EIN GEISTESGEGENWÄRTIGER ZEITGENOSSE AM ENDE DER ZEITEN Sichtverengung und Blickstreuung in Christoph Heins längeren Prosatexten Neva Slibar — Rosanda Volk »Ich empfinde den Beruf eines Schriftstellers als den eines Berichterstatters, eines Chronisten. Ich bin ein Schreiber von Chroniken, mit literarischen Mitteln natürlich [...]« (A, 203).1 Dieses Selbstverständnis Christoph Heins, geäußert in einem Interview für das Neue Deutschland vom 2./3.12.1989, enthält mehr als das Bekenntnis zum Historischen, zum Schreiben »über mich und meine Welt« (ebda.) als Leitthemen seines literarischen Wirkens. Es ist eine Poetik in nuce. Im Gegensatz zum Historiker lebt der Chronist nämlich aus der Zeitgenossenschaft mit dem erzählten Geschehen, er befindet sich nach A. C. Danto folglich logisch in derselben Ordnung der Ereignisse, die er beschreibt2. Es fehlt ihm die restrospektiv wertende Sicht des Historikers, in Heins Worten: »Der Berichterstatter hat eigentlich nur etwas mitzuteilen und muß sich weitgehend der moralischen Wertung enthalten« (ebda.). Diese re-duktioaiistische Position bestimmt Heins Realismuskonzept, das keinen Anspruch auf epische Breite, Auktorialität und Beherrschbarkeit stellt, sowie keine konkreten UtopievorsteHungen präsentiert. Weiters bestimmt sie die dominierende Bedeutung des Blickpunkts für die Wirklichkeitskonstruktion von Heins Welten, die Identitätsbildung seiner Figuren sowie die enggeführte Erzählhaltung (Ö, 157). Ablesbar ist sie gleichfalls an einer Motivik, die traditionellerweise Sichtverengung und Selbstbezogenheit zum Ausdruck bringt: Spiegel und blinde Scheiben, Fotoapparate und Kameras, Fotografieren und Sich-Spiegeln signalisieren vom Film inspirierte Schreibverfahren. Dieser (selbst)beschränkenden Position gilt es hier nachzugehen; ausgeklammert werden demnach bewußt aktuell geschichtliche und regional beschränkte, d. h. auf die DDR-eingegrenzte politische Interpretationsmöglichkeiten. 1 Die in Klammern angeführten Abkürzungen und Seitenanzahlen beziehen sich auf die folgenden Werke: Christoph Hein, Der -fremde Freund, Berlin und Weimar 1982 (F), Die fünfte Grundrechenart, Aufsätze und Reden, Frankfurt/Main 1990 (G), Horns Ende, Berlin -und Weimar 1985 (H), Öffentlich arbeiten, Essais und Gespräche, Berlin und Weimar 1987 (Ö), Der Tangospieler, Frankfurt/Main 1989 (T), Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 1984 (I), Dietmar Kamper, Zur Soziologie der Imagination, München/Wien 1986 (K), Susan Sontag, Über die Photographie, Frankfurt/Main 1989 (S). 2 Vgl. A. C. Danto, Erzählung, Erkenntnis und die Philosophie der Geschichte, in: Eberhard Lämmert (Hg.), Erzählforschung, Stuttgart 1982, S. 643—659, S. 654. 77 Irritation als Leser Strategie Die Lektüre der längeren Prosatexte Christoph Heins, der Novelle Der fremde Freund sowie der beiden Romane Horns Ende und Der Tangospieler, ist geprägt von ausnehmender Irritation: Wie sich allmählich herausstellt, hat dies Methode, ist für die Texte konstitutiv und macht den Großteil ihrer Faszination aus. Das Unbehagen an den offensichtlichen Widersprüchen der Texte, die ganz besonders deutlich im Verhalten der Protagonisten zutagetreten, spiegelt sich im Gefühl des Entgleitens beim Versuch, das narrative Vorgehen Heins und den Effekt seiner Prosa auf einen griffigen Nenner zu bringen. Indes signalisieren fragwürdige Prägungen wie »negativ-positive Helden« oder »Nichtidentifikationsiiteratur« (Ö, 161), daß die diskursive Aneignung der Prosa Christoph Heins zunächst um die Hauptfiguren selbst kreist. Heins Erzähler und Protagonisten, denen man mit überkommenen Etikettierungen von »Held« und »Antiheld« nicht beizukommen vermag, sind durch Deformationen und Mängel gekennzeichnet. Sie fungieren — wie in Adornos vielzitiertem Denk-Bild »Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas«3 — als Lupe, durch die die Wirklichkeit in all ihren Verzerrungen Einvisiert und »aufgeblasen«4 wird, um mit sezierander Präzision wiedergegeben zu werden. Die Fähigkeit von Heins Hauptfiguren, illusionslos nüchtern die Weit, die Mitmenschen und sich selbst zu beschreiben, entlarvt sich als Maske, die eine von Defiziten gesprägte Wahrnehmung verbirgt. Der unterlaufene Realismus Nun sind alle drei längeren Prosatexte Heins zunächst, von ihrem Ausgangspunkt her, überlieferten Erzählungsmustern verpflichtet und variieren überkommene literarische Topoi. Motiviert wird das Erzählen primär als Erin-nerungs- und Trauerarbeit, die in der Folge von »Verbrechen« geleistet werden soll: Die 39-jährige Ärztin Claudia möchte an ihren, bei einer Schlägerei umgekommenen Freund Henry denken, als eine Art »sakraler Akt, ich meinte, ihm dies schuldig zu sein« (F, 23). Fünf Bewohner der Kleinstadt Bad Guldenberg fühlen sich genötigt, ihre Erinnerungen an einen Mitbürger, den Historiker und Museumsdirektor Horn auszugraben, der Selbstmord begangen hat. Der Geschichtsassistent Dallow muß im Tangospieler mit den Konsequenzen seines Gefängnisaufenthalts zurechtkommen. Gegeben ist folglich eine typische analytische Situation,5 die neben der Aufklärung und Wahrheitsfindung, so schmerzhaft und problematisch sich diese auch gestalten mag, eine »vernünftige« Verarbeitung und Bewältigung vergangener Konfliktstoffe in ihrer ka-thartischen Verbalisierung verspricht.6 So weit die Erwartungen an die straff, 3 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/Main 1988, S. 57. 4 Hier als Übertragung des englischen Fachtermins für Vergrößerungen »blow up«. 5 Die Ich-Erzähler im Fremden Freund und Horns Ende berichten konsequent retrospektiv und verfügen daher sowohl über das Geschehene wie auch über die Folgen. Diese personale Perspektive hat folglich Ähnlichkeiten mit der auktorialen. Der Tangospieler ist nur zum Teil retrospektiv, da die Er-Form auktoriale Eingriffe ermöglicht. 