Beamtenwelt. Russische Ncamtm wollen Geld oder ein Kreuzchen, und wer das weiß und täglich sieht, dcr traut auch ihrcn Berichten eben so wenig, wie der Kaiser seinen Beamten allein. 108 Kirche. Tchuls. wenn er zum Gclvzählcn und Gelddepouircn zuverlässigere Leute nimnlt als sie. Wird ein Sclbstdenker je glauben, daß cs Rußland um Volksbildung zu thnn sei. wcnn cr die Thatsache vor sich hat, daß das Bessere, Intelligentere vernichtet, und das Gegentheil mit Gewalt an die Stelle gesetzt werden soll? Oder ist's nicht wahr, daß germanische Bildung innerhalb russischer Grenzen aufgehoben und nur Russisches statt ihrer gelten soll? Wie sagt der Mas vom 16. Dec. 1836? „Zur Vorbereitung der Lehranstalten des Dörptschen Lehr-bezirks, zu der ihnen bevorstehenden Umbildung und Annäherung an die russischen Schulen, soll die russische Sprache zur Grundbedingung alles Lernens gemacht werden." Hiermit war blos die Möglichkeit berührt, ob in Rußlaud Mi-msterialtabcllcn apodiktische und glaubwürdige Beweise sein können. Wer sind die Aufseher der Dorfschulen? Unwissende Popen. Die Gegenstände des Unterrichts? Lesen, Schreiben, Elemente dcs Rechnens und Neligionsgcschichte täglich vier Stunden im Wiu^ tcr, im Sommer gar kein Unterricht. In den Krcisschulcn kommen dazu russische Sprache, russische Geschichte, Geographie und Geometrie. Wer wird zweifeln, daß, selbst wenn diese vier und vier Dinge in aller Vollkommenheit gelehrt und gelernt würden, von Popen und Unpopen nicht ein pcrseeter Rlisse zugcstlitzt werden könnte! Die Tochter des Chaos uud der Nacht, die göttliche Dummheit, göttlich ungeschliffen wie Papa und siustcr wie Mama, führt das Scepter iu allen diestu Anstalten ohne Ausnahme. Doch es sei angenommen, das ganze russische Volk, von der schwedischen Grenze au bis an die englischen Besitzungen in Nord' mmrika, wüßte jene acht Schulstücke am Schuürchcn hcrzuplärrcn. Kirche. Scbule. 109 ist es damit schon cm deutsches, ein französisches > ein englische? Wenn der Niese Nußland größere Länder wie Deutschland, Frankreich nnd England zusammengenommen frißt, ist er deshalb der David Dcntschlands, Frankreichs oder Englands? Bliebe das russische Volk unter seinen popischen nnd nichtpopischen Ausputzern trotz seiner achtstückigcn Schulweisheit nicht dasselbe, was es war und ist, „eine willenlose Hecrde, zitternd, nicht vor dem Gesetz, das cs nicht kennt, sondern vor dem Pfeifen der Peitscbe. welches es hört, ohne Bewußtsein von Menschenwerth und Menschenwürde, ohne Steuer durch die stürmischen Wogen des Lebens, eine Heerdc, welcher der morgende Arbeitstag wie der heutige bei Pilzen und Zwie-belfntter und Quasgetränk ware? Du stolzes Nußland mit Deinen Schulen, laß alle Deine Leibeigenen lesen und schreiben und rechnen und geometrische Figuren machen, laß Deinen Adel mit Dunst in Akademien und Universitäten berauchcm, nur vergleiche Dein Volk nicht mit dem gebildeten Völkcrthcile Europas. O nein, bleib mit dem Vergleich in Deinen Grenzen, nnd blicke nur auf die deutschen Kolonisten, die Du an Dich geködert hast. wie weit Dein Bauer von ihnen noch absteht, trotz dem, daß sie von Jahr zu Jahr immer mehr verrußt sind. Blick auf die Handwerker des Auslands. die Deine Hauptstädte süllen! Stelle Deinen galantesten, geschultesten, reichsten Handwerker und Kaufmann an die Seite des deutschen, französischen vder englischen, und denke dabei an die Früchte ihrer Erziehung nnd der, die Du giebst. Oder frag Deine scinwollenden Gelehrten, frag Deine Verständigsten unter denen, die in Frankreich und Deutschland sind, auf welche Länder Du so gerne hackst, ob die Menschen, die sie auch hier im Elende nnd olme die Kunst des Lc-sms nnd Schreibens fanden, auch ohne Begriffe von Mmschenwerth 1<0 Kirche, schule. und Menschenwürde wie Dein Volk sind? Frag sic, ob der zcr-lnniptestc Franzose dulden würde, daß man ihm vorsänge: „ Travaillcr esl Ie ('ait do la canaille! „Je vous ai dil, que je suis genlilhomme WN6 pour chommer el pour no rien savoir. Wie ftüstcrt das Schilf in Deinen Teichen? Hör mal zu, wenn die französischen Prolctairc mit freien Worten redm und ihre Interessen vernünftig berathen. Kennst Du denn den Stolz freier Menschen und Bürger? Hörst Du bei Dir selbstdcnkendc Menschen? Willst Du sie? Sich doch mal hin nach der Insel, deren Volk, unwissend im Lesen und Schreiben, zu einem Bewußtsein sich erhoben hat. das Deinem Volke selbst im Traume noch unbekannt ist. Darsst Dli Dir etwa den Redner der Insulaner oder seine Reden verschreiben? Wirst Du Dein Volk nur mit dem Zustande des norwegischen Lappen beglücken wollen? Hast Du daran gedacht, was in Dir geschehen würde, wenn Deine Völker sich empörten? Schreckliches geschah in Frankreich, aber Schrecklicheres wäre d.as Loos der Menschheit bei Dir. Vergiß nicht die kleinen Tnmultc dcr neuen Zeit, wie schauderhaft die Nohhcit gleich aufstand, wie das Teuflische im Sumpfe des Menschengeschlechts sich herumwälzte. Vernichtung, gänzliche Auflösung Untergang des Guten, welches Dich Fremde gelehrt haben, wärc Dein Theil. Frankreich fand nach den Blutscenen Eaamcn in den Schriften seiner großen Geister, er ging auf, das Volk zeigte senu Aufklärung im Wiederaufbau, und Großes, Gutes daraus breitete sich aus über die Erde. Doch wo ist Dein Saamc? Wüßte Dein Volk mehr alö Niederreißen, Peinigen und Verscheuchen? Und der Grund zu solch unabsehbaren Unglück sür die Menschheit, der wärc? Weil ein Gott und ein Thier im Menschen hausen, und Kirche. Tchulc. ill das Thier den unbelebten 6)ott ergreift und zertrümmert, dm es nicht in dcr Wahrheit, nicht in der Ahnung, und nur im blcchcrncn Bilde erkennt. Und doch willst Du, hochmüthiges Land, die Menschheit beglücken, und Deine Kultur in den Orient tragen, und durch sie die Kultur im Westen ersticken.' Europa übertragt fortwährend, lehrend und stiftend. Wissenschaft, Gesittung und Wohlstand nach Westen über das atlantische Meer, und Du äugelst nach Ostcn, um dahin Dein Wesen überzusiedeln, das Europa abstößt und voll ihm abgestoßen wird. Wenn nun das Gelingen in Westen gekrönt wird, und tas Deinige in Osten auch, ist dann die Menschheit glücklicher geworden? Der Orient, Deine Sehnsucht und Liebliugsidee, war die Wiege dcr Menschheit. In Europa kroch sie selbstgehend aus den Windeln, willst Du die Gehenden wieder einwindeln und wieder in die Wiege legen? Oder sehnst Du Dich dahin, mn Deine gesrorne Kultur in der milden Lust uud uuter dem reinen Himmel wirklich schmelzen zu lassen? Da eben bedenke, ob sich ans Deinem Schneewasser Edles und Bleibeudes entwickeln könnte. Noch hast Du Viele auf Deiner Seite, die andächtig glauben, dasi nur der blindeste Parteigeist es für eilt Unglück verschreien könnte, wenn Du Deine Macht und Gnade weit jenseits der kas-pischen und iberischen Pforten wirklich erweitertest. Sie sind dcr festen Zuversicht, daß Du die edelsten Interessen der Menschheit, Christenthum und Kultur, vertrittst, daß Du auf der vortrefflichen Militärstraße, die Du anlegen wirst, den blühendsten Handel für ssuropa schaffen wirst, daß Dn es besser wie die Britten verstehst, in Indien ein kräftig freies Volk zu schaffen, und den Götzendienst in cinc alleinseligmachende Kirche umzuwandeln, und daß es zu- 112 Kirche. Tchulc. nächst so wünscheuswcrth, so segensreich für die Land« selbst und für Europa wäre, wenn Du Dein hartes Herz erweichen ließest, und dem morschen Türkenthumc für's Erste cm Ende machtest. Ei nun, ,,!185l!1'»1lU >v^l! ^?U^VU8M0M«!.!" (Eifer Alles vermag.) Träumen ist siiß. Eonstantinopcl auf sieben Hügeln. Die Menge Moscheen mit ihren imposanten Minarets. Eipressen. Schöner Hafen. Galata. Pera. Harems. Derwischtänze. Welche Aussicht vom Vujuk-Kuli! Der Sklavenmarkt. Das Schloß der sieben Thürme. Der Bosporus. Wieviel Schönes und schon fertig Russisches darin! Bist Dn einst an den Küsten der Mandschu's, so reichst Du Deinc wcitgreiftndc Hand dem Bruderbünde in Mexiko und Ehili, nnd dann? Ja, dann lm<->l,u8 Ul0 «M pi 001,1! Der Verstand ist innuer der Ansicht gewesen, Du bedürftest noch recht lange der europäischen Einwirkung zu Deinem Besten. Nach Deiner Meinung ist er im Irrthum. Sei großmüthig nnd beweise ihm, wo er denn irrt. zeig ihm, was auf Deinem Boden zu blühen vermag, und welche Früchte reifen. Mein runzle nicht die Stirn über die Thorheit der Wenigen, die schon über den Acheron schifften, und über Die, welche sich noch nicht in Eharous Packetboot gesetzt haben, die alle sich zu dem blinden Parteigeist bekennen, und die, freimüthig gesagt, Dich nicht dahin wünschen, wo der Pfeffer wächst, sondern dahin, wo Du ewige Eisberge zum Rutschen findest, weil sie aufmerksam Dir in die Scelc gesehen haben, Deine Parteigänger aber nur auf die Nasenspitze. Sie sind kühn genug zu glauben, daß unter Deiner Kultur die Türken eben so wie die Polen und Leibeigenen in Petersburg zu-schen müßten, wenn Menschen, in denen sich das Mcnschcnrecht Kirche, Schule. 113 rührt, zu Tode gepeitscht würden, und daß auch der Osmanc lernen nmßtc. sich an das ruffische Sprichwort zu halten: „IloZ- >vi5ol<«, <^i> cwloivo!" (Gott ist hoch, der Czar ist weit!) Bleib der Menschheit in Deinen Ufern den Gedanken nicht schuldig, zahle erst, was Dir Gott und Christus geboten haben, dann erst wird Dir der Stern über der Steppe aufgehen, den gebildete Nationen für den Angelstern halten, um den das sittliche Weltall sich bewegt. Rußland, lll. 8 Oeffentliches und Privatleben. Dürgerstand. Adel. Eie csft,i gut, sie lkcn gut, Erficu'u sich ihrrö Vlaulwürftglücks, Und ihic Gvoßüutt!) ist su groß, Als wic d>is L>,'ch dcr Nnneiwüchs. H. Hcinc. 8" Heute ist dcr erste Mai. Ein herrlicher Morgen. Die Luft so lau, am Himmel kein Wölkchen. Wic überschüttet Garten und Flur mit Blüthcnschnee. Dort aus der hellgrünen Weide frohlockt die Nachtigall. Ihr langgezogener Ton sagt dem brütenden Weibchen „wic hab' ich dich lieb!" Hör doch, wie dcr Chor aus den Saaten hinaufjubelt, immer höher und höher vor Wonne über den Morgen. Selbst die Fische wollen im Wasser nicht bleiben, sie schnellen sich Aber den Spiegel. Ich bin stelenvergnügt in dcr jungen Natur. „Bekränzt mich mit Blumen, und gebt mir ein Mädchen, die's Küssen versteht!" Meinst Du, lieber Leser, ich spräche und sänge in Petersburg? Ich träumte von Schcitnich, von Tharand mit seinen heil'gen Hallen, vom Noscnthal, von Gohliö. In dcr Czarcustadt sieht es am ersten, das heißt am lNcnMai neuen Styls, ganz anders aus. Im Kalender steht schon lange Frühling. Die Doppelfenster schützen noch gegen seine erfrischenden Lüftchen. Das Feuer prasselt im Ofen. Dcr Himmel ist gran und schüttet Schnee und Negen herab. Thut nichts! Heute ist der russische erste Mai, und darunter verstehen wir Petersburger Welt-städtcr die große Gulanie nach Katharinenhof. t18 Ocffcntlichcs nnd Privatledcn. Man muß geborncr Ruffe sein, um dm Pollgenuß einer Gu' lanie augenblicklich in allen Gliedern zu empfinden, wenn das Wort nur über dic Lippen geht. Eic gehört unter die stillen, seligen Gelüste, dic kein Name nennt, kein Griffel noch Pinsel sterblicher Künstler nachbildet. Der Fremde denkt sich unter einem Spazir-gange eine Erholung, einen Nalurgeuuß, eine Schusncht fort ans dcni Gesnmme der Stadt, einen Flügelschwung der Psyche. Der Begriff „Gulanic" verwirft das Alles. Man wird nicht irren, wenn man eine angesagte Parade als Scheitelpunkt annimmt, und die vollkommenste Langeweile in die Mitte setzt. Der Fusipunkt findet sich dann von selbst, mit der ganzen zwischen den gegebenen Punkten schwebenden poetischen Natur, in welcher ruffische Dichter auf ihren Phantasieroffen herumreiten, und vorzüglich dic Genien der nordischen Biene und anderer Nesidenzthicrchen sich mit dem Bluthcnstaube beladen, den sic dann in ihren Zellen zn einem Schmiere verarbeiten und der Welt als Honig reichen. Am besten, wir machen einige Kulanten mit, um in das Wesen einzudringen. Also heute nach Katharinenhof. Es wäre ein Zeichen von gar zu schlechtem Geschmack, wenn man am ersten Mai nicht dort gewc< sen wäre, wo einst das metamorphosirtc Mädchen von Maricnburg lustwandelte, und wo cS jetzt in der Laub- und Blumenzeit gerade am leersten ist. Trotz Regen und Schnee findet doch die Gulanie Statt. Wir hören, der Herr Gebeimerath S. hat eben seinen Kutscher gerufen. „I>2lu5c1li (Höre) Petruscha, was hast D» heute nöthig? Wir fahren nach Katharinenhof." ,,Am nöthigsten brauche ich Stiefeln, an einem ist keine Sohle, und aus dem andern guckt der grosie Zeh." Bürgcrsiaud. Adel. 119 ,,Nu so geh in die Buden, und such dir cm Paar ncue aus. .,Einen neuen Kaftan hast du?" ,,.l(^l,! (ich habe.)" ,.Den zieh an, und das neue rothe Hemde. 8!u5lii8cll?" „81,l»cl,u! Aber ^!ox»n!')li<>l,ln>!l« Ocffentlichcs und Privatleben. „Hat 8.-,5l!i,1<<> (Nanic des Vorreiters) Alles?" ,,Er braucht Alles wie ich." ,,Na so uimut ihn mit in die Buden, such ihm aus, was er nöthig hat. Mach' Alles fertig. nm3Nhr fahren wir. 8In«!n8el>?" „8w5c1.a! Aber in dem Wetter?" ,,Ach ui Iim-.-lK! du denkst, es wird den ganzen Tag schneien. Paschol! Na was stehst dn noch?" ,,Gcld bitt' ich, ^lnxantiurNieil^ei^oll! ,,Geld! Geld! Ach du Dnrak, sag morgen bezahle ich Alles." ..Eic glauben nicht." ,,Paschol tü Sukinsin! Das ist nicht deine Sache. Sag Allen, morgen bekommen sie Geld. Heute ist Gulcmie, ich habe keine Zeit, mich mit solchen Lumpereien abzugeben. Hör' Petrnscha, t!o»ucl»r (der Kaiser) und Imperatriza werden auch dort sein, sieh zu. dasi du bald hiuter ihnen fährst, dann darf dich der Schneider nicht schlMpftU. Klü^Ilj^Il?" „8l>l5CN!,l! " Um 10 Uhr läßt das Wetter in fewer Bosheit nach. Die Polizei sagt in allen Häusern an, dasi heute Gulanic in Kathariuen-hof ist, der Kaiser und die Kaiserin werden auch dort herumfahren, das Publikum möge sich zahlreich einfindcn. Nachmittags ist Alles auf den Beinen. Welch ein Fahren und Reiten. Alles im festlichsten Schmuck. Auch eine Flutb Wallfahrer zu Fuß. Hoch rafft die Donna das seidene Kleid in die Höhe nnd patscht nu kmnNe durch Dick und Dünn zum Maigcnuß. Eine rechte Wadenparade.' Ach! welch ein Vergnügen! Ein Doppclspalier von geputzten Zuschauern am Fahrwege. Was kümmert uns die Natur! Wir Bürgcrstand. Adcl. l2t brauchen im Mai »och kein Laub und kein Gras. Noftn, Koriv blumcn, Fencrlilien, ganze Hollnndcrbüschc auf den Strohhütcn verkünden den ssrnhling, dm die Pntzmagazine ausgeschüttet haben. Wie die Polizei schwitzt! Jetzt gleich fängt die Wonne an. Ein stwisd'armmossizicr jagt den Weg entlang; Gensd'armen reiten auf und nieder. Dort schlagt der Pristav schon einen Hut vom Kopfe. — Stille. — Ein kostbares Zweigespann erscheint. Englischer Anspann, eng' lischc Livree. Der Kaiser kutscht selbst dic Kaiserin. „Hnrrah! Hurrah!" „Schreit! schreit!" ruft der Nadsiratel dazwischen. „Hurrah! Hurra — a — a — a — ah! " Wie das forthallt! Das Gcsolgc von weißen und schwarzen Fedcrbüschen, das ganze System von Haupt- und Ncbenplanctcn courbettirt nicht um die Sonne, sondern hinter ihr her. Ach! Ach! und nun die unübersehbare Reihe von glänzenden und nichtglänzew den. verschuldeten und bezahlten Equipagen wie ein Kometenschweif hinter dem Kern. Es singt an zu regnen. Warten wir noch; der Zug kommt zmnck. „Hurrah ! Hurrah ! " „Schreit starker!" „Hurrah,' Hurra — a — a — a — ah! " Dic letzten Wagen ziehen ab, und wir mit nach Hause. War das der erste Mai? Vcrgieb, großmüthiger Nussc, dem Fremden die einfältige Frage! Was versteht der Bauer von Gnr-kensalat! Die feierlichste Gulanie haben wir Großstädter am ersten Juli. Mauzender als der Namenstag der Kaiserin wird kein Tag im 122 Tcfsentliches und Privatleben, Jahre verbracht. Der Hof legt seinen Glanz in Peterhof zur Schau. Dk Residenz wandert dahin aus. Dampfschiffe, Böte bedecken den Golf. Wagen und Fußgänger die vier Meilen lange Landstraße. Das Fest wird in drei Auszügen gegeben. Am Vormittage die Wachparade, am Nachmittage die liebe schlendernde Langeweile im Garten. Im Palais ein Ball. Um 9 Uhr rollt der dritte Vorhang auf. Gine Rakete steigt, und giebt das Tignal zum Beginn der Illumination. Tausende von Matrosen klettern auf den Latten, welche Millionen Glaslampen tragen, in die Höhe. Dort bricht einer die Beine, dort wimmert einer über den zerbrochenen Arm. Kleinigkeiten. In zehn Minuten steht der groslc holländische Garten in Flammen. Durch die Gänge wogt mm die Menge. Herrschaften und Leibeigene bunt durcheinander. An mehren Stelleil schmettern die Mnsikchörc der Gardcregimenter. Lampen platzen, und schütten das geschmolzene Talg alls die Kleider. Der Dampf schwimmt wie Wolken in den Bäumen. Der Kulminationspunkt des Feierabends ist, wenn die kaiserliche Familie und Gefolge auf großen Linien durch den Garten fahrt. In der That aber gewährt diese Illumination durch das Regenbogen- und Iuwclenspiel der Menge hoher und niedriger Fontaiucn und Nasserstürze einen bezaubernden Anblick. Der Fremde, der zu dieser Zeit in Petersburg ist, wird es nicht unterlassen, sich daran zu ergöhcu. Zweimal gesehen, langweilt, und bei mehr wird das Vergnügen so fade, daß ich es nicht über mich vermag, dies Fest umständlicher zu beschreiben. Immer ein und dasselbe, nie eine Veränderung, kann nichts als Ucberdrnß erwecken. 300,000 Nubcl kostet der Tag dem Kaiser, und jeder Familie Bürgcrstand. Adel. 125 tine bedeutende Summe, glücklich wenn sie dabei nicht noch ein Unglück zu betrauern hat. Jedesmal sind an diesem Feste Menschenleben zum Opfer gebracht worden, zweimal in Masse zu Hunderten, bei einem großen Feuerwerke unter Kaiser Alexander durch cine Menge scheu gewordener Pferde, und bei dem Scestunne vor mehreren Jahren. Eine andere Gulanie ist auf der Insel Iclagin. Die kaiserliche Familie wird cheutc dort sein, die Polizei hat es angesagt. Wir wollen hin, warum sollen wir allein in der Stadt zurückbleiben! An Gedränge wird es nicht fehlen, denn allen Meistern ist Von der Polizei verboten, Gesellen und Jungen beute arbeiten zu lassen. Die Alltagsgcschäfte werden heute früher abgemacht, die wichtigern auf übermorgen verschoben. Heute kann der Wechsel nicht protcsmt, der Gefangene nicht verhört, der GcriclMtmuin nicht abgehalten, das dringendste Gesuch uicht angenommen werden, denn Minister, Präsidenten, Notarius. Schreiber, alle sind auf der Gulame. Zauberisches Wort! Leer stehen die Häuser, die Dwornike, die Kranken, die alten Mütterchen und Greise bleiben die Wächter. Dafür trinken sie heute einige Gläser mehr, weil Gulanic ist. Heute wird viel gestohlen. Wie das dröhnt und rasselt! Wagen an Wagen, die Stadt ist eine Staubwolke. An« der Iemskoi, ein Stadtthcil, wo mei-stcnthcils Bauern und Fuhrleute wohnen, kommen Karren mit Bauern. sie sitzen in großen Mulden auf vier Rädern. Fünf, sechs Mädchen und Frauen sitzen darin, auf den Rändern halten sich die Dorfstutzer und hängen die Beine nach anßen. Ein mageres Pferd muß unter beständigen Hieben mit der Last galoppirend dahin-jagen. Wohin denn? Nach Ielagin. 42i Dcffcntlichcs und Privatleben. Alls der Droschke kommt dcr schon Höhcrc Bauer, (kr handelt mit Iohannisbrotschoten, Pfefferkuchen, aufgequclltcn Erbsen n. s. w. Er sitzt reitend ans dcr Droschke. Anf dem Schooßc hält er seine Frau, und schlägt einen Arm um ihren massiven Rücken, nm sie vor dem Herunterfallen zn sichern. Sie hat einen galanten Sonnenschirm anfgeschlagcn, das seidene Obcrkleid hoch aufgehoben, den Falten nicht zu schaden. Der Rücken des Kutschers stützt sich unmittelbar an sie, und sie hält sich wicder an seinem Gürtel fest. Heute kommen viel Menschen um's Leben oder werden zu Krüp> peln. Aber dafür ist auch Kulante. Räderwerk und Böte sind nicht mehr zu bekommen; wir wandern daher in der Schaar zu Fusi. Der langbartige Kaufmann führt steif wie am Henkel scine Ehehälfte rauschend in Seide, den Kopf in ein seidenes Tuch gewickelt. Vor den Eltern gehen die Töchter in die neueste Pariser Mode gekleidet, wie Puppen von einem Uhrwerk getrieben. Mnnd, Arme, Augcu, sind schon zn Hause in die gehörige Richtung versetzt, sie bleiben unbeweglich. Gerber, Schnster. Schneider, Sattler u. s. w. haben sich in die Kanfmannsgilden gekauft, hinter der Familie folgen also die Lchrjuugcn mit blank gescheuerten Theemaschinen, Keffcln, Speisebündeln. Zug an Zug, ie weiter, desto gedrängter, denn aus allen Stadtthcilen strömt es nur einem Punkte zu. Doch der Zug wallt ia so still vorwärts, kein Laut ist zn hören, ist es ein Lcichenzug? Es schickt sich nicht, anf den Straßen zn sprechen, überall ist Polizei aufgestellt und Spione ziehen haufenweise in der Menge. Aber cben flogen Damen und Herren an uns vorüber, sie sprachen laut und lachten. Das waren Ansländcr. Ein Nuffc vergißt sich nicht so leicht. Wenn die Deutschen und Franzosen noch nicht lange hier sind, charakterisircn sie sich durch Bürg erstand. Adcl. 123 dies ungezwungene Wesen. Wenn sic aber erst in die Klemme der Polizei gekommen sind, danu werden sie politisch einsichtiger. Der öffentliche Typus ist hier schleichende Bescheidenheit. Alis einem solchen buntgemischten Zuge sind Ausland und In» land wie zwei zusammcngeschüttcltc. sich aber nie einende Elemente leicht von einander zu unterscheiden. Das Heer in Kaftancn und langen bis an die Knöchel reichenden dunkelblauen Ueberröckcn, nach Zwiebeln und Juchten riechend, ist moskowitisch. Die Legion grüner Tschinownikc mit Moschusgcruch ist moskowitisch. Wag in Frack, kurzem Oberrock und geruchlos einhergeht, ist ausländisch. Der lange Weg über die wackelnden Kuüppelbrückcn und die polternden hölzernen Trottoirs, dnrch Straßen elender Häuser ist wahrlich nicht zum Vergnügen. Endlich! wir sind auf Krestowski, der Luuge von Petersburg. Schnell eine Bank zum Ausruhen! Alle sind besetzt. Wir ziehen also im Schwärme feierlich langsam und stumm in der Runde um cinen grünen Platz mit einigen Strauchern und Birken. Großes Orchester! Vier Musikanten sitzen in einem Bretterverschläge und spielen die Jagd Heinrichs lV. abwechselnd mit russischen Liedern. Gehen wir in das Kaffeehaus? O nicht doch! es ist vor Juchten und Moschus darin nicht auszuhalten. Wir schlendern weiter nach Ielagin. von beiden Seiten des Weges Fichten und Sumpf. Unterwegs haben wir noch cinen Genuß. Ein Seiltänzer läßt sich und seine beiden Kinder sehen, denen der alte Sündcnbock alle Glieder ausgerenkt hat. Nun sind wir anf Iclagin mit seinem hübschen Sommcrschlosse. In den Rasen sind Wege gestochen, die zwischen Weidensträuchern und Birken sich hinschlängcln an stehenden Sumpfwaffern. Paarweise zieht die geputzte Gesellschaft immer schweigend hintereinander. 