///?^F, ^ ^ N U ß 3 K N d im Jahre t839 ?lus dcm Französischen des Marquis von Eustine, von KHz'. A. D i ermann. Zweiter VanV, Zweite Auflagt (Mit den IusäjM der zweiten Auflage dcö OngluM!^) Leipzig, Theodor T h o m a s. 1844. Dreizehnter Vrief. Petersburg, den 21. Juli 1839. Einige, aber nur wenige, Hofdamen gelten mit Recht für schön, andere bieten alle Koketterie und alle Eleganz auf, um für schön gehalten zu werden, und ahmen alles Englische nach, wie überhaupt die vornehmen Russen lebenslang die Musterbilder der Mode in der Fcrne suchen. Bisweilen tauschen sie sich in der Wahl ihrer Vorbilder, und diese Fehlgriff« geben dann eine sehr seltsame Eleganz, die geschmacklose. Ein Russe, der sich selbst überlassen ware, würde sein Leben in der peinigenden Unruhe der unzufriedenen Eitelkeit verbringen und sich für einen Barbaren halten; gleichwohl schadet der natürlichen Richtung und folglich dem Geiste eines Volkes nichts mehr als der Glaube an die sociale Ueberlegcnheit der andern Nationen. Es gehört zu den Wunderlichkeiten der menschlichen Eigenliebe, aus Einbildung demüthig zu sein und sich zu schämen. Ich habe bereits zu bemerken Gelegenheit gehabt, daß diese Erscheinung in Rußland nicht selten ist, wo man den Charakter eines Emporkömmlings in allen Classen und allen Ständen stu-diren kann. Im Allgemeinen ist in den verschiedenen Classen der Nation die Schönheit bei den Frauen seltener als bei den I* 4 Männern, obgleich man auch unter den letztern sehr viele nichtssagende und ausdruckslose Gesichter findet. Die finnischen Racen haben vorstehende Backenknochen, kleine, matte, tiefliegende Augen und ein breitgedrücktcs Gesicht; man könnte glauben, alle diese Leute waren gleich bei ihrer Geburt aus die Nase gefallen. Auch ihr Mund ist haßlich, und die ganze Gcsichtsbiloung, ein ächter Sclaventypus, ausdruckslos. Die hier entworfene Schilderung gilt von den Finnen, nicht von den Slawen. Ich sah viele blatternarbige Personen, was in dem übrigen Europa jetzt selten ist und als ein Beweis von der Nachlässigkeit der russischen Verwaltung in einem wichtigen Punkte gelten kann. In Petersburg find die verschiedenen Nacen so unter einander gemischt, daß man sich von der eigentlichen Bevölkerung Nußlands gar keine Vorstellung machen kann; die Deutschen, die Schweden, die Lieflander, die Finnen feine Art Lapplander), die Kalmücken und andere tartarische Nacen haben ihr Blut mit dem der Slawen vermischt, deren ursprüngliche Schönheit sich unter den Bewohnern der Hauptstadt allmalig verändert hat. Das erinnert mich oft an den vollkommen richtigen Ausspruch des Kaisers: „Petersburg ist russisch, aber es ist nicht Rußland." In der Oper sah ich eine sogenannte Vorstellung in Gala. Das prachtvoll erleuchtete Haus ist groß und von schöner Form. Man kennt weder Galerieen noch Balcons; die Baumeister werden hier in ihrem Plane nicht gestört, denn sie brauchen nicht für Platze für den Bürgerstand zu sorgen; die Schauspielhäuser können deshalb nach einfachen und regelmäßigen Entwürfen gebaut werden, wie die italienischen Theater, wo die Frauen, die nicht zur großen Welt gehören, in das Parterre gehen. Durch besondere 5 Gunst hatte ich zu dieser Porstellung cinen Stuhl in der ersten Reihe des Parterre erhalten. An den -Gala-Tagen sind diese Stühle für die größten Herrn, d. h. für die höchsten Hoschargen bestimmt; jeder muß in Uniform, in dem Costüm seines Ranges oder Amtes erscheinen. Mein Nachbar zur Rechten, der an meinem Anzüge den Fremden erkannte, redete mich französisch mit der gastfreundlichsten 'Artigkeit an, welche in Petersburg die Männer der höheren Stände und, bis zu eineM gewissen Punkte, die Leute aller blassen auszeichnet — denn hier ist Jedermann höflich; die Großen sind es aus Eitelktit, um ihre gute Erziehung zu beweisen, die Geringen aus Furcht. Nach einigem gemeinplätzigen Hin- und Herrcdcn fragte ich meinen gefälligen Unbekannten, was man aufführen würde. „Ein aus dem Französischen übersetztes Werk," antwortete er mir, „den hinkenden Teufel." Ich zerbrach mir vergebens den Kopf, um mich zu erinnern, welches Drama unter diesem Titel wohl übersetzt sein könnte. Denken Sie sich meine Verwunderung, als ich erfuhr, daß die Uebersetzung eine Pantomime nach unserm Ballet: „der hinkende Teufel", war. Die Aufführung habe ich nicht fehr bewundert, ich beschäftigte mich hauptsachlich mit den Zuschauern. Der Hof erschien endlich. Die kaiserliche Loge ist ein prachtiges Zimmer, welches den Hintertheil des Schauspielhauses einnimmt und noch glänzender erleuchtet wird, als das schon so glanzend erleuchtete übrige Theater. Der Eintritt des Kaisers kam mir imposant vor. Wenn er, begleitet von der Kaiserin, gefolgt uon seiner Familie und dem Hofe, an seine Loge vortritt, steht das Publicum in Masse auf. Der Kaiser, in großer hellrother Uniform, ist ein ungewöhnlich schöner Mann. Die Kosaken-Uniform 6 steht nur schr jungen Männern gut; jene kleidet einen Mann in dem Alter Sr. Majestät besser; sie erhöht