6 Der fremde Freund läßt sich durchaus als Umkehrung jener autobiographischen und biographischen Texte lesen, die sich durch ihre psychosoziale Funktionen der Lebenshilfe auszeichnen. Sie regen die Leser zu Selbstfindungsprozessen an und 78 mit einem Minimum an Mitteln komponierten Texte, übersichtlich (retrospektiv) erzählt, auch dort, wo assoziative Exkurse integriert werden. Gängige Identifikationsmuster bestimmen durchgehend den Verlauf der Erzählung und folglich den Lesevorgang: In einer pathos- und schmucklosen, zuweilen ins Triviale spielenden Sprache werden bis in die Details »realistische« Alltagsschilderungen dargeboten, die den Beobachtungen und Erfahrungen der Leser entsprechen.7 Die Übereinstimmungen zwischen der Sicht der Figuren und der der Leser steigern sich bis zu jenen Stellen, wo sie zuweilen sarkastisch lautende Reaktionen formulieren, die den äußeren, sentimentalen Formen sozialen Kontakts zuwiderlaufen, etwa Claudias und Dallows kühlablehnendes Verhältnis zu ihren Eltern oder ¡ihre Meinung über ihre Bekannten und Freunde. Weiters stellen die Protagonisten Überlegungen zu ganz verschieden gewichtigen Lebenstätigkeiten an: Der Sinn des Schenkens wird etwa ebenso bezweifelt wie der von Aussprachen, Verwandtenbesuchen und letztendlich des Lebens überhaupt.8 Diese oft verschämten Aha-Erlebnisse des Lesers funktionieren gerade bei der ersten, mimetisch dominierten Lektüre als Fallen, vom Autor geschickt aufgestellt, um den Leser durch anfängliche Zustimmung und Identifikation umso betroffener und irritierter zu machen, sobald er sich, im Fortgang der Lektüre, auf Irrwegen ertappt. Die Potenzierung, die Radikalisierung der mimetischen Darstellung bringt den »konsequenten Realismus« zum Flirren, verkehrt ihn ins Gegenteil, »irrea-lisiert« ihn. In doppeltem Sinne bestätigt sich an Christoph Heins Prosa La-cans Satz »Je tiefer im Imaginären, desto näher am Realen.«9: Zum einen signalisiert bereits der unterkühlte, zuweilen schnodderige Ton, die beschränkte Erzählperspektive, das akzentuierte Understatement, die prononcierte Beiläufigkeit und Unscheinbarkeit der dargestellten Szenen einen der manifesten »realen«, sich eindeutig gebenden Bedeutung zuwiderströmenden Subtext. Zum anderen, je mehr Wirklichkeitsschichten durchbrochen werden, umso näher ist man jenen vorreflexiven und unbewußten, wahrnehmungs- sowie wirklichkeitsprägenden Steuermechanismen, die von Claudia und Dallow, von Krusch-katz ebenso wie von Dr. Spodeck10 verdrägt werden, da sie unkontrollierbar und anarchisch wirken. bestätigen sie in ihrer Identitätssuche, die über die Versprachlichung von Problemen verläuft und sich der Schemata des traditionellen Entwicklungsromans bedient. Die meisten Texte wurden entweder von Autorinnen verfaßt oder von Angehörigen sozialer und ethnischer Minderheiten. Heins Claudia blockt beides schon zu Beginn ab, sie glaubt nicht an diese Art von »Therapie«. In diesem Sinne kann sie als untypisch für die Frauen ihrer Generation gelten. 7 Beispiele dafür wären die Schulerfahrungen Claudias sowie die Darstellung der Hiddenseegemeinde im Tangospieler, vgl. Karin Hirdina, Das Normale der Provinz, neue deutsche literatur 37 (1989), 8 (440), S. 138—143, S. 141. 8 Vgl. F, 30: »Etwas sollte doch passieren: ich lebe, aber wozu. Der ungeheuerliche Witz, daß ich auf der Welt bin, wird doch eine Pointe haben. Also warte ich.« F, 178: Der Zusammenhang zwischen Schenken und Identität geht auf Walter Benjamin zurück. (Vgl. Walter Benjamin, Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften, Leipzig 1984, S. 32). ' Die beiden Begriffe werden hier aus ihrem psychoanalytischen Zusammenhang genommen und in die literaturwissenschaftliche Tradition gestellt, wie sie beispielsweise bei Iser formuliert wird (Triade: Reales-Fiktives-Imaginäres). Iser seinerseits übernimmt das Verständnis des Imaginären von Sartre: vgl. Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre, Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Reinbek bei Hamburg 1971. Vgl. F, 116/117, 179; H, 26/27, 114; T, 23, 35, 63, 121. 79 Hohlform des Textes und Dialogizität Mit einem Rückgriff auf Tschechow bezeichnet Christoph Hein diese mitlaufende, nicht verbalisierte Bedeutungsebene als »Untertext« und betont dabei die Intentionali tat seines Vorgehens: Das war für mich die Spannung dabei, diesen ganzen Untertext eben nicht zu schreiben, sondern in dieser Rollenprosa einen anderen Text darüberzulegen. (Ö, 158) Obwohl sich die Termini manifester und latenter Text aufdrängen, handelt es sich eben nicht um die psychoanalytisch orientierte Rekonstruktion eines unbewußt mitgeschriebenen Subtextes, der an den Bruchstellen an die Textoberfläche gelangt und sich dem manifesten Text querlegt, ihn relativiert oder gar negiert.11 Hein setzt diese Doppelläufigkeit als Vertextumgsverfahren und Lesestrategie ein: Der explizite Text ist als Hohlform verstellbar, die der Leser in seiner subjektiven und dynamischen Konkretisierung mit Sinn füllt, durchaus vergleichbar mit dem Schema-Verständnis Isers: Das Schema bietet sich durch die Kargheit seiner Formulierung als Hohlform, in die das sedimentierte Wissen des Lesers in unterschiedlichem Umfang, aber auch in unterschiedlicher Nuanciertheit einströmen kann. (I, 233) Durch extreme Reduktion der verschiedenen Textaspekte (Sichtverengung, akzentuierte Zwangsläufigkeit des Geschehens,12 sparsamer Einsatz an rhetorischen Figuren,13 Deformationen der Erzählerfiguren sowie der Protagonisten) und durch die Negierung des Mangels, der Defizite,14 werden Leerstellen generiert. Diese ergänzt zwar der Leser, sobald sie jedoch — wie gegen Ende der Texte15 — gehäuft auftreten, können keine eindeutigen Bewertungspositionen zum Geschehen und zu den Figuren sowie ihrem Handeln eingenommen " Iser zitiert Simon O. Lessers Kommunikationsmodell, in dem »der Anstoß zur Kommunikation von maskierten, miteinander sich überkreuzenden, ja vielleicht sogar einander determinierenden Appellen des Textes ausgeht« (I, 79). Vgl. auch Elizabeth Wright, Psychoanalytic Criticism. Theory and Practice, London/New York 1984. 12 Vgl. Ö, 160: »und ich wollte tatsächlich dieses Nötigende, Zwingende, das im Text der Novelle ist, auch in der Form haben.« 13 Im Fremden Freund sind es an Paradoxa anklingende Verkürzungen, die in ihrer aphoristischen Pointierung auktoriale Züge tragen, z. B. S. 31 (Annoncen), 32,68. Im Tangospieler weiten sich die beiden Vergleiche (Eisenbahn, S. 117, verwilde-ter, herrenloser Hund, S. 122) zu kleinen Szenen aus. In Horns Ende ist die Sprache vergleichsweise metaphorisch, vor allem bei Kruschkatz, Dr. Spodeck und Thomas, z. B. S. 27, 31, 32, 42, 48. Vor allem im Fremden Freund und im Tangospieler treten »Kontaminationen von Reflektormodus und Erzählermodus« auf, die Stanzel als typisch für den modernen Roman erachtet. Vgl. Franz Karl Stanzel, Die Opposition Erzähler — Reflektor im erzählerischen Diskurs, in: Lämmert/Erzählforschung, S. 173—184. 14 Beispiel auf der expliziten Textebene: F, 116/117. 15 Die Protagonisten werden unüblicherweise gegen Ende der Texte zu immer unsympathischer, das gilt vorwiegend für Claudia, die sich in Selbstberuhigungsund Selbstbeschwörungsorgien hineinsteigert, und für Dallow (seine Zufriedenheit über die Rückkehr ins »alte Leben«). Der Effekt eines zurückgehaltenen Schreis, eines stummen Schreis wie in Münchs berühmtem Bild, wird erzielt durch die immer hastiger werdenden und zunehmend widersprüchlichen Aussagen Claudias. 