126 Ocffciltlichcs und Pvivatlcbcu. An mchrcrcn Stellen lärmen die Musikchöre dcr Garde. Vor dcm Schlosse steht eine Menge Kopf au Kopf gepflastert, die Augen auf die Fenster geheftet. Was veranlaßt dic Starrsucht? Man erwartet den Augenblick, wo ein Sprosse dcr kaiserlichen Familie an ein Fenster tritt, oder daran vorübergeht. Und dann? — lieber Leser, Du fragst auch gar zu ausländisch; dann ist dcr Zweck dcr Gulanic erreicht. Du bist kein guter Christ, wenn Du noch einen höheren Wunsch hegen könntest. Wer morgen sich rühmen kann, heute gesehen zu haben, wie dieses oder jenes Mitglied des Palastes gekleidet gewesen, mit wem es gesprochen und wie es sich bewegt habe, der ist Patriot und Kenner des wahren Vergnügens. Die ganze Woche ist Iclagin der Gegenstand der Unterhaltung in feinen und unfeinen Gesellschaften. Auf den wenigen Bänken ist kein Platz, im Grase ist eö naß, wollen wir nach Hause. Die Polizei hat angesagt, das Publikum solle warten, wenn es dunkler ist. wird ein prachtvolles Feuerwerk auf dem Wasser gegeben, und die kaiserliche Familie wird sich im Freien zeigen. Bald ist Mitternacht. Die User eines kleinen Arms der Newa sind mit stummen Menschcnaruppen besäet. Alls dem Wasser steht ein Boot. dcr Heerd des Lustfeucrspiels. Die Polizei ordnet das Spalier, sie stößt bei Seite. „Der Kaiser kommt!" murmelt es still durch die Menge. Man wird gequetscht, man muß sich ergeben, es ist umnöglich. sich alls dcr Presse herauszuarbeiten. Weibliche und Kinderstimmen schreien um Hülfe. Still! gebietet die Polizei, dcr Kaiser kommt! Alles stellt sich auf die Zehen. Er ist's. Naschen Schritts ist er vorbei. Ane lange Suite von Federbüschcn, Stcrncu und Litzen. Drei Raketen steigen, ein Feuerrad sprüht, ein großes ^ und ^ Bürg erstand. Adcl. 427 stammen, einige Feuerbüschel inachen oben auf deni Fahrwege die Pftrde scheu, noch einige Schwärmer, und das prachtvolle Feuerwerk ist zu Ende. Der Menschcnstrom wogt nach Haust, Unterwegs hört man von Unglück durch die Wagen, ein Boot voll Menschen ist bei der Ueberfahrt umgeschlagen, alle sind ertrunken. „Man hat mir die Uhr gestohlen!" „Mir fehlt das Taschentuch!" „Meiner Frau hat man den Shawl vom Halst gerissen!" Entsetzliche Müdigkeit! Hunger und Durst! Kein Boot, keine Droschke zu haben! Zurück die nämliche Tour, wieder zn Fuß. Das war die Gulanic. Glücklich, wer ihren Genuß ganz erschöpfte! Soviel groß gedruckte Namenstage im russischen Kalender stehen, soviel solcher Genüsse. Wer gehindert oder so unpatriotisch war, eine dergleichen Gulauie mitzumachen, geimßt wenigstens den Anblick der Erleuchtung der Stadt. Sie besteht nicht in einer Erhellung der Fenster, sondern in drei bis sechs Talgnäpfchen, die auf das Trottoir vor jedeo Haus befehligt werden, mit der Anweisung, ob ein, zwei oder drei Mal für den Abend die Näpfchen erneuert werden sollen. Der Polizeibefehl hat übrigeus nur in der Nähe des Winterpalais Wirkung, das Entferntere bleibt dunkel. Dagegen verkündet die Zeitung an» folgenden Morgen: die Residenz war auf das Prachtvollste von der allgemeinen Liebe und Freude erleuchtet. Am zweiten Pfiugstfeiertage und am ersten Sonntage darauf ist ebenfalls große Gulanic im Sommergarten, die Brautauostcllung. Die russischen Kaufleute vorzüglich stellen an diesen Tagen ihre mannbaren Töchter zur Schau ans, um sie zu vcrhcirathm, oder Wie sie es selbst nennen ,,ol,l^" wegzugeben. Unter Linden stehen in der Hauptallce zwei lange Reihen geschmückter Mädchen, eins 428 Ocffcutliches und Privatleben. dicht am andern, wie die Orgelpfeifen, und gleich diestn stumm wartend, welches Loch der Hauch der Liebe zum Töneu bringen werde. Hinter jedem steht die Swacha (Kupplerin) und im dritten Range die Mutter und andere Verwandte. Durch diese Doppelreihe ziehm nun laugsam die Beschauer und Znschaner uud die hciraths-lustigcn Russen. Dich merken sich das ihnen gefällige Gesicht und die dazu gehörige Swacha. Die Ausstellung dauert bis spat Abends. Am folgenden Tage schickt der Ehevrätendcnt nach der sich gc« merkten Swacha. Er examinirt sie über die Formalia der Familie des ausgesuchten Mädchens, und schlägt seine Bedingungen zur Ehelichnng, «in« ^„üm« ncm, vor, deren Wesenheit nur in dem Blicke in den Geldsack besteht, welchen die Braut mitbekommen muß. Die Swacha verfügt sich hierauf zur eompcteitten Behörde, das heißt, nicht zu dem Mädchen, sondern zu dessen Vater. Beide tauschen die Vorschläge aus. Der Papa erklärt, wie grosi die Aussteuer sei und in was sie bestehe. Dies rapportirt die Swacha, und stimmt die Waare mit dem Herzen des Kauflnstigen übcrein, so ist der Handel so gut wie definitiv abgeschlossen. Die Swacha meldet sich nun, gewöhnlich Abends, zum feierlichen Actus im abgesonderten Familienzirkel der Braut an. Kaffee, Thee, Chocolade, Konfitüren. Wein, Schnaps sind aufgetragen. Vater, Mutter und die andern Familienglieder nehmen Theil am Jahrmärkte, nnr die verhandelte Braut fehlt. Die Swacha tritt mit wichtiger Miene ein. Sie bringt den Autrag um die Hand der Tochter von dem und den: Unbekannten an, von dem man aber be-rcits geheim erfahren hat, womit er handelt und wie seine Vermö-gmsumstände sind. Der Vater giebt sein lautes und vernehmliches Ja, während die Bürgcrstand. Ndcl. 129 Mutter nach Sitte weint. Nun wird die Tochter gerufen. Ohne alle Herzcnsbcwcgung tritt sie ew. Der Vater sagt ihr: „Mascha! (Maria) i» toliä attiiü" (ich habe Dich weggegeben). ..kllmu? 1'i.pm^." (Wem? Vater.) „Dem In'iin I^vaut»cll ^ollu^^iu^ciill^^ln^entlxlxoilunol. Hast Dn ihn gesehen?" „Miit, Papinka, aber ich habe gehört, cr ist reich/' „Va! Ja! Maschinka, cr ist reich, sein Vater hat drei stmicrnc Häuser und cine Nude; cr handelt mit Mehl, Grütze und Butter. Der Sohn fährt oft nach Moskau und Nischnci zum Einkauf, tedu nu äkulselmo Iiuäot, inugäa? (Wird Dir nicht manchmal die Zeit lang werden?)" ,Ail.8cULvvu Papinka, uo liioiw^i muii c^ilal,? (Was ist zu machen?)" „Ist bei Dir Alles fertig?" ,,Iii», Papinka, ich bin fertig und meine Aussteuer auch." Also abgemacht. Nirgends Hinderniß. Einige Abende daranf kommt der Bräutigam mit seinen Eltern. Sie sind angemeldet und in der höchsten Feier erwartet. Von allm Celten tiefe Verbeugung. „Das ist Dein Shenich (Bräutigam), Mascha!" sagt der Vater der Tochter. Mascha macht einen Knix, und I^van Ivw-mt^K knickt mit dem Kopfe. „Sind Sie'ö zufrieden, Mari Michaclna?" fragt cr sie. ,M! antwortet sie, Papiuka hat es mir schon gesagt." Nun überreicht er ihr ein Geschenk, irgend eine Schnmcksachc, Nil Kreuzchen, Ring, Ohrgehänge oder dergleichen, wobei er zugleich den bezahlten Werth anzeigt. Rußlcmd. III. 9 130 Ocffcntlichcs und Privatleben. ,,Bedank Dich Maschinka," sagt die Mutter, „w^m- mo^Ilesek x:üa^l. (Jetzt kannst Du küssen.)" Und sir küssen sich. Aber nicht wie die plumpen Deutschen oder Franzosen Arm in Arm, Herz an Herz und Mnnd auf Mund zu Einer Seele gedrückt, oder wohl gar unverschämt heimlich, ohne Vorwissen Mama's oder Papa's) sondern in pnl0«lMlil omnwm, ein. zwei, dreimal mit langgespitztcn Lippen und herabhängenden Armen in feierlicher Entfernung, und bleiben ihr Lebelang zwei Herzen und Mi Seelen. Mascha wischt sich den Mund ab. Hierauf allgemeine Gratulation zu gegenseitiger Verwandtschaft. Gesprochen wird vom Wetter, von einer Gulanic und den Präliminarartilcln, die Hochzeit betreffend. So einfältig ist noch kein Nilsse gewesen, seine Braut zu fragen: liebst Du mich? Das ist Nebensache. Die Liebe zählen wir nach Rubeln ab, jemchr desto heißer. Nach dieser ersten Bekanntschaft und Berichtigung wird auf den nächsten Sonntag die Verlobung festgesetzt, und das namenlose Glück der Welt mitgetheilt. Am Abend nach der Verlobung ist Hnpferci, denn Tanz kann man die russischen Bälle uicht nennen. Von nnn au steht ein Zimmer stets mit Früchten, Confitüren, Madeira und Schnaps für die täglichen Gratulanten im Hause der Braut offen, und jeden Abend wird bis wenige Tage vor der Hochzeit gehüpft, Karten gespielt, gezecht und geschmaust. Braut und Bräutigam haben nur an die Arbeit ihrer Füsic zu denken. Unterhaltung giebt es nicht. Dieß Einerlei, diese Marter dauert oft vier bis sechs Wochen unuutcrbrochen fort. Die Trauung erfolgt des Abends in der illmninirtcu Kirche. Von da fährt die Angetraute in ihre künftige Wohnung. Zwei Kinder sind Mann und Weib geworden, cr etwa 18 bis 20, sic Bnrgcrstand. Adcl 131 15 bis 18 Jahr alt. Von einer Hausfrau, welche die Seele m eincm Hausstände wird, ist nicht die Nedc. Sie weiß nnd erfährt nicht, was Wirthschaft ist. Sorgen für Geschäfte giebt cö nicht. Das Besorgen einer eigenen Verwaltung, eine Aufsicht über ihr Hauswesen lernt die jnnge Fran nicht kennen, denn sie wohnt mit ihrem Manne bei dessen Eltern, sie ist in Allem der Schwiegermutter nutergeordnet. Sie schläft am Morgen, bis sie zmn Thee gerufen wird, der Mann ist fort in des Vaters Bude für den ganzen Tag, sie sitzt in ihrem Zimmer allein. Versteht sie mit der Nadel eine Tändelei, gut, wenn nicht, so legt sie die Hände in den Schooß. Die Schwiegermutter füttert sie, Nichtsthun ist ihre Arbeit, und so vergeht ihr der Tag. Iwan Iwantsch kommt Abends zu ihr, klappert ihr auf dem Nccheubrettc die heutige Einnahme und Ausgabe vor, und nach 14 Tagen wird ihm die Zeit bei ihr lang. Er ist aber nuu Ehemann, er wird in die Gesellschaft wackerer Zecher aufgenommen. Er hat eine reiche Frau, er muß sich sehen lassen. Bald kommt er taumelnd nach Hause. Das ist das Glück der Ehe bei den Nüssen, und das Bündnis? ihrer Herzen. Es trifft sich, daß drei verheirathete Söhne in des Vaters Hause beisammen wohnen. Es sind nicht verwandte Seelen, es sind Parteien. Man intriguirt bei den Schwiegereltern, und die über Haus, Hof. Küche, Keller, Kasten. Tisch. Kuccht, Magd, Vieh gebieteudc Schwiegermama wählt sich ihre Goldtochter aus. Welche die andern Schwägerinnen unterdrückt. Welche Früchte ein solches Sozialleben trägt, welche Laster verborgen und oft ohne Scheu in einem Hausstände der Art hcrmnschleichen, bedürfte das einer Analyse? Ich kenne cin in großem Ansehen stehendes Haus, aus dergleichen heterogenen Stücken zusammengefügt, wo zwei Bm» 132 Ocffcutlichcs und Privatleben. der mit der Frau des dritten leiblichen Bruders buhlten. Das war in Moskau, aber dit Residenz ist nicht anner an ähnlichen Beispielen. Es giebt nichts Todteres, Faderes, Erbärmlicheres als das beste Familienleben der Nüssen. Der Hansvater, aufgewachsen in der ärgsten Rohheit, ohne Unterricht, hat sich durch Geld oder Hcirath, oder sonstige Umstände eine Erwerbsart angeeignet, größtenthcils den Handel. Dieser Erwerb füllt seine ganze Seele aus. Sein Denken. sein Gespräch ist Rechnen. Man gehe hinter Russen auf der Straße, und man kann Taufend gegen Eins wetten, sie reden von Rubeln. Ist fein Tagewerk vollbracht, so geht er in seine Stube allein, klappert nochmals seine Gedanken aus dem Rechcnbrettc zusammen, ißt, trinkt, benebelt sich nnd schläft bis zum andern Morgen. Frau und Kinder werden mit einer Frage nur berührt, wenn er etwas brancht. Der Kalender, einige Gebetbücher bilden die Bibliothek einer reichen Familie. Nur die Tschinownike haben statt der Kirchenbücher Romane aus Leihbibliotheken. Die russischen Gesellschaften sind für den Ausländer wahre Tortur. Auch die großen Kaufleute äffen Soireen nach. Man macht sich gegenseitige Besuche. Stumm sitzt das weibliche Geschlecht an den Wänden herum, kein Mund öffnet sich. Man amüsirt sich durch Sihen, höchstens geht man eiumal auf nnd nieder. Hat eine Tochter eine französische Quadrille takt- und geschmacklos hingeftgt. so wird der Flügel umringt, und die Künstlerin mit allen Aum'nfun-gm der Bewunderung überschüttet. Die Männer tranken indessen, und zankten sich am Kartentische. Der Papinka steht auf, wischt sich den Bart ab, er hat das letzte Glas geleert. Die Familien brechen sämmtlich auf. Knixc nnd Vcrncigungen. „Es war ein köstlicher Abend, wir waren recht lustig!" Matwe Stepantsch. und Vürgcrstand. Adel. 133 Proökowia Gabvrilowna! wir daukm für das große Vergnügen. ,,«pali(>inol notzeni! (Nnhigc Nacht!) Da ^vKUmlo! sAuf Wiedersehen)/' Nm in dem Organismus des Reichs cin Bindeglied zwischen Adel und Sklaven zu haben, hat sich die Regierung besonders in den neuern Zeiten bemüht, einen Mittelstand zu schaffen. Es war eine Idee gleich der Peters I., rohe Asiaten durch Abschccrcn der Bärte in civilisirte Europäer umzuwandeln. Das Bürgcrlebcn, als der eigentliche Mittelstand, ist Rußland noch so entfremdet, daß cs sich selbst am meisten täuscht, wenn es meint, die Bewohner seiner Städte bildeten wirklich einen Mittelstand. Wir wollen nicht auf die der Leibeigenschaft entsprossenen und von ihr frcigewordcnen Domestiken und Handwerker Rücksicht nehmen, die mittelst einer starken ihnen auferlegten Abgabe den Nikmcn .Mescktsckanin" (Bürger) erhielten; wir wollen das auf dieser sein sollenden Mittelklasse oben schwimmende Ocl im städtischen Leben näher betrachten, um durch Das, was die Menschen darin sind, auf das Andere zu schließen. Ich meine den zahlreichen russischen Kaufmannsstand, und aus ihm sei wieder znr Prüfung die erste Gilde gewählt. Den Begriff „Kaufmann" übertrage man nicht auf den Nüssen. In den drei Gilden durch das ganze Reich ist nicht ein einziger Kaufmann zu finden, nur Schacherjudm, denn Juden nannte Peter 1. sein Volk ganz treffend. Der Jude erster Gilde also, der Tausende für das Recht bezahlt, Waaren vom Auslande direct beziehen zu können, kann dennoch sein erkauftes Recht nicht unmittelbar benutzen. Ein ausländischer Brics, eine fremde Factura sind ihm Blätter voll Hieroglyphen. Kaum daß er seinen Namen russisch zu kritzeln versteht, wie sollte er einen Brief in fremder Sprache in 5as Ausland schreiben. 534 Ocffcutlichcs und Privatleben. Seine Methode Waaren zu beziehen ist anders. Er überträgt tinem deutschen Kommissionär die Verschreibung der Waaren, die er meint nöthig zn haben, und kümmert sich weiter nm nichts. Für seine Geschäfte bei dem Zollamtc hat cr ebenfalls seinen dentschcn Expedienten. Ohne sich gerührt, ohne eine Zeile geschrieben zu haben, liegt die Waare von London. Hamburg u. s. w. in seiner Niederlage. Die Rechnungen darüber find nntcr dein Horizonte seines Wissens. Er sieht mir nach dcr Summe, die er zu zahlen hat, oder cr wendet sich an Jemanden, dcr ihm die Sache aufklärt und die sremde Geldsorte in russische Valuta berechnet. Hunderte Von Facturen und Ealculaturcn sind durch meine Hände gegangen, oft zu meinem Erstannen über die Unverschämtheit, mit welcher die russische Unwissenheit offenbar geprellt wurde. Es giebt in Petersburg unter den deutschen kleinen Handlungscommissionaren, die sich den russischen Kaufleuten anhackeln, Personen, die alle Scham vor einer Entdeckung ihrer falschen Berechnungen bei Seite setzen. Sie selbst sind die größten Ignoranten, unfähig sogar, als Deutsche einen deut' schm Brief richtig zu schreiben, die Russen wissen es, aber die Nothwendigkeit zwingt sie, sich betrügen zu lassen. Gewöhnlich wird der jedesmalige Bedarf an dortiger Börse gekauft. Das Gekaufte wird dann wieder verschachert, und das heißt Handlung treiben, Kaufmann sein. Man ist noch kühner, man nennt sich Eomtoirist. Alle die keine Buden haben, die von einer Zuckersiederci oder andmn Geschäft leben, und von 20 Pfund an verkaufen, sagen: wir sind keine Eawerschniks, (Vudenkerle) wir halten Comtoirc. Ihre unwissenden Söhne und Verwandte heb Den Buchhalter, Kassirer u. s. w., und weder Patron uoch Untergebene haben jemals ein wirkliches Hauptbuch oder Iourual. oder ein anderes Comtoirbuch gesehen, und noch weniger verstehen sie etwas Bürgcrstaud. Adel. 135 von Buchhaltung. In welchem Labyrinth sah sich das Conunerz-gericht, wenn es in den sein sollenden Büchern der Kaufleute zn einer Einsicht gelangen wollte. Erst vor wenig Jahren musiie die Ncgicruug der Ignoranz zn Hülfe eilen, indent sie ein höchst einfaches Muster eines Journals vorcrklärtc nnd vorliniirte. Es läßt sich dreist eine Million gegen Eins wetten, daß in ganz Rußland noch kein russischer Kaufmann oder Commis zu finden ist, der mit kaufmännischer Korrespondenz und Rechnung nur oberflächlich bekannt wäre, von vertraut sei gar nicht die Nedc. denn sogar mit ihrem Briefwechsel in eigener Sprache sieht es zum Erbarmen ans. Petersburg hat seit geraumer Zeit die Pctrischule und die Commerzschule, wohin die ersten russischen Kaufleute ihre Söhne zur Erziehung und Uuterricht abgeben. Wie? Aus diesen Anstalten Wärm noch keine Fruchte zum Nutzen des Haudelsstaudes hervorgegangen? Seit einigen Jahren ist sogar eine Höhcrc Eoinmcrzschule errichtet worden. Mus, also nicht das Bedürfniß gefühlt werden, daß Das, was die Commcrzschulc bisher geleistet hatte, uud leisten könnte, nicht hinreiche« uud daß die ruffische Kausmauuschast in Kenntnissen so herangebildet sei, daß man sich jetzt auf ein höheres Handelsstudium legen müsse? Die Autwort darauf giebt der Abschnitt, der die Schulen berücksichtigt. Wer übrigens der Anlegung vou geistigen Bilduugsanstaltcn in Rußland iu's Gesicht sehen will, dem wird der phvsioguomische Hauptzug „Prahlerei" gewiß uicht entgehen. Wird etwa bei einem Handluugsgehülfcn nach Kenntnissen gefragt? Worin besteht die Erlernung des Schachers? Ein Kaufmann läßt sich einen Bamrjungcn vom Dorfe schicken. Die ersten Jahre nimmt er ihn in sein Haus zum Sticfclvutzen und zur Bedienung. 436 Dcffcntlichcs und Privatleben. Dann muß er zuweilen in den Laden, um den aus- und eingehenden Käufern die Thür zu öffnen. Endlich muß er aufmerksam sein, wie gemessen und dabei unbemerkt betrogen wird, und zuletzt giebt man ihm die Arschine oder Waage in die Hand. Nnu nennt man ihn schon Prikaschtschit(Vommis). Der Kaufmann ist fertig. Das Betrügen hat er von seinem Chef und Commilitoncn gelernt. In einigen Jahren hat er sich von seinem Meister ein Capital zusammcngestoh-lcn, er ctablirt sich selbst, er geht am zweiten Pfingstfeiertagc in den Sommcrgarten, sucht eine Pnppc mit Aussteuer, und der Kaufmann erster Gilde fährt bald in seiner Equipage. Ob viel russische Kaufleute in Petersburg und Moskau leben, die diese Laufbahn nicht gemacht hätten? Giebt es viele von ihnen, welche mit reinem Gewissen sagen können, daß ihr Vermögen wohl erworben sei? Ich frage ja nur. Es herrscht eine Ganncrei im russischen Handel, daß die Nüssen aus Sclbstkenntniß gerade unter sich selber nicht das geringste Zutrauen zu einander haben, und daß sie von einem fremden Handlungshause auf Trcn und Glauben annehmen, was sie von einem russischen erst durch und durch prüfen, und zuverlässig mit einer Verfälschung entdecken. Ehrlichkeit ist dem Russen im Handel total fremd, kann er nicht betrügen, so hält er sich für keinen Kaufmann. Im Handel nicht nnr mit den Westeuropäern, sondern auch mit den Türken, Persern und den Grcnzchincsen sind mißlungene Unternehmungen und Stagnationen im Handel aus demselben Grunde oft vorgekommen. Erst 1843 erschien in der Petersburger Zeitung ein Artikel, worin der russische Haudelsstand von Seiten der Regierung belehrt wurde, welche Schande ihm Unredlichkeit im Handel bringe, und wie er sich nur durch das Gegentheil Kredit zu erstreben habe. Wo Burg erstand. Adcl. 43? eine Regierung noch 1843 öffentlich solche Ermahnungen und Lehren erlassen muß, mit welchem Zntraucn können dann andere Lander in cmnmcrzielle Geschäfte sich einlassen? Will man etwa einwenden, daß rnssische Handlungshänscr direct aus London Waaren verschrieben nnd dort ihren Credit bei einem Comtoir gegründet haben? Erstlich sind dieser Häuser kaum zwei oder drei, und dann correspondireu sie nicht unmittelbar mit London, sondern sie haben sich wieder einem Nüssen, einem Sohne oder Commissionaire daselbst, in die Hände gelegt, welche die Waaren wieder durch ein englisches Haus besorgen. Ist dieser Sohn oder Kommissionär ein in HandlnnaMnntnissm eingeweihter Mann? Ist er nicht der russische Prikaschtschik? Oder rede ich iu's Blaue hinein, ohne sie zu kennen? Bleibt der Schacher nicht ein und derselbe, ob der Sohn oder Prikaschtschik an der Börse in Petersburg oder durch ein englisches Handelshaus in London kanft? Acndert sich der Schacher, weil der Einkauf vielleicht der Quelle näher ge-schicht? Wenn der russische Millionär prahlt: mein Sohn oder Commission ar in London hat mir dieses Jahr 4 bis 500N Rubel Banko mehr Nutzen gebracht, als wenn ich in der hiesigen Borst gekaust hätte, und er gefragt wird: was hat Ihr Sohn dieses Jahr dort gekostet? so antwortete er ganz unbefangen; „ Etwas über 420 Pfund Sterling." „Und das rechnen Sie nicht zn den Spesen?" „Wie kann ich das auf die Waaren rechnen, cS ist ja mein Sohn!" Dergleichen verständige Ncden nnd kaufmännische Berechnungen könnte ich Tanstnde anführen, wenn ich in's Detail gehen wollte. Was den in London gegründeten Credit betrifft, so hat sich das 138 Oessentlichcs und Privatleben. dasige Handelshaus durch dic Comtoire seiner Nation in Peters-bürg hinlänglich versichert, wie weit cs in seinen Creditertheilungen gehen kann, und die Ncmcssm lauten nie auf große Snnnnen. oder der bewilligte Credit auf lange Frist. Kein russischer Kaufmann hilft dein andern im Unglück. Ein Bankerott jagt den andern. Dauert cs einem Nüssen zu lange, sich ein Kapital zu fnndiren, so erklärt er sich bankerott. Polizei und andere Biedcrsrcundc sind ihm dabei bchülflich, daß cö nicht mit rechten Dingen zugehen müßte, wenn er durch diesen Geniestreich nicht zu Vermögen käme. - >. ^ z^i Beispiele haben bereits gesprochen. Bankerotte Kaufleute wissen sich gewöhnlich noch besser zu pla schenwerth, als in der der Tschinowniks. Jener ist noch im Besitz manches Guten, dieser hat die bessere Menschcnnatur abgestreift. Kein Kaufmann kaust sich Menschen zu seinem Dienste, alle halten nur freie Dienstboten. Das Gefühl ist m ihnen nicht untergegangen, daß sie ihres Gleichen nicht wie das Vieh gegen Geld oder Geldeswcrth einhandeln sollen, und deshalb schon erscheint dieser Stand achtungswcrthcr, als die aus dem Bauernstande ebenfalls abstammenden Bemittelten. .,Cs ist mein Erbkcrl!" ,,Es ist mein Grbmädchen!" schnüffelt ein Adliger durch die Nase, der verhungern müßte, wenn nicht dieser Crbmcnsch von früh bis in die Nacht sich abmüdete, um seinem Herrn die Abgabe dafür zu bringen, daß er auf Obrok entlassen ist und nicht unter scincn Hieben arbeiten darf. Die Sklaverei ist in der Residenz um so empörender, weil der Sklave nicht nur seinen Gebieter zum Tyrannen hat, sondern auch die Polizei. Ist er für ein Versehen vielleicht schon zu Hanse blutig geschlagen worden, und der Zorn des Herrn ist gestiegen, so wird nach der Polizei geschickt, er wird auf das Polizeiamt geführt und auf Vorstellung der Herrschaft nochmals durchgeprügelt. Wie Bürg erstand. Ndcl, HH3 oft sieht man in mmn Hallfcn von Sträflingen, welche die Straße fegen müssen, gnt gekleidete Diener im Frack, eine grosie gcoinctri,-schc Figur mit Kreide auf den Nucken gezeichnet, und den Besen führend. Die Herrschaft hat sie dazn verdammt, aber ihr Hochmuth fühlt sich nicht im Mindesten lädirt. wcun der abgestrafte Diener am andern Mittage wieder bei Tafel scrvirt. Eines Versehens wegen sieht man Kutscher und Vorrcitcr ohne Kopfbedeckung bei Sonnenbrand oder Kälte mit der Herrschast ausfahrcn, ohne dasi diese bedenkt, wie sie sich selber durch diesen Auszug prostituive. Visweilen steht auch der Bediente hinten ohne Hut oder Mütze. Ich kenne die Frau eines Beamten in Petersburg, die eine Viertelstunde lang vor einem ihrer Vrbmädchcn stehen und es mit kaltem Blute blau-fleckig und blutig schlagen kann. Ich könnte eine Hyäne nennen, die sich cin eigenes Werkzeug erfand, um ihr Stubenmädchen zu strafen. In ein Holz, wie cin kurzer Peitschenstiel, befestigte sie eine Nähnadel an dem einen Knde. So oft das Erbmädcheu ihr etwas nicht nach Sinne gemacht hatte, rief sie dasselbe zu sich. Die Arme mußte den Hemdeärmcl aufstreifen, an ihre Seite treten, und indem sie selbst dabei in einem Romane las. schlug sie das Mädchen mit der Nadel in den Arm. bis er dick aufgeschwollen war und das Blut rann. War ihr die Snppe nicht nach Geschmack, so wurde der Koch vor den Tisch citirt, uud sie begoß ihn mit der brnhhcißcn Suppe. Als acht (Obleute die Tyrannei ihres Herru nicht länger ertragen konnten und ihn geschlagen hatten, wurden sie vor dem Schlüsse des Jahrs 1843 zur qualvollen Strafe des Spießruthm. laufcns verurthcilt, nnd alle Leibeigenen der Residenz wurden befehligt, dieser Marter zuzusehen. Verdient es also nicht Achtung, daß sich dic russische Kaufmannschaft fern von Mcnschenkäuferei hält, wenn noch dazu allerlei Vortheile sie dazu lockm? 