den Adel seiner Züge und seines Wuchses. Bevor er sich niedersetzt, grüßt der Kaiser die Versammlung mit der ihm eigenthümlichen würdevollen Artigkeit. Die Kaiserin grüßt gleichzeitig; für einen Mangel an Achtung gegen das Publikum halte ich es aber, daß selbst das Gefolge grüßt. Das Publikum erwiedert die Verbeugung des Herrscherpaares, klatscht gleichseitig und schreit: Hurrah! Diese übertriebenen Demonstrationen hatten etwas Os-sicielles und verringerten den Werth um ein Bedeutendes. Ist es denn sehr zu bewundern, daß ein Kaiser in seiner Hauptstadt durch ein Parterre auserwählter Hofmänncr beklatscht wird? In Nußland würde die wahre Schmeichelei der Anschein von Unabhängigkeit sein; aber die Nüssen haben dieses Mittel, zu gefallen, noch nicht entdeckt, und dle Anwendung desselben könnte allerdings bisweilen gefährlich werden, wie langweilig auch die Servilitat der Unterthanen den» Fürsten sein muß. Die Unterwürfigkeit, welche der Kaiser gewöhnlich findet, ist auch die Ursache, daß er nur zwei Mal in seinem Leben die Genugthuung gehabt hat, seine persönliche Macht an der versammelten Menge zu messen, — und zwar bei Auflaufen. Es giebt in Rußland keinen freien Mann als den aufrührerischen Soldaten. Von dem Punkte aus, wo ich mich befand, ziemlich in der Mitte zwischen den beiden Bühnen, der eigentlichen und dem Hofe, erschien mir der Kaiser wirklich als würdig, über Menschen zu herrschen, so edel und majestätisch ist sein Gesicht und seine ganze Haltung. Ich erinnerte mich auch sogleich an sein Verhalten bei seiner Thronbesteigung, und dies zog mich von der Vorstellung ab, der ich beiwohnte. 7 Was man lesen wird, wurde mir vor wenigen Tagen von dcm Kaiser selbst erzählt. Ich habe in meinem letzten Briefe nicht davon gesprochen, weil man Briefe mit solchen Dingen weder der russischen Post, noch auch einem Reisenden anvertrauen kann. An dem Tage, an welchem Nicolaus den Thron bestieg, brach auch der Aufstand der Garden aus. Sobald man Nachricht von dieser Empörung der Truppen erhielt, gingm der Kaiser und die Kaiserin allein in ihre Kapelle, knieten da auf den Stufen des Altares nieder und schwuren einander vor Gott, als Souvcraine zu sterben, wenn es ihnen nicht gelingen sollte, den Aufstand zu unterdrücken. Der Kaiser hielt das Uebel für ernst, da er erfuhr, der Erzbischof habe bereits vergeblich die Soldaten zu besänftigen versucht. In Rußland ist die Unordnung furchtbar, wenn die geistliche Macht nichts gegen sie vermag. Nachdem er das Zeichen des Kreuzes gemacht, ging der Kaiser fort, um die Rebellen blos. durch seine Gegenwart und die ruhige Energie seines Geistes zu besiegen. Er selbst hat mir diesen Auftritt in Ausdrücken erzählt, die bescheidener waren als die, welche ich gebrauchte; leider habe ich den ersten Theil seiner Erzählung vergessen, weil mich die unerwartete Wendung unseres Gesprächs Anfangs etwas verlegen machte; ich nehme es da wieder auf, von wo an eS mir noch deutlich erinnerlich ist. „Sire, Ew. Majestät hatten Ihre Kraft aus der achten Quelle geschöpft." „Ich wußte nicht, was ich sagen, was ich thun sollte; ich folgte einer höhern Eingebung." „Um solche Eingebungen zu erhalten, muß wan sic verdienen." 8 „Ich habe gar nichts Außerordentliches gethan; ich sagte zu den Soldaten: stellt Euch in Reih' und Glied! und als ich das Regiment mustern wollte, ricf ich: auf die Knie! Alle gehorchten. Ich hatte mich im Augenblicke vorher auf den Tod gefaßt gemacht, und das gab nur Kraft. Dankbar für den Sieg bin ich, aber nicht stolz darauf, dZnn ich habe kein Verdienst dabei." Mit so edlen Ausdrücken erzählte mir der Kaiser jenes Trauerspiel aus neuerer Zcit, und Sie tonnen darnach das Interesse der Gegenstande bemessen, die er mit den Fremden bespricht, welche er mit seinem Wohlwollen beehrt; cs ist ein großer Unterschied zwischen dieser Erzählung und den banalen Hofconversationen. Auch werden Sie hiernach die Gewalt beurtheilen, die cr auf uns, wie auf seine Völker und seine Familie ausübt. Er ist der Ludwig XlV. der Slawen. Augenzeugen haben mich versichert, daß er mit jedem Schritte, der ihn näher an die Aufrührer brachte, gleichsam größer wurde. War.er in seiner Jugend schweigsam, melancholisch, kleinlich gewesen, so wurde er ein Held, sobald cr den Thron bestiegen, wahrend im Gegentheil die meisten Fürsten mehr versprechen, als sie halten. Der Kaiser von Rußland lebt so ganz in seiner Rolle, daß der Thron für ihn das, was die Vühne für einen großen Schauspieler ist. Seine Haltung vor den rebellischen Garden war, wie man sagt, so imposant, daß einer der Verschworenen sich ihm viermvl nahcrte, um ihn zu todten, während er die Anrede an die Truppen hielt, und den Elenden viermal der Muth verließ, wie den Cimbrer des Ma-rius. Gut unterrichtete Personen haben diesen Aufstand dem Einsiusse der geheimen Gesellschaften zugeschrieben, die seit den Feldzügen der Verbündeten in Frankreich und den 9 häusigen Reisen russischer Officiere in Deutschland in Ruß' land thätig sein sollen. Ich wiederhole nur, was mir erzählt worden ist; verbürgen kam: ich solche Geheimnisse natürlich nicht. Die Verschwörer hatten sich einer lächerlichen Lüge bedient, um die Armee zum Aufstande zu dringen-, es war nämlich das Gerücht verbreitet worden, Nicolaus maße sich die Krone an, und sein. Bruder Constant!