80 werden. Es ist die Existenzform der Figuren, nicht die Werkstruktur, die die Erfassungsakte des Lesers spiegelt: Alles, was der »Konsistenzbildung« (Iser) durch habituelle Orientierungen im Wege -steht, wird entweder modifizierend integriert oder ausgeschlossen.16 Gesucht wird »eine Struktur der Bewältigung, die es erlaubt, vom Druck des Unbekannten zu entlasten, um es in der Abgeschlossenheit eines ausbalancierten Systems beherrschbar zu machen« (I, 31). Da die Konstruktion eines eindeutigen Sinnes, zu dem der Leser tendiert, im Laufe der Lektüre zunehmend mißlingt, — denn Christoph Hein gibt nicht vor, klüger zu sein als der Leser und die Antworten auf die geschilderten Probleme zu kennen (ö, 159) —, wird dies in zunehmender Verunsicherung und Spannung zum Ausdruck gebracht. In der ausgelösten Betroffenheit und dem »Sichwehren« der Leser (Ö, 161) hebt sich die Fiktivität, die »Irrealisierung« (Iser) auf, der Text wird und kann mit individuellen, konkreten Lebenserfahrungen kurzgeschlossen werden.17 Die Prosa Christoph Heins ist als Kommunikationsmodell angelegt, ihre »Wirkung entsteht aus der Differenz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten, oder, anders gewendet, aus der Dialektik von Zeigen und Verschweigen« (I, 79). In der Dialogizität18 von Text und Leser wird die Engführung, die der Text (hier bezugnehmend auf den Fremden Freund und den Tangospieler) in seiner strengen, »kompakten«19 Erzählbauweise sowie der moralisch-pädagogischen Zurückhaltung der Autormeinung .ist, überwunden. Komplexer ist die Struktur von Horns Ende: Polyphonie, Redevielfalt (Bachtin) entsteht durch die Neben- und Überordnung der fünf Erzähler-Ich, deren »Erinnerungen« an Horns Aufenthalt in Bad Guldenberg einander eher überkreuzen als ergänzen. Das bewährte Verfahren des Briefromans aus verschiedener Hand, das Choderlos de Lanclos in Les liaisons dangereuses eingeführt hat, wird hier aufgenommen und variiert. Die Ubereinanderschichtung der Erzählungen schafft »eine prinzipiell neue Vorstellung von der Wahrheit: Sie wird nicht mit irgendeiner der im Text unmittelbar ausgedrückten Positionen identifiziert, sondern entsteht [...] als supratextuales Konstrukt, als Schnitt aller Blickpunkte.«20 16 Das Einverleiben oder Isolieren des Anderen, Fremden, ist nach Roland Bar-thes typisch für das Kleinbürgertum, vgl. Roland Bartlies, Mythen des Alltags, Frankfurt/Main 1964, S. 141/142: »Der Kleinbürger ist ein Mensch, der unfähig ist, sich den Andern vorzustellen. Wenn der Andere sich seinen Blicken zeigt, wird der Kleinbürger blind, oder er ignoriert oder leugnet ihn, oder aber er verwandelt ihn in sich selbst«. 17 Darauf verweisen die Leserreaktionen, vor allem im Anschluß an den Fremden Freund, wovon Hein im Interview mit Hans Bender und Agnes Hüfner berichtet, vgl. Ö, 161 ff. 18 Die Texte täuschen einen monologischen Charakter vor, indes sind sie dialogisch, durchaus auch im Sinne Bachtins, in einer der Möglichkeiten von Textdialogi-zität, gebaut; er macht etwa auf jenes doppelte, parallellaufende Erzählen aufmerksam, indem er schreibt: »Hinter der Erzählung des Erzählers lesen wir eine zweite Erzählung — die Erzählung des Autors über dasselbe, wovon der Erzähler erzählt, und außerdem über den Erzähler selbst [...]« (Michail M. Bachtin, Das Wort im Roman, in: ders., Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/Main 1979, S. 154—300, S. 203). " Vgl. Lothar Baier, Funkrezension des Tangospielers, Deutschlandfunk, 10.4. 1989, S.3. Baier spricht von einer »kompakt entworfene[n] Erzählbauweise des Romans«. 20 Jurij M. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt/Main 1973, S. 404. 6 Acta Technik der Kamerafahrt und Übermacht der Bilder Die dominierende Bedeutung des Blickpunkts für die Wirklichkeitskonstitution von Heins Welten sowie die Identitätsbildung seiner Figuren ist ablesbar an der Thematisierung der Motive Spiegel und blinde Scheiben, Fotoapparate und Kameras, Fotografieren und Sich-Spiegeln. Ganz zu Beginn -des Fremden Freundes, in der Beschreibung des Traums heißt es, die Brücke über dem Abgrund käme näher »fast wie eine Kamerafahrt« (F, 5). Und dieser Eindruck des Filmscriptartigen läßt sich bis in die Rezensionen des Tangospielers verfolgen: »Satz wird an Satz gereiht wie Filmsequenz an Filmsequenz,« meint Karin Hirdina.21 Lothar Baier spricht von nachflimmernden Szenen und Manfred Jäger sieht im Roman, dessen Fabelaufbau und Dialogführung er ebenso meisterhaft wie unprätentiös findet, zusätzlich eine Filmvorlage.22 Dallow ist es auch, der die Welt, das Leben, scherzhaft mit einem Lichtspiel vergleicht: Alle Existenz ist an das Licht gebunden und existiert insofern nicht wirklich. Ist nur [...] ein Phänomen der Optik, wie das Kino (I, 96). Die Prädominanz des Visuellen und Blickerzeugten der »modernen« Zivilisation im Industriezeitalter ist spätestens seit der Überflutung durch kontinuierlich bildergenerierende Medien zum locus communis abgesunken. »Wenn unsere Epoche Bilder den wirklichen Dingen vorzieht, so nicht aus Perversität,« meint Susan Sontag und fügt hinzu: »Die Bevorzugung des Bildes ist vielmehr zu einem guten Teil als Reaktion zu verstehen auf die zunehmende Komplizierung und Aushöhlung des Wirklichkeitsbegriffs« (S, 153). In ihren Essays Über die Photographie, die sich wie ein Kompendium zu Heins Prosa lesen, verweist sie auf die Verdrängung der realen Welt durch eine »Bilderwelt«, die Bilder machten die Realität zum Schatten (S, 172). Nicht nur neigen wir dazu »den realen Gegenständen die Qualitäten eines Bildes zuzuschreiben« (S, 151), sondern wir nehmen die Wirklichkeit mehr und mehr als etwas wahr, »was uns die Kameras zeigen« (S, 154), wobei wir das in die Formulierung zwängen, »alles sei /wie ein Film' gewesen« (ebda.). Distanzaufbau23, um das Unerträgliche erträglich zu machen, ist die Basisfunktion visueller Weltaneignung. Von der Kamera, gleichgültig ob des Fotooder Filmapparats, wird jene Aufgabe der Ästhetisierung der Wirklichkeit 21 Hirdina, S. 141. 22 Baier, S. 2; Manfred Jäger, Dallow ist bockig, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 24.3.1989. 23 Das Einnehmen oder Einhalten von Distanz wird im Fremden Freund an mehreren Stellen thematisiert. Allein der Titel bezieht sich darauf, zudem heißt es auf Seite 38: »Zu Hause küßte er mich, und ich sagte, daß er mir sehr fremd sei [...] Etwas war mir unbegreiflich an ihm, das spürte ich, und ich wußte, diese Distanz würde bleiben. [...] Unsere Distanz gab unserem Verhältnis eine spröde und mir angenehme Vertraulichkeit.