144 Ocffcntlichct' und Privatleben. Auch erscheint sie achtungswerther als dit Adelskastc in Hinsicht auf Religion. Der Kaufmann hat seine Zimmer voll Götzenbilder, den Kopf voll Aberglauben und Irreligiou, aber sein Gefühl erhält ihn in der Achtung vor Dem, was heilig gilt, der Tschinownik stiehlt wie der gewissenloseste Schelm selbst in der Kirche. Man blickc in das Gemälde des Petersburger Gefängnisses. Der Kaufmann hängt seiner Religion an aus Ueberzeugung, er schlägt scin Kreuz öffentlich ohne Scham. Das Fasten ist ihm Neligionssachc, er ehrt seinen Priester, er nimmt das Abendmahl aus religiösem Sinn, und hängt noch an Sitte und Herkommen. Der Tschinownik hat gar keine Religion, er ist nicht Christ, nicht Jude, nicht Heide, Muhamedancr des Harems wegen. Er hält es sür gemein, cin Kreuz zu schlagen, er fastet nicht, scin Magen ist aufgeklärter als seine Seele im Katechismus. Er schimpft den Priester, spuckt aus, wenn er ihm begegnet, weil er dies für cin böses Omen hält, geht mit Spott Ostern zum Abendmahl, weil cr nach der Disciplin muß, und hängt an der Mode. Er nennt den Kaufmann dumm, nicht wegen Maugcl an Verstand, sondern weil er religiös ist. Und doch ist der einfache Hausvcrstand mehr werth als der anmaßende und verunglückte Ton des Adligen, den er dem Fremden nachtünstelt. Immerhin sehe man anf den ersten Vlick, der Kauf-mann sei aus den Bauer gepfropft, cr ist wenigstens noch cin gesunderes Pfropfreis als der Adel, der seine nächsten Ahucu ebenfalls uoch au Heu- und Mistgabel sieht, der nur ein falsches, verdorbenes, inoculirtes Auge ist. das nie zur Kraft kommt. Vergißt sich derselbe nur einen Augenblick, so tritt nicht der Bauer hervor, sondern eine Carricatnr. Der russische Kaufmanu trinkt über den Durst, aber entweder in seiner Behausung, oder auch in Gesellschaft stiller Brüder, die Bürgeistand. Adcl. 146 so viel Schicklichkeitögefühl haben, das; sic den Berauschten nicht allein nach Haust entlassen. Adlige findet man immer taumelnd auf den Straßen, sogar in den gemeinsten Kabcckcn. Ihnen macht es Freude, wenn einer den andern im trunkenen Znstande öffentlich zur Schau stellen kann. Im Winter 1812 besuchte ein Gardeoffi-zier einen befreundeten Tschinownik. Dieser betäubte den Gast mit Branntwein. Er entließ ihn völlig betrunken, um Vergnügen am Taumelnden zn haben. Der Offizier hatte kaun: die Straße betreten, so fiel er hin, raffte sich jedoch wieder auf. Einige Schritte weiter fiel ihm der Mantel ab. Er blieb im Schnee liegen, Niemand rührte ihn an. Ein Dwornik lud ihn endlich in einen Schlitten und brachte ihn fort aus dem Gcspötte und Gelächter. Ich habe dies Beispiel der strengen militärischen Disciplin wegen angeführt, um zu beweisen, wie leicht auch der ehrliebendste Offizier einem Tschinowmkstrcichc unterliegen kann. Wie sollte es unter den Kaufleuten nicht Thoren geben, die der HoffartlMcufel reitet, und einen General, Oberst, Etatsrath und dergleichen höher betitelte Wesen als Ehemann ihrer Tochter wün« sehen? Wie viele Bauermädchen werden Excellenzen. Waren sie oder die bedungene Mitgift der Gegenstand des Begehrens? Ein Kaufmann erster Gilde verkaufte seine gute und wenigstens nach Petersburger Weist erzogene Tochter einem Etatsrathc. Nach der Hochzeit und empfangener Mitgift verbot derselbe seiner Frau, ihre Eltern nnd Verwandte bei sich aufzunehmen, weil es gegen ihren neuen Stand und seine Würde sei. Nnd nur an dritten Orten sieht nun die Tochter ihre Eltern. Sind das Sprossen der Bauernnatur solchen Adels? Gewiß nicht! Es ist ein Gewächs ans dem Schlamme, den die Polizirung im Gemisch mit Verdorbenheit prä-tipitirt. Äüßlaxd. III. ' 10 44s Ocffcntlichcs und Privatleben, Wo Freiheit nicht ist, da fehlt nicht nur die Pflegerin alles Schönen und Großen, es fehlt anch die Schöpferin des Guten. Der Gedanke nnd tas Gefühl tragen ohne sie Fesseln, und keine Anlage der Seele kann sich entwickeln, wo sie eingepreßt ist. Wie kaun aus einem Gemisch von Völkern ein allgemeiner Charakter sich bilden, wo das erhebende Selbstgefühl mangelt, und das Streben nach Vervollkommnnng als Rival sich nicht aufstellt. Es ist ein trüber Gedanke, das; sich an Europa's Kulturgeschichte immer noch die altpersischc Verfassung unter einem Darius HystaSpis anklammert, wo die Satrapen der verlängerte Arm der gefürchtcten Majestät waren. Musen und Grazien bezogen dort keine Tempel, und aus Lagern und Sklaverei floh die Gesittung. Rußland fiudet in der Geschichte überall einen Standpunkt, wo es sich in Lebensgröße, nicht zu seinem Vortheil beschauen kann. Nom z. P. und Rußland. Einseitigkeit in Kultur dort. Einseitig-kcit hier, durch die Hauptstadt, das Herz aller despotischen Staaten, bestimmt. Neide groß durch Kriege, schlaue Politik, und gehalten durch militärische Macht, scheuchend die Künste des Friedens. In beiden die Religion politische Maschine, Ucbergang im Schnellschritt von der Rohheit zur Ueberfcincnmg, nicht zu Lebensgenuß, sondern zu Schwelgerci, nicht zum Erhebenden der Kunst, sondern zum Luxuriösen derselben. zur Politnr des Schlechten. Römische und russische Wissenschaft nur Abglanz des Fremden, beide ihre Lehrer nie erreichend, beide im Dünkel sich über alle Völker erhebend. Die russische Regierung laßt allgemeine Geschichten von einem Kaidanow uud andern Russen m ihren Schnlcn erzählen. Sie erlaubt , daß dcr jugendliche Geist aus Karamsin Nahrung schöpfe, sich in dessm Richtung fortbewege, und sogar dessen Logik von der Nothwendigkeit dcr Ungeheuer preist, indem dcr Zweck die Mittel Bürgest and, A del, 1i7 heilige. Wenn sic aber einst erlauben wird, ..Geschichte" zu stu-dircn. dann wird sich auch Nußland von Notteck's Ausspruche frei machen: ..In Despotien kann nichts gedeihen, was Erhebung nnd Kraft erheischt, und weil Beides eine Wurzel hat, so werden solche Staaten nothwendig arm an Tugend und an Talenten." Wp Menschenwürde fehlt, da giebt es auch keine andere Zierden des Lebens. Ich habe die Sahne des seinsollenden russischen Mittelstandes dargereicht, die blaue Milch sieht nun Jedermann selbst. Den einzigen nnd wahren Mittelstand in Moskau nnd vorzüglich in Petersburg, der zwar Rußland nicht gehört, dem es aber Alles zu verdanken hat. bilden die Ausländer, uud am meisten, auch der Zahl nach. die Deutschen. Der sszar entferne dies kleine Hülfshcer aus seinem Reiche, und es geht diesem wahrhaftig wie der russischen Armee bei Eilau. wenn das kleine Lcstoeq'sche Corps ihr nicht bcigestandcn hätte. Mit dem Fleiße und der Gcschicklichkeit des deutschen Handwerkers mißt sich der Russe noch bei Weitem nicht. Wer etwas Gutes gearbeitet haben will, wendet sich an die Deutschen und andere Ausländer, und in den rnssischen Buden giebt die Versicherung „es ist deutsche Arbeit" jeder Waare einen höhern Werth nnd Preis. Nnd wem verdankt Rußland den Fortschritt zu geistiger Bildung, sie habe auch noch so wenig gehaftet? Sucht der Adel. trotz aller Hindernisse, die dem ausländischen Lehrer in den Weg gelegt werden, nicht diesem die Erziehung seiner Kinder anzuvertrauen? Dic Akademie der Wissenschaften stelle sich, ohne die deutschen Mitglieder über 20 an Zahl. allein mit den Russen auf. und die Welt wird übcr das eüjwt nwi-ttnnn stauucn. Der Hof gebe seine deutschen Leibärzte. Petersburg uud Moskau ihre deutschen Mediziner, die 10' 118 Dcffcntlichcö lind Privatleben. Lehranstalten die deutsche ftielehrten. der Kaiser seine deutsche Suite und ^Generalität. sein deutsches Ofsiziercorps, kurz das deutsche Wirken und Schaffen in seinem Reiche ans, und kurova wird scheu, bis wohin die Russen gelaugt sind. Alles Kutc »nd Werthvollc ist überhaupt ausländischer Abkunft, durch fremden Oeist iu's Leben gerufen und gepflegt, und am meisten deutsch. Diese rechte Mitte zeichnet sich fortwährend in Nußland als dessen belebender Nerve, als der einzig ftelc. wenn auch gedrückte Stand aus, der bildend zwischen Herrn und Sklaven steht. Welcher Fremde würde es ohne diesen Stand in Petersburg aushalten! Meine Behauptung von dieser Mittelklasse wird dadurch nicht entkräftet, daß Viele, vorzüglich der Deutschen, total verrussen, deun die erbärmlichste Carricatur ist gerade unter diesem Nichtsisch und Nichtfleisch zn finden, ssiues der widerlichsten Geschöpft ist ein russificirtcr. wohlhabend gewordener deutscher Handwerker, und das verschrumpfteste Wcscn ein dem Nussenthum sich verschriebener Literal, ganz wie Achim von Arm'm meint! Der Teufel brütet sie in seinem Kasten, Damit sie alles Frühlingsgrün antasten. Auf alle Blätter gleich ihr Urtheil legen. Und ehrlich thun, als wär' es Gottes Segen. Die Verehrung des Russismns geht so weit, daß diese Deutschen ihre Namen in's Russische übertragen, um nur für Russeu zu gelten. Wie kommt es aber, daß das Verrussen so hausig bei den Deutschen, und so selten bei Franzosen und Engländern vorkommt? Warum stemmen sich diese beiden Nationen in ihren Auswanderern so schroff und so ausdauernd gegen das russische Wesen, während dcr Deutsche oft schon in einigen Jahren seine ganze germanische Natur verläuguet. Wie Viele habe ich gekannt, die das Deutsche Bürg erstand. Avcl. 449 wie einen Ucbcrrock auszogen und Ultraruffcn wurden. Ich kcnuc deutsche Eltern, nicht in Rußland, sondern in Deutschland geboren und erzogen, in deren Familien gleich im crftm Gliede das Nüssen-thum so eingebrochen ist. daß mau sich mit ihren erwachsenen Söhnen und Töchtern nur in russischer oder französischer Sprache ver< ständigen kann. weil sie. in Kronsinstituten erzogen, der ganzen deutschen Natur ein Lebewohl sagen mußten. O die russische Nc-gicrung versteht wohl, wie sie es anzufangen hat. die Deutschen an der Ostsee, denen sogar der Titel ihres Landes „Herzogthum" nach einem neuen Ukas ausgelöscht ist, in Russcu schnell zu mctamorpho-sircn. uud dem Germanismus recht dicht an den Leib z» rücken. Ich habe nie begriffen, wie man sich zu dem kühnen Gedanken aufschwingen könne. Stiefelknecht, oder Schlasmützc eines Herin zn werden. Alle Thüren iu den russischen Staatsdienst zu treten sind von der Art, daß das Hineingehen mehr einem Kriecheil als einem Gange ähnlich sieht. Wir sind zwar in Dentschland auch nicht aus der Qual. die Zunge uud das Gedächtniß an einem General-lottoadministrationscomniissärssubstituten zu üben, wir kauen auch noch an dem Hochgeboren. Hochwohlgeborcn. Wohlgcboren. besten, Großachtbarstcn, Hochgelehrten. Hoch- und Wohlwciscn. besonders Hochgeehrten uud Hcchgcbictcnden Herren und Oberen; allein we< nigstcns wachsen hier die Nasen in die Höhe und den Leuten aus dem Wege, während man dort darüber stolpert. Ich habe nie begreifen können, wie Deutsche zur Erreichung einer russischen Stellung ihr Vaterland abschwören und russische Unterthanen werden konnten. Ich zum Mindesten hätte mich nach einem solchen Fieber-Parrxismus im ersten l,»M<.» im,>rv.i11c) gleich an den Generalgou-verncur von Tobolsk gewand: und ihn ersucht, mir bei der starken Auswanderung dahin ein bescheidenes Plätzchen in seimm wcitläuf- 130 Ocffciitlichco und Privatleben, tigen Paradiese gnädigst vorzubehalten. Dcr Finauzminister Ean-crin bat es nie über sich vermocht, nissii'cker Unterthan zu werden. Hat die leichte Umwandlung deö Deutsckthums, das Freunde und mich oft so schmerzM berührt bat, einen andern ßiniud als den Mangel an Nationalgefühl, welches bei dem Franzosen und Engländer in dcr Fremde gerade am «nächtigsten hervortritt, während dcr Deutsche wie ein gehorsamer Pudel und ein tüchtiger Packesel unter jede Decke sich fügt? Losgerissen von dem Titeladel ist der böherc Kreis dcs russischen Gcburtsadcls, in welchem man jedoch das Starrnationale von dem durch Erziehung der höher gebildeten Welt angehorigen Theile wesentlich unterscheiden muß. Das Gebildete reicht sich überallhin die Hand. Allein weniger die Familien altrussischen Geschlechts ziehe ich iu diesen Bereich der Bildung, als die der Fremde entsprossenen, obgleich jetzt durch Verhältnisse an Rußland gebnndencn Familienstätten, deneu Ulan nur wenige dcr Nationalen beizählen kann. Das Nationalrussischc verläugnet sich nie. Herrschsucht, hinkender LuWs, unausstehliche Halbheit, unerträglicher Hochmuth bei auffallender Kriecherei, ist Eigenthum des Moskowitcnthums. Nach diesen Eigenheiten formt sich das Familien- und gesellschaftliche Leben. Dcr Schein ist über Alles gegossen. Eine Stelle aus einer Stcppenschilderung von Puschkin mit breiten Lippen vorgelesen, oder Bewunderung einer belletristischen Novität aus Emerdins Bnchladen, heißt literarischc Bildung, ein naseweises absprechendes Urtheil über das Ausland Scharfsinn, eine Reise nach Paris oder Karlsbad Weltkenntniß. Eine Romanze mit Affectation und Empfindclei gesungen ist Talent, und nicht selten erscheint ein 6IiiM5on oder Vulse coinpo^üo geschickt, mit dein strengen Befehl, keine Minute zu versäumen. Kr ritt die N0 Meilen als Courir. und kam einige Stunden früher zur Stadt, als die Thore noch geöffnet waren. Sein Rufen, ihm das Thor zu öffnen, konnte nicht augenblicklich erfüllt werden, weil die Schlüssel erst vom Commandanten geholt werden mußten. Darob schimpfte Uschakow mit voller Znngenladnug, er drohte dcm wachhabenden Offizier, ihn bei dem General in Smolensk zu verklagen, und als ihm das Ocffncn des Thors zu lange dauerte, gab er seinem Pferde die Sporen, und iagte nach Smolensk zurück, wo er sofort seine Klage anbrachte. Er wurde deshalb zum Tode vcrur-theilt. Dcr Czar änderte das Urthel dahin, daß er Uschakow zum wirklichen Hofnarren ernannte, welche Charge derselbe lebenslänglich behielt. Den Verlust des köstlichen Vorrechts der Hofnarrhcitscarri<':rt bereut dcr Adel nicht, allein wie schwer die Erinnerungen an jene bevorrechteten Zeiten zu tilgen sind, beweiscu die Beispiele iu der Neuzeit, daß es auf Befehl Narren und Verrückte geben soll. (Siehe Grctsch !. <:.) Dcr Adel, welcher ziracui ^ .love, zn-ocul .1 üilmin« zweifelsohne sich am ungenirtestcn in den Provinzen fühlt, ist größtcnthcils Bürgcvstand. Adcl, 189 auch noch so pi-ucul !>?» o„in! civNi^nUouo, daß die aus dem Innern zurückkehrenden Ausländer und Inländer sich glücklich schätzen, wenn sic diesem Proviuziallcben entkommen sind. Es ist nicht dic bloße Unkultur in den Provinzen, mit welcher der Kampf bestanden werden muß, es schließt sich an sie eine Unredlichkeit, daß es schwer hält, alls den beiden Hauptstädten die dahin am meisten begehrten Individuen. Lehrer und Ockonomen, zu verlocken. Wie häufig sind die Beispiele, daß Leichtgläubige oder mit den Zuständen Rußlands noch Unbekannte, in die russischen Krutschki Nichtcingeweihtc den großen Offerten vertrauten, mit deucn man sie kirrte; und die daö Erworbene gern im Stich ließen, um sich den uicdrigsten Kränkungen und Chicanen zu entziehen. Ich kenne Fälle, daß Hauslehrer und Gouvernanten sich heimlich fluchten mußten, weil sie mit Gewalt zurückgehalten wurden, um theils über eigen erlittenes Unrecht nicht klagbar zn werden, oder als Zeugen gesehener Gräncl nicht auftreten zu können. Die Größe der Güter, die meist mehre Meilen beträgt, ihre Wildnisse, ihre Entfernung von bewohnter Nachbarschaft oder von Städten, die feile Gerechtigkeit in den Städten, der Zusammenhang der Adligen unter sich und mit den Beamten, die aus ihrer Mitte gewählt werden, das Alles bietet genug Mittel, dergleichen Verhaftungen in's Werk zn setzen, uud zu verhindern, daß sogar weder ein Brief abgehen noch empfangen werden kann. Die Gewaltthaten, die einst von den Größten dcs Reichs durch alle Provinzen verbreitet wllrden, finden ihren Nachhall heute noch iu großen und kleinen Despoten. Herzog Byron vcrurtheiltc einst den Lehrer seines Sohns, wegen einer Zurechtweisung des Erstem nn Betragen des Letztem, zum Karrenschieben und zur Landesverweisung. Das eigenmächtige Jagen ans dem Reiche kann hente W0 Ocfftütlichcs und Privatleben, nicht mehr geschehen, allein hatte ich nicht Rücksichten zu nehmen, so wollte ich zwei Beispiele anführen, daß Byrons auferlegtes Karrenschieben weit milder war. als die unsäglichen Mißhandlungen, die man an diesen noch Lebenden verübt hat. und deren Lage, nachdem es ihncn durch List gelungen war. sich bis nach Moskau zu flüchten, so umgarnt wurde, daß es ihnen sowohl in der Capitale wie in der Residenz unmöglich ward, Recht und Genugthuung zu fordern, wenn sie sich nicht der Gefahr aussehen wollten, heimlich aufgehoben und in Sibiriens Wüsten für immer vergraben zu werden. Und dennoch sind Männer des russischen Adels in meiner Erinnerung mit inniger Liebe eingeschrieben, die z. B. im SimbirM-schen Gouvernement erzogen und gebildet waren, wo vor mehren Jahren die Leibeigenen gegen ihre Herren aufstanden, und diese Revolten mit der grausamsten Rache besiegelten. Hat in neuer Zeit das schmähliche Loos des Grafen Avraxin, bei seiner Flucht aus dem in Brand gesteckten Schlosse von seinen Leibeigenen erschlagen zu werden, nicht bewiesen, daß der russische Adel fortwährend seinem Volke durch Mangel an Humanität entfremdet ist? Die Nemesis ereilte ihn sür seine Harte. Die Schlackenmasse ist noch zn groß, als daß der Blick auf das Ganze das Edclc als Edelstein und Edelmetall zu bemerken vcr-niöcbte. Man wende Rußland nach welcher Seite man wolle, immer wird sich die Wahrheit behaupten, daß ein Nubinchcn von Fortschritt in der barbarischsten Wüste liegt. Noch fehlt die Ahnung uneigennütziger Tugend, ewigen Rechts und unvernichtbarer Wahrheit. Wenn sie einst sich regt, dann wird auch die Hoffnung auf Erkenntniß und Behcrzigung wie eine junge Saat aufgehen zu Ernte. Der Ahnung folgt die Ueberzeugung. Bürgerstand, Ndcl. i«>l To wenig dic Liebe hoffnungslos bleiben will, so wenig will cin wirklich fortschreitendes Volk mit der Sinnenwnrzcl im Irdischen sich begnügen, nnv das Merkmal seines Fortschritts ist die Sehn-sucbt nach mitfühlendem Pnlsschlage, nach einer Erhebung znr Menschheit. Ans dies Merkmal an Rußland wartet Europa. Es läßt sich aber nicht einreden, daß ein Kind aus der Mutter Schooße gleich auf und davon laufe, nnd Europa glaubt nicht, daß das Nordlicht die tieft Nacht des Nordens zum hellen Tage der Sonne des Aequators mache. Rußland. III, 11 NegierungsMt Uicolaus I. O mi'gcn die vo» Gottes Gnaden Wic Gottes Gn.idc walten! Karl Beck. 11 * Mit der Aufgabe der Europäisirung des ruffischen Volts ward dessen Herrschern eine sorgenschwerere Krone als den andern Ncgmten unsers Erdthcils, denn sie sahen ihr Volk fern der zu Moralität führenden Knltnr, zu dcr sie daffelbc leiten mußten, wenn die vorgeschrittenen Europäer es in ihrem Bunde anerkennen sollten. Was zu diesem Zweck seit Peters Scheidcwaffcraufguß geschehen war. das zeigte sich an dem Eifer Alexanders I.. als er von einein trefflichen Lehrer auf die Purpurstufcn, die er betreten sollte, aufmerksam gemacht, nichts als ein Chaos um sich sab, welches die Ttral'len seiner Humanität zu erleuchten hatten, und deffm Nebeldecke das Licht enropaistbcr Gesittung durchdringen sollte. Dieser Eifer sür das zunächst liegende Nothwendige kam selbst aus dem Licht, dessen Wärmt um so wohler that, je schmerzlicher das iungc Negentenhcrz die Stufen des Throns hinangestiegen war, und jc lauschender und empfänglicher das untenstehende, Volt nach der schweren Gcwitternacht dein Aufhören des drohenden Donners und Blitzes war, und seine beängstete Brnst in leichterer Luft sich fühlte. Pauls Blitze der Willkür und des wahren Blödsinus hatten eigentlich nur in den hohem Schichten dcr seinem Willen nntcrthä-nigen Atmosphäre gekreuzt und Schaden angerichtet, nicht in der 166 Ncgierungszcit Nicolans I. untern Schicht des leibeigenen Volks. Allein wie vom Gewitter geschachtelte Hccrden sah es die Blitze über sich mit der Gewißheit, daß sie doch vernichtend einschlagen könnten. nnd bange betete es, daß sie an ihm vorüber gehen möchten. In Furcht lag das Ganze auf den Knien, als das jugendlich freundliche Gesicht unter der Krone einen Tag des Vertrauens und der Liebe allen Herzen verkündete. Das Vertrauen schob alles Gewölk, von der Furcht aufgethürmt, hinter die Berge, mit Alexander ging ein blauer Himmel über Rußland anf. Wo der Fürst später auch irrte und fehlte, der Mensch saß immer bei dem Fürsten, und Alexanders Tod beweinte nicht die angedichtete, sondern die anftichtigc Liebe, die desto tiefer den Verlust fühlt, je