« fti auf dem Marsche gegen Petersburg, um sein Recht mit den Waffen in der Hand zu vertheidigen. uEin solches Mittel hatte man ergriffen, um die Empörer zu vermögen, unter den Fenstern des Palastes ;u schreien: cs lebe die Constitution! Die Rädelsführer hatten ihnen nämlich vorgeredet, die Gemahlin Constantins, ihre Kaiserin, hieße Constitution. Man sieht, daß die Soldaten eigentlich nur nach einem gewissen Pflichtgefühle handelten, weil man sie nur durch eine Lüge hatte zum Aufstande treiben können. Constantin hatte dem Throne aus Schwache entsagt-, er fürchtete vergiftet zu werden; darin bestand seine Philosophie. Gott weiß cs — manche Leute wissen cs vielleicht auch, ^- ob ihn diese Entsagung vor der Gefahr bewahrte, welcher er zu entgehen glaubte. Im Interesse der Legitimität also empörten sich die Hintergangenen Soldaten gegen ihren rechtmäßigen Fürsten. Man hat bemerkt, d^ß der Kaiser, so lange er vor den Truppen blieb, sein Pferd nicht ein einziges Mal in Galopp setzte, so ruhig war er; aber sehr blaß sah er aus. Er prüfte seine Macht, und das Gelingen dieser Probe sicherte ihm den Gehorsam seines Volkes. Ein solcher Mann kann nicht nach dem Maßstabe beurtheilt werden, den man an gewöhnliche Menschen legt. Seine tiefe, gebieterische Stimme, sein magnetischer Blick, 10 der sich fest auf den Gegenstand heftet, welcher ihn anzieht, der aber oft kalt und stier wird, weil er gewohnt ist, mehr noch seine Leidenschaften im Zaume zu halten, als seine Gedanken zu verheimlichen, — denn er ist offenherzig — ; seine stolze Stirn, seine Züge, die etwas von Apoll und von Jupiter haben, nicht sehr beweglich, aber imponirend und gebieterisch sind; sein mehr edles als sanftes, mehr statucn-artiges als menschliches Gesicht hat über Jeden, der sich ihm naht, eine unbegrenzte Gewalt. Er verfügt über den Willen Anderer, weil man s'cht, daß er vollkommen Herr seines eigenen Willens ist. Von unserm writercn Gespräche habe ich noch Folgendes behalten. „Nach der Unterdrückung des Aufstanbes mußten Ew. Maiestat in einer ganz andern Stimmung in den Palast zurückkehren, als Sie denselben verlassen hatten; denn Sie hatten sich nicht nur den Thron, sondern auch die Bewunderung der Welt und die Theilnahme aller edlen Herzen gesichert." „Das glaubte ich nicht; man hat das, was ich damals that, viel zu sehr gerühmt." Der Kaiser erzählte mir nicht, baß seine Gemahlin, als er wieder bei ihr erschien, von einem Kopfzittern befallen war. Diese Nervenschwache Hai sie auch nie wieder gänzlich verlassen. Man bemerkt dieses Zittern kaum, ja an Tagen, wann die Kaiserin ruhig ist und sich wohl befindet, sieht man es gar nicht; sobald sie aber körperlich und geistig leidet, kehrt das Uebel zurück und verschlimmert sich. Die edle Frau muß schwer ge^en ihre Angst gekampft haben, während ihr Gemahl sich so tühn den Streichen und Kugeln der Morder ausschte. Als sie ihn wieder eintreten sah, sank sie ihm sprachlos in die Arme. Der Kaiser beruhigte II sie, fühlte dann aber selbst eine Anwandlung von Schwäche, doch raffte er sich sofort auf, sank cr einem seiner treucsten Diener, der zugegen war, in die Arme und rief aus.- „Welcher Regierungsanfang!" Ich veröffentliche diese Details, denn es kann nur von Nutzen sein, wenn die Niedrigstehenden das Schicksal der Großen minder beneiden lernen. Welche Ungleichheit die Gesetzgeber scheinbar auch zwischen den verschiedenen Ständen unter civilisl'ttcn Menschen begründet haben, die Vorsehung beweiset ihre Gerechtigkeit in einer geheimen Gleichheit, die durch nichts aufzuheben ist, in der Gleichheit de^ Seelenleidcn, die meist in demselben Verhaltnisse größer werden, in welchen die körperlichen Entbehrungen sich verringern. Es giebt weniger Ungerechtigkeit in der Welt, als die Gesetzgeber der Nationen hineingelegt haben und als das Volk gewöhnlich glaubt; die Natur ist gerechter als das menschliche Gesetz. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, wahrend ich mit dem Kaiser sprach, und sie erweckten in meinem Herzen ein Gefühl, das cr schwerlich zu erregen glaubte,— das Gefühl des Mitleidens. Ich fuchte dieses Gefühl so viel als möglich zu verbergen, da ich nicht gewagt haben würde, ihm dasselbe zu gestehen oder die Ursache ;u erklären, und antwortete in Bezug auf das übertriebene Lob, das man ihm wegen seines Verhaltens wahrend des Auf. standes gespendet habe: „So viel ist gewiß, Sire, daß einer der Hauptbeweggründe, die meine Reise nach Rußland veranlaßten, der Wunsch war, mich einem Fürsten zu nahern, der eine solche Macht über die Menschen ausübt," „Die Nüssen sind gut, aber man muß sich würdig Machen, ein solches Volk zu regieren." 