« Und dann nochmals, als Credo Claudias auf Seite 68: »Ich war überzeugt, daß ich niemals meine Distanz zu Menschen aufgeben durfte, um nicht hintergangen zu werden, um mich nicht selbst zu hintergehen.« Distanz reklamiert auch Hein bei seiner Motivation der Wahl einer weiblichen Erzählerfigur: »[...] mit großer Distanz erzählt. Wenn ein Mann die Geschichte einer Frau erzählt, dann ist das schon eine ziemlich große Distanz, denke ich, und ich glaube, die Distanz ist auch mitgeschrieben, insofern ich immer als Mann wage, was ich meine, was eine Frau meint. Dieses Spielerische ist auch da, und das ist ebenfalls eine Distanz« (Ö, 160). 82 übernommen, wie sie zuvor dem Schauspiel, bzw. der Distanzierung durch die Einnahme der Zuschauerposition zukam. Hierin findet Nietzsches Gedankengut eine Aktualisierung durch Sloterdijk: [...] die zerreißende Tragik des gewußten Todes [wird] in eine Tragödie für Zuschauer umgewandelt, in der die Unerträglichkeit des Lebens theatralisch gebrochen, in der die Wahrheit der Vernichtung um den Preis ihres Scheinens gemildert werden kann [...] Gerade die historisch erzeugte Distanz provoziert das Auge zum ,Tod der Sache', zum ,Mord' an dem, was sichtbar ist. (K, 188) Ähnlich räsoniert Hein in seinem neuen Aufsatzband Die fünfte Grundrechenart: Wir benötigen die Wahrheit über uns und unsere Umwelt, und wir benötigen gleichzeitig einen beruhigenden, beschönenden und verfälschenden Schleier über dem Erkannten, um es aushalten zu können. Diesen milden Schleier kann uns die Vernunft des Herzens liefern, etwa die Kunst. (G, 14) Sichtverengung und Zeitauflösung Neben der Gegenüberstellung und damit Absetzung der Wirklichkeit (und des Ich) durch das Auge leistet die Anvisierung der Welt durch das Okular noch ein weiteres: Die Einengung des Gesichtsfeldes auf den Bildausschnitt reduziert Wahrnehmung auf ein Wirklichkeitssegment. Die Parzellierung nach der Devise Divide et impera funktioniert sowohl innerhalb wie außerhalb der Figur, sie simuliert Besitzergreifung und Kontrolle wie die Photographie.24 In den längeren Prosatexten Heins kommt sie nicht nur in den Leibens- und Persönlichkeitsmängeln seiner Protagonisten zum Ausdruck, in ihrem bewußt gehegten25 und thematisierten beschränkten Wahrnehmungshorizont, sondern ebenso im Erzähknodus. Die personale Perspektive des in der dritten Person geschriebenen Tangospielers ist nicht minder eingeengt als die Sicht der IchErzählerin im Fremden Freund und Horns Ende. Wie sehr die Einschätzung der Realität eine Angelegenheit der Sicht ist, kommt im Tangospieler explizit zur Sprache (und ist auf die veränderten Verhältnisse nach Dallows Rückkehr aus dem Gefängnis gemünzt): 24 Vgl. Sontag: »Eine Fotografie [...] ist Teil, ist Erweiterung dieses Gegenstands; lind sie ist ein wirksames Mittel, ihn in Besitz zu nehmen, ihn unter Kontrolle zu bringen« (S, 148). Der ursprünglich magischen Bedeutung von Fotografie ist sich Claudia gleichfalls bewußt. Sie weigert sich, Menschen aufzunehmen, um ihre Intimsphäre nicht zu verletzen (F, 102). Sie möchte keine Macht über ihre Mitmenschen ausüben, vgl. S. 147: »[...] das Bildermachen in seinen Ursprüngen zu verstehen, als ein praktisches magisches Tun [...], ein Mittel, Macht über etwas zu gewinnen oder Macht über etwas auszuüben.« 15 Von einem Frauenbild ausgehend, das, im Gegensatz zu männlicher Fragmentierung (der Beherrschbarkeit und Effizienz willen), weibliche Ganzheitlichkeit, Determiniertheit durch Emotionen sowie Interesse an alternativen Lebensweisen postuliert, kann die Einschätzung von Heins Ich-Erzählerin Claudia nur negativ ausfallen. Eine feministische Kritik könnte Claudias Mängel und Deformationen als eine verfälschende Darstellung weiblicher Verhaltensweisen einstufen. Damit zeigt sich, wie sehr das feministische Frauenbild ein historisches ist. Außerdem kann die Kritik schon daher nicht an dieser Stelle einsetzen, da die Reduktion für sämtliche Hein-Figuren charakteristisch ist, was dieser Beitrag zu beweisen trachtet. »Ist das nicht eine verquere Welt, Sylvia?« »Das kommt vermutlich auf den Betrachter an«, sagte sie sehr zurückhaltend. »Eine Frage des Standpunkts, ich erinnere mich«, sagte Dallow (T, 33). Der Zerstückelung des Raums, die der Punktauflösung des Bildes auf dem Femsehschirm gleicht, entspricht die Sequenzierung des Zeitkontinuums in »Augenblicke« (sie!). Protokollartig, eben einer Kamerafahrt gleich, werden die kurzen, häufig elliptischen Sätze aneinandergereiht: »Da werden eher Filmbilder lakonisch beschrieben als Vorgänge episch erzählt.«26 Aufgelöst in Handlungsmomente wird das Geschehen zwar gleichsam in Szene gesetzt, ein Zeit- oder Raumhorizont bleibt indes auf ein Minimum beschränkt. Dargestellt wird das Zeitgefühl der Hauptfiguren Claudia und Dallow, Spodeck und Thomas: Für Claudia ist etwa die Einführung der Sommerzeit vielleicht in diesen Monaten das Aufregendste, was in meinem Leben geschah [...] es war ein Eingriff in die Zeit, die Unterbrechung eines unbeirrbaren, regelmäßigen Ablaufs. In meinem Leben gibt es solch radikale Eingriffe nicht. Es verläuft mit der Stupidität eines Perpendikelschlags, mit der unveränderlichen Bewegung eines Regulators [...]. Eine Bewegung, die zu nichts führt, die keine Überraschungen, Abweichungen, Sommerzeiten, Unregelmäßigkeiten kennt und deren einzige Sensation der irgendwann eintretende Stillstand ist. (F. 197/198) Als breiige, klebrige Zeitmasse des Immergleichen erlebt, geht ihnen, die ohne Hoffnung und in steter Abwehr gegen einschneidende Veränderungen leben, die Vergangenheit wie die Zukunft abhanden und -damit letztlich sie selbst, denn ihr Leben wird zum Warten auf den Tod.27 Fotografieren: Leben aus zweiter Hand, Isolation Die Reduktion der Zeit- und Raumperspektive läßt lediglich eine Vernetzung auf der Oberfläche zu, ihre Glätte wird zum Spiegel der Figuren und zum Glatteis für den Leser. Versinnbildlicht wird das Verhältnis der Protagonistin Claudia und Dallows zur Umwelt in Claudias Fotografiermanie. »Ein ständig komplexer werdendes Wirklichkeitsbewußtsein schafft seine eigenen kompensatorischen Leidenschaften und Vereinfachungen, deren verführerischste das Bildermachen ist,« heißt es bei Susan Sontag (S, 154). Das Fotografierte wird zur Ersatzwelt, das Fotografieren selbst zum Leben aus zweiter Hand, es sind »Erfahrungen auf der Suche nach einer krisensicheren Form« (ebda.). Das genau ist es, was Claudia für sich in Anspruch nimmt: »Die Welt in Gestalt von Bildern besitzen, heißt nichts anderes, als die Unwirklichkeit und Ferne des Realen aufs neue erfahren,« so wiederum Sontag (S, 156). Dieses »facettenhafte, dislozierende Sehen« führt nicht »zur Vereinigung mit der Natur, sondern zur Entfremdung von ihr« (S, 96), es fördert Isolation und ein Konsumverhalten, das letztlich die Erschöpfung des Wirklichkeitssinns zur Folge hat. Der Fotograf sieht nämlich zunehmend lediglich das, was zu sehen er bereit ist. Sein Horizont ist demnach begrenzt durch sein defizitäres, sein ausblendendes Begreifen der Realität, der Welt um ihn herum. Da auch 26 Hirdina, S. 141. 