ungewisser der Blick in die Gruft folgt, wer die über den Verlust erschrockene Liebe erwärmen und wieder ausrichten werde. Ein freies Volk bleibt in der tiefsten Wehmnth getrost, wenn der Sensenmann das Haupt seiner Regierung abholt, denn der Nachfolger schwört aus dasselbe Gesetzbuch. Nicht so ein Tklavenvolk, dessen Legislatur Willkür ist. Der wahre Beweis. daß der Tod dem russischen Volke einen Liebling weggerafft hatte, war nicht nnr die allen klare Erscheinung, daß Alexander als der humanste Herrscher seines Reichs von der Geschichte aufgeschrieben stand, nicht die geschriebenen und gelesenen Tbräncn und das Schluchzen, welche dem Sarge in dem Pompzuge bis in die Gruft in der Festung gefolgt sein sollten; sondern der Schreck, der durch alle Glieder bei der Kunde seines Todes apoplektisch fuhr. Alexander starb für sein Land zu früh. Die letzte Zeit seiner Regierung trng nicht den reinen Stempel der Humanität wie die Jahre bis 1815. An vielen Stellen seines Lebensbildes ließ der Ncgicrungszcit Nicolaus I. 1s,7 Selbstherrscher zu stark die Farben der Willkür durchschimmern. Mit Festigkeit war der Charakter uoch nicht abgeschlossen, das Gute, welches er für sein Reich beilsam erkannte, war erst augelegt, das Licht, welches sein guter Genius vom AuslMlde auf das ihm von der Vorsehung anvertraute Volk reflcttircu lies;, war erst aufgegangen, als ihn die Politik durch die großen Ereignisse in Europa in ihre Garne verwickelte und eine Weltkarte ihm aufschlug. auf welcher er sich zurccht zu finden erst lernen mußte. Ausgezeichnet dnrch große Gcistcsgaben war er nicht, desto schwieriger ward seine Stellung unter Ausgczcichuetcn. Die Politik von Außen fand in ihm die Fächer, die sie zu ihrem Vortheil herausziehen kountc, und die Politik seiucr Großen wußte sich mit der answärtigen Schwester .so zn verständigen, daß der anfängliche Liebling des jungen Czars, das Licht, zwar nicht geradezu in Ungnade gebracht, aber doch so bei Seite geschoben wurde, daß die Dämmerung zunächst Sultanin Favoritin ward, unter deren Pantössclchcn das uralte Wohl des Reichs wieder hervorgcsucht und besorgt werden konnte. Der Russismus hat Katzenaugen, das Licht iu der Laterne löscht er aus. Er weiß sehr gut, daß es fast ciue Unmöglichkeit ist, den bild- und schmiegsamen Theil des Menschen so in eine Form zu pressen, daß gar nichts von seinen natürlichen Rechten an ihm hängen bleiben sollte. Er wird sich daher nie eine andere als despotische Re-gicrnngsform wählen, weil nur durch sie das wahre Medium, die Furcht, erzielt werden kann, um damit das Höchstmögliche zu er-langen, das Natunccht aus dem Menschen zu exoreircu. Er thürmt Unnatur gegen Unnatur, ohne dabei an das Ende des babylonischen Thurmbaues zu denken. Er sieht auch zu seiner Freude, daß die Ungerechtigkeit der Welt sich über das von ihm geleitete Volk beschwert, und ihren Tadel über dasselbe ausspricht, statt daß die vom Russismus erzeug- 168 Ncgicrungszcit Nicolcnls I. ten Verhälinisse. die wic cine Nothwendigkeit aus seinen Prinzipien knispringen müsscn. verurtheilt werden sollten. Dinge will er hanthaben, nicht Menschen leiten. Dinge bezahlt er, Dinge ernährt er, und er hat noch nie Urfnchc gehabt, zu zweifeln, daß auch Charaktere von Bildung sich lieber zu Dingen machen, als bei der Bildung Hunger zu leiden, oder äußerlich weniger unter den glänzenden Dingen zu gelten, die sie um sich sehen. Dic Beispiele lausen haufcnwcis im Reiche des Ichs und des Nichtichs herum. Daber auch in ibm die O.uelle zalloser Uebel und Hiudcruiffc, die nur mit Vernichtung, vielleicht der besten Seiten, bezwungen werden können. Dies finstere Wesen wird ron Russen erkannt, dic durch Erziehung oder unversührbarcn Geist auf eine lichtere Stufe gestellt sind, und ihre Ueberzeugung sagt ihnen, daß nur eine allgemeinere-Kultur ihres Volks die Ucbclstäudc zu verbannen und der Humanität windigere Verhältnisse herbeizuführen vermag, die der Russismus feindlich befehdet. Sein Netz ist so künstlich geknotet, daß es sich nur in der Nähc erkennen läßt, wie die Schlingcu ineinan-der laufen und zugezogen sind. Wenn es auch scheint, als ob dieser und jener Geist vor dem Fangen sich scheute, der schlaue Russians läßt ihn nur mitgehen, mitmachen, sich gewöhnen, und er ist einer Versöhnung nut seinem Wesen gcwiß. Woher gäbe es sonst bei ibm so vicl ausländische, höcl'st zufriedene Gesichter, deren Mienen als Teclenbaronietcr früher auf unfreundliche Witterung deuteten. Ob in England ein mä-mtick'cr oder weiblicher Fuß den Thron besteigt, die Regierung gebt ihren Gang wie die Uhr nach dem eingerichteten Werke, gleichviel, welche Zeiger ihr aufgesetzt sind. In Rnfland finden wir auch ein Uhrwerk. Der Nachfolger in der Regierung wird sich nie vom Endziel dcs Triebwerks entfernen, cr Regievungszcit Nicola us I. 1W wird wenigstens bei einer versuchten Abweichung darauf wieder zu-riickkonnnen. A lcxander kam als wahrer Republikaner aus eiucn despotischen Thron, denn cr fühlte, was er der Menschheit schuldig war. und die Bezahlung lag in seinem Willen. Das war es, was ihm die Herzen Europa's zuwandte, durch den Nnssismus erkaltet traten sie wieder zurück. Wer ist Alexanders Nachfolger? fragten einander die Russen. Schüchtern flüsterte man den Namen Constantin, wer besser unterrichtet war, nannte Nicolaus. Wer wollte jenen auf den Thron? Der Soldat, weil das Heer wußte, daß der Cäsarcwitsch das Schwert des Reichs, dm Eoldatenstand, liebte, weil sein Uhlancnregiment und eine Menge Offiziere in der Armee als Vorbilder leuchteten, wie schön es sich unter mmn Herrscher diene, der dein zügellosesten Muthwillen durch die Finger sah, und selbst rohsoldatisch ihm fröhntc. Anders dachte das Volk. Blaß wie ein Geist alls dem Grabe stieg der Gedanke an eine Regierung durch Konstantin. Sein Gesicht war die treue Copic des Vaters; aber die Thaten, vom Sohn mit einer Nichts scheuenden Uumoralität verübt, wie die civilisirte Welt auf keiner Thronstnfe sah, waren dein Herzen Pauls immer fremd geblieben. Konstantin war ein Schreckbild. Der Rohstoff seines Wesens konnte verarbeitbar sein und Erwartungen nähren, aber seine Fähigkeiten waren jeder moralischen Verarbeitung so widerspenstig, daß sich in früher Jugend schon das Vcrabscheucus-wcrthe wie eine Naupe aus einem Cocon durchbist, von dem sich keine Fürstentugcnden abspinnen ließen. Von dem Zöglinge, der sich an seinen Lehrern und Erziehern, außer I.u IKu^«, mit Zahnen und Stöcken vergriff, ließen sich keine Früchte für Menschen hoffen, am wenigsten für Untergebene. Von seiner Großmutter zu 170 Negierungszeit Nicol.nlZ I. cincm künftigen Herrscher «bei dm Halbmond erzogen, und zn dem Ende mit dcm Kreuze gemalt, auch spater nur von Griechen umgeben und geleitet, dünkte er sich schon im Frühlinge des Lebens ein Gebieter, dcm ein Welt angewiesen sei, mit der er nach Belieben schalten könne. Ost waren seine Verbrechen nicht nur Folgen eines kochenden Bluts, sondern mit kalter Ncberlegung begangen. Kr schoß nach Menschen, tödtcte sie, verwundete sie. vernichtete Wohl und Vhrc ganzer Familien durch schändlich berechnete Entehrung. Streben, mit materiellen Mitteln wieder gut zu machen, was verbrochen war, o ja, das legte er wohl an den Tag, allein auch im größten Böstwichtc können Anwandlungen von Tugenden erscheinen, die der nächste Augenblick wieder veruichtct. Der Wahn, mit Metattwerth verübte Schändlichkeit auszu-gleichen, ist der Codex, den der Teuscl geschrieben hat. Wer sehnt sich in das Land, wo die Großen das Privilegium der Unsträflich-kcit haben sür Thaten, wofür der Unterthan zerfleischt, und aus der gesitteten menschlichen Gesellschaft verbannt wird! Der Theil des Publikums, dem die Einwirkung der Kaiserin Maria Fedorowna auf den Willen des Kaisers Alexander bekannt war. nannte den Großfürst Nicolaus als Thronfolger. So wie sein jüngster Bruder nur für die militärische Laufbahn erzogen, ohne je vom Czar zu einer andern Stellung hervorgezogen zu sein, war er den Russen, und selbst dcm Petersburger Publikum uur aus dem Kalender und dem Kirchengcbete bekannt. Er galt für unpopulär und hochmüthig. Am nächsten Vormittage nach einem peterhofschen Feste befand sich die kaiserliche Familie im kleinen Lustschloß Mn plai^ii'. Auf dem Plateau vor demselben, au dessen Fuß die Mcercswcllcn schlagen, wurde Kaffee scrvirt. Das Publikum stand bis au die Lehne Regierung szcit Nicolaus I. 171 lim diesen Lieblingsplatz Peters I., und die Kaiserin Maria Fe-dorowna so wie der Kaiser Alexander nnterhielten sich freundlich mit mehren Personen, die ihnen in der Menge nah standen, über den Effekt der Illumination am Abend Vorher. Beide Majestäten gingen dann in das Schloß znrück. Gleich darauf wurde das Publikum ganz von diesem Platze in die Gänge des Gartens zurück gedrängt. Der Großfürst Nicolaus trat aus dem Echlosi auf das Plateau, trank eine Tasse Kaffee und blickte einige Minuten über daS Meer hinaus. Ich fragte cincn mir bekannten General, wa-rnm das Publikum so plötzlich entfernt worden sei? nnd erhielt die Antwort: „1« granääno u'aime pas 5 «li« daäuiM äu Ml,!lc." Seine Worte waren leise, allein in der Menge zischelte man mit mißbilligenden Znsätzen dasselbe. Meine Meinung war für den Großfürsten, Andere behaupteten, in dem Bnche »I0 oMcil5 ^nn-ciMm stche, Fürsten müßten sich angaffen lassen. Die Thätigkeit, in welcher sich die beiden jüngern kaiserlichen Brüder in ihren Stellnngcn als Militarc bewegten, gab Veranlassung zu Mißstimmung unter der Garde, ohne deshalb die Großfürsten einer übertriebenen Strengt beschuldigen zu dürfen. Die im russischen Heere eingeführte Disciplin wollte nur nicht mehr zu Ansichten stimmen, welche eine Folge der Zeit und der in ihr stattgefunden«: Begebenheiten waren. Es war vorauszusehen, daß nach hergestelltem Frieden die Trnppcn einen Geist in die Hcimath mitbringen würden, der sie auch Das hatte kennen gelehrt, was zum Westn des Kriegers nicht gehört. Den in ihre Cascrnen zurückgekehrten Garden war an nnd für sich die Disciplin nicht zuwider, von der kein Militär sich lossagt, wohl aber war es ihnen jetzt schwerer, nachdem sie den freien Mann im Felde gesehen hatten, in 172 Rcgicrnngszeit Nic elans I. Dinge und als Dinge sich zu fügen, über die sic einander ftagcn konnten: wozu foll das? Das alte Scmcnofsche Regiment fand des Marschirens und Ezerzirens zu viel, es lehnte sich, müde der Plagereien in der ABCschule der Beine und des Gewehrs, gegen seinen Commandeur auf, den Oberst Schwarz, den es als den Urheber des Plagens betrachtete. Doch ging dies Auflehnen nicht weiter als bis zur Weigerung, sich sogar in der Nacht beunruhigen zu lassen und in den Korridoren der Caserne» zu cxcrzircn. Der Oberst würde seinem Schicksale nicht entgangen sein, wenn er sicli nicht durch erhal> tene schriftliche Befehle hatte rechtfertigen können. Das Regiment wurde aufgelöst, und an den Kaukasus geschickt, um dort den begangenen Fehltritt wieder gut zu machen. „Die russische Armee", sagte der Kaiser, „ist reich genug an Tapfern, um das Regiment ergänzen zu können." Das war gcwisi, nur an den zur Formirung des neuen Gardcregimcnts ausgesuchten Armeeoffizicrm gewahrte man doch den Unterschied von dem Stamm des alten Regiments. Die beiden Großfürsten sandte der Kaiser in das Ausland auf Reisen. Durch sein Martyrerthum hatte das Eemcnofsche Regiment für die übrigen (Barden den Befehl einer größcrn Schonung hervorgebracht. Das war nöthig, denn die Behandlung der Soldaten während ihrer Exercitien auf den Kasernenhöfen war wohl geeignet. Unzufriedenheit zu erregen. Ich bin bei meinen vielen Bekanntschaften unter den Offizieren oft Zeuge gcwcsm, wie die moralische Kraft aus dem Soldaten er/rcirt wurde, und die pedantisch mechanische hinein, um ihn zum Siege sähig zu machen. Hannibal, Cäsar. Friedrich und Napoleon verstanden von dieser Lchrnmhode nicht ein Wort. Ncgieruugszcit Nicolauö I. 173 Die Mißstimmung ill der 6>ardc hatte sich noch nicht verloren, als die Tranerbotschaft ans Taganrog ankam. Der Großfürst Nieo-lans huldigte dein Cäsarewitsch. Militär nnd Civil folgten augenblicklich nud ohne das geringste Tymvtom von Widerwillen, denn die Thronfolge Konstantins war in der Ordnung. Während Nieo? laus die Hlildigung für seinen Bruder befahl, erließ dieser den Befehl in Polen zur Huldigung seines Bruders Nicolaus. In Petersburg erwartete man den ncueu Kaiser ans Warschau, in desseu Namen bereits regiert uud gehorsamt wurde. Statt seiner Person erschien der Courier mit der Entsaguugscrklänmg. Ehe diese zur allgemeinen Keuntniß gebracht wurde, forderte eines Morgens ein Befehl von Civil nnd Militär den Huldigungseid für den Großfürsten Nkolaus. Der Wirrwarr war fertig. „Ich habe Con-stantin geschworen", sagte Jeder, der dem Befehle ohne Verzug Folge leisten sollte. Ich kenne mehre Männer, fern allen Rcroln-tionsideen, die fest entschlossen waren, nicht zu schwören. . Crst nach mitgetheilter Kenntniß von der Thronentsagung fügten sie sich. Die Stunde der allgemeine« Aufregung glaubten die Thcilmh-wer jener auch in die Provinzen verzweigten Verschwörung als ihrem Plane günstig benichen zu müssen. Die jungen Hitzköpse rechneten auf Theilnahme, die sich ans der sich kundgegebenen Mißstimmung nach ihrer Ansicht entwickclu würde, wie anf das Ccntrnm ihrer Angriffsliuie. Dies wich. mit ihm die Flügel Entschlossenheit und Muth, nnd das Feldherrutalmt blieb ganz ans. Am Nachmittage des nuglücklichen Tages war die Niederlage bei dem Zaudern nnd Verschwinden der Anführer der Verschwörung voransznschcn. Am Morgen stand die Sache anders. Die Gardemarine und einige Compagnien des Moskow'schen Regiments waren die Ersten aus dem Platze. Der Verrath war 174 Ncgicrungszcit Nicolaus I. zwar dm Verschworenen vcrangceilt, sie fanden das Palais schon besetzt, als sic mit ihren zum Ausstände gereizten Wenigen in derselben Absicht um eine kurze Frist zu spät ankamen, allein noch entsagten sie dem Muth nicht, denn wahrend sie mit ihrer Partei den Scnatsplcch in Besitz nahmen, standen die auf dem daran stoßenden Isaaksplatzc aufmarschirten Truppen wie schwankendes Rohr, den Wind erwartend, dem sie zu folgen hatten. Selbst dann, als die Spielereien zwischen Bauern und Reiterei begannen, wovon ich schon in der Abtheilung 6 gesprochen habe, war es noch Zeit, die als Gegner aufgestellte Truppemnaffe durch einen ernsten Angriff zum Anschluß zu bewegen. Von der andern Seite bedürfte es eines solchen Angriffs auf die Empörer, wenn der Entschluß auch in ihnen reis gewesen wäre, sich für den neuen Czar zu schlagen. Allen steckte der Cäsarcwitsch im Kopfe. Milorado witsch's Versuch, als Kriegsgouverncur der Residenz die Ruhe herzustellen. scheiterte; ob aber bei vorsichtiger gewählten Worten in seiner Anrede an die Rebellen auf ihn würde geschossen worden sein. ist zu bezweifeln. War diese Demonstration von Seiten der Verschworncn noch nicht deutlich genug, und war es noch nicht Zeit. einen Angriff auf die Hartnäckigkeit zu machen, wenn die Unschlüssigkcit auf der andern Seite sich nicht auf die Unsicherheit in den Truppen basirt hätte? Milorado'witsch umschwebte nicht der heilige Nimbus. daß er wie das den Rebellen entgegengeschickte greise Kirchcnhaupt auf Ehrfurcht vor seiner Person hätte trotzen können, er erschien den Brauseköpfen als einzelner Anhänger der ihnen verhaßten Dynastie, während alles Andere sich noch unschlüssig für dieselbe zeigte. Ich zweifle, daß man je den Ausbrnch einer Verschwörung gc-sehen hat, der sich an offenbarer Albernheit mit diesem russischen Ncgierungszcit Nicolaus I. 173 messen könnte, und jc plan- und hütfloscr cr angelegt war, Vcsto vermessenere Ruchlosigkeit war es, mit Todschlag zu beginnen, wo man gegen Einsatz des Lebens nicht zu erobern wagte, was man wollte. Der Gegenpart konnte wenigstens den Umstand, daß er erst die unschlüssigen Truppen zu festem Gesinnungen für den Czar gewinnen mußte, zu dem Vorwande benutzen, man habe die Langmuth durch gütliche Versuche zuvor erschöpfen wollen. Die Todesangst, welcher die czarische Familie im Palais den ganzen Tag ausgesetzt war, hätte nicht stattfinden können, wenn die Truppen nicht zu unzuverlässig gewesen wären. Nachdem sie zn Gunsten Nikolaus gewonnen waren, nnd man dem Kaiser diese Gewißheit meldete, setzte er sich zn Pferde, und ritt, umgeben von großem Gefolge, in die Allee vor der Admiralität, von deren Erhöhung cr die Rc-bellen übersehen konnte. Kanonen waren bereits gegen sie aufgepflanzt. Es war der letzte entscheidende Moment für die Empörer. Dhnc Entschluß, sich auf das Geschütz zn werfen, und ohne Anführung, stand eine gaffende Maffe und erwartete ihr elendes Loos. Die Schmeichelei sprach.- „der großherzig kühne Imperator bot seine jugendliche Heldcnbrnst den Dolchen und Kugeln der Vcr-, schwörerlcgion dar, lind legte durch diese wahrhaft römische Großthat die ganze Nation der Russen huldigend sich zu Füßen." Der Kaiser besitzt eine Eharaktertugend, an welcher jeder Vorwurf, jede Verdächtigung von Zaghaftigkeit scheitern würde. Energie in seinem ganzen Wesen, und es ist widerlich, wenn die fadc Höfcrei ihre welken und vcrschrumpftcn Blätter in einen frischen Lorbccrkranz windet, um jene Energie zu heben. So wenig wie ein General cin Htld ist, der hinter den Reihen der gemeinen Soldaten nicht wehr thut und wagt als jede Brust dieser Reihen, eben so wenig 176 Negier unweit Nicel.nio I. war es eine Helden- lind wahrhaft römische Großthat, als der Kaiser hinter Kanonen und von weit überlegener Macht umgeben, nicht mehr wagte, als Tausende von Zuschauern nur von Neugicrde getrieben, wahrend er zur Sicherung seines Throns erschienen war. Dolche gab es gar nicht, die (bewehre der Soldaten ans rebellischer Seite waren leer, und die Anführer dieser Eompagnien hatten sich bereis, am Erfolge ihres Unternehmens verzweifelnd, verloren. Küchclbcckcr allein raimtc noch wie ein Wahnsinniger mit bloßem Degen bioweilell in die Galcerenstraßc mit dem Geschrei: „Hurrah Constituzie!" das kein Echo mehr fand. Zwci Mann der Lcibdragoner ritten am Eingänge der Galeeren-straße hin und her. Ich fragte den einen nach einem mir befreundeten Oberst seines Regiments, nnd nachdem er mir Auskunft gc-geben hatte, drängte ich unch durch die Menge, als am Ende der Straße ein Flintenschuß fiel. Ich nahm dies für ein Signal, denn etwas mußte vor Einbruch der Nacht entschieden werden, da der Tag sich der Dämmerung nahte. Die Vorsicht rieth mir, den Platz zu verlassen. Ich war in der Galeerenstraßc kaum einige Schritte gegangen, alo ein Kanonenschuß von der Admiralität her krachte. .An dem Pfeifen der Kugeln gegen den Senat zu erkannte ich Kartätschen. Ich wollte in das Haus der Wohnung des Leibarztes Stofregcn, als ich es verschlossen faud. Ich drückte micb also an die Hauspforte hinter die vorragende Mauer. Einige Soldaten lehnten sich wieder an mich. und eben hatte sich die Reihe längs der Pforte geschlossen, als ein zweiter Schuß seine Ladung in die Galeerenstraße warf. Zwei Soldateil und ein Bauer stürzten todt zu meinen Füßen auf dem Trottoir nieder, zwei andere mitten auf der Straße. Die augenblickliche Flucht der Rebellen fand nur drei enge Auswege, auf die geftorue Newa, auf die Manege zu, uuv Negierungszeit Nicolaus I. 177 in die schmale Galecrenstraßc. Das Gedränge hinderte die Scbnel' ligkeit der Flucht. Jeder Schuß streckte eine Menge zu Bodcn. Die Kanonen hatten gleich bei den ersten Schüssen den Senatsplatz leer gefegt; nur die Todten waren geblieben. Der Opfer schienen noch nicht genng, elfmal wurde der stiebenden Masse nachgeschossen. Bis in das dritte Stockwerk der Häuser am Scnatsplatzc flogen die Kugeln, und in der Galeercnstrasie war keine Dachröhre, die an den Häusern herunter laufen, nndurchlöchert. Einen halben Zoll durfte die Mauer, hinter die ich mich gestellt hatte, dünner sein, und cinc Kugel wäre durch meinen Kopf geflogen. So zeigte sich's an der Mauer und Röhre. Einer merkwürdigen Wirkung einer Kugel will ich nur erwähnen. Eie fing sich in dem Mantel eines Civilisten, drehte ihn wie einen Kreisel rasch mehrmals hernm, und warf ihn zur Erde. Ich hielt ihn für todt, als er aufstand und unversehrt davoneilte. Sobald die Kanonen schwiegen, sprang ich aus meiner Schutz-ivchr über mehre Leichen, bis ich bei Bekannten das Ende des Tumults abwarten konnte. Die flüchtigen Soldaten warfen die Gewehre von sich, die Verschworncn waren verschwunden. Mit einem Freunde ging ich über den Schlachtplah. An den Häusern, welche die Front den Kanonen boten, klebten Gehirn, Hirnsckialen und Blut.. Ein sehr großer, im Bau noch unvollendeter Keller des Eckhausts am Krukowkanal war mit Todten gefüllt. Die Gardcregimcnter bivouaquirtcn an diesem Kanal, in der Ga-lccrenstraße, und auf dein Isaaksplatze. Man war nicht in Petersburg, man war in einem Lager, bereit gegen den Feind auszurücken. An manchen Wachftucrn blieb ich bei bekannten Offizieren stehen. ^6 fthlte noch viel, um behaupten zu können, aus der Stimmung ber Soldaten sei auf Verlast für die neue Ordnung der Dinge zu Rußland, II!. 42 578 Ncgicrungszcit Nicolaus I. Mießcn gewesen. Die Menge erschossener Brüder, die sie selbst hatten wegräumen helfen, brachte noch Aeußerungen hervor, vor welchen die Offiziere am klügsten die Ohren verschlossen. Am Morgen zogen die Einwohner Petersburgs an den Brand-stecken der Wachfcuer hin, und besahen die Wirkung der Kartätschen an den Häusern. Die Leichen in jenem Keller waren in der Nacht weggebracht, die Blutflecke an den Häusern waren schon überstrichen, und an den zerschossenen Fenstern arbeiteten emsig die Glaser. Die Newa hatte die Leichen aufgenommen, welche durch ein Loch in der Eisdecke hineingestürzt worden waren. In wenig Stunden waren alle Spuren von Kugeln verwischt, nur die Regcnröhren präsentirten langer ihre von Kartätschen gebohrten Locher. Das Miloradowitsch gebrachte Opfer war groß und entsetzlich. Jeder Schuß vernichtete Menschenleben. Die Kugeln wirkten mit einer Kraft, daß zwei Handwerker weit unten in der langen Ga-lccrenstraße. wo die Kugeln schon matt waren, stark verwundet wurden. Wieviel Menschenleben an diesem Tage geopfert waren, hat Niemand erfahren. Die Polizei, statt bei dergleichen Ereignissen zu warnen und auf Ordnung zu halten, läßt sich immer erst nach vollendetem Unglück blicken, um dessen Größe und die Wahrheit zu verdecken. Von Stund an füllte sich die Festung mit Gefangenen. An jedem Tage wurden von nah und von fern Mitglieder der Verschwö' rung und