12 ,.Ew. Majestät haben besser als einer Ihrer Vorgänger erkannt, was für Nußland paßt." „In Rußland besteht der Despotismus noch, wcil er das Wesentliche meiner Negierung ist, aber er steht im Ein: klänge mit dem Volksgeiste." „Sire, Sie halten Rußland auf dem Wege der Nach: ahmung auf, und wcistn dasselbe auf sich selbst zurück," „Ich liebe mein Vaterland, und glaube es erkannt zu haben; ich versichere Sie, daß ich, wenn ich aller Erbärmlichkeiten der Zeit recht überdrüssig bin, das übrige Europa zu vergessen suche, indem ich mich in das Innere Rußlands zurückziehe." „Damit Sie sich an Ihrer Quelle neu starken?" „Ja. Niemand ist im Herzen mehr Russe, als ich es bin. Ich will Ihnen etwas sagen, was ich keinem Andern sagen würde; aber ich fühle, daß Sie mich verstehen." Der Kaiser unterbrach sich und sah mich aufmerksam an; ich antwortete nicht, und er fuhr fort: „Ich begreife die Republik; es ist eine aufrichtige, ehrliche Negierung, sie kann es wenigstens sein; ich begreife auch die unbeschrankte Monarchie, weil ich an der Spitze einer solchen Ordnung der Dinge stche, aber die repräsentative Regierung begreife ich nicht. Sie ist die Regierung der Lüge, des Betrugs, der Bestechung; ehe ich sie annehme, weiche ich lieber bis nach China zurück." „Sire, ich habe die repräsentative Regierung stets für einen unvermeidlichen Uebergang in gewissen Staaten, zu gewissen Zeiten, gehalten, aber sie löset, wie alle Vergleiche, keine Frage'; sie vertagt die Schwierigkeiten." Der Kaiser schien mir sagen zu wollen: „sprechen Sie." Ich fuhr also fort: 13 „Die repräsentative Regierung ist ein Waffenstillstands-Vertrag, der zwischen der Democratic und der Monarchie unter der Vermittelung zweier sehr gemeiner Tyrannen, der Furcht und des Eigennutzes, abgeschlossen wurde und durch den Stolz des Geistcs, der sich in der Geschwätzigkeit gefallt, wie durch die Volkseitelkeit, die man mit Worten bezahlt, verlängert wird. Sie ist mit einem Worte die Aristocratic der Nede an der Stelle jener der Geburt, denn sie ist die Negierung der Advokaten." „Sie sagen die Wahrheit," cntgcgncte der Kaiser, indem er mir die Hand reichte; „ich war auch constitutioneller Fürst °), und die Welt weiß es, was es mich kostete, weil ich mich den Forderungen dieser infamen Regierungs: weise s— ich führe des Kaisers eigene Worte an —) nicht Uttterwrrfen wollte. Stimmen zu erkaufen, Gewissen zu verführen, die Einen zu verlocken, um dic Andern zu betrügen i — ich habe alle diese Mittel verschmäht, welche eben so entwürdigend für die Gehorchenden sind wie für den Gebietenden, und meine Offenheit theuer bezahlen müssen, aber Gott sei Dank! ich habe diese verhaßte politische Maschine auch gänzlich beseitiget. Ich werde ein constitulionellcr König nicht wieder werden. Es ist mir ein zu dringendes Bedürfniß, das heraus zu sagen, was ick denke, als daß ich jemals einwilligen könnte, ein Volk durch List und In-trigue zu regiercn." Der Name Polen, an den wir beide dachten, wurde in dieser merkwürdigen Unterhaltung nicht ausgesprochen. Der Eindruck, den sie auf mich machte, war groß; ich fühlte mich wie gebeugt; der Adel der Ansichten, welchen der Kaiser mir gezeigt hatte, und der Freimuth seiner Rede ") In Polen. 14 h»ben seine Allmackt in meinen Augen sehr; ich war, ich gestehe es, geblendet. Ein Maim, dem ich, trotz meinen Idem uon Unabhängigkeit, verzeihen mußte, daß er unumschränkter Gcbiettr über sechzig Millionen Menschen ist, war in meinen Augen ein übernatürliches Wesen; aber ich mißtraute meiner Bewunderung, lch glich den Vürgern bei uns, wenn sie suhlen, daß sie nahe daran sind, sich durch die An-muth und Gewandtheit der Männer von ehemals bestechen zu lassen; ihre Neigung verführt sie, sich dem Zauber hin. zugeben, der aus sie einwirkt, aber ihrc Grundsätze wider: stehen; sie bleiben steif und starr und stellen sich so unempfindlich als möglich; einen ähnlichen Kampf kämpfte auch ich. Es liegt nicht in meiner Natur, an dem menschlichen Worte zu zweifeln, wahrend ich es höre. Ein Mensch, der spricht, ist für mich das Werkzeug Gottes-, erst nach langer Ueberlegung und Erfahrung erkannte ich die Möglichkeit der Berechnung und der Verstellung an. Sie werden dies für albern halten, es ist vielleicht auch so, aber mir gefallt diese Geistesschwache, weil sie etwas von Seeknstarke hat; ich glaube in meiner Ehrlichkeit an die Aufrichtigkeit eines Andern, selbst an die eincs Kaisers von Rußland. Auch die Schönheit des jetzigen Kaisers von Rußland ist für ihn ein Ueberredungsmittel, denn diese Schönheit ist eben so eine geistige als körperliche. Ich schreibe ihre Wirkung noch mehr der Wahrheit der Empfindungen, die sich gewöhnlich in seinem Gesichte aussprechen, als der Regelmäßigkeit der Züge zu. Ich hatte diese interessante Unterhaltung mit dem Kaiser bei einem merkwürdigen Balle der Prinzessin uon Oldenburg, der auch beschrieben zu werden verdient. Die Prinzessin von Oldenburg, geborne Prinzessin von Nassau, ist durch ihren Gemahl mit dem Kaiser sehr nahe 15 