27 Vgl. F, 38: Henry sagt von sich: »Ich fürchte mich nicht davor zu sterben. Schlimmer ist es für mich, nicht zu leben, nicht wirklich zu leben« (auch T, 134). 84 seine Fotos von seinem Sehen bestimmt sind, Projektionen eines zersplitterten Ich, können die Wirklichkeitsausschnitte nicht objektiv sein und keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Als Vorspiegelung einer Totalität und der Wirklichkeitsaneignung, denn in Bildern kann alles »miteinander vereinbar gemacht werden«,28 sind sie lügnerisch, verführend, manipulativ. Mit seinen Fotos stellt sich der Fotograf in die Reihe gegeneinander völlig isolierter Individuen, die in einer tendenziell totalen Immanenz wie in einem Gefängnis vegetieren. Pascals Satz, daß die Menschen süb specie der Phantasie wie Sträflinge in einer Zelle sind, die erfüllt ist von Bildern ihrer Erlösung, hat sich auf schauerliche Weise bewahrheitet. (K, 75) Die Fotos, die er macht, stellen eine »Implosion von Phantasie und Wirklichkeit« (K, 74) dar. Sie sind zugleich real, da sie der empirischen Realität entstammen, und fiktiv, da der Fotograf sie durch das Prisma, die Linse seiner Imagination sieht und aufnimmt. Die Sinn- und Wirklichkeitskonstrubtion Claudias und Dallows beschränkt soziale Interaktionsprozesse auf ein Minimum, auf jene notwendigsten, oberflächlichen Kommunikationsschemata, die die Fassade sinnhaften, »normalen« Handelns erhalten, existenzbewahrend, nicht jedoch sinngebend wirken. Die Zellenstruktur, mit der Haut als Panzer,29 wird zum Lebensmodus: Das freiwillige Gefängnis Claudias im Einzimmerwohnungsblock30 und Einbahnleben, Dallows »Heimweh nach der Zelle« (T, 121), Spodecks und Kruschkatz' Exilierung in Bad Guldenberg, all diese Selbstnötigungen aus Berührungs- und Versagensängsten gehen Hand in Hand mit dem Angepaßtsein, mit »hyperkomformem« Verhalten,31 sie sind als Selbstbestrafung deutbar für die Unfähigkeit zu leben. Unter dem Vorzeichen des Todes, finaler Negativität, wird hier eine Vorstellung des Subjekts und seiner kognitiven Prozesse als »autopoietisches, geschlossenes, struktur de terminiertes System«32 inszeniert. 28 Der dazugehörige Kontext lautet, S. 166: »Schon unsere Vorstellung von der Welt [...] ist wie eine Panoramaaufnahme [...] Diese scheinhafte Einheit der Welt wird durch die Übersetzung ihrer Inhalte in Bilder bewirkt. Bilder sind stets miteinander vereinbar oder sie können miteinander vereinbar gemacht werden — auch dann, wenn die Wirklichkeiten, die sie darstellen, es nicht sind.« 29 Vgl. D, 209: »Ich bin unverletzlich geworden. Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich irgendwie schutzlos. Aus dieser Haut komme ich nicht mehr heraus. In meiner unverletzbaren Hülle werde ich krepieren an Sehnsucht nach Katharina [...] ich möchte aus diesem dicken Fell meiner Ängste und meines Mißtrauens heraus [...] Meine undurchlässige Haut ist meine feste Burg.« 30 Das Interieur wird Claudia zur Lebensform: Ähnlich wie in Kafkas Der Bau bedeutet die Reduktion auf den Einzelleninnenraum Schutz und Gefängnis zugleich, Geborgenheit und Bedrohung. 31 In seinem Buch über den labyrinthischen Diskurs, worin sich zahlreiche Parallelen zu Heins Welten und seinen Schreibverfahren nachweisen ließen, macht Manfred Schmeling auf Menachem Rosners Begriff und »Kategorie des .superkonformen' Verhaltens« aufmerksam: »,Die Entfremdung manifestiert sich also in der Tatsache, daß der einzelne gegen seinen Willen Gesetzen und sozialen Konventionen gehorcht und eine Haltung von Hyperkonformismus annimmt.'« (Menachem Rosner, Entfremdung, Fetischismus, Anomie, in: Heinz-Horst Schrey (Hg.), Entfremdung, Darmstadt 1975, S. 446, zit. nach Max Schmeling, Der labyrinthische Diskurs, Frankfurt/Main 1987, S. 21). 32 Dies ist im Sinne Maturanas gemeint, wie ihn Siegfried J. Schmitdt in seiner Einführung zu Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus (Frankfurt/Main 1987) zitiert, vgl. S. 44 ff. 85 Zerstreute Perspektive: Projektionen des Ich, verschwommene Bilder Claudia, deren Schränke bereits 'bis zum Rand voll sind mit Fotos zerfallener Bauwerke (F, 47, 65) und toter Natur, ist sich ihres limited point of view nicht bewußt. Sie sieht, sie beschreibt, sie räsonniert, indes begreift sie nichts. Sie fotografiert manisch, merkt zwar, daß ihren Fotos der »Horizont /fehlt/, ihnen fehlt das Verwelken, Vergehen und damit die Hoffnung« (F, 210), erfaßt jedoch nicht, .daß es dabei um Projektionen ihrer selbst, ihres Innenlebens geht. Wie sie sich mit ihrer Kamera Ausschnitte kaputter Landschaft und Natur aussucht, klaubt sie mit ihrem inneren Auge nur diejenigen Charakteristika an Menschen heraus, die sie am eigenen Körper und Leben unbewußt stören. Entsprechend beschreibt sie nur defekte menschliche Beziehungen, angegriffene Partnerschaften, verratene Freundschaften und mißbrauchte Bekanntschaften.33 Von Frauen, mit denen sie verkehrt — außer Haus natürlich, sodaß die Intimsphäre ihrer Wohnung abgeschirmt bleibt —, macht sie sich stets ein Bild, fällt über sie Urteile. Trotz ihres abgeklärten, unsentimentalen Gehabes dürfte es sich dabei uim sehr einseitige, unfaire Bewertungen handeln, da ihre »Freundinnen« lediglich durch ihre Augein, durch das Prisma ihrer Komplexe und Frustrationen betrachtet werden. Demnach wird auf andere Frauen das projiziert, was Claudia bei sich verdrängt, ablehnt, nicht akzeptieren kann und will. »Es ist anstrengend, mit einer Frau befreundet zu sein, die sich mit ihren Demütigungen abgefunden hat« (F, 14), meint sie zu Anne, die verheiratet ist und vier Kinder hat. Daß es sich hier vermutlich um ihren Komplex handelt, -keine Kinder zu haben, weil sie als emanzipierte Frau nicht andere über ihren Körper verfügen lassen will,34 wird erst gegen Ende der Novelle deutlich (F, 207), zeichnet sich hingegen schon in ihren sarkastischen Bemerkungen. zu Karla, der-Krankenschwester, ab, mit der sie ihr Arbeitszimmer teilt: Karla verspätet sich jeden Tag... und immer mit dem Hinweis auf ihre Kinder. Vermutlich erwähnt sie ihre Kinder in der Annahme, bei mir ein schlechtes Gewissen zu wecken. Sie ist dieser Typ Frau, der unbeirrt an der Mutterrolle festhält. Das kuhäugige, warme Glück, das lassen wir uns nicht nehmen, da weiß man doch, wozu man lebt... Sie weiß auch genau, warum meine Ehe geschieden wurde. Sie ist überzeugt, daß mein Mann mich verließ, weil ich ihm keine dicken Kinder in die Welt setzte oder weil ich keinen dicken Busen habe oder weil ich mich nicht schminke. (F, 10/11) 33 Claudias Freundin Anne wird regelmäßig von ihrem Mann vergewaltigt (F, 14). Die geschiedene Frau von Claudias Freund Henry ist eine »unschöne, verbitterte Frau, die fortgesetzt ihr Leben befragte, um den Schuldigen für soviel Banalität und verblichene Hoffnungen zu finden.