Verdächtige eingebracht. Das Urthel wurde im Senat von einer dazu ernannten Commission gefällt. War damit der Stamm der Verschwörung mit der Wurzel gerodet? Wer bätte eö für die Ruhe der kaiserlichen Familie nicht gewünscht! Schößlinge zeigten sich auch nach der Zeit. Rcgicrnngszcit Nikolaus I. 179 Gespenster von Conspiratiouen spukten schon früher. Schon vor 1820 war man einer Verschwörung auf der Spur. die sich jedoch von der fünf Jahre später zum Außbruch gekommenen in der Tcn-dcnz unterschied, jene beabsichtigte blos einen Dynasticnwcchscl, diese die Aenderung der Verfassung. Fürst Tscherbatow, mehre Obersten und eine Menge anderer Theilnehmer an der Verschwörung wurden damals nach Sibirien verbannt.' Eben so wie damals hatte 1825 die geheime Polizei Kenntniß von der Existenz eines Vundcs. Ein Buchdrucker, welcher die Ver-fch-wöruna, ahnen konnte, und von dem man Verrath fürchtete, wurde ermordet gefunden und kein Thäter entdeckt. Das geheime Bureau war aufmerksam genug, blieb aber im Dunkeln trotz alles Spürens. In verschiedenen Gouvernements waren die Bancrn durch die schleichende Hyder der Verschwörung zum Ausstände gereizt und in der ersten und zweiten Armee gaben Bewegungen der Theilnahme sich kund. So nichtssagend war die Conspiration nicht, daß man sie verächtlich als ein Hirngespinnst und Machwerk einiger betrunkener Offiziere und Soldaten darstellte. War sie dies wirklich, so mußte auch die That als in der Trunkenheit und ebne Besinnung begangen beurtheilt und bestraft werden. Wer hätte glauben können, daß mit den 5 am Galgen Gestorbenen und mit den Verbannten nach Sibirien der Hyder der Kopf abgeschlagen gewesen wäre, hätte sich als Iwn «nl»,n in Schlummer singen lassen. Unter den Verschworenen gab es sehr helle Köpfe, die, als sie ihr Schiff gescheitert sahen, edel genug dachten, auf dessen Trümmer Die nicht zu laden, die sie im Hintergründe wußten, oder wenn auch nur ahmten. L«8lu5el»6l und Andere waren Männer untadcl- 12» 180 Ncgicrungözeit Nicolaus I. hafter Führung im Leben, die über die That hinauszudenken ver-mochten, und getäuscht in ihrem Vertrauen auf Beistand von vollwichtigeren Personen, wie sie selbst waren, verließ sie der Muth an dem Tage, wo der Ehrgeiz, eine Rotte für das Beste ihres Vaterlandes zn spielen, sie zum voreiligen Handeln antrieb. ,,Jetzt heißen wir Verbrecher, sagte Bcstuschef im Verhör, wäre unsere That gelungen, so hätte man sie zu einer Tugend gestempelt; die Schmeichelei wird nun Nicolai Pawlowitsch den Großen nennen, und wenn er sogar zum Tyrannen für sein Volk wurde." In den Akten, welche dcm Senat zur Aburthclung vorgelegt wurden, wird man Vieles vergeblich suchen, was in den Verhören gesagt worden ist. Im tiefsten Unglück haben sich fast alle der Ver^ schworencn männlich benommen. Die fünf zum Strange Verur-theilten blieben auch im Angesicht des Todes fest. Mit Entschlossenheit stiegen sie sämmtlich auf die Bank, ließen sich die lange Mütze über das Gesicht ziehen, und ohne Zittern die Schlinge um den Hals legen. Als lie Bank unter ihren Füßen weggestoßen wurde, fiel der eine wieder herunter, und rief dem Henker zu: versteht man in Rußland nicht einmal zu henken? Wenigen war die Hinrichtung am Abend vorher bekannt, das Publikum erfuhr sie durch Hörensagen, nachdem das Urthel um 4 Uhr der Frühe m einer Schanze der Festung vollzogen worden war. Still schlug dcr Russe bei der Nachricht das Kreuz auf Brust und Stirn. An eine Todesstrafe glaubte man selbst dann noch nicht, als dcr Senat das Todcsurthcil ausgesprochen hatte. Man erwartete ihre Verwandlung in das sibirische Elend. Man stützte diese Meinung aus das schon gebrachte entsetzlich blutige Sühnopfer am Tage der Thronbesteigung. Man meinte, der Kaiser werde bei der Unterschrift des ersten ihm zur Bestätigung vorgelegten Todes- Ncgicningszcit Nicolaus I. zgt uitheils die Feder nicht in Blut tauchen, er werde besonders als nicht präsumtiver Thronerbe mit einem Akt der Milde beginnen, um ein Volk zn gewinnen, das 25 Jahr an die Humanität seines Herrschers gewöhnt, nnd dem er eigentlich noch völlig entfremdet war. Genug man hoffte auf ein Zeichen der Fortsetzung einer humanen Regierung des Bruders, nicht der Schrcckcnsrcgiernng des Vaters. Auf dieser Seite der Meinungen stand ich ebenfalls, und ich war in scharfer Opposition mit Denen, welche des Großfürsten Strenge im Militär auch auf den Regenten übertrugen. Als ich für gewiß erfuhr, der Kaiser wolle bei dem Gesetz der Todesstrafe für Hochverrath keine Milde eintreten lassen, da blieb mir nur der Wunsch übrig, daß die Vorsehung den strengen, energischen Willen zum Wohlc Rußlands, zur Förderung des schaffenden, wohlthuenden Lichts, zum Schutz der Mcnschenrcchtc. leiten möge, daß die Opfer, die zur Warnung und für den Schreck, den die Verschwörung eingeflößt hatte, noch fallen sollten, als Saamc zum Guten ausgestreut sein mögen, dessen Rußland so sehr bedürfte, und welches nur durch einen energischen Willen durchgeführt werden konnte. Ein ehrenvoller Charakter mit der Willenskraft für unparteiische Gerechtigkeit auf dem Throne war das Höchste und Beste, was vom Himmel Rußland gewährt werden konnte. Nicolaus wählte die Furcht zum Regieren. Die Hinrichtung war die erste Rakete. Nicht alle Familien waren im Stande, ihre dem Unglück verfallenen Verwandten uud Freuude so thciluahmlos aus ihren Herzen zu entlassen, wie Andere, die sich von Hofgunst umfächelt sahen, und darin fester gestellt werden wollten. O Gott! ja, wem ein Herz des Mitgefühls in die Brust gelegt war, dem wurde es eisig 182 Ncgicrungszcit Nicolaus I. im Innern, me wenn schneidender Frost die warme Thräne an der Augmwimpcr zu Eis härtet, wenn er sich. durch That und schnöde Rede überzeugte, daß Hofgunst über jedes menschliche Gefühl siegen konnte. Aufregung der Gemüther konnte nicht ausbleiben. Sie erzeugte Parteien für nnd gegen den neuen Czar. Schars genommen, hatte er durch die Hinrichtung in der öffentlichen Meinung mehr verloren als gewonnen. Es dauerte mehre Jahre hindurch, ehe der Schreck, den der Aufstand am 20. Dezember dem Kaiser und der kaiserlichen Familie verursacht hatte, wenigstens die äußern Spuren verlor. In den Straßen der Residenz durften truppweise Menschen nicht beisammen stehen, und wenn der Polizei die Weisung zugekommen war, daß der Kaiser oder die Kaiserin auöfahren werde, so jagte sie sogar die Armen, welche nach russischer Sitte bei einem Begräbniß gespeist werden, von den Höfen der Häuser, mit der Erklärung, der Kaiser argwöhne Anftuhr, wenn er Menschen beisammen sehe. Außerhalb der Stadt suchten erst Kosackcn die Graben und Seiten des Weges durch, wenn der Kaiser nach Zarskojc Selo oder sonst wohin fuhr. Die Befehle waren dabei so geschärft, daß die Plankler Jedermann auf die nächste Wache liefern mußten, den sie nicht unmittelbar aus der großen Landstraße, sondern auf einem Nebenwege trafen. Etatsrath A. will in eigener Equipage nach Zarskoc fahren. Das Wetter ist schön. Er befiehlt also seinen Leuten ihm zu folgen, und geht einige Zcit zu Fuß voran. Außerhalb der Barriere geht er. nm dem Staube auszuweichen, den Fußweg über eine Aue. Weit ist er nicht gegangen, als zwei Kosacken an ihn heransprengen. Ncgici'lingszcit Nicol^ns I. 183 „Wer bist Du und wohiu willst Du?" „Ich bin ans Petersburg, und will nach Zarskoc." „ Warum gehst Du nicht auf der Straße? Komm mit!" Hier hilft kein Sträuben, die Kosacken bringen ihn auf die Wache. Neugierig zu wissen, was hinter solcher Kaperei stecke, giebt cr sich nicht zn erkennen. Dcr Ossizier, dessen Benehmen cbcn auch nicht zu den feinsten gehört, behält ihn als Arrestant. Nach vielen Erkundigungen erfahren die Domestiken den Aufenthalt ihres Herrn. Die Equipage halt vor dcr Wache. Dcr Diener fragt die Excellenz, ob sie einsteigen werde? „Nein!" antwortet dcr Gefangene, „fahrt nur nach Hause und sagt, daß ich arrctirt sei!" Nun hat dcr Offizier erfahren, wen cr unter die Bajonette genommen habe. Er cntfchulrigt sich mit seiner Ordre, bittet jedoch den Gefangenen, sich seiner Freiheit zu bedienen. „ Gut!" sagt der Etatsrath, „ ich bitte mir das Napportbuch aus, hatten Sie nicht gehört, wer ich bin. so wäre ich dnrch du Straßen für Nichts und wider Nichts trans-portirt worden. Das kann vielen rechtlichen Männern begegnen. Ich messe Ilmen nicht die Sä'uld bei, vielleicht aber wird dcr Befehl geändert, wenn ich einschreibe, was mir geschehen ist; dcnn ich zweifle, daß der Kaiser um die Verordnung weiß/' Dcr bravc Mann schrieb seinen Stand und Namen, und ganz kurz das Er-cigniß ein. Der Befehl blieb, und ward sogar auf die Lagcrzcit ausgedehnt, wenn der Kaiser, überallhin von Militär umgeben, nur über Feld fuhr. Es war ein Beweis, daß dcr Ehcf des kaiserlichen Hauptquartiers von dem völligen Tode der Verschwörung noch nicht überzeugt war. Nicolaus I. verbarg seinen Willen, durch Furcht zu regieren, keineswegcs. Wer seine Gestalt in Wachs bossirt, in der rothen Uniform, mit dem zornigen, stechenden Auge. mit dcr finster dro- 184 NcgicrungZzcit Nicolaus I. hcnden Mime und mit der geballten rechten Faust ansah, fühlte, was dcr Czar wollte. Die Rechte auf ras Gesetzbuch gelegt, hätte ler Figur cine andere Deutung unterlegt. Geschichten, wie z. B., daß ein Fähnrich der neuen Gipsbüste des Kaisers, wclchc ein Italiener herumtrug, öffentlich in der Newöki-Perspective die Nase abgehauen habe, wurden geflissentlich verbreitet, um das Feuer gegen den Monarchen immer in glühenden Kohlen unter der Asche zu erhalten. Man athmete in einer beängstigenden Luft. Eine dem Verrath dienende Legion ging auf Verdienst aus. Tic Spaltungen zwischen dem Kaiser und dessen Bruder Constant in waren kein Geheimniß, und als dieser von Warschau das letzte Mal nach Petersburg kam, um für immer Abschied zu nehmen, gab seine Anwesenheit reichen Stoff zu Unterhaltung. Jeder Schritt, jedes Wort machte die Nunde, besonders da der Käsarewitsch sein Mißbehagen in Petersburg in keine höfische Form verbarg. Der Kaiser führte ihn in mehre Anstalten, z. B. auch in das Apa-nagendepartemcnt. Die Zimmer waren ueu ausgemalt. Die Beamten hatten Beseht, von dem Besuch keine Notiz zu nehmen, und auf ihren Plätzen bei ihren Beschaftigungeu sitzen zu bleiben. Der Casarewitsch ging schweigend hinter dem Czar. Als dieser ihn fragte, wie es ihm gcfallc? antwortete er langgcdehnt: „Ja, die Stuben sind rein! " „Aber", wandte er sich zu einem Tschinownik, ,,Ihr seht ja aus, als ob die Gewissen nicht rein wären/' Constantino' Aufenthalt in Petersburg war auf wenig Tage beschränkt, und die, besonders für Polen, nachtheiligc Haltung der Brüder gegen einander, dauerte bis zum letzten Athemzuge des Cäsarewitsch. Für den Czar war es ein höchst drückendes Verhältniß. DaS Militär suchte er sich durch verschiedene Erleichterungen, unter andern durch Erthcilung einer zwar minder schönen, aber dem Ncgicrnugszcit Nicolaus I. 18o Soldaten weniger lästigen Uniform, gefällig zu machen, und er gab gleich zu erkennen, daß er dasselbe als Stütze und Schwert seiner Regierung betrachte. Das Militär ward ihm, da es sich bevorzugt sah, ergeben. Dennoch athmete er erst mit dem Tode Constantino völlig frei. Denn bei aller sich erworbenen Ergebenheit des Militärs hätte eine einzige Erklärung des Cäsarcwitsch, daß er das Zepter Nußlands in die Hand nchmm wolle, ganz Nußland in Flammen gesetzt, und das Militär ohne Zögern anf seine Seite gezogen. Die Stimmuugcn, so verschieden sie auch in Rußland scheinen mochten, wären alle wie Radien in dem Mittelpunkte für Konstantin zusammengelaufen. Nur der Nichtkenncr jener Verhält-niffe könnte diese Wahrzcit in Zweifel ziehen. Kälter geworden war die Liebe des Cäsarcwitsch für Rußland, allem zu einem Bürger- und Bruderkriege kam der Gedanke nie in seine Seele. Graf Diebitsch wies in seinen Worten an die Polen 1831 auf die Spannung unter den Brüdern hin, „daß die Beleidigungen, an der polnischen Nation begangen, ohne Vorwiffen des Kaisers stattgefnndcn hatten." . Rechtlich Gesinnte sahen in dm ersten Schritten des Czars den kräftigen Willen, die Gerechtigkeit als die Basis alles Regicrens einzusetzen, denn nur dadurch konnte eine Morgenröthe für Rußland anbrechen. Er war selbst überall gegenwärtig. Er besuchte Ministerien, Gerichte, Institute aller Art, nicht angemeldet, sondern unerwartet. Er täuschte deshalb oft seine Hingebung, um nicht hintergaugen zu werden. Die Russen erschraken, die Bestechung verkroch sich. Die Scheintugcndcn. Eifer und Thätigkeit, ließen sich sehen. Man konnte gewiß stin, pünktlich 9 Uhr vom Präsidenten bis zum letzten Schreiber alle Bureaukraten in Uniform mit Manschetten zu treffen. 586 Ncgicrlingszcit Nicclaus I. Indeß faßten die Tschinownikc bald wieder frischen Muth, als sic ergrübcltcn, was der Blick des Kaisers eigentlich beaufsichtige, Reinlichkeit und äußere Ordnung. Ihre Folgerung gründete sich auf die Absetzung oberer Beamten, weil irgend eine Stube nicht rein genug befunden wurde. Als der Kaiser in das Lokal der Ge-schcommission kam, ließ er sich von der Tochter des Chefs, welcher dort seine Wohnung hat, in Abwesenheit des Vaters, in den Zimmern herumführen, und bezeigte ihr seine Zufriedenheit. Er wird der Besuche bald müde wcrdeu, hieß es, in den äußern Einrichtungen mag er nach Belieben ändern; das thut jeder Czar bei seinen: Regierungsantritt, die Verfassung Nußlands wird cr doch nicht ändern, und mit ihr wird auch Alles bestehen, was bisher bestanden hat. Als man gewahr wnrde, der Monarch verlange mehr als das Aeußere, cr beabsichtige auch eine Vernichtnng der innern Ucbel-ständc, öffentlicher Gebrechen und heimlich schleichender Verbrechen, da kam es nur darauf an, ein neues verschanztes Lager zn beziehen, neue Wege nud Verbindungen zn finden, um dem Willen des Guten und Rechten nicht zn erliegen, und die alten von den Ureltem ererbten Laster vom Untergange zn retten. Das ist gelungen, und wird immer gelingen, der Czar möge Bresche schießen wo er wolle. Die Opfer, die der Gerechtigkeit gebracht werden, sind einige Bäume in einer undurchdringlichen Wal' dnng gefällt. Die Bureaukratie war völlig befriedigt und beruhigt, als sich die Seele des Ganzen bei aufgeputztem Körper wieder in ihrer 'Gewöhnlichkeit bewegte. Alle Hoffnungen kleideten sich in frisches Grün. Nicolaus I. bestieg den Thron nicht allein mit der Willens-thätigkcit, die Gerechtigkeit zur Grundlage seiner Regierung zu Ncgieruttgszcit Nicolaus I. 187 machen, sondern auch mit der Tugend der Häuslichkeit, in einem Grade, daß er den Gebildetsten seiner Völker ein herrliches voran-leuchtendes Beispiel zur Nachahmung gab. Die Welt sah zum ersten Male das Glück einer ehelichen Verbindung auf dem russischen Throne. Die Nnsscn hörten nur Gutes aus dem Familienkreise ihres Herrschcrpaarcs. Die Uebereinstimmung der Gesinnungen des Vaters und der tugendhaften Tochter der Königin Marie Louise in Hinsicht auf Erziehung, trng die kostbare Frucht für die Eltern, sich vortrefflicher Kiudcr zu erfreuen. Des Kaisers Auge beaufsichtigte selbst vorzüglich die Erziehung seines ältesten Prinzen, der früh schon große Hcrzensgüte zeigte. Sci-uen Erzieher, Oberst, nachmals General Werder, einen deutschen Offizier des Eadcttcncorps, hatte der Kaiser eben nicht wegen seiner Kenntnisse und geistigen Fähigkeiten, sondern wegen seiner moralischen Führung zu diesem wichtigen Zweck gewählt, und dessen Zögling war ihm herzlich ergeben. Er hatte vom Vater dic Weisung, keine Laune bei der Entwickelung des Charakters aufkommen zu lassen, uud stets die genaueste Rechenschaft über des Sohnes Sinn und Betragen zn geben. Der Vater war streng gegen den Sohn, wenn eine Klage wider ihn laut wurde. Oberst Mer der und der kleine Großfürst reiten einst aus. Letzter achtet nicht auf einige Warnungen des Erziehers, und dieser ertheilt ihm deshalb Verweise. ,,Na, na." versetzt darauf der Thronfolger, indem er auf die Epauletts zeigt, ,,vergiß nur nicht, wer Du bist, und wer ich bin! " Mer der klagte, und der Muth-willc wurde bestraft. Ob aber daö active Theilnchmenlassen an Wirkungskreisen, wovon das Kind noch keine Begriffe haben konnte, z. B. die Ernennung des achtjährigen Großfürsten zum Vorsitzer 188 Negierungszcit Nicolaus I. im Conseil dcr Akademie dcr Künste, einer richtig geleiteten Er« ziehung überhaupt entspricht, darf doch wohl verneint werden. Nicolaus I, fing ferner die Tugend der Sparsamkeit, die in dcr Verwaltung des Reichs völlig unbekannt war, in seiner eigenen Haushaltung au. Gewiß ein sehr wichtiger Schritt zum Bessern, wenn man bedenkt, daß bei dcr Administration eines der größten Höfe von den Unterthanen nicht gefragt werden darf, wie und wozu die beigetticbencn Tribute von demselben verwandt werden. Zur Zeit des Kaisers Alexander herrschte lediglich durch die offenbare Dicbeslust seiner Hofdicncr eine so ungcscheute Vergeudung, daß man in Petersburg durch Hcrumträ'gcr, die von diesen öffentlichen Defraudationen sich nährten, alle möglichen Vietualim kaufen und bestellen konnte, wieviel Pud oder Pfund Kaffee, Zucker, Wachs« oder Talglichte, Käse, Butter, Trüffeln, eingemachte Früchte, Gewürze, Chocoladc, wicvicl und welche Sorten Wcin, Mineralwasser u. s. w. man bedürfte. Die Preise waren billig. Dies und vicl Widerrechtliches legte sich, als das junge Kaiscrpaar aus dem Auitschkowschcn Palais, wo es glückliche Tage verlebt hatte, in den sorgenschweren Wintcrpalast überzog. Vernichten ließ sich allerdings ein Verderben nicht, das durch die wuchernde Wurzel sich fortpflanzt. Durch Amors tolle Wirthschaft waren Uebelstände an den Hof gekommen , die sich nicht wie Verkauf von Kaffee und Zucker weg verbieten ließen, aber auch das Jäten hat vicl geholfen. Ns ward ein Ministerium des Hofes eingerichtet, und der Minister Fürst Wolchonsky hat es meisterlich verstanden, nicht nur in dcr Gunst seines Herrn sich festzusetzen, daß Geschenke von 500,000 Silbtt-rubel an denselben davon deutlich Zeugniß geben, sondern er hat seine Macht auch so gekräftigt, daß, wer auf dcr Leiter dcr Gnaden höher steigen und sich wichtig machen will, dcm Minister seine Hul- Ncgicru ngszcit Nicolaus I. 189 digung zu Füßen legt als dem Förderer russischer Prinzipien im Widerstreite vorzüglich gegen baö deutsche Element. Der Fürst ist Russe, und handelt als solcher consequent. Wenn man aber Deutsche diesen Bestrebungen sich hiubicten siebt, so ist der Blick höchst un» erfreulich, oder mau muß sich damit trösteu. daß dergleichen Stubben in andern Ländern nie zum Triebe eines grünen Reises hatten kommen können, und als Schwämmetragcr nur gedeihen können, wo die Region aller Schwämme ist. Zur Nebertragung der Sparsamkeit auch in die Staatsverwaltung fand der Kaiser emeu Minister vor, der es an Willen und Thätigkeit nicht sehlen ließ. dies Ziel zu erreichen. Der Regent wird sich unter seinen Nationalen vergeblich unisehen, um einen Ersatz für Graf Cancrin zu haben. Viele Männer an der Spitze der RegienmgSverwaltung Alexanders l. waren nicht nach dem Sinne des neucu Czars. Die Entlassung des mächtigen Araklschejef erweckte allgemeine Freude. Dieser ächt asiatische Tyrann war ein Beweis, daß die Absichten des humansten Regenten verfehlt werden, sobald er seine Machtvollkommenheit in Satrapen zersplittern muß, die das Gegentheil von Dem sind. was ein menschenfreundliches Herz vollbracht habcu will. Eine despotische Regierung möge sich stellen und äußern wie sie wolle, eine Favoriten-Herrschaft und Wirthschaft wird sich immer gestalten. Den Beleg liefert die Geschichte, und keine speciell deutlicher, als die des Czarcnhofes. Araklschejcf hatte sich zum Phantom im Militär emporgeschwungen. Willkürlich sclbstherrschcnd. und wiedcrbeherrscht durch eine gemeine Favoritin, schraubte er seine Macht zu Bedrückungen auf eine Höhe, daß die Sehne des Bogens platzen mußte. Die Erklärung des neuen Monarchen, daß er seiner nicht bedürft, und die 190 Ncgicruugszcit Ni colons I. Ermordung seiner Tyrannin von den Erbleutcn, gab ihm zwei empfindliche, Schläge. Dcr Haß verfolgte ihn auf scin prachtvoll eingerichtetes Gut. Die Einrichtung dcr Militärcolonien war scin Wcrk, nnd die Harte dcr Disciplin ward ihm allein noch zur Last gelegt, als stine Macht bereits ihre Wirkung verloren hatte. Diese Härte war der Grund zum Ausstände der Nowgoroder Militärcolo-nisten. Sic suchten ihn anf seiner nicht fernen Bcsitznng. Scin Tod war beschlossen, wenn man ihn gefunden hätte. Dcr Aufstand konnte gefährlich werden, denn die Erbitterung war groß. Grausamkeiten wurden verübt, wie Tigern kanm cigen. Schnell zusammengezogenes Militär brachte die Rasenden weniger zur Besinnung, als es sie in Furcht setzte. General Orlof leistete hier mit seinem imponircnden Aeußcrn gute Dienste, cr stellte die Ruhe her, und nach ihm erschien auch der Kaiser persönlich. Einige Hnndcrte dcr wilden Thicre kamen nach Kronstadt auf die Galeeren. Verössent' licht wnrdc vom Ausstände, dessen Ursach, Schuld und Bestrafung nichts. Ein anderer Nüsse, von dem es Aufsehen erregte, als cr aus der Gunst Nicolaus 1. gesetzt ward, war Icrmolof, dcr Oberbefehlshaber dcr kaukasischen Armee nnd Länder. Auch er sollte, wie es hieß, nach Eigcmnacht geherrscht haben. Wo eö überhaupt Willkür giebt, so zerbröckelt sie sich in eine Menge immer wirksamer Theile. Mißhandlungen jener Völkerschaften waren daher vorzüglich durch russische Beamte eine natürliche Folge. Iermolos hatte nach seiner Einsicht eine von dcr Uniformiruug der russischen Armee abweichende Bekleidung seinen Truppen gegeben, die dem Klima und Terrain anpassender war. Kaiser Alexander billigte dies. und es ist eine Unwahrheit, daß Icrmolof in dieser Hinsicht willkürlich gehandelt habe. Die Ofsiziere seiner Armee, Ncgicruiissszeit Nicolaus I. 1!