verwandt. Sie wollte zur Feier der Vermählung der Großfürstin Marie eine Soir«-e geben; da sie aber weder die Pracht der vorhergegangenen Feste überbitten> noch an Reichthum mit d?m Höft wctteiftrn konnte, so tam sie auf die Idee, einen >>»> clnl»!s,«'ls« zu improvisiren. Der Erzherzog von Oesterreich, der vor zwei Tagen angekommen war, um den Festlichkeiten in Petersburg beizuwohnen, die Gesandten der ganzen Welt (seltsame Acteurs in einem Schaferspicle), ganz Rußland endlich und alle fremden großen Herren hatten sich in einem Garten uer-sammelt, in welchem man auf- und abwandelte, und in welchem Orchester in entlegenen Voskets versteckt warcn. Dcr Kaiser giebt bei jedem Feste den Ton an; der Tagesbefehl lautete diesmal' anständige Naivetät oder die elegante Einfachheit des Horaz. Das war lxnn den ganzen Abend hindurch die vorherrschende Stimmung aller Gemüther, auch bei dem diplomatischen Corps; ich glaubte eine Ekloge, nicht eine von Thcocrit oder Virgil, sondern von Fontenclle, zu lesen. Man hatte bis elf Uhr Abends im Freien getanzt, und als der Thau die Köpfe und Schultern der jungen und alten Damen hinreichend benetzt hatte, welche diesem Siege des menschlichen Willens über oas (5lima beiwohnten, begab man sich in den kleinen Palast, die gewöhnliche Sommerwohnung der Prinzessin von Oldenburg. Im Mittelpunkte der Villa (russisch «I^«-!^) befand sich eine von Gold und Kerzenlicht strahlende Rotunde; in diesem Saale wurde der Vall fortgesetzt, während die Nicht-tanzendcn sich in dem übrigen Theile des Palastes zerstreuten. Das Licht ging von dem Mittelpunkte aus und verbreitete seine Strahlen nach außm. Diese glanzende Rotunde war in meinen Augen die Bahn, auf welcher sich 16 das kaiserliche Gestirn bewegte, dessen Licht den ganzen Palast erleuchtete. In der ersten Etage hatte man Zelte auf Terrassen aufgeschlagen, um da die Tafel für den Kaiser und die für die zum Souper eingeladenen Gaste aufzustellen. Es herrschte bei diesem weniger zahlreich besuchten Feste eine so schön geordnete Unordnung, daß es mich mehr unterhielt als alle Andere. Ungerechnet die komische Gezwunaenheit, die sich auf manchen Gesichtern aussprach, welche auf eine gewisse Zeit die ländliche Einfachheit erheucheln mußten, war es ein ganz origineller Abend, eine Art kaiserlichen Tivoli's, wo man sich fast frei fühlet, obgleich ein unumschränkter Gebieter gegenwartig war. Der Fürst, der sich amüsitt, erscheint nicht mehr als Despot, und an diesem Abende amüsirte sich der Kaiser. Ich habe bereits erwähnt, daß man im Frcien getanzt hatte; glücklicherweise war die Prinzessin durch die außerordentliche Warme dieses Jahres in ihrem Plane unterstützt worden. Ihr Sommerpalast liegt im schönsten Theile der Inseln, und hier, in einem Garten voll Blumen — in Töpfen, die aber alle ganz natürlich auf dem englischen Rasen — einem zweiten Wunder — gewachsen zu sein schienen, hatte sie einen offenen Tanzsaal einrichten lassen, — ein prächtiges Salonparket auf einem Rasenplätze, umgeben von zierlichen mit Blumen besetzten Gelandern. Dieser originelle Saal, dessen Decke der Himmel bildete, glich dem Verdecke eines Schisses, das an irgend einem Feste sich mit allen Flaggen geschmückt hat. Auf der einen Seite gelangte man dahin auf einigen Stufen, die von dem Rasen aufwärts stiegen, auf der andern auf einer Vortreppc an der Halle des Haui/s, die unter Lauben von exotischen Blumen versteckt war. Der Luxus seltener Blumen erseht ____17____ hier zu Lande die Seltenheit der Bäume. Die Menschen, die es bewohnen, die aus Asien kamen, um sich in dem Nordischen Eise einzuschließen, erinnern sich durch den orientalischen Luxus an ihr ursprüngliches Vaterland und bieten Alles auf, um der Unfruchtbarkeit der Natur nachzuhelfen, welche nur Birken und Kiefern wachsen laßt. Die Kunst erzeugt hier in Treibhäusern ein? unendliche Menge uon Gesträuchen und Pflanzen, und da einmal Alles künstlich ist, so bleibt cs sich gleich, ob man amerikanische Blumen oder französische Veilchen, französischen Flieder wachsen läßt. Nicht die eigentliche Fruchtbarkeit des Bodens schmückt die Luxuswohnungen in Petersburg, — die Civilisation benutzt vielmehr alle Reichthümer der Welt, um die Armuth der Erde und den Geiz des Polarhimmels zu verdecken. Wundern Sie sich nun nicht mehr über die Großsprechereien der Nüssen; die Natur ist für sie nur ein Feind rnchr, den sie durch Ausdauer besiegen; in allen ihren Vergnügungen liegt etwas von Sieqesfreude und Sicgcsstolz. Die Kaiserin tanzte, so zart sie auch ist, mit bloßem Halse und unbedecktem Kopfe jede Polonaise auf dem zierlichen Parket des prachtigen „landlichen Balles," den ihr ihre Cousine gab. In Nußland verfolgt Jedermann seine Laufbahn, bis ihn die Kräfte ganzlich verlassen. Die Kaiserin hat die Pflicht auf sich, sich zu Tode zu amüsiren. Eic wird ihre Obliegenheit erfüllen, wie die andern Sclaven die ihrige erfüllen; sie wird ranzen, so lange sie es vermag. Diese deutsche Prinzessin, das Opfer einer Frivolität, die