« (F, 22). Die Ehe von Charlotte und Michael Kramer, die nach außen hin »ausgeglichene, liebe Leute [sind], die ganz für ihre Kinder, leben« (F, 55), klappt auch nicht: Sie betrügt ihren Mann mit einem Fernstudenten, er macht Claudia unbeholfene Avancen. Weitere Beispiele, auch aus Claudias Familie, könnten angeführt werden. Liest man Henry als Wunsch- und Projektionsfigur, dann wird die Schizophrenie Claudias in seinem Gesicht widergespiegelt: »Sein Gesicht war unregelmäßig, als wäre es aus zwei verschiedenen Hälften zusammengesetzt.« (F, 27) Dallow lernt auf Jobsuche eine Sekretärin kennen, die gleichfalls aus zwei heterogenen Teilen zusammengesetzt scheint: »Als sei sie aus zwei Personen zusammengesetzt, ein falsch zusammengefügtes Puzzle [...]« (T, 125). Beide Stellen erinnern an Thomas' Spiel vor dem Frisierspiegel seiner Mutter (H, 130 ff). 34 Aus diesem Grund und da sie keine Beziehung zum Ungeborenen aufbauen kann, treibt Claudia zweimal ab (vgl. F, 104 ff). Sie fürchtet, zum Objekt gemacht 86 Das Insistieren auf den »diskreditierenden« Eigenschaften Karlas läßt vermuten, sie sei neidisch auf sie, die trotz Berufs und Mutterrolle eine »Frau« geblieben ¡ist — ein bißchen »männertoll«, mütterlich, anziehend, einverstanden mit ihrem Körper, ihrer Sexualität, ihren Schwächen.35 All das glaubt Claudia aufgeben zu müssen zugunsten eines coolen Auftretens, einer Emanzipation, die verstanden wird als »Befreiung« von den Leiden lästiger Emotio-nalität und Sensibilität.36 Sie reklamiert für sich die ins Unverbindliche und Beliebige ausufernde »Normalität« ihres »fremden Freundes« Henry und ihres »Zwillingsbruders«37 Dallow, doch was die beiden Männer bereits gänzlich verinnerlicht haben, muß sie sich mit pathologischer Penetranz einreden. »Vertrackterweise wird am anderen jedoch nur das bemerkt, woran man selbst leidet. Das meiste ist potenzierte Spiegelfechterei,« schreibt Kamper resümierend (K, 52). Die anderen Figuren als Spiegel, als Reflexion des Ich, bedeuten zum einen die Zersplitterung des Subjekts, die Auflösung einer konsistenten Identität (»Zumindest wüßte ich dann, was ich für eine Person bin. Ich weiß es bis heute nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich daran interessiert bin, es zu erfahren...« (F, 178) zum anderen wird dieser Streuung des Blicks auf das Erzähler-Ich die Einsinnigkeit der personalen Perspektive, die Reduktion des Geschehens auf Binnenräume der Wahrnehmung aufgefangen. Zum Vorschein kommen indes in dieser »zerstreuten« Perspektive oberflächlich zwar intakte Gesichter, doch sie sind, wie Thomas' Spiegel zeigt, Fratzen: Hinter dem kühlen Glas des Spiegels erschien eine Bildergalerie meiner Porträts. Ich war verhundertfacht, ich war in fremde Ferne gerückt, ich war mir unerreichbar [...] Sobald ich den Spiegel nur um einen Milimeter verrückte, blickte mich ein fantastisches, beunruhigendes und doch faszinierendes Bild an [...] Nun verschwand ein Streifen meines Kopfes. Die Nase wurde unauffindbar. Einäugig geworden, betrachtete ich das mir verbliebene Auge [...] Das Fehlende war ausgerissen ohne ein Zeichen von Verletzungen. Keine Wunde, keine Narbe deuteten auf verlorene Gesichtsteile [...] Dieser grauenvolle, entstellte Quetschkopf war ich. Ein nasenloses Gesicht mit einem einzigen, aus zwei Pupillen zusamengesetzten Auge. Diese Fratze war nun mein Spiegelbild. Mein Ebenbild. (H, 133) Wird im Fremden Freund die Sichtverengung der Erzählerin kompensiert durch die kaleidoskopartige Auffächerung des Blicks im Anvisierten und Gespiegelten, so wird in Horn Ende derselbe Effekt der Konturenauflösung im umgekehrten Verfahren erzielt. Die Figur Horn wird zerlegt in Aussagen der zu werden und flüchtet sich lieber in den »Schaffensakt« des Fotoentwickelns (vgl. S, 103). Als Claudia ein »radloser Kinderwagen ins Objektiv« (F, 66) gerat, hat sie plötzlich einen Schweißausbruch. Die verdrängten Wünsche dringen an die Körperoberfläche. 35 Die Schizophrenie Claudias äußert sich in ihrer männlich-weiblichen Doppelnatur: Einerseits ahmt sie männliche Denk- und Verhaltensweisen nach, sogar ihr knabenhaftes Äußeres reflektiert ihre Haltung, andererseits gelten ihre unterdrückten Wünsche der »weiblichen« Ganzheitlichkeit. Sie ist »Spiegel« des männlichen Geschlechts und zugleich Zeichen für den weiblichen Mangel. Vgl. Luce Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt/Main 1980. 36 Claudias Deformation im Körperlichen und Geschlechtlichen ist ein Spätschaden ihrer Jugend, vgl. F, 142: »Jahrelang war mein Kopf mit verquasten Bildern von Sexualität verklebt.« (F, 136) Claudias Erziehung gegen den Körper verursacht ihre Ablehnung jeglicher körperlicher Signale. 37 Vgl. Hirdina, S. 138: Die Parallele zwischen Dallow und Claudia taucht in Rezensionen und Kritiken häufig auf.. 87 fünf Ich-Erzähler über ihn, es entsteht daraus ein schemenhaft verschwommenes Bild, da die Brennpunkte nicht übereinstimmen. Ebenso trügerisch ist das Bild, das sich der Leser macht, denn er tendiert zur Abrundung: »Das Ganze ist das Unwahre.« (K, 81). Die Falle, in die das Subjekt (auch der Leser) sich verstrickt, ist die Illusion von Einheit, Fülle und dem Eigentlichen. Die Wahrheit ist das Gegenteil: Zerstückelung, Leere und Fremdheit. Zerstückelter Körper, imaginäre Einheit des Spiegelbildes In dieser Zerstückelung des Subjekts kommt die Geschichte des Körpers, seiner Kränkungen zum Vorschein. Bei Claudia und Thomas, indem sie sich an das Kind, das sie einmal waren, erinnern, und bei Horn, indem die IchErzähler seine und ihre Geschichte rekapitulieren. Der Körper hat als Maschine zu »funktionieren«, so heißt es, wenn man ernstlich krank wird: »[...] die Apparatur ist insgesamt zum Teufel. Sie will nicht mehr.