>t auf Urlaub mtlassm, gingen in ihrer kaukasischen Uniform auch in Petersburg. Schon vor 25 Jahren hatte der hartnäckige Widerstand der Bergvölker gezeigt, daß eine Uutcrjochung in wenig Jahren nicht abzusehen war. Die Occupation dieser Gcbirgöländer kostete Geld und Menschen. Generale und Beamten hatten vortreffliche Ernten, «nd die Menschen mähte Klima, Mangel und beständiger Krieg im Kleinen. Unter allen Obergcneralen. welche zur Bezwingung icncö Länderstrichs abgesandt und schnell genug gewechselt wurden, hatte Icrmolos daö Nöthige am richtigsten erfaßt, und man hat nach seiner Entfernung zu mancher seiner Einrichtungen wieder Zuflucht nehmen müssen, die verworfen worden waren. Kr besaß die Liebe und das Vertrauen seiner Armee, und keiner seiner Nachfolger hat ihm darin gleich gestanden, wieviel auch die Zeitungen davon fabeln. Der Einfall der Perser, überlegen an Macht, bewog ihn, die vorgeschobenen Truppen zurnckznzichen. Auf dem langen Wege vernichtete der Feind alle von den Nüssen seit Jahren' mit großem Kostenaufwande gemachten Anstalten, der verursachte Schaden war bedeutend. Indeß sobald Iermolof die Stärke seiner conccntrirtcn Macht kannte, bot er dem Feinde die Stirn, und er war in dessen Verfolgung begriffen, als er das Commando an Paskewitsch abtreten mußte und von der Armee entfernt wurde. Er lebte seit der Zeit in Rußland still und thcilnahmlos an allen Geschäften. Niemals Wurde ein Versehen oder eine Schuld gegen ihn öffentlich ausgesprochen. Das Gerücht, er habe zu dem Argwohne Anlaß gegeben, es sti seine Absicht gewesen, sich an die Spitze seines Heeres feindlich gegen den Czar zu stellen, war zwar allgemein, aber aus der Luft gegriffen. Daß es auch im Auslande Wurzel gefaßt hatte, bewiesen die falschen Nachrichten in öffentlichen Blättern: Iermolof sei der 192 Regierullgszcit Nicolaus I. Wachsamkeit seiner geheimen Aufsichter entkommen und halte sich im Auslande auf. Bald sollte er in Italien, bald sonst wo sein. Iermolof ist viel zu treuer Russe, Flecken des Vcrraths hat er sich nie zu Schulden kommen lassen, und daß der Kaiser von so man-chcm Wahne gegen ihn zurückkam, bewies er später, daß cr Iermolof sich näher zog. Wer den wahren Grund jener czarischen Ungnade suchen will, braucht sich nur an den Willen Nicolaus I. selbst zn halten. Nichts neben sich zu dulden, was einer Eigenmacht nur in der Ferne ähnlich sieht. So wie es nur einen Mittelpunkt in einem Kreise geben kann, so legt Nicolaus I. unvcrholcn an den Tag, er dulde nicht zwei Mittelpunkte in der um sick) gezogenen Peripherie. Es sei hier bei der Erinnerung an jenen ersten Feldherrn von Ruf im Kaukasus die Frage eingeschaltet. ob der Besitz dieser Gc-birgsländcr der noch immer fortdauernden großen Menschenopfer werth, und für Rußland von solcher Wichtigkeit ist, daß es bei dem Anblick der Haufen Leichname nicht zn schaudern braucht? Das unverwandt an den Bosporus blickende Auge der russischen Politik bedarf keines Commentarö. Was früher in dieser Hinsicht unbeachtet geblieben war, ist es heute uicht mehr. Könige, Parlamente und Völker wissen den Liebesblick zu deuten, und allen rollt sich dabei eine Zukunft auf, die sie unfreundlich anspricht. Was Rußland seit 100 Jahren uncrmüdct, besonders auf Constantino-pel hin, minirt, gesprengt, erschossen, erschießen lassen und verarbeitet hat, darob stutzt die Gegenwart, und kann sich übcr die Schlange, und den von ihr der europäischen Vergangenheit gereichten und verschluckten Apfel nicht genug wundern. Die Jetztzeit fühlt den Gröbs im Halse, und Nußland läßt es an Thätigkeit nicht fehlen, dies Gefühl als unschädlich einzureden. Während cs Europa mit Opiaten versorgt, bahnt es seine Militärstraßen nach Con- Negicrungszeit Nicolaus I. 193 stantinopel theils mit Stein und lautem Hämmern, theils mit seinen heimlichen Ingenieuren. Rußland hat seit der Zeit, daß Boris Go du now das Volk in Sklavenfefseln schlug, mit diesen zweibeinigen Maschinen die größten Eroberungen gemacht. Um das Eroberte zu erhalten, wurden die Maschinen vermehrt, und an sie wird aller Segen des Landes verwandt. Eine der größten Soldatcmnächtc des Erdbodens ist in's Leben gerufen, uicht um unangegriffene, unbedrohte Grenzen zu schützen, nicht um einen Ncichsschatz im Innern zu schirmen, sondern um ein Sklavcnvolk willenlos zu halten, um aus ihm feine Verluste bei Eroberungen zu ergänzen, und jeden Augenblick bereit zu sein, über andere Völker herzufallen. Die Armee ist der zugreifende Arm des Ezars, losgerissen von jedem Ninverständniß mit dem Volke dnrch das beständige Hin- und Hermarschiren. Die Armee will Beschäftigung, und die Regierung von Zeit zu Zeit einen Krieg, um dahin allerlei im Fortschritt der Zeit erzeugte Gedanken und Gelüste wie der Krone ungünstige Gewässer in ein verschlingendes Meer abzuleiten. Irgend ein Winkel der Erde zu solcher Ableitung ist von politischem Nutzen. Die Hauptbrauküche der russischen auswärtigen Politik ist in Byzanz. man sucht sie vergebens wo anders. Im Osten ist Rußland's Unruh, sein stetes Drängen nach vorwärts. Dort ist Arbeit. Dort sind die Montenegriner, Serben. Bosniakcn. Albancsen, Bulgaren, Griechen, die türkischen und südlich hinab die östreichischen Slaven. Von türkischen Cyprcssen zimmerte russische Geschicklichkcit die Wiege für die europäische Schlaflust. Ich wüßte uicht, was mich bewegen könnte. Rußland als eine "ndern Großmächten überlegene, Furcht einflößende Macht darzustellen; ich stelle mich aber auch nicht auf die Seite Derer, welche Nußla„d. III. 13 ltgH Negietliugszcit )ticolaus I. - Rußland für einen in sich modernden Körper halten, ihm wohl gar ein nahes Zerfallen, eine baldige Anflösnng pvophezcihcn. Ich bc-Haupte vielmehr, daß alle diese Propheten Europa irre führen, indem sie ihm Rußland als ciuc kaum des Bcachtcns werthe physische Macht vorführen. Sie erweisen dadurch dcm russischen Cabinet cine Gefälligkeit, von der sie keine Ahnung zu haben scheinen. Sie singen Europa Schlummerlieder vor. Es ist wahr, wie sich die englische Stimme im Athenäum ausdrückt, daß Nußland ein Makel der Gesittung an der Schwelle Guropa's ist. Das innere Leben desselben spricht Zeugniß dafür. Aber unwahr ist, daß der Kaiser ein Alp am Herzen seines Landes sei. Es hat viele Jahre hindurch Mühe gekostet, ehe der gegenwärtige Monarch aus dem Chaos theils von Unordnung, theils von andern schweren Sünden, die ihm mit dem Throne zu Theil wurden, sich aus den lichten Hügel hat durcharbeiten können, um zu sehen, daß das Reich noch Kräfte habe. Die Hof-, Aristokraten-und Bureaukraten. Wirthschaft vor ihm verdiente eher ein Alp genannt zu werden, als Das, was sein Wille zu ordnen strebt, soviel sich unter solchen Umständen ordnen läßt. So wie er für sich selbst keine Verschwendung kennt, so legt er gern den Rubel zurück, den er zum Besten seines Reichs ersparen kann. Es ist kalt, finster, schauerlich, oft scheußlich zum Zittern und zum Zähneknirschcn in seinem Reiche, aber die Idee der Centralisation, sein Werk. hat dcm Selbstherrscher gesagt, wie er die zerstreuten Kräfte zu ihrer Bestimmung zu sammeln, und seiner Macht nähcr Zn bringen habe. Den Zuruf, wach zu sein, wacher denn je. um nicht in Anfechtung zu fallen, darf Europa wahrlich für keinen leeren Klang nehmen. Und wer am wenigsten? Ncgicrungözcit Nic^laus I. H9ll .!' „Sei wach dcn Stimmen deiner Zeit.' " '^n ;!hf-,, Staml'lll zu erobern würde für Rußland als Beherrscher dcs schwarzen Meers keine Angabe sein, die cs nicht zu lösen vermöchte. Allcin cs kommt nicht auf die Eroberung und Wiederheransgabc an, sondern das Streben ist auf die Sicherung des Besitzes dcs einst Eroberten gerichtet. Vorarbeiten zn diesen, Bchnf sind und werden in dcn Ländern betrieben, die als Bollwerke dcs Besitzes zn betrachten sind. Wer würde Griechenland nicht im Vordergrunde finden? Welche Hoffnungen für eine glänzende Zukunft der griechischen Kirche hat Rußland in Griechenland verbreitet? Gerade im Frieden ist Rnß-land für seine slavische Idee am thatigsten. Die Religion geht durch Griechen nnd Wallachen wie ein vereinendes Band. Dic armenische Kirche reicht ihnen die Hand. Im russischen Armenien gehorcht der Patriarch russischen Befehlen, und die armenische Kirche in Constantinopel ist durch russischen Einfluß diesem Kirchmhanptc unterworfen. Die Vereinigung der armenischen und russischen Kirche wird nicht ausbleiben, wenn die russische Politik sehen wird, daß auf ihren Saatfeldern die Saaten grünen^ dcnn daß sie mit Ernst und Gewalt zugreift, hat sie in Grnsien bewiesen. inlem sie dm dortigen Katholiken nur die Wahl zwischen Landesverwcisung uud Anerkennung dcs russisch-griechischen Patriarchen als ihr Kirchen-oberhaupt ließ. Eine griechische Kirche von Polangen über Kalisch Nach Athen und Constantinopel ist die pan« VaroN, über welche der Nllssismus seine weltlichen nnd wcltbcglückenden Gedanken führt. Was wäre natürlicher, als daß ein solcher wohlthuender Gedanke sich auch dcs Protestantismus erbarmte, da russische Schriftsteller, V- F. s.oel.-, Fe5ilwl, denselben für gar keine Religion gehalten wissen sollen, und daß der russische Eifer auch an dies Werk wirklich Hand 43' 196 Ncgierungszcit Nicolaus I. anlegt, davon reden Kurland und Lievland vollkommenes Zeugniß. Nach dem Jahresbericht des Generaldirectors der russischen Kirche vom Jahr 1842 waren überhaupt bereits 28.997 Prosclytm gemacht worden. ZographoS. der Wortführer des russischen Interesse trug in der Nationalversammlung zu Athen darauf an, den künftigen Königen des Landes die griechische Religion zur Bedingung zu machen. Europa hat Gelegenheit gehabt, den gemeinschaftlichen Fleiß der beiden russischen Gesandten in München und Athen zu bewundern, und sich von der wahren Loyalität der russischen Politik zu überzeugen, daß sie in ihrem anfänglichen Unwillen über den zu großen Eifer der beiden Missionäre sich am Ende doch geirrt, und daher eingesehen habe, daß sie nur als gute Patrioten gehandelt hatten. Trenne und herrsche! ist auch ein Haupthcbcl der russischen Politik. Wer war der Schöpfer aller Parteien, die Griechenland an's Leben greifen sollten und griffen? War es nicht Capo d'Istria? Welche Machinationen würde man gefunden haben, wenn der rust fische Admiral Ricord bei der ersten Botschaft von Capo d'Istna'6 Ermordung nicht augenblicklich aus dessen Cabinet einen Ballen Schriften auf dem Admiralschiff den Augen der Welt entzogen hätte! Nnßland thut, was es thut, cs la'dire dies die Fühlfädcn einer höhern Civilisation oder nicht, ungescheut im Angesicht dieser Civilisation, doch immer unter beigefügter Versicherung, nur auf Antrieb derselben zu handeln. Es trägt nicht im geringsten Bedenken, sich despotisch sehen zu lassen, als ob es damit sagen wollte: warm" dürste ich nicht fortschreitend in Despotie sein, wenn Republiken aristokratischer, und Monarchien absoluter werden! Welche Folie eö jedoch seinen Handlungen unterlegen möge, gewiß ist nicht zu übersehen, ob ein Czar in cincr folgerechten Gesinnung ohne Rück« Ncgicruilgözcit Nicolans I. l97^ sichten auf einen Gegenstand losgeht, und auf diesen« Wege seine Lorbeeren verdienen will, oder ob er auf dem Wege der Berücksichtigungen für Humanität seinen Ruhm sucht. Baron Li cv cn erhielt 1844 cm kleines Andenken von l 0.000 Eilberrubcl für seine Wachsamkeit an der Wiege des Slavcnthums durch Schrift und Sprache, und für seine Besorgung des Schlüssels zur europäischen Türkei. Von dieser Seite, hin durch die Moldau und Wallachci, beweisen sich die Nüssen als fleißige Bergleute. Der Angriff in Serbien gilt vorzüglich Oestreich, um vor diesem Hauptfeinde des russischen Drängens nach dem Osten zu, im Rücken gesichert zu sein, und eine Mauer, schon über Ungarn hinaus, gegen das dem Russismus feindlich gesinnte Magyarcuthum zu haben. Die Basis der russischen Operationen von dieser europäischen Seite ist die Donau. Der Besitz ihrer Mündungen war für Rußland von unschätzbarem Werthe, und ein erreichter Hauptpunkt sei-ncr Politik. Diesen Strom cutlang werden ciust die Schlachten um Sklaverei und Freiheit geschlagen werden. Seit 70 Iabren ist die russische Macht um mehr als l00 Meilen Constantinopcl ein näherer Nachbar, und wenn gute Fmmde, welche ihr die Krimm und die Pässe nach Georgien nehmen ließen, länger geschlafen hatten, so gab' es längst in dcr türkischen Hauptstadt russische Wachparadcn, räuchernde Popen und sich bereichernde Tschinownike. Plötzlich sieht sich Nußland von zwei Hagelwolken bedroht, die seine alten Hoffnungen auf glückliche Kinfuhr einer gesegneten Ernte vernichten könnten, Oestreichs ernstes, aufmerksames Gesicht und Polen. Rußlands ganze Macht ist nicht im Stande, eine so lange An-griMnic zu decken, und der Nachc eines gemißhandelten Volkes 198 Rcgieruugszeit Nicol.nis I. zu widerstehen, welches Hülfe von der Nachbarmacht erhielte, die sein Sobieöky, Lubomirsky und Zolkieu>sky mehrmals, aus 6^esahr erretteten. ^ m'lüs^ ?^s'?^ ^^,'tt>^tt!l^, 'M i! Nußland kennt seine Lage. aber es hat viel zu viel Vertrauen auf sein Glück, als deshalb zaghaft zu werden. Wie oft ist es ohne Verdienst und Würdigkeit von,,ftimn.Otückösterni,aus Noth und Aengsten geführt worden! ,'j,li f^ltz >,^>i^ »-.Hniw^'.'') ^' Während es an der Befestigung seiner Opcratiousbasis auf europäischer Seite still fortarbeitet, entwickelt es offen seine Mack't auf der andern Seite in Georgien gegen die Völker in der hohen Gebirgskette des Elborus am schwarzen Meere hin, um nach ihrer Besiegung oder Vernichtung über Arzernm auf der Seite Kleinasiens hin gegen die türkische Hauptstadt und die Türkei überhaupt ftcie Hand zu haben. Diesen tapfern Feind nicht im Rücken seiner zweiten Opcrationslinic zu lassen, bietet daö Czarenrcich Gnt und Leben auf. Ks will sein Eigenthum zwischen dem schwarzen und kaspischen Meere bis an die persische und türkische Grenze ausdehnen. Dieser Landstrich ist die Brücke nach Asien, uud zugleich als l«U« äu zmll«, und t<^« Jahren in meiner Seele auf, ohne daß ich an seine Prophczeihung glauben will: „I.» Ironie lmilÄ par la z>2rl»ito rezzouManco du Gouvernement ru58C au Nrgierungszcit Nicolaus I. 201 delä de l'Ural, los Russes trouveront Lientöt nčcessaire un. desert Ab la cote de la Baltique jusqu' a la mer noire." Gott schützt den schönen Stamm dcr deutschen Eiche! Es war unmöglich zn verhüten, daß dic 1818 aus fteigesinnten Ländern zurückgekehrten Trnppen Ideen mitbrächten, welche nach russischen Negierungsgrundsätzcn im Verzeichnis; dcr Contrebandc standen, und soviel sich mich Nicolaus I. das Militär steundlich gestimmt hatte, so konnte doch im dritten Jahre seiner Regierung eine Gelegenheit nicht unerwünscht sein. bei dcr man manchen Sauerteig loswerden konnte, der zu dem neu zn backenden Brote für untauglich befunden wurde. Fröhlich schwang sich dcr zweiköpfige Adler in dic Höhe und erzählte, daß er die Halbmonde über Stambuls Moscheen gesehen habe. Da galt es wieder einmal der alten Czarcniden. Ein starker Einsatz ward gemacht. Kriegelustig war in Nuropa Niemand. Fortuna winkte dcr Bcllonen immer willfährigen Macht, und im September 1828 erfuhr dcr Sultan, welche Gäste sich bei ihm angemeldet hatten. Das Ziel war so lockend, daß dcr Kaiser persönlich erschien, als Varna belagert wurde, um das Commando zu übernehmen. Auf einem Berge zeigte er sich. umgeben von seiner Suite, den Tapfern in der festen Burg. Sie begrüßten seine Gegenwart mit Kugeln, die ihn bewogen, keinen Augenblick länger die Festung zu besehen. Er reiste nach Petersburg zurück. Seme Aukunft daselbst ward hoch gefeiert. Er kam vom Schauplätze des Kriegs, aus Feindesland, und obgleich es unbekannt geblieben ist. wer dcr Residenz den unbändigen Jubel mitgetheilt hatte, welchen die Moldauer in himmelhohen Frcudcnftuern über die Wonne geäußert haben sollten, die Russen mit Arbusen und Melonen fuderweise bewirthen zu können, 2l>2 Ncgieruugszeit Nicol^nls I. so durfte doch der Nationalgmius nicht schweigen. Er trug dm Czar als Heros und Völkerbeglücker in einem bcsouders dazu gedichteten Theaterstücke „die Freude der Moldauer" huldigend bis über die Fixsterne. Man hat von dergleichen Vergötterung in Europa keinen Begriff. Ueber sie nur einige Worte. ^-M ^^"'ü > Wer eine Zeilang in Rußland gelebt hat, dem werden die Him-melfahrten, die inan mit dem Monarchen anstellt, etwas Alltägliches. Kirche, Schule, Theater, Zeitung, Journal, Kunst, Wissenschaft, Oulanie, singen, reden, tönen und bilden die Apotheose des Czars bei der geringsten Veranlassung. Der Russe zeigt auf denselben, wenn er ihn persönlich, gemalt oder gegipst sieht, mit den Worten: ,,VVot na»e!l schast des Schwerts mit all' ihrem Zauber der Zerstörung, so wie die Oberhand der Geburt haben in Frankreich geendet, wahrend sie in Rußland in voller Macht sich cingefestet haben. In der Erwartung, Europa werde 183N seine Waffen wieder gegen Frankreich kehren, sah sich Rußland getänscht, und noch weniger glanbte es, sie gegen einen andern nähern Feind brauchen zu müssen. Noch waren die Türken erschrocken, die Moldauer entzückt, und die Rnfsen siegestrunken, als am 7. Dezember 1630 die ersten Nachrichten von der 8 Tage früher in Warschan ansgebrochcnen Revolution in Petersburg anlangten. Der Kaiser machte sie auf einem bisher ungebräuchlichen Wege, durch die Wachparade, bekannt. In der Manege sprach er zu seinen Soldaten von der Undankbarkeit der Polen für die dem Königreiche unter russischem Scepter bewiesenen Wohlthaten, er sprach von seinem festen Entschluß, uicht eher zu ruhen, bis der Letzte der Rebellen bestraft sei, und von dem Vertrauen, daß seine Garde ihn nicht verlassen werde. Ein jubelndes, feuriges Hurrah war die Antwort auf die Ncde. Die Soldaten drängten sich um den Kaiser, berührten seine Knie, und die ganze Parade gelobte, mit tausend Frendcn für ihn zu sterben. Der Auftritt wurde von Haus zu Haus erzählt, mit Zusätzen, Abweichungen und Lügen zu einem Schneeball gewälzt, daß am Ende jenes Wahre gar nicht mehr zu erkennen war. Allein von Rußland, III, 14 210 RcgicrnngZzcit Nicolaus I. Großen des Reichs sowohl als von Kleinen der Bureaukratie ward die Scene heftigem Tadel unterworfen. Wozu ist dcr Neichsrath? wozu dcr Senat? fragte man. Ist ihr Auschn und ihre Macht weniger als eine Wachparadc? Hat der Czar mehr Vertrauen zu seinen Soldaten, als zu Denen, die er doch an die Epihc seiner Regierung stellt? Wäre eö nicht angemessener gewesen, wenn er, statt in der Manege, im Reichsrathe erschienen wäre, und da seine Gesuhlt über Undankbarkeit und Wohlthaten ausgeschüttet hatte, als vor einigen Reihen Soldaten, und giebt er sich nicht die Blöße dcr Bangigkeit, als sei der Thron in Gefahr, und als vertraue er nur auf den Schutz der Garde? Dies Raisonnemcnt war am selben Tage und an den folgenden häufig zu hören, und man konnte sich wundern, wie leidenschaftlich cs mitunter von Männern ausgesprochen wurde, bei denen man sonst um ein freimüthiges Urtheil vergeblich hätte betteln können. Dcr aufmerksame Beobachter bemerkte bei allen Ereignissen. die dcr Regierung des Kaisers ungünstig waren, immer noch den Nachhall dcr Mißstimmung am Tage der Thronbesteigung. An dem Abend der Scene in der Exercierbahn kam ich mit einem besternten, in seinen Handlungen rechtlichen, in seinen politischen Gesinnungen aber wechselnden und unzuverlässigen Manue in Gc> settschaft zusammcn, von dem ich wußte, daß er anfaugs dcr Rich« tung gegen den Kaiser folgte, doch nachmals sich gern in einem cxaltirten Benehmen für ihn schcn und höreil ließ. Jetzt drängte sich wieder jene erste Richtung in ihm vor. Er tadelte den Kaiser bitter, weil er wohl überzeugt war, daß in dem kleinen Kreise kein Verrath zu fürchten war. Er vergaß sich sogar in seinem Tom, daß man ihm äußerte: „c!janFo«n5 ll'unti-elicn!" Fünf Minuten wirkte das wohl, das Feuer ließ sich jedoch nicht flugs löschen, und Ncgieruligszcit Nicolaus I. 2it er wandte sich mit der Frage au mich: Sie sind Ausländer, was sagen Sic zn derNcdc des Kaisers in dcr Manege? „Wasil Gre-gorowitsch", cntgcguete ich. „das Sagen hab' ich in Rußland so ziemlich ganz aufgegeben, weil es der einzige Weg ist, durch die dichten Dornenhecken ohne zerrissene Kleider und Haut zu kommen, auf manche Fragen hab' ich indessen noch Antworten." „Geben Sie Wasil Gregorowitsch eine Antwort," ricfman mir zu, „damit er sich beruhigt." „Es ist möglich, fnhr ich also fort, daß der Kaiser gegen die Form gefehlt hat. Dcr König von England würde seine Stimme wahrscheinlich zuerst in dcr edlen Versammlung auf den Wollsäcken, der König dcr Franzosen in dcr Pairskamiucr über Krieg und Em^ pörung erhoben, andere Monarchen mit ihrcn Cabinetsräthen sich berathen haben. Der Kaiser von Rußland hat Parlament und Cabinet in seiner Brust, die sagen ihm. wohin er sich zuerst zu wenden hat, an die blosie Form oder an seine Neberzengnng. Er« fahrungen und geheime Warnungen haben ihn gelehrt, ob er zu Denen, die er nach dcr Verfassung besternt, mehr Vertrauen haben soll, oder zu Denen, die sein Herz für unverfälscht in Gesinnung hält. Es ging dem Kaiser wic Dem. dcm ein Herz voll Liebe im Busen für ein holdcS Mädchen brennt, er will dies Herz aus-schnttcu, und geht nicht zur Mutter zuerst, sondern schnurstracks zur Tochter. Wenn ich heute Kaiser von Nußland gewesen wäre und mit denselben Erfahrungen, die Nicolai Pawlowitsch gemacht hat. ich glaube, ich hätte die Wärme meines Herzens, bei nner neuen Empörung, gerade wic er dahin zuerst getragen, wo wir die reinste Anhänglichkeit unzweideutig erschienen wäre, mit der verletzten Form hätte sich am Ende mein Gewissen auch ausgeglichen. " 14' 212 Ncgiernngszcit Nicolans I. Der Fragcr, wohl fühlend, wohin ich ganz aufrichtig zielte, fragte nicht weiter. Des andern Tags stand in der Petersburger Zeitung die Beschreibung jener Scene mit dem Beifügen: „Die Worte aus der Tieft eines gerührten und mitleidsvollen Vatcrherzms ergriffen unwiderstehlich die Gemüther, die sich mehr als je von heiliger Inbrunst für den gcliebtesten dcr Monarchen durchglüht fühlten." Die Sensation war groß, welche die Depeschen aus Warschau in Petersburg verursachten. Nach Wilna, Preußen, Polm, überall hin flog voran die Schaar der heimlichen Geister. Vielen in der Residenz kam dcr Aufstand in Polen eigentlich nicht unerwartet. Man kannte längst die Unzufriedenheit, die dort herrschte, man konnte auch die Ursachen dazn nicht abläugnen, da man von der Weise, wie der Großfürst ssonstanstin regierte, hinlänglich unterrichtet war. „Das sind die Folgen von der unbeschränkten Herrschaft, die der Cäsarcwitsch übt, dcr Bogen mußte brechen, wie er die Sehne anzog! " sprachen Männer ans des Kaisers Umgebung. Allein diese Herrschaft der Willkür stammte nicht vom regierenden Monarchen her, sondern von dem verstorbenen Czar, der die Launen des Bruders durch keiue Vorschrift zügcltc. und der jetzige Kaiser hat Man' ches auf seine Verantwortlichkeit übernehmen müssen, was sick) bei seinem besten Willen nicht ändern ließ. Die bereits erwähnte Mißstimmung zwischen den Brüdern legte ihm eine gewiß schmerzlich gefühlte Fessel an. Wie viele Rücksichten hatte er, dcr jüngere Bruder, aüf den ungestümen, leicht zu Zorn auflodernden Charakter des ältern zu nehmen, dcr sich auf dcr andern Seite wieder so großmüthig ausgesprochen, und ihm den Thron abgetreten hatte! Was wäre dem Kaiser und seinem Lande schrecklicher gewesen als ein Bruderkrieg, der bei einem gereizten Tem- NcgicruligZzeit Nicolaus I. - 213 peramente des Cäsarcwitsch sich nicht als ganz unmöglich dcnkcn ließ. Aus ditsm trüben Verhältnissen zwischen den Brüdern muß man sich erklären, daß der Kaiser so behutsam ging, nnd den Bruder in der ihm vom verstorbenen Czar verliehenen Eigenmacht anzurühren sich scheute. Wer ihm als Monarchen daraus einen Vorwurf machen will, der werfe in die andere Wagschalc den Wunsch desselben, nicht nur mit Gattin und Kindern das Familienglück zu genießen, sondern auch seine Brüder in diesen Kreis der Liebe zu ziehen. In einem Volke wie die Polen, das seine Nationalität fühlt, konnte das Gefühl der Echam nicht unterdrückt werden, der Knecht eines Volks sein zu sollen, welches unempfindlich für das Unrecht ist, das es duldet, uud das es begeht. Das Bewußtsein der Na» tionalität gründet sich bei den Polen aus ein mächtiges Selbstgefühl, ohne welches überhaupt keine Nationalität möglich ist, und auf diese Nationalität, geehrt vom größten Genius der Zeit, gründete sich wieder der politische Fortschritt, der alle Leidenschaften in Anspruch nahm, je mehr und mehr alle Hoffnungen und die Sehnsucht nach Selbststäudigkcit in Seifenblasen aufgingen. Dem Nüssen ist dies Alles fremd. Scham setzt Denken voraus. Je barbarisch übermüthiger gar die Russen die rohe Gewalt fühlen ließen, desto tiefer biß sich der Haß in die Seelen der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. O es läßt sich mit kaltem Blute leicht schreiben und tadeln, wo und wie man hätte anders handeln sollen! Wo eine feurige Natur ist, da springt sie über kaltes Bedenken und langes Betrachten hinweg, und wenn Das, was dem Herzen zuwider ist, den Hohn bis zum Aufruhr der Verzweiflung treibt, da nimmt der Mensch das Gebiß der Vernunft zwischen die Zähne und geht durch. 