ihr so drückend sein muß wie dem Gefangenen die Kette, rrfteut sich in Rußland eines in allen Landern, in allen Standen ftltenen, in dem Leben einer Kaiserin aber einzigen Glückes, sie hat eine Freundin. Ich habe von diefer Dame II. 2 18 bereits gesprochen; ich meine die Baronin von "", geborene Gräsin von "". Seit der Vermählung der Kaiserin haben sich die beiden Frauen, deren Geschicke so ganz verschieden sind, fast nie getrennt. Die Baronin, eine Frau von aufrichtigem Character, mit hingebendem Herzen, hat ihre Gunst nicht benutzt; der Mann, dem sie ihre Hand gab, ist einer der Ofsiciere in der Armee, welchen der Kaiser sehr viel verdankt, denn der Baron "" rettete ihm in dem Ausstände bei der Thronbesteigung das Leben, indem er sich mit nicht berechneter Aufopferung für ihn blosstellte. Eine solche muthige That kann nicht lxzahlt werden, und deshalb bezahlt man sie auch nicht. Uebrigens wissen die Fürsien von keinem andern Danke, als von dem, welchen sie sich erwerben, und auch darauf legen sie keinen Werth, weil sie immer Undank erwarten. Dank stött sie in ihren Verstandesberechnungcn mehr, als er sie in Herzensleiden tröstet. Er ist eine Lehre, die sie nicht gern erhalten; denn es scheint ihnen leichter und bequemer zu sein, die Menschen m Masse zu verachten. Es gilt dies von allen Mächtigen, vorzugsweise aber von den Mächtigsten. Der Garten wurde dunkel, eine Musik in der Ferne antwortete dem Ball-Orchester und verscheuchte harmonisch die Trauer der Nacht, welche in diesen einförmigen Waldungen, in dem der Freude feindlichen Clima nur zu natürlich ist. Ein Arm der Newa fließt langsam — alles Waffer scheint hier zu stehen — vor den Fenstern des kleinen Fürstenhauses vorbei, das die Prinzessin von Oldenburg bewohnt. An diesem Abende war der Fluß von Böten mit Neugierigen brdeckt, während es auf dem Wege von Fußgängern wimmelte, von einer namenlosen Menge, die aus 19 Bürgern besteht, dle so leibeigen sind wie die Bauern, aus leibeigenen Arbeitern, aus Höflingen der Höflinge, wclche sich zwischen den Wagen der Fürsien und Großen hindurch drängten, um die Livree des Herrn ihrer Herrn zu begaffen. Dieses Schauspiel kam mir pikant und originell vor. Die Namen sind in Nußland dieselben wie anderswo, aber die Dinge sind ganz anders. Ich begab mich oft aus dem Ballraume hinaus, um unkr den Bäumen des Parks hinzuwandeln und über das Trübselige einer Festlichkeit in einem solchen Lande nachzudenken. Das Nachdenken war indeß von kurzer Dauer, denn der Kaiser wollte sich nochmals mit mir beschäftigen. Er hatte entweder in meinen Gedanken irgend ein ungünstiges Vorurtheil erkannt, das aber nur das Resultat von dem war, was ich über ihn gehört hatte, ehe ich ihm vorgestellt worden, denn seine Persönlichkeit und seine Gespräche hatten einen nur günstigen Eindruck auf mich gemacht, oder es unterhielt ihn, einige Augenblicke mit einem Manne zu sprechen, der anders war als die, welche er taglich sieht, oder die Frau von ... hatte ihn günstig für mich gestimmt, — ich kann mir die wahre Ursache einer so hohen Gnade nicht entrathftln. Dcr Kaiser ist nicht blos gewohnt, Handlungen zu gebieten, er versteht auch Herzen zu beherrschen; vielleicht wollte er das meinige erobern, vielleicht reizte das Eis meiner Schüchternheit seine Eitelkeit; denn der Wunsch, zu gefallen, ist bei ihm natürlich. Wenn man die Bewunderung erzwingt, verschasst man sich auch Gehorsam. Vielleicht wünschte er seine Macht über einen Auslander zu erproben, vielleicht war es aber auch der Instinct eines Mannes, der lange die Wahrheit entbehrte und einmal cinen wahrhaftigen Character zu finden glaubt. Ich wiederhole es, ^seine eigentlichen Beweggründe sind mir unbekannt; so viel aber 2" 20 ist gewiß, daß ich ihm diesen Abend nicht begegnen tonnte, ohne daß er mit mir zu sprechen anfing. Als cr mich in den Ballsaal zurückkommen sah, sagte er zu mir: „Was haben Sie diesen Vormittag gesehen?" „Das naturhistorische Cabinet und das berühmte Mam-muth aus Sibirien, Sire." „Das ist einzig in der Welt." „Ja, Sire; es giebt in Rußland Vieles, was man nirgends findet." „Sie schmeicheln." „Ich verehre Ew. Majestät viel zu sehr, als daß ich zu schmeicheln wagte; vielleicht fürchte ich Sie aber nicht mehr genug und sage Ihnen unverholm meine Gedanken, selbst wenn die Wahrheit einem Compliment,,' ahnlich sieht." „Das ist ein sehr feines Compliment; die Auslander verwöhnen uns." „Sire, Ew. Majestät wünschten, daß ich allen Zwang Ihnen gegenüber ablege, und es ist Ihnen gelungen, wie Alles, was Sie unternehmen; Sie haben mich, wenigstens auf einige Zeit, von meiner angebornen Schüchternheit befreit." Da ich jede Anspielung auf die großen politischen Tagesinteressen vermeiden mußte, so wünschte ich das Gesprach wieder auf einen Gegenstand zu leiten, der mich wenigstens ebens so sehr interessirte; ich setzte deshalb hinzu: „Ich erkenne jedesmal, wenn Sie mir erlauben, mich Ihnen zu nahern, mehr und mehr die Macht an, welche am Tage Ihrer Thronbesteigung Ihre Feinde zwang, vor Ihnen auf die Kniee zu fallen." „Man hegt in Ihrem Vaterlande Vorurtheile gegen uns, die schwerer zu besiegen sind als die Leidenschaften eincs empörten Heeres." 