« (H, 275). Diesbezüglich, obgleich in einem anderen Kontext, führt Kamper aus: Immer deutlicher zeigt sich, besonders an der forcierten Reparatur beschädigter Identitäten, daß die Struktur des Subjekts importiert ist, daß sie als Außenstelle von Vergesellschaftungsinstanzen funktioniert, oder genauer: nicht mehr funktioniert. Es ist also Zeit für die Artikulation einer Enttäuschung, für die Aufhebung einer Täuschung im Entscheidenden: Selbstbesitz ist nicht möglich; das Ich hat keine Präsenz und Fülle; es gibt kein Eigentum am Körper, nicht einmal im Widerstand gegen fremde Ansprüche. (K, 86) Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis ziehen, heißt wie Horn Selbstmord begehen, in Resignation oder Wahnsinn verfallen wie Dallow, Kruschkatz und Spodeck, oder aber, wie es die meisten, allen voran Claudia, tun, sich Täuschungen hinzugeben. Die Einbrüche dessen, was zur Wahrheit führen könnte, das Unkontrollierbare des Begehrens im Traum, im Erinnern, in den Wünschen des Körpers,38 werden konsequent gemieden, rationalisiert, übertüncht, eskamotiert. Darüber schiebt sich die »überwirkliche Realität, meine alltäglichen Abziehbilder, [...] bunt, laut, vergeßlich. Heilsam.« (F, 7.) Die Täuschungen sind vielfältig: Die Alltagswirklichkeit oder die Kunst, persönliche Geschichte oder die der Gattung, sie alle verwandeln sich in bunte oder fahle, schillernde Schleier, um die »Wahrheit« zu verbergen.39 Zur Deutung dieses Epochenphänomens der Selbstbespiegelung und des Vorgaukeins 38 Vgl. F, 68: »Im Hintergrund das Wissen um meine stete Bereitschaft, mich aufzugeben, Sehnsucht nach Infantilität. Der schwere süßliche Duft, geborgen zu sein. Wie der drückende und doch angenehme Duft von verwelkenden Totenblumen.« Es gibt zwei Symbolfiguren in der Novelle, die Sehnsucht und Hoffnung verkörpern: Zum einen die Jugendfreundin Claudias Katharina, zum anderen das schöne blonde Mädchen Hella, das Claudia einen Apfel schenkt (F, 93). Gegen Ende der Novelle heißt es dennach: »Meine verlorengegangene Fähigkeit, einen anderen bedingungslos zu lieben. Es ist die Sehnsucht nach Katharina, nach der Kinderliebe, nach einer Freundschaft, zu der nur Kinder fähig sind. Ich vermisse jetzt Katharina sehr.« (F, 208) 3® Die Schleiermetapher, ein literarischer Topos, den man auch auf Schillers Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais kennt, wird von Hein mehrmals eingesetzt. In Horns Ende sagt Kruschkatz: »Es gibt keine Geschichte. Geschichte ist hilfreiche Metaphysik, um mit der eigenen Sterblichkeit auszukommen, der schöne Schleier um den leeren Schädel des Todes.« (H, 27), vgl. auch Ö, 14, F, 70. 88 einer abhandengekommenen, doch lebensnotwendigen Einheit des Subjekts wird Freuds Narzißmustheorie bemüht, in der Weiterführung und Wiederbelebung durch Lacan: »Wie der Schlaf die Erinnerung an das intra-uterine Leben wachhalte, so der Narzißmus das Bild einer Einheit, die an Stelle einer unerträglichen Erfahrung trete, der Erfahrung einer Zerstückelung unter Lebensgefahr.« (K, 85) Der heutige Narziß — und Claudia sowie Dallow sind mit ihrem »rettungslos abgeschirmten Bewußtsein« (K, 73) beispielhaft dafür — lebt mit der Einbildung der imaginären Einheit seines Spiegelbildes, wodurch die reale Lebensgefahr zunächst vermieden wird. Es mangelt ihm nach Julia Kristeva an Liebe, »weil er nichts ist«,40 höchstens »ein Exilierter, ein seines psychischen Raumes Beraubter«, weil er »fremd ist in einer von Begierde und Macht bestimmten Welt.«41 Da er der Welt die Zuneigung aufkündigt, ist er liebesunfähig (F, 139) und hat keine Identität. Um diese Leere zu füllen, bespiegelt er sich in allem, was ihn umgibt. (»Ich hatte versucht, ¡in die alten Klassenzimmer zu sehen, doch die Scheiben waren blind, sie spiegelten undeutlich mein Gesicht.«) (F, 139) So fällt der Blick zurück, zu den Ursprüngen, den eigenen Erinnerungen, der historischen Vergangenheit der abendländischen Zivilisation: Die Rückschau, die Maskierung des Anfangs in ihrer modellierenden Funktion ist nach Lotman »nicht nur Zeugnis der Existenz, sondern steht auch an der Stelle der späteren Kategorie der Kausalität.«42 Wo eine Kausalitätsreihe bis in die Gegenwart gezogen werden kann, entsteht die zur Identitätsbildung und -Sicherung notwendige Konsistenz und Kontinuität. Wer Geschichte hat, der weiß, wer er ist, und wohin er geht: Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft. Horn spricht aus tiefster Überzeugung: Welch ein entsetzlicher Gedanke, ohne Gedächtnis leben zu wollen. Wir würden ohne Erfahrungen leben müssen, ohne Wissen und Werte. Löschen Sie das Gedächtnis eines Menschen und Sie löschen die Menschheit. (H, 281) Von der Dringlichkeit des Gedenkens überzeugt — oder ist es doch nur Identitätswahn? — mahnt, treibt der tote Horn die lebenden Nachkommen zur Erinnerungsarbeit an. Indes scheint das Zurückholen der Vergangenheit, ein sich Berufen-Wollen darauf, in sämtlichen Texten zum Scheitern verurteilt: Claudia muß nach dem mißlungenen Ausflug in ihre Heimatstadt G. erkennen: Dfe Vergangenheit ist nicht mehr auffindbar. Es bleiben nur die ungenauen Reste und Vorstellungen in uns. Verzerrt, verschönt, falsch [...] Mein G. ist nicht mehr vorhanden [...] Es gibt keine Wiederkehr, keine Heimfahrt. Hinter uns sind nur brennende Städte, und die Umkehrende, die Zurückblickende erstarrt zu einer Säule bitteren Salzes. (F, 139) Das hat ihr Henry, ihr fremder Freund, bereits prophezeit und Kruschkatz sowie Dr. Spodeck, die Antipoden zu Horn in ihrem Geschichtsverständnis, würden ihm beipflichten. Sie sehen in der Geschichte die Krücke, um die 40 Julia Kristeva, Das Liebesverlangen der Außerirdischen, Teilabdruck aus Histoires d'amour, Paris 1983, in: Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, München 1984, S.44. 41 Ebd., S. 49. 42 Lotman, S.321. 89 Wahrheit auszuhalten, »um mit der Sterblichkeit auszukommen, der schöne Schleier um den leeren Schädel des Todes.« (H, 27) Heins Kritik richtet sich gegen das Verfügbarmachen der Geschichte von der Gegenwart her (H, 27): Abgelehnt wird die anachronistische Vorstellung einer objektiven, heilen, da sanktionierten Historie, die in der perfekten Simulation, der Vor-täuschung ihrer Authentizität wiederum zu Fotos und Spiegeln greift wie im »Schüfftan«-Verfahren.43 Den Kognitionsregeln eines selbst-referenziellen, strukturbestimmten, geschlossenen Systems unterworfen, funktioniert das menschliche Erinnerungsvermögen über das Bewußtsein. Das wiederum ist ein Filter, es arbeitet mit tausend Spiegeln, »von denen jeder tausendfach gebrochen ist.« Demnach hinkt der Vergleich des Gedächtnisses mit dem Film: Tatsächlich erinnern wir uns anschaulich, bildlich. Es sind Bilder einer Kamera unseres Kopfes, die vor unserem geistigen Auge wie auf einer Kinoleinwand ablaufen [...] Unsere Erinnerungen sind eben keine nüchternen Aufzeichnungen, keine Filmaufnahmen [...] Wir speichern nicht ein Geschehen, sondern unser Bewußtsein, unser Denken über ein Ereignis. Es sind persönliche Erinnerungen, was nicht weniger sagen will, als daß all unser Erinnern kein Bild der Welt liefert, sondern ein durch das Spiegelkabinett unseres Kopfes entworfenes Puzzle jenes Bildes mit unseren individuellen Verspiegelungen, Auslassungen und Einfügungen. Das mag als Bild der Welt erscheinen und dient uns auch als Weltbild, in Wahrheit ist es allein eine Darstellung unseres Bewußtseins, wie wir den gebrochenen Spiegel unseres Gehirns zu nennen pflegen. (H, 279/280) In der Film- und Spiegelmetapher findet man zudem noch jenen Zugriff veranschaulicht, der die Posthistorie charakterisiert und der entlarvt wird: jenen verschleißenden Konsum von Vergangenheit, die auf handhabbare Bruchstücke, auf Relikte reduziert, in beliebige"Bilderpuzzles eingefügt werden kann. Im Sammeln toter Dinge, im musealdilettantischen44 Auffüllen des Vakuums glauben die Protagonisten Heins paradoxerweise die Gegenwart beleben zu können; sie bauen sich damit eine narzißtische Ersatzwelt, die ihnen die Gegenwart umso schneller entgleiten läßt. Das Interesse, etwa jenes des Historikers Dallow, wendet sich definitiv Vergangenem zu, um vom Zeitgesche- 43 Auffällig und bedeutsam ist die Parallele zwischen Ich- und Gesichtsverzerrung: Thomas' Spiel mit seinem Ebenbild vor dem Frisierspiegel seiner Mutter (H, 130 ff) entspricht der Schilderung des Schüfftan-Effekts (H, 278): »Das ursprüngliche Bild wird auf einen in der Mitte gebrochenen Spiegel geworfen und erneut aufgenommen, und je nachdem, in welchem Winkel die Spiegel zueinander stehen, kann man nun Teile des Bildes verschwinden lassen oder neue, nicht dazugehörige Bilder einspiegeln.« Das Wichtige dabei ist die »Unverletztheit« der Oberfläche in beiden Fällen: »Dem Betrachter bietet sich stets ein unverletzt scheinendes, originales Bild.« (ebd.) Spurlos wird die Wahrheit getilgt, es bleibt kein Körpergedächtnis, keine Narbe. 44 Claudia sammelt Fotos der toten Natur und verfallener Gebäude, als müßte, könnte sie dadurch ihren eigenen Tod imaginieren oder vermeiden. Es ist dies eine typische narzißtische Haltung. Dr. Spodeck sammelt Krankengeschichten und dokumentiert die Gemeinheit seiner Stadt. Horn ist Museumsdirektor und befaßt sich mit Archäologie, er sammelt Scherben früherer Zivilisationen. Thomas wühlt in alten Fotos, Papieren und Chroniken, er fürchtet sich vor den Augen der ausgestopften Tiere in Museum, die alle »Leben vorzutäuschen hatten« (H, 77). Thomas setzt sie in direkte Verbindung mit dem Tod: »Die gläsernen Augen waren seit diesem Tag das unheilvolle Zeichen des Todes für mich [...] sie strahlten eine tödliche Bedrohung aus« (H, 76/77). Tödlich ist die Simulation des Lebens. 90 hen — im Tangospieler sind es die Ereignisse vor und im August 1968 — verschont zu werden.45 Die Flucht in eine dem Augenmaß und Gutdünken des Einzelnen angepaßte unverbindliche Vergangenheit, ist eine der zahlreichen Hilfskonstruktionen, die verhindern, daß der Narziß auf der Suche nach den Spuren des Anderen (der Geschichte) seine eigenen entdeckt. Das Erschauen des Spiegelbildes, das Begreifen, daß der »grauenvolle entstellte Quetschkopf [...] diese Fratze« (H, 133) das Ebenbild ist, daß die Suche nach Wahrheit immer im bereits deformierten Ich mündet, verursacht das tödliche Erschrecken, das sich über das Auge abspielt. Denn der »letzte Augenblick — buchstäblich verstanden — ist das Ereignis, das ,Eräugnis' des Endes. Der Umschlag von der Apokalypse zur Katastrophe, von der radikalen Enthüllung der Wahrheit zum Ende der Welt wird vom Bliak bewerkstelligt, der die Kontrolle über das Sichtbare um den Preis seiner Vernichtung erreicht. Die Immanenz des Selbst ist unerträglich, deshalb wird sie endgültige Zerstörung programmatisch« (K, 89). Durch Verkennungsstrategien, rationale und imaginäre, Krücken zum überleben, nicht zum Leben, wird die Katastrophe verlangsamt, gedehnt; die unter konstantem Selbsttäuschungsdruck stehenden Menschen existieren in einer »todesähnlichen Erstarrung«, in »paradiesischer Langeweile« (Kamper), es ist ein Schrecken ohne Ende. Allein der Körper setzt aus diesem zivilisationszer-störten Territorium Signale: Das Gefühlswraok Dallow wird von momentanen Lähmungen seiner Finger Lind Schweißausbrüchen belästigt, Claudia leidet in ihrem Panzer unter ihrem überempfindlichen Geruchssinn, ihr Vater bekommt eine verräterische weiße Haut über seinen Fingerlknöcheln, Dallows Vater hingegen schreit laut in seinen Träumen. Es sind Reste der Rebellion gegen eine selbstzerstörerische Lebenspraxis, gegen die Verinnerlichung von Fremdbestimmung. Strahlungen jenes »radioaktiven Mülls des Individuums«, von dem Claudia sagt: Ein radioaktiver Müll des Individuums, der unendlich wirksam bleibt, dessen fast unhörbares Grollen uns ängstigt und mit dem wir nur zu leben verstehen, indem wir ihn in unsere tiefsten Tiefen einsargen, verschließen, versenken. (F, 117) Die Subversion des Körpers, deren Zeichen es zu entziffern gilt. Christoph Hein ist ein Chronist, ein gegenwärtiger Zeitgenosse am Ende der Zeiten. Als solcher benutzt er den Splitter in unser aller Augen als Vergrößerungsglas, um die Bruchstellen jener Oberfläche sieht- und fühlbar zu machen, auf der wir uns eingerichtet haben (F, 117). Seine Novelle und seine beiden Romane schildern den »Stand der Zivilisation« und deren Kosten für den einzelnen, einer Zivilisation, die aus Verdrängung besteht (F, 116). Was er darin bietet, sind keine simplen Antworten, keine Eindeutigkeiten auf die Frage, »wo der Einzelne sein Glück, seine Vollendung oder Erfüllung finden könnte« (Ö, 157). Seine längere Prosa ist Beleg dafür: Daß es nur um ein paar Anregungen geht, wo es vielleicht nicht weitergehen sollte oder wo, wenn es so weitergeht, wir mit diesen Kosten zu rechnen haben und der Einzelne durchaus sein Leben überprüfen sollte, um nicht in Geschichten hineinzugeraten, die ihn dann möglicherweise alles kosten, mithin auch das Leben, (ebd.) 45 So sagt Dallow: »,Ich beschäftige mich mit dem 19. Jahrhundert. Die Gegenwart hat mich nie interessiert, und Politiker fanden meine Aufmerksamkeit erst, wenn sie vermodert waren. Sie sind dann wesentlich aufrichtiger'« (T, 159). 91