214 Ncgicrungszcit Nicolaus I. Wie entsetzlich hat Deutschland über den Druck von Napoleon gejammert und geschrien! Es empörte sich dagegen, und Niemandem ist es in den Sinn gekommen, die Sehnsucht nach Unabhän> gigkcit, die Empörung und den Kampf zu tadeln, während Polen seine Leide» bis auf das Aeußerste trug, wie der Fisch, der lebendig geschuppt, wie der Krebs, der langsam zn Tode gesotten wird. Oder meint Deutschland, seine damaligen Plagen gegen die Leiden Polens, vor oder nach 1839, austauschen zu tonnen, und für seine Klagen mehr Gewicht zu haben? Wer bei Krieg und Hader zuerst zuschlägt, ist nicht immer Ursach und Anfänger. ES lassen sich änßerst wohlfeil unläugbarc Thatsachen zusammenbinden, nach welchen die Polen sonnenklar als die undankbarsten Nebellen erscheinen sollen, die sie nach russischer Erklärung sind. Allein mit eben der Wohlscilhcit ließen sich nach solch logischem Verfahren auch die Deutschen als undankbare, treulose Empörer gegen Napoleon darstellen. Und wer ermunterte sie zum Aufstande mehr als die Russen? L'heureux esL respccle; Le vaimjucur tlevient cher a la posterite, Et les inforliuies sonl cond.'unucs par ellc. Die Leiden Polens sind nicht zn beschreiben. Bruchstücke nur davon liefern alle öffentlichen Blätter, alle von da kommenden Reisenden, und die Befehle, die von Petersburg und Warschau aus ergehen, bestätigen sie vollkommen.--------------- O daß das Vaterherz, welches die Zeitung verkündete, den Unglücklichen in Wahrheit der rettende und versöhnende Engel ge< worden wäre, daß es nicht aufgehört hätte, bei den unsäglichen Leiden, die wie Schaaren von Würgengeln über ein zertretenes Volk schwebten, gerührt zu sein! Die Leiden Polens haben aber nicht mit 1825, nicht mit dem Negieruugszcit Nicolans I. 218 Jahrhundert begonnen, sic gehen water in die Vergangenheit. Wie oft hab' ich den Erzählungen und Schilderungen aus dcm Munde von Personen zugehört, welche in die geheimen Portefeuilles selbst geblickt hatten, aus denen die Loose für Polen gezogen worden waren. Nenn ich bei den russischen Intriguen beginnen wollte, die am Hofe und bei der Entthronung des Königs Stanislaus ihr ge^ wandtcs Roulette gespielt haben, wenn ich die Zauberkünste und die magischen Wirkungen bei der Einleitung und Vrzielung jenes Begebnisses hier wiedergeben sollte, wie sie mir oft, viel und in aller Blöße, von Augen- und Ohrcnzeugcu, von den nächsten Verwandten des damaligen ruffischen Gesandten v. Stackclberg in Warschau und nachmaligen Kammcrherrn des Königs in Petersburg mitgetheilt sind. so würde ich hier das Gemälde von Rußland aus dem Gesichte verlieren, und mich da vertiefen, wo ich jetzt nicht hin-blicken mag. Wer die Geschichte Polens kennt, wird nicht zweifeln, daß die russische und überhaupt die Diplomatie zu allen Zeiten dessen Unglück auf die Schultern genommen hat. Welches andere als ein von Knechtschaft abgestumpftes Volk hätte sich nicht im Innersten verletzt gefühlt, welches rührte sich nicht ge-qcn Tyrannei, wenn ihm der Hohn geboten würde, von dem die polnische Nation zu erzählen hatte! Warnm sollte das Bewußtsein der Völker, welches das Jahr 1789 wie ein Pegasus eine frische Hivpokrene aus dem Fels gehauen hatte, nur in den Polen verdam-menswerth sein! Die Deutschen wurden 1813 gepriesen, die Belgier fanden ihr Recht, Friedrich Wilhelm III. sagte bei der Botschaft der Iuliordonnanzen: „das lassen sich die Franzosen nicht gefallen!" :c. !c. Die Schlangt der Zeit schuppt sich in gewissen Perioden. Die junge Hant, die sie 1830 anlegte, war nichts anders als die Idee, die mit 1813 und 1789 zusammenhing. 216 Negicrungszcit NicolauZ I. Dcr Großfürst Constantiu war Polens eigentlicher Herrscher. Man hatte erwarten sollen, daß cm Prinz, der, fern aller Blödigkeit, Rohheit, Laster und Verbrechen in civilisirtcn Landern zur Schau stellte, der im Angesicht dcr Gesittung der ihm verwandten Königsfamilic alle Lumpen der Gemeinheit zeigte, daß dieser Fürst die Vergangenheit seines Temperaments abgestreift haben würde, als ihm sein humaner kaiserlicher Brüden ein ritterliches Volk anvertraute, und zu dessen Leitung die Zügel ihm allein überließ. Alexander I. würde nicht die Verantwortlichkeit auf sich geladen haben, eine Machtvollkommenheit zu bewilligen, wenn er nicht selbst diese Erwartung von seinem Bruder gehabt hätte. Europa trat in eine neue Zeit. In allen Völkern war das Gefühl dcr Selbstständigkeit wach geworden, und Niemand glaubte einen regierenden Fürsten fähig, dies Hochgefühl mit Füßen zu treten. Diese Erwartung erfüllte dcr Großfürst Constantin nicht. Wenn man über die Widersprüche nachdenkt, die sich in diesem Charakter fanden, so sieht man recht die Zerrissenheit seines Wesens, und dcn Beweis, daß der ärgste Tyrann neben seinen Tollhaus-Idccn und Handlungen Anwandlungen von Herzensgute und vieler Vernunft haben kann. Wie entzückt konnte cr in Petersburg von „seinen" Polen sprechen. Einst geht cr mit einem Adjutanten im Park seines Eigenthums Strelna bei Petersburg spaziren. Er nimmt den Gang am Zaune hin dicht an der Landstraße, und bemerkt jenseits der Straße im Krautgarten an der Poststation ein Weib, welches jätet. Die Arme hat ihren Rock aufgerafft, das Hemde hinten ebenfalls mit. und präsentirt in ihrer Unschuld in tief gebückter Stellung, dcn Vollmond anf zwei Sänlen, von dem man mit Respect nur spricht, dcm Großfürsten zur Anschauung. „Hol' mir cine Flinte mit Äcgicruugözcit Ni col au 3 I. 217 Schrot!" befiehlt cr dem Adjutanten. Er wartet. Das gezogene Fernrohr wird gebracht. Ohne viel zu zielen, trifft cr die Scheibe. Das Weib fällt im Blute nieder. Er schickt zu ihr, läßt sie heilen, läßt ihr cin Häuschen bauen, und versorgt sie lebenslang. Das Weib soll nachmals wiederholt, obwohl vergeblich, znm Scheibenschießen eingeladen haben. Später nun stattete der Großfürst wieder einen Besuch aus Warschan in Strelna ab. Nach Tisch nahm cr zwei Obersten, Lieblinge aus vergangener Zeit. unter die Arme und ging mit ihnen in den Park. „Erinnert ihr Euch, als ich an dieser Stelle meine Flinte an einem alten Weibe probirte, wie weit sie, mit Schrot geladen, tragen könne? Das dürfte ich meinen Polen nicht bieten! Ihr Rnsscn schätzt Euch ja glücklich, wenn man Euch dm Hintern abschießt und dann bezahlt. Ich möchte um keinen Preis wieder zu Euch. Kommt nur zu mir! (!nM«8 Iioaulü« vi Ii^wr^ne l^L-8M'5l^va N0«8)'i8lii<>sso" lehren die Ncgicrungsgcschichtc der russischen Autokraten in der faßlichsten Popularität. Von russischer Seite wurde auf die immer erneuerten Beschwerden Polens, ohne auf Specielles sich einzulassen, im Allgemeinen mit dem Entgegenhalten von Wohlthaten geantwortet, wie man sich bemüht habe. durch Kunst und Wissenschaft das Wohl der pol- 234 Negier llugszcit Nicola us I. nischen Nation zu fördern, und nützliche Kenntnisse zn verbreiten, um durch Kultur das materielle Glück derselben zn heben und zn befestigen. Allein man unterließ anzuführen, daß alle Wohlthaten in ein Nichts zerlauftn, wenn der Gedanke in Fesseln geschmiedet wird, damit der Mensch über seine Zustände im Staate nicht nachdenke. Welch ein Foliant ließe sich schreiben über das pro und contra des polnischen Aufstandes, doch ändern würde es nichts. Noch standen die Heere nicht aneinander; noch war ein neues Marathon der Geschichte nicht übergeben, die Blößen eines Reichs, welches mit einem einzigen Gouvernement das kleine Land des Feindes bedecken konnte, waren noch nicht der Oeffentlichkcit preisgegeben, noch keine Theilnahme für Polen und kein immerfort nachhaltender Haß der Völker gegen Rußland ausgesprochen. Die Diplomatie hat weit schwerere Aufgaben gelöst, als hier eine Versöhnung zu Stande zu bringen. Es wäre für Nnßland schon der Größe wegen, auf der sein Stolz beruht, rühmlicher und bcffcr gewesen, großmüthig die Hand zu reichen, als das Schwert blank zu ziehen mit dem traurigen Erfolge, einem hundertmal kleinern Feinde die eigene Ohnmacht zu zeigen, und sich bei der Politik und bei dem Laster des Verraths für Errettung aus Lebensgefahr bedanken zu müssen. Der Junge auf der Schulbank freut sich heute noch nach mehr als 2000 Jahren über den kleinen Schlcuderer. und will lieber diesen spielen, als den langen, dicken Goliath. Was ließe sich nicht Alles hervorsuchm, was Nußland gethan hat, um einen Nimbus von Fug und Recht um sich zu sammeln, allein der Physiker weiß, daß Paraselene« und Parhelien nur aus Dünsten bestehen, die dem Himmelskörper in einer ihm nicht ge> hörigen Region umgehängt sind. Allerdings, wer seine Schwäche fühlt, und nicht weiß, wie er seine Ansichten gehörig rechtfertigen Nczierungszelt Nicolans I. 2!;a soll, wcil es ihnen am Bestehen im Lichte fehlt, dem können nur Wege lieb sein, die am Hellen nicht vorbeiführen, und wer die Wahrheit nicht als Fahne tragen kann und ihren Gegensatz doch als Recht aufpflanzen will, der nimmt am klügsten zur Gewalt scinc Zuflucht. Unterhandlungen zwischen Petersburg und Warschau waren eingeleitet, aber auf Wegen, die sich mit der Würde eines Kolosses an Macht einem Zwerge als Feind gegenüber nicht vertrugen, besonders da icner stets von sich rühmt, daß seine Hülfsmittel unerschöpflich seien. Nach Petersburg waren gleich nach dem Ausbruch der Revolution aus Warschau einige Polen gekommen, die angemeldet einer wohlgefälligen Aufnahme fich zu erfreuen hatten. Unter ihnen war Fürst Xaver Lubetzky. Chlopitzky hatte indeß die Dictatur iu Warschau angenommen. Die Rolle, die er spielte, bedarf hier keiner Ausführung, sie war jenen nach Petersburg gezogenen Polen nicht fremd. Der Beifall von russischer Seite für dies Spiel ließ hinter die Coulissen schauen, khlopitzky täuschte sich aber in seinen Erwartungen. Auch andere Polen, die an die Schangel russischer Interessen gegangen waren, fanden in ihren Gewissensbissen, Rußland den Sieg über ihr Vaterland erleichtert zu haben, keinen Ersatz. Man hatte sie, wie überall und gewöhn-lich dergleichen Kryptogamien benutzt, aber selbst die nachmals in der öffentlichen Verwaltung Angestellten blieben von argwöhnenden Augen überwacht. Lubctzkys Sohn in Petersburg war von der geheimen Polizei umschwärmt, vor etwa 8 Jahren wegen verdächtiger Reden und Gesellschaft sogar denunzirt, und nah daran, in einem Loche der Festung den Ausgang einer Untersuchung abzuwarten. Und doch war er unschuldig im vollsten Sinne des Worts. Wenn Graf Benkcndorf alle hatte einsperren lassen, welchen der 236 Ncgicrungszcit Nicolaus I. gcldhungrige mystcrieusc Beamtenciftr, Argwohn und Niederträchtigkeit die Ehre anthaten, sie auf der Liste dcr Dcnunciatm prangen zu lassen, so wären die Straßen dcr Residenz verödet, und es hätte an Soldaten gemangelt, die Völkerwanderung aus dem ganzen Reiche nach dem glänzenden Eislande zu begleiten. Groß ist die Zahl Derer, welche durch Angeberei unglücklich wurden und lange Qualen erduldeten, allein ich kann dem Andenken des mächtigen Grafen nicht vorübergehen, ohne seines menschenfreundlichen Gemüths besonders in der schweren Zeit des Jahres 1831 zu erwähnen. Er hat das Uuglück viel gemildert. Unter seiner Inquisitiouswcisc ist es nie vorgekommen, daß polnische Gräfinnen wegen Verraths. an vertrauter Frcuudschaft begangen, zu Hofdamen erhoben worden wären. Die heimlichen Unterhandlungen zwischen Petersburg und Warschau wollten zwar keinen eigentlichen Vlüthcnausatz treiben, allciu fürs Erste hatten sie nur den Zweck, Zeit zu gewinnen, um die Streitkräfte zu sammeln, die erforderlich warm, Europa in Staunen zu setzen, wie Rußland mit einem einzigen Schlage den Willen des Widerstandes zu veruichtcn vermöge. Es konnte sich dabei den Schleier dcr Geduld überwerfen, mit dcr es gezaudert habe, das Schwert zu erheben, um die verstockten Sünder erst zur Erkenntniß und Reue zu bringen. In auswärtigen Schriften fand man den Vonvmf, welch großer Fehler rufsischerscits begangen sei, daß mau nicht gleich mit dcr bedeutenden, in den altpolnischen Provinzen stehenden Militärmacht den noch nicht orgamsirten Ansstand in Warschan erstickt. und erst eine Organisation desselben und Theilnahme dcr polnischen Nation zugelassen habe. Inucrhalb der russischen Grenzen wundert man sich weniger über dergleichen Zögerungen und scheinbare Geduld« Rcgicruilgszcit Nicolaus I. 237 proben. Der Verstand stellt sich auf den richtigen Standpunkt, indem er nicht Alles glaubt, was ihm vorgcpinstlt wird, und indem er dm Grundsatz Nußlands festhält: „mehr scheinen als sein." Mündige wissen, daß Ausdehnung und Zahlenmassen eben so we« nig Macht sind, als daß sich aus Macht anch Würde folgern läßt. Wenn man das nicht volle 30,000 Mann starke Militär der Polen mit der Militärmacht der Russen 1830 vergleicht, so fällt unwillkürlich Xerxes I. Heer ein, das gegen ein Haustein Griechen über den Hellespont zog. Die ganze russische Landmacht ist gegenwärtig in 10 Corps getheilt, jedes Corps zu 12 Infantcriercgimentern 5 3000 Manu, 4 Cavallerie - Regimenter, 2 Batterien »rUI^i-^ vown«, und 4 Batterien Fußartillerie. Das crstc Corps bildet die Garde. Die Corps 2. 3. und 4. cantonircn in den polnischen Provinzen Wilna, Mohilew, Kiew nnd Warschau, die Corps 5. nnd 6 in Moskau und dem südlichen Reiche, die Corps 7. 8. 9. im Gow vernemeut Orenburg, im Kaukasus und in Sibirien. Das 10tc bildet die sogenannte innere Wache dnrch das ganze Reich. Das was während Nikolaus I. Negierungszcit vom Auslande, als seiner Herrschaft vorzüglich nützlich, entnommen und sehr nnd mit vielem Erfolge gefördert worden, ist am meisten auf das Militär übertragen. Hier ist viel gethan. Die Intelligenz des Heeres ist nicht gewachsen, aber es ist eine tüchtig drcssirte Masse geworden. Ich beziehe mich nicht anf das grandiose Schauspiel der Paraden und Musterungen vor dem Wintcrpalaste oher hinter Suwa-row's Statne, wie man es heute nur in Petersburg sieht. In der That ein Staunen erregender Anblick! Maucbmal bis 40,000 Mann zusammengedrängt auf einem Quadrat, unbeweglich wie ein-gepflastert, nirgend Spnr einer Lebendigkeit als an den Köpfen der 238 Ncgicrungszcit Nicolaus I. Roffe und den bin und her fliegenden Suiteoffiziercn, dic von dem einzigen an dcr Mitte einer Seite des Quadrats nüt Erdsternen umgebenen Punkte erst Leben in die Versteinerung bringen. Einmal langsam, das zweite Mal im Schnellschritt stampfen die automatischen grünen Puppen ihrem Beherrscher vorbei. Die Cavallcrie tanzt bunt an ihm vorüber, die Chevaliergardc mit silbernem Cuiraß und der goldenen Sonne darauf, die andern Cuiraffiere, die Uhlanm, Husaren, Jäger, Dragoner, Tschcrkesscn, Tataren, Kosaken mit dem Walde von Piken. Die Fuß- und reitende Artillerie, deren Gespanne den Staatswagcn bei hochsürstlichcn Feierlichkeiten als Zierde vorgelegt werden dürfen, raffelt nüt den goldfarbig blitzenden Todcsröhren am scharfen Auge des Gebieters dahin, dem auch dcr kleinste und fernste Fehler nicht entgeht. Auf die Fortschritte in der Garde berufe ich mich nicht, wohl aber auf die in der Armee besonders in den jüngsten zehn Jahren. Die russische Armee stand im Jahr 1830 in den Listen folgender-gestalt stark: Garden ........ ä 0,000 Mann ^ Erste Armee (2. 3. 4. Corps) . 980.000 . Zweite Armee (5. 6. Corps) . 130,000 -Abgesond. Corps (7. 6. 9 Corps) 156,000 -Innere Wache (10. Corps) . . 126.900 - zusammen . 832.000 Mann. Hierzu 60,000 Militaircolonisten und 120,000 Kosaken giebt eine Heercsmacht von mehr als einer Million. Das Hauptquartier dcr ersten Armee unter General v. Sacken war in Mohilcw. Ueber einen Monat seit der Nachricht von dem warschauer Auf- Ncgicningszcit Nicolaus I. 239 ruhr dauerten die Rustungeu gegen dm Feind u,ne pol-t«« ^ dann erst, am 18. Januar erschien der Feldmarschall Diebitsch Sabal-kauski von Petersburg bei der Armce. Er machte den Willen des Kaisers nochmals in einer Proclamation den Polen bekannt, und hierauf erst erwiderte der polnische Reichstag mit der Erklärung der Entsetzung des Czars vom polnischen Throne: „Die so oft wiederholte Verletzung der Freiheiten, die uns durch die Eidschwüre zweier Monarchen verbürgt worden, entbindet jetzt die polnische Nation des Eides der Treue, den sie ihren Souveramcn geleistet, und da der Kaiser Nikolaus aus« drücklich erklärt hat. daß der erste von unö abgefeuerte Schuß die Losung zum Nuin Polens geben würde, so ist uns alle Hoffnung benommen, Genugthuung für so viele Verletzungen zu erhalten, wir können also nur einer großherzigen Verzweiflung Gehör geben. Die polnische Nation erklärt sich zu einem unabhängigen Volke, rcprasentirt durch die beiden Kammern, und die Nation mit dem Rechte bekleidet, die polnische Krone demjenigen zu verleihen, den sie derselben für würdig erachtet, insbesondere Demjenigen, welchen sie für unfähig halten wird. den von ihm zu leistenden Eid zu verletzen, und für fähig, die Na-tionalftcihcit ungeschmälert zu erhalten." Jetzt begann dcr Kampf des Enthusiasmus für Freiheit gegen Knechtschaft, dcr alle Völker mit dcr seligsten Freude im Busen für die Polen erfüllte, die in begeisternden Gesängen sich fortfühlt, und deren Erinnerung heute noch ungeschwächt alle Herzen durchglüht. Die Siege haben doch eine traurige, erbärmliche Farbe, die nichts sind als eine abgelöste Schncclavine, die mit ihrer despotischen Gewalt ein unschuldiges Dorf verschüttet. Dcr Mensch kann vor 240 Regieruugszcit Nicolaus I. ihr erschrecken, c>ber die Theilnahme der Herzen schlägt doch nur dm Erschlagenen. O Nußland, warum kannst Du uie anders iu Deinen Siegen als mit dieser erbärmlichen Farbe gemalt werden! Du giebst heute und lange noch cm und immer dasselbe Gemälde. Sende Deine Siegsberichte unter einem neugeschaffenen Fürsten in alle Länder, wie Deine Sklaven gluthmtbrannt, hurrahrufend sich von den rollenden Steinen der Bergvölker haben zermalmen lassen, Niemand glaubt es, und kaum die neufuudländischen Stockfische. Selbst wenn Du wonnetrunken die Nachricht gäbest, daß Du 100,000 Söhne der Berge vcruichtct. 100,000 Gefangene nach Tiflis geschickt habest, daß die letzten 300.000 Gebirgsbewohner alle Berge illumiuirt hätten vor Seligkeit, Dich anbeten zu dürfen, und daß Du das Alles gegen drei Todte und fünfBlcssirtc vollbracht habest, alle Völker der Erde, die Dich kennen, würden Dich nicht preisen, und die Erdrückten beklagen. Der Hochmuth Rußlands heftete die Augen an die Grenzen Polens, und erwartete mit Nngednld den ersten und letzten Schritt zur Demüthigung der verwegenen Rebellen, die mit der ihnen heilig gelobten, nun durchlöcherten uud zerfetzten Constitution den Russen iu'ö Antlitz blickten. Die Beschreibung der ersten Schritte kam in Petersburg au. Ucberall waren Priester und Beamte an der Spitze von Städtern uud Dorfschaftcn den Russen mit Salz und Brot entgegen gekommen, und die polnischen Truppen bei Annäherung der Moskowiten ohne Schwertstreich gewichen. Das war Wahrheit. Sie wichen, aber auf Befehl, sich in kein Gefecht einzulassen. Der große, die Polen mit Innnortcllcnkränzcn krönende Kampf begann erst im Angesicht ihrer Hauptstadt. Zuerst bei Dobrc. Zwei poluische Regimenter, angeführt von Napoleons Schüler Skrynczky, eröffneten den blutigen Neigen. Es war die Ncgicruugszeit Nicolcius I. 2i1 crste auftretende löwenmüchige Kraft mit der aufopfernden Hinge-bung voll Begeisterung, nnter deren Schirm das polnische Heer bei Praga sich conccntriren sollte, und dies auch über alle Erwartung schön ausführen konnte. 12 Regimenter schickte Graf Diebietsch nach und nach den beiden Unüberwindlichen entgegen. Aber die tapfern Herzen erzitterten nicht, und schlugen sich einen ganzen Tag mit der Ucbermacht herum. In den Reihen der Brüder wurden sie mit glühender Freude empfangen. Nun waren sie fertig, ihre angestammte Tapferkeit mit der 'eingedroschenen des Feindes zn messen. Es folgte die Schlacht bei Grochow und Wawre und 5 Tage daranf auf derselben Stelle vor Praga der blutigste Tag. Diese Schlacht galt Warschau. 