21 „Sire, man sieht Sie in zu großer Ferne; wenn Ew. Majestät bekannter wären, würom Sie höher geachtet werden, und bci uns, wie hier, viele Bewunderer finden. Schon der Anfang Ihrer Regierung hat Ihnen gerechtes Lob erworben; Sie stiegen eben fo hoch, vielleicht noch höher, zur Zeit der Cholera, denn bci diesor zweiten Empörung entwickelten Ew. Majestät dieselbe Autorität, die aber durch die edelste Aufopferung gemildert war; es gebricht Ihnen in der Gefahr nie an Kraft." „Die Augenblicke, an welche Sie mich erinnern, waren ohne Zweifel die schönsten meines Lebens; nichtsdestoweniger erschienen sie mir als die schrecklichsten." „Ich verstehe Sie, Sire; um die Natur in sich selbst und in Andern zu bezähmen, ist eine Anstrengung nöthig..." „Eine furchtbare Anstrengung," unterbrach mich der Kaiser mit einem Ausdrucke, der mich ergriff, „man fühlt es erst spater." „Ja, aber man war erhaben." „Ich bin nicht erhaben gewesen; ich that nur, was meines Amtes war; in solchen Fallen kann Niemand wls-sen, was er sagen wird. Man stürzt sich der Gefahr entgegen, ohne sich zu fragen, wie es enden werde." „Gott begeisterte Sie, Sire, und wenn man zwei so unähnliche Dinge, wie Poesie und Regierung, mit einander vergleichen könnte, würde ich sagen: Sie handelten, wie die Dichter singen, auf das Gebot der Stimme von oben." „Es lag in meiner That durchaus keine Poesie." Ich bemerkte, daß mein Vergleich nicht für schmeichelhaft gehalten wurde, weil er nicht in dem Sinne des lateinischen Wortes: Poet genommen worden war. Man pflegt arn Hofe die Poesie für ein Spiel des Verstandes anzusehen. Ich hatte eine weitläufige Erörterung beginnen müssen, 22 um zu beweisen, daß sie das reinste und hellste Seelenlicht ist, und schwieg deshalb lieber; der Kaiser aber glaubte ohne Zweifel, ich würde, wenn er sich entferne, wahrscheinlich fürchten, ihm mißfällig gewesen zu sein, er hielt mich also, zur größten Verwunderung des Hofes, noch länger zurück und nahm mit der freundlichsten Liebenswürdigkeit das Gespräch wieder auf. „Welchen bestimmten Reiseplan haben Sie?" fragte er mich. „Nach dem Feste in Ptterhof denke ich nach Moskau abzureisen, von wo ich die Messe zu Nischnei besuchen, in Moskau aber vor der Ankunft Ew. Majestät zurück sein werde." „Desto besser. Ich würde mich freuen, wenn Sie meine Arbeiten im Kreml im Einzelnen sehen könnten. Meine Wohnung dort war zu klein; ich lasse eine zweckmäßigere bauen und werde Ihnen meine Plane zur Verschönerung dieses Theiles von Moskau, den wir für die Wiege des Reiches halten, selbst auseinander setzen. Aber Sie haben keine Zeit zu verlieren, denn Sie muffen ungeheure Entfernungen zurücklegen; diese sind die Geißel Rußlands." „Sire, beklagen Sie sich nicht darüber; es sind dies auszufüllendre Cadres. An andern Orten fehlt es den Men schen an Erde; Sie werden nie Mangel daran haben." „Die Zeit gebricht mir." „Die Zukunft gehört Ihnen." „Man kennt mich wenig, wenn man mir meinen Ehrgeiz zum Vorwurfe macht; weit entfernt, unser Gebiet ausdehnen zn wollen, möchte ich vielmehr die ganze Bevölkerung Rußlands um mich her zusammenziehen. Nur die Armuth und die Barbarei wünsche ich zu besiegen; das 23 Schicksal der Russen zu verbessern, würde viel besser sein, als wenn ich mich vergrößerte. Wenn Sie wüßten, ein wie gutes Volk das russische ist, wie sanft, wie natürlich liebenswürdig und höflich! Sie werden es in Peterhof sehen, aber ich möchte es Ihnen hier am ersten Januar zeigen." Dann kam er wieder auf sein Liedlingsthema und sagte: „aber es ist nicht leicht, sich würdig zu machen, ein solches Volk zu regieren." „Ew. Majestät haben schon viel für Nußland gethan." „Bisweilen fürchte ich, nicht Alles gethan zu haben, was ich hätte thun können." Dieses christliche Wort, das aus dem Herzen kam, rührte mich bis zu Thränen, und machte einen um so tiefern Eindruck, als ich leise zu mir sagte: der Kaiser ist doch schlauer als ich; wenn er irgend ein Interesse hatte, dies zu sagen, würde er auch fühlen, daß er es nicht aussprechen dürfe. Er verrieth mir also ganz einfach eine schöne und edle Gesinnung, die Scrupcl eines gewissenhaften Fürsten. Dieser rcinmenschlichc Ausruf, der aus einem Herzen kam, das Alles mit Stolz zu erfüllen bemüht gewesen war, ergriff mich gewaltig. Wir waren nicht allein, und ich suchte meine Rührung zu verbergen; der Kaiser aber, der mehr auf das antwortet, waH man denkt, als auf das, was man sagt (und darin liegt hauptsächlich der Reiz sei, ner Unterhaltung, die Wirkungskraft seines Willens) bemerkte ben Eindruck, den er gemacht hatte und den ich zu verbergen suchte; cr trat in dem Augenblicke, als er mich verlassen wollte, naher zu mir, nahm mich wohlwollend an der Hand, drückte sie mir und sagte: „Auf Wiedersehen!" Der Kaiser ist der einzige Mann im Reiche, mit dem