36,000 Polen mit 00 Stück Geschütz standen unc»> schrockcn und siegend gegen einen dreimal stärkern Feind mit 250 Kanonen. Varna, Brailow und andere türkische Festungen hatten die russischen Kugeln erst im Jahr vorher zn zerschmettern vermocht, die lebendigen Mauern der Polen konnten sie nicht trennen. Wo fk eine Lücke rissen, sprang augenblicklich der unbezähmbaren Muth in die Spalte. Funken der Freiheit schlugen die Schwerter der wildherzigen Polen. Es war immöglich, hier einen Ucbcrgang über die Weichsel zn erzwingen. An solchen ehernen Festungen konnte ein ganzes noch weit größeres Heer seinen Untergang finden, und der Erfolg wäre doch noch zweifelhaft geblieben. Das polnische Heer lehnte sich an die Hauptstadt mit 130.000 Einwohnern, deren Enthusiasmus beständig bereitwillige Hülfe herbeizog. An andern Punkten ging es nicht anders. Die rnssistbm Generale Kmch und Gcismar waren oberhalb von Warschau aus das NüMud. III. Iß 242 Ncgicrlwgözeit Nicolaus I. linke Wcichsclufer gegangen, von Dembinsky abcr wieder zurückgetrieben worden. Wohl hätte ein Suwarow, tem Äilenschen für Kegel galten, das linke Ufer des Stroms ertrotzt und die Grauet von Praga enmiert. Diebitsch gab den blutige» Plan auf, mit concentrirter Macht den Ucbergang bei Warschau zu erzwingen, da die Weichsel günstigere Stellen dazu bot. ssr zog die Armee zurück, und bewegte sich auf den Punkt zu, den sein Nachfolger im Commando bereits zum Uebergangc vorbereitet vorfand. Gleich nach den ersten Blutströmen unterhandelte der polnische Reichstag durch Skryuezky mit dem Feldmarschall. Dieser schob die Hand der Versöhnung nicht von sich, indem er das in Polen von russischer Seite, doch ohne Wissen dcö Kaisers begangene Unrecht zugab. Allein auch wenn beide Obcrfeldhcrrcn. gleichgesinnt das Blutvergießen zn vermeiden, persönlich zusammengekommen wären, so hätte es zu keiner Ausgleichung geführt, weil das russische Prinzip in seiner Forderung unbicgsam blieb: die Polen sollten sich auf Gnade und Ungnade ergeben, ein Verlangen, dem sich ihr Ehrgefühl ans Leben und Tod cntgegenstemmtc. Die ersten glücklichen Erfolge auf den Feldern der Ehre hatten den Muth der Polen bis znr Verwegenheit geschwellt. Häuflein wagten sich an große Massen. Wer wird Dembiusky auf seinem Zuge aus Kurland nach Warschau mitten durch den feindlichen Kör, per vergessen! „Um euch zu beruhigen," schrieb ein russischer Commandeur aus Preußen an seine Familie in Petersburg. „ eile ich euch zn sagen, daß wir, von den Polen verfolgt, glücklich und ohne den geringsten Verlust an Kanonen, Pferde» oder Menschen auf preußischem Gebiet schon vor 8 Tagen angelangt und in Sicherheit sind." Der Art NcgicruiigZzcit Nicolaus I. 243 Briefe kämm oiele au. Die patriotischen Posaunen, dic Warschau's Wälle wie dic Mauern von Jericho hatten umblasen wollen, froren eiu wie die Tout des Posthornes im Müuchhauscn. Kleinlaut flüsterte die Stimmuug der Triumphatoren iu der Residenz, die freilich iu dcm äußersten Aufgebote aller Streitkraftc Rußlands gegen, den an Zahl so geringen Feind keine Ermuthigung finden konnte. Mußte man doch schon zur Errichtung von Frcicorps schreiten. Daß sich die russische Armee in den altpolnischen Provinzen ausdehnte, und durch ihre rückgängige Bewegung von der Weichsel die Ruhe in diesen großen Ländcrstnchm erhielt, war eine vom russischen Feld-hcrru angewandte Vorsicht, da die Reserve noch nicht organisirt war, der Verlust der Armee durch die Cholera täglich bedeutender wurde, und weil cm Aufstand der Bevölkerung dieser Provinzen im Rücken des Heeres dasselbe in die größte Gefahr brachte, dcr es hättc unterliegen müssen. Neigung zu Empörung gab sich überall kuud. Wenn Wilna nicht gleich anfangs der Damn auf das Auge gedrückt, und dieser Punkt nicht schleunig zum Sammelplatz einer starken Macht gemacht wurde, weun Wilna so wie Warschau energisch hätte han-dclu können, so flog das Feuer des Aufruhrs von dcr Ostsee bis an (Aaliziens Grenze, und Polen hatte Rußland dictirt. wie es behandelt sein wollte. Das Jauchzen aller Völker Europas, dcr sogar fernher über das Meer rauschende Beifall über die Siege dcr Polen, der Zuruf des alten Frcihcitöfürstcn Lafayette: „ich bin euer erster Grenadier!" daS Ueberlaufen dcr Russen zum Feinde und dessen Trophäen, daö war Gift in den Becher, den die hochmüthigc Russia, von allen Seite» gcdemüthigt und ohne den mindesten Anklang ciucr Theilnahme jetzt an die Lippen setzen mußte. Die tvdtlichc Wirkung des Gifts hinderten die Antidota Di- 244 Ncgicruugszcit Nicolaus I. ploiuatie und Verrath. Dieser legte sich die meiste Ehre nach der Schlacht bei Ostrolenka und nach Dicbitsch Tode ein. Gelegener denn jetzt konnte der Tod nicht kommen. Er stopfte jcder Rechtfertigung dcn Mund zn, denn man hatte bereits nach dem Mantel gegriffen, der so große Dienste leistet, und der sogern und gewöhnlich zum Gebrauch hervorgezogen wird, wenn es darauf ankommt, einen Uebelstand zu decken, und einem Nichtnationalcn alle Schuld dafür aufzubürden. Eö ging Diebitsch wie seinem einstigen Chef und Verwandten Barclay de Tolly. Als das hingeworfene Saamcnkom ,,Is-mennik" (Verräther) in dnn Granitboden der Rcchtschaffcnheit des Grafen Diebitsch nicht aufgehen wollte, entblödete man sich nicht, dem Deutschen an der Spitze der activen Armee, der sich durch feine ganze militärische Laufbahn die Achtung und das Vertrauen zweier Kaiser erworben, der seinen Aufschwung auf der Leiter der Ehren seinen Talenten verdankte und die Intelligenz des Heeres leitete, ohne dessen Bemühungen der Schluß des Jahrs 1K12 nicht so frohlockend fnr Rußland hätte sein können, der sich immer untadcb haft bewiesen, dem Reiche zu neuen Bcsitznngen, der Armee zu neuem Ruhm, der Regierung zu ncncn Hoffnungen verholfcn hatte, — ohne Schaam und Scheu das Laster anzndichten, welches unter den Rnssen als Gcwohnhcitö - nnd Nationalnbel desto leichter Glauben fand, — das Laster des Trunks. Man ging in dieser Poesie bis zur Romanze, daß von früh bis spät des Tags ein Samawar (Theemaschine) behufs der Bereitung von Grog gedampft, mit dessen übermäßigem Genuß der Graf schon des Morgens den Anfang gemacht habe. Die ausgestreute Verunglimpfung fand noch mehr Nahrung, als Ncgicruugözcit Nicolaus I. 2!kt laut wurde, daß Graf O rlof von Petersburg in das Hauptquartier gesandt worden, kaiserliche Ungnade auszutheilen. Bald nach dessen Ankunft daselbst starb der Fcldmarschall. Der schnelle Tod mochte auffallend sein, denn nach einem leichten Ucbeb befinden am Abend des 9. Juni befand sich der Graf am folgenden Morgen wieder recht wohl, am Mittag war er todt. Der Tod wurde zuerst sowohl mündlich als in öffentlichen Organen (vid. Pr. St. Z.) als Folge eines Schlagfluffcs erzählt. Nachmals ward diese Todcsart außer Cours gesetzt und in das Todcöbcil drr Cholera verwandelt. Flugs rächte sich jene böswillige Beschuldigung, und kehrte sich scharfschncideud gegen den kaiserlichen Abgesandten, indem diesem die Vergiftung deö Fcldmarfchallö imputirt wurde. Die Beschuldigung ging selbst an den Ohren des Grafen Orlof nicht mit Schonung vorüber. Er nahm sie mit solcher Gleichgültigkeit auf, daß er darüber lachte und scherzend sich öffentlich selbst einen Giftmischer uanute. Der russische Etats-Sawctnik N. Gretsch hat diesen Klcx von der Fama in seiner Widerlegung Custiuc's als Beweismittel zu Gunsten des Grafen Orlof angewandt. Frau Fama schabte also mit ihrem scharfen, spitzen Zahne bald da bald dort eine Schuld zum Vorschein, weil sie sich aus der Sachlage der Dinge nichts Klares hcranszunagcn wußte, und weil der geheimniswolle Mantel, der in Nußland gleich über alle öffentlichen Ereignisse gedeckt wird, immer mehr ahnen läßt als wirklich danmter steckt. Der Verrath spielte von nun an die Hauptrolle. Icnkowsky und Bukowsky, beide für russisches Interesse gewonnen, ließen Rüdiger mit seiner Hecrcsabtheiluug entschlüpfen, wahrend zu gleicher Zeit die große Verschwörung zu Warschau zu Gunsten der M6 Ncgierungszeit Nicolaus I. Nüssen entdeckt wurde, welche zum Zweck hatte, die Truppen Skry^ nczky's abtrünnig zu machen, die polnischen Truppen an: rechten Wcichselnfer durch Vernichtung der Brücke von Warschau abzuschneiden, mit den 12,000 gefangenen Russen Warschau zu überwältigen, und die Stadt dem von Polozk her erwarteten russischen Heere zu übergeben. Mehre Millionen Bestcchnngsgclder wnrdeu bei einem Conditor gefunden. So leichten Kaufs sollte die Bestechung nicht siegen, Spione und Landesvcrräther feierten ihren ^Triumph an Lateruenpfahlen. Der Weichselübergang bei Niszawa war längst beschlossen und vorbereitet, als Paskewitsch, schon vierzehn Tage nach Die-bitsch Tode. durch Preußen bei der Armee anlangte. Fortuna hatte ihm früher das Loos gezogen, die von Icrmolof gegen die Perser und Bergvölker verdienten Lorbeeren aufzulesen. Jetzt rief sie ihn zu einer neuen Ernte, von Dem ihm überlassen, der sie besorgt hatte. Auf diplomatischem Wege war inzwischen so viel errungen, daß der neue Feldherr 18 Tage nach seiner Erscheinung den Nebergang über den Strom ohne Vesorguiß ausführen konnte. Nur auf der diplomatisch bereiteten Basis konnte diese Scitenbcwegung der Rns-sm mit Sicherheit unternommen werden, denn unmittelbar uach dem Uebergange wurden sie von aller Communication mit dem rechten Stromnfer abgeschnitten. Das wichtige Modlin. vom unerschrocken ncn Grafen Ledo cho w sky vertheidigt, beherrschte die nnterc Weich-sel, von da bis an die preußische Grenze wachte der weiße Adler. Er blickte auf das hinterlassene Denkmal des Feindes, das verwüstete Litthauen mit seinen verheerten Dörfern und verbrannten Feldern. Eine neue Proclamation erschien, in welcher die väterlichen Ge- Negicrungszeit Nicolaus I. 247 sinnungcn dcs Kaisers abermals Gnade verkündeten, wenn die rebellische Nation die Waffen wegwerfe, und reuig demüthig unbedingt dieser Gnade sich nnterwerft. Frucht konnte ein so unbestimmt Gnade verheißendes Wort nicht tragen. Polen verlangte nicht Gnade, sondern Recht, und davon war auch in dicscr Proclamation nicht die Rede. Das geforderte Zeichen der Neue konnte nur in Ablegung der Waffen bestehen nnd dadnrch sich knnd geben. Die bis jetzt immer siegreich geführten Waffen nieder zu legen, ohne durch eine Niederlage dazn veranlaßt zu sein, im Angesicht der Beifall rufenden Völker die errungenen Trophäen einem noch durch keinen entscheidenden Sieg ausgezeichneten Feinde kniend um Schonung flehend zu Füßen zu legen, das hatte man Memmen vorschlagen dürfen, aber kcincr Nation, die sich an dem Aufruf ihrer Na-tionalregierung gestählt hatte: „Man sage von nnö nicht, der Mensch verliere in den Fesseln sogar den heißen Wunsch, sie zu brechen. Geben wir dem Kaiser Nikolans nicht das Recht, über uns den Allsspruch zu thun: Nation, zur Sklaverei bist du geboren ! Nicht hoffen, und doch wollen, das macht den Mann! " Nicht einer Nation mußte das Gewchrstrecken befohlen werden, die entschlossen war, lieber und freudiger mit dem blitzenden Schwert in der Hand zu sterben, als ihr tiefgefühltes Necht für eine Chimäre, zu erklären, es wegzuwerfen, um Ketten zu bitten, nnd das Jauchzen der Völker iu Spott und Holm zu verwandeln. Nenc sollte ausgesprochen werden, daß man um Abstellung jahrelanger Mißhandlungen gebeten und Gerechtigkeit in Anspruch genommen, dasi man die Erfüllung gegebener Versprechen erwartet hatte. Die Russen wollten die Entscheidung darüber haben, ob der Reuige aufrichtig weine, ob er unter seine Knie kein Polster ge-legt habe. sondern auf wohlthätigen russischen Hechelzinkcn knie. 248 Ncgicrungszeit Nicolaus I. Die Nusftn behielten sich das Recht vor. Interpreten der reuigen Gewissen zu sein. und die Urschrift dann nach der Erklärungsweise zu lesen, die sie selber empfangen. Konnten die Polen auf der Rückseite der Proclamation mit den väterlichen Gesinnungen und deren Gnaden, selbst bei Vertrauen auf des Kaisers Wort, etwas anders erblicken als eine Wegckarte harter Verfolgungen? Das im Manifest von 1U25 am heiligen Wcihnachtstage ihnen ebenfalls gegebene Versprechen: „Polen, die Institutionen, welche Guch vom Kaiser Alexander garantirt sind. werden aufrecht erhalten werden. " Dies Wort schwebte ihnen auch jetzt vor. Der Kaiser hatte es gewiß damals wie jetzt redlich und wahrhaft gemeint. Allein in welche Hände musite er die Vollziehung legen? Mußte er die Gewährung seiner Gnade jetzt nicht ebenfalls der Willkür Derer überlassen, die seinen Willen nach ihrer Nrkla-nmgsart auslegen? sss ist nun einmal das Loos der Völker unter russischem Scepter, daß wenn dies Scepter GercchtiMtswille heißt, die Diener es nach ihrem Glaubensbekenntnis) firmeln und formeln. Sollte die letzte Proclamation kein leerer Schall sein, kein todtes Prunken mit Herz und Menschenliebe, so mußte es in andere Worte gefaßt sein. in einen Sinn, dem das Ehrgefühl des Feindes vertrauensvoll entgegenkommen konnte. Dies unanzutastcnde Ehrgefühl war die eomUUo 8m« s^,,a non. Daß eS in der That so war uud ist, haben die Polen, nachdem sie Hecrd und Vaterland opfern mußten, und kein Hab und Gut als die gerettete Ehre mit sich nahmen, 1844 bei der Gegenwart des Kaisers in London bewiesen. Sie schlugen die gnädig gereichten 500 Pfd. Sterling aus. Nüssen ist ein solches Handeln allerdings fremd. Gnade ist ihnen das höchste feierliche Nccht. Cm Russe, der sich schon Jahre in England anfhält, der seinen Skla- Ncgierungszcit Nicolaus I. 2ä3 vensinn verlaugnen will, der ihm aber doch bci jeder Phrase seiner Rede cine Nase dreht, äußerte sich gegen mich jüngst auf deutscher Erde: sagen Sie mir, ob die Polen nicht ächte Dnraki (Narren) sind, ein so schönes Geschenk von 500 Pfund anzuschlagen, da sie doch in Noth sind, konnten sie nicht das Geld nehmen und doch denken was sie wollten? — Da steht der Russe! Des Kaisers Wille ist das Gesetz. Achten aber die Diener die Gesetze? Weiß nicht ganz Nußland, wie sie mit ihnen verfahren? War es ein Verbrechen, wenn die Polen in die Auslegung und Ausführung der kaiserlichen Gnade Mißtrauen setzten? Sind doch nicht einmal Verwandte des Kaiserhauses frei von der Exegese der kaiserlichen Diener, die spannende Verhältnisse erzeugen kann. Ich darf nur als öffentlich bekanntes Beispiel au die Entlassung des Herzogs Adam von Würtcmberg aus russischen Militärdiensten erinnern, dem des Kaisers Einwilligung in huldreichen Ausdrücken über 3 Monate vorenthalten ward, wodurch der Kaiser getäuscht und zu einer Acnßcrung von Beungnadigung indmirt wurde. Paskcwitsch. dem. nicht auf russischer. sondern auf deutscher Erde, die höchste bis jetzt einem Feldherrn erwiesene Ehre huldigend zu Füßen gelegt ist, (v!ä. Leipz. illust. g. 1845) „daß sein glänzender Fcldzug auf asiatischer Seite gegen die Türken den Feldzügeu Napoleons und Friedrichs des Großen an die Seite gestellt sei," erschien vor Warschau mit dem Gedanken Wallensteius vor Stral-sund: ich muß es haben, und wenn es mit Ketten an den Himmel gehängt wäre! Am 7. September war die Einnahme von der polnischen Hauptstadt. „Hurrah Warschau!" rapportirte einst Suworow seiner Kaiserin die Erstürmung dieser Stadt. 260 Negicrungszcit Nicolans I. „Hurrah Fcldmarschall Suwarow! " antwortete eben so lakonisch die Monarch in. Ein Oberst Suwarow brachte 1831 die Nachricht von dem Blutbadc. Ein neuer Feldmarschall sticg ans der Wanne. Die Flamme der Freude stieg aus hundert mal hundert Fett-lampen dickdampfend in die Höhe am Abend der Feier in Petersburg, und die Polizei befahl dreimaliges Wiederholen des Anzün-dens, nämlich der Lampen. Feierten die Völker Europa's die Einnahme auch? Oder füllte sie die Nachricht von Warschau's Fall mit Trauer? War sie ein Schreck, ein Todschlag aller Hoffnung, oder eine Prophezeihung russischer Milde? War sie die helleuchtende Sonne für Freiheit und Völkerglück? Das Ziel war erreicht. Im blutigsten Kampfe staud der Heros unbezwingbar. Da ergriff der Verrath die Knebel, und knebelte ihn, bevor die Hülfe durch Romarino's Corps vom jenseitigen Ufer eintraf. Paskewitfch sagte selbst in seinem Bericht an den Kaiser, „daß die Lage der Dinge eine halbe Stunde spater sich anders gestaltet haben würde." Polen hat seine treusten Söhne verloren. Nein! nicht verloren. Sie sind nur von seinem blutenden Herzen geriffen, der Schreck ihrer Thaten ist den Nüssen zum Andenken geblieben. Nußland hat unterdrückt, nicht besiegt. Das bei freien Völkern dann und wann noch wicderhallende Echo: „die Nationalität Polens solle nicht untergehen," kann Rußland nicht mehr schrecken, es ist ihm der am Horizont hin schwach verhallende Donner eines Gewitters, das Vernichtung drohend über seinem Haupte stand. Polen liegt heute der moralischen und politischen Welt als cm keine Ein- Rcgicrungszcit Nicolai,s I. 231 Wendung duldendes Zeugniß von der Schöpfungskrast russischer Herrschaft vor Augen. Sic schlägt bei allen Motiven ihres Handelns die Gebote und Glaubensartikel ihrer Politik aus, denn so wie England seinen merkantilischen Rücksichten folgt, so Rußland ausschließlich seinen politischen. Zufolge dieses politischen Katechismus kann ihm Con-scquenz nicht abgesprochen werden. Es bandelt an der Donall aus demselben Grunde wie am Sunde und an deutscher Grenze, weil es Oestreichs, Preußens, Deutschlands, Schwedens Tchifffahrt und Handel dnrch leichtern Verkehr nicht gehoben sehen, weil es geistige Elemente, die seiner Hcmmkette nach innen und außen zu subtil sind, nicht gefördert wissen will. Eher würde es lästige Verbindlichkeiten übernehmen, als Das begünstigen, was einer nah oder fern nicht in sein Ziel greisenden Macht zum Vortheil gereichen könnte. Sein Seelencapital liegt zu jeder Stunde zum Umsatz bereit, und die Menschen, die es ansmachen, sind zufrieden damit, weil ideales Gut nicht ihr Begehren ist, weil sie die Sehnsucht nach Wiedererlangung unveräußerlicher Menscheilrechte nicht fühlen, die in der Wüste des Despotismus vorloren gegangen sind. In Rußland ist die Geistesentwickelung noch nicht bis an den Gedanken gedrungen, welche Staatsform ihm gegeben ist. Russen lind Russenfreundc haben daher auch Recht, wenn sie behaupten, das russische leibeigene Volk wisse nichts von Umnuth und Unbehagen in Betracht seines Zustandes, es fühle sich sogar glücklich in seiner Lage. Um in den Znstand der Unzufriedenheit, des Mißmuths zu kommen, muß erst das Nachdenken geweckt, der Zustand, in dem man ist, und die Wahrheit erkannt sein, die 282 Ncgicruiigszctt Nicolans I. Seele muß sich wenigstens dahin geschwungen haben, daß auch ein Herr der Verpflichtungen Unterthan sei. Ein Sklavenvolk fühlt nur den Znstand des Wohlseins und der Furcht, jenen, wenn sein Gebieter cm Heinrich IV., diesen, wenn cr ein Iwan der Schreckliche ist, und eine Gesellschaft, deren Glück und dessen Dauer auf bloßes Gntachten von Persönlichkeiten fun-dirt ist, mag sich Versammlung, Stamm, Truppe, Monarchie, Republik und dergleichen nennen, Etaat ist es nun und nimmermehr. Rußland hat bei seiner schraubenförmigen Windung um die erst seit 130 Jahren entdeckte europäische Welt viel Aehnlichkcit mit dem Monde. Es zeigt wie dieser auch nur beständig einerlei Seite, und muß immerwährend auf der Huth sein, daß vorwitzige Astronomen bei seiner Libration nicht dahinter kommen, was auf seiner unsichtbaren Seite passirt. Auf der sichtbaren entwickelt sich phos-phorcözirendes Licht seiner Macht, werden allerlei Phantasmagorien von Staats' und Völkerrecht gezeigt, Schein willfahrig sich dem Allgemeinen zu fügen, Sprache der Mäßigung bei ausgezeichneter Mi« 'nirkunst. Theils aus Herkommen, theils aus dem Gefühl der Nothwendigkeit sich zu verschleiern, zieht Nusiland jede Aufmerksamkeit von seiner Kehrseite ab, weil ihm die Klugheit zu scimm Er< ziehungs- und Regicningssystem die Regel an die Hand gegeben hat: „besser glauben als forschen." In Nußland ezistirt keine öffentliche Meinung, nach einer Natic-nalstimme hat es nicht zn fragen. Aber bcide könnten geweckt werden. Die Summe aller Moral bei ihm ist nndcnkcnder Gehorsam. Aber man könnte aus die schädliche Idee fallen, von der Summe zu snbtrahiren. Das Herrschen ist leicht und erleichtert. Aber man könnte cs erschweren. Man könnte überhaupt zu der Einsicht ge- Rcgiernngszcit Ntcolaus I. 2iiI langen, daß die sichtbare Mondscheibe mehr Schein von Civilisation als wurzelnde Cultur zeige. Wmn nnn Rußland gewahrt, daß an stinc selenischen Ning-und Wallgebirge von außen überHand nehmende Wogen des Miß-trancns schlagen nnd gegen seine Versicherungen nnd Plane murmeln, so handelt es seiner Politik gemäß, wenn es sich abschließt und Alles noch warm zu halten sucht, was durch seine Sperre gedeckt werden kann. In seinem Sinne kann ihm daher auch Niemand abstreiten, daß ihm am Fernhalten des Geistcrreichs wenigstens so lange wie möglich gelegen sein mnß, welches einst vom Westen her an keine Pallisaden nnd Trabanten sich kehren, und doch seinen Einzug halten wird. Es möge überhaupt einem Volte ein Znstand der Freiheit oder einer der Knechtschaft gegeben sein, so lange es sich aus dem gegebenen zn keinem geistigen durcharbeiten kann, bleibt es das, was es ist, wennauch an der Oberfläche geglättet, denn es kennt sein Wesen nicht, will also anch nicht vorwärts, nicht höher. Ein freies, dem die Nichtnng nach außen begrenzt wäre. würde durch das Zurücktreten in sich desto dringender seinen innern Horizout erweitern, bei einem Sklavenvolke hingegen geht die äußere Beschneidnng anch nach innen, hemmend den Fortschritt des Selbstbewußtseins, also gerade Das, was die Politik seiner Herrschaft erzielt. Das charakteristische Merkmal solchen Zustandes ist, daß das individuelle Leben darin an sich keiucn Werth hat, auch keinen Selbst-werth kennt, sondern sich in einem Mittelpnnkte verliert, von dem cs nur so viel weiß, daß c« für ihn zn beten und zu arbeiten hat. In einem solchen Zustande giebt cs vegetabilisches und animalisches sichtbar reges Leben, Leder, Tuch, Stahl, Glas, Zucker, Tempel, Schul- und andere Anstalten, Eisenbahnen, Dämpfer auf 284 NegicrunKszcit Nicolaus I. dem Wasser und auf dem Tische, eine chemische Anlagerung; und doch kein quellendes, lebendig geistiges Dasein, kein angewandtes Leben, es giebt nur Automaten mit Zetteln am Halse: „wir dürfen nicht denken, wir dürfen nicht wollen." Es ist fast unglaublich, daß dergleichen Zustände in Europa noch existiren können. Der Ungläubige gehe nach Rußland. Er lerne dort kennen, ob oder wie eine Wechselwirkung zwischen Staat und Volk Statt finde; höre das laute aber vergebliche Flehen des atomistischen Ganzen; überzeuge sich von der Möglichkeit durchgreifender Hülfe einzeln stehender Menschenfreunde; beobachte, wie sich unter den obwaltenden Verhältnissen das Laster Jahre hindurch entwickeln, wie es reifen, und von Geschlecht zu Geschlecht übergehen kann, bis es vom Schwerte des obersten Richters tödtlich getroffen niedersinkt; er sehe. wie der Haufen von Gesetzen sich mehrt, ob aber die Kenntniß derselben und ihre Verständigung zu oder abnimmt; er schaue auf. wie das Gute in der Kluft zwischen Staat und Volk spurlos versinkt; er prüft das gewordene Sichtbare und — rede aufrichtig bei seiner Wiederkehr.