wan sprechen kann, ohne die Angeber fürchten zu müssen; ^ ist auch bis jetzt der einzige, bei dem ich natürliche 24 Empfindungen und eine aufrichtige Sprache gefunden habe. Lebte ich in diesem Lande, und ich hätte ein Geheimniß zu verbergen, ich würbe es zuerst ihm anvertrauen. Alle Etikette, jede Schmeichelei bei Seite gefetzt, ich halte den Kaiser für einen der ersten Männer in Rußland. Kein Anderer hat mich würdig gehalten, so offen mit mir zu sprechen, wie es der Kaiser that. Wenn er, wie ich glaube, mehr Stolz als Eitelkeit, mehr Würde als Anmaßung besitzt, so müßte er im Allgemeinen mit den verschiedenen Schilderungen, die ich nach einander von ihm entworfen habe, namentlich mit dem Eindrucke, den seine Cprache auf mich gemacht hat, zufrieden sein. Ich sträube mich wirklich mit aller Kraft gegen den Zauber, den er ausübt. Ich bin gewiß nichts weniger als revolutionair, aber ich bin von der Revolution angesteckt, — weil ich in Frankreich geboren wurde und da lebe. Ich habe indeß auch noch einen andern Grund zur Erklärung des Widerstandes, den ich der Einwirkung des Kaisers auf mich entgegensetzen zu müssen glaube. Ich bin Aristocrat aus Character und Ueberzeugung und fühle, daß nur die Aristocratic den Verlockungen wie den Mißbrauchen der unbeschränkten Macht widerstehen kann. Ohne Aristocratic giebt es in den Monarchien wie in den Democratien nur Tyrannei; der Despotismus empört mich unwillkürlich und verletzt alle Begriffe von Freiheit, die in meinem politischen Glauben wie in meinem innern Gefühle wurzeln. Der Despotismus geht eben sowohl aus der allgemeinen Gleichheit, wie aus der Autocratic hervor; die Macht eines Einzigen und die Macht Allcr führt zu einem und demselben Ziele. Unter der Democratic ist das Gesetz ein Verstandes» wesen, unter der Autocratic dagegen ein Mensch, und mit diesem laßt sich immer noch leichter unterhandeln als mit 25 den Leidenschaften Aller. Die absolute Democratic ist eine rohe Kraft, ein politischer Strudel, und weit mehr taub, blind und unerschütterlich als der Stolz irgend eincs Flir-sten! Kein Aristocrat kann ohne Widerwillen das despotische Glcichmachungssysmn unter den Völkern üben sehen, und doch gcschieht dics in den reinen Democratien wie in den unumschränkten Monarchien. Uebrigens würde ich, wenn ich Fürst wäre, die Gesellschaft Derjenigen vorziehen, welche in mir durch den Fürsten hindurch den Menschen sahen, namentlich wenn ich, meiner Titel entkleidet, noch «in Recht hätte, für einen ehrlichen, festen und rechtschaffe: nen Menschen gehalten zu werden. Fragen Sie sich ernstlich und sagen Sie mir, ob aus Allem, was ich Ihnen seit meiner Ankunft in Rußland über den Kaiser Nicolaus erzählt habe, hervorgeht, daß dieser Fürst unter der Idee stehe, die Sie sich von sVincm Character gebildet, bevor Sie meine Briefe gelesen hatten. Ihre Antwort wird, wenn sie aufrichtig ist, meine Rechtfertigung sein. Unsere häufigen Gespräche vor anderen Personen verschafften mir zahlreiche neue Bekanntschaften und die Er« Neuerung von alten. Mehrere Personen, die ich ftüher ge: scheu, kamen mir entgegen, aber erst seit sie bemerkten, daß ich der Gegenstand des besondern Wohlwollens des Gebieters sei. Diese Personen geboren zu den ersten am Hofe, und Leute von Welt, besonders Angestellte, pflegen mit Allem sparsam zu sein, ausgenommen mit ehrgeizigen Berechnungen. Um am Hofe Ansichten zu bewahren, die über das Gewöhnliche sich erheben^ muß man eine sehr edle Seele besitzen, und die edlen Seelen sind selten. Man kann es nicht oft genug wiederbolen, — es gicbt 'n Rußland keine großen Herren, weil es keine unabhangi: 3w Charactere giebt, ungewöhnliche Seelen ausgenommen, 26 die der Zahl nach zu gering sind, als daß oie Welt ihren Wünschen gehorchen könnte. Der Stolz, den eine hohc Geburt gicdt, macht den Menschen unabhängig, mehr als der Reichthum, mehr als der Rang, den man durch die Betriebsamkeit erwirbt, und ohne Unabhängigkeit giebt es keinen großen Herrn. Rußland, das in vieler Hinsicht von uns so verschieden ist, gleicht dennoch in einem Punkte Frankreich, — es fehlt ihm die Abstufung in der Gesellschaft. In Folge dieser Lücke in dem Staatskorpcr cxistirt in Rußland die allgemeine Gleichheit, wie sic in Frankreich existirt; auch ist in beiden Landern die Masse der Menschen unruhigen Geistes; bei uns bewegt sie sich lärmend, in Rußland sind dagegen die politischen Leidenschaften concentric!. In Frankreich kann Jeder von der Nednerbühne aus Alles erreichen, in Nußland vom Hofe aus; der geringste Mensch kann, wenn er dem Gebieter zu gefallen versteht, morgen der Erste nach dem Kaiser werden. Die Gunst dieses Gottes ist ein Reizmittel, welches die Ehrgeizigen antreibt, Wunder zu thun, wie bei uns das Streben nach Popularität die wunderbarsten Umwandlungen bewirkt. Man wird in Petersburg auf dieselbe Wcise oemüthigcr Schmeichler, wie man in Paris ein erhabener Redner wird. Welches Veobach-tungstalent mußten die russischen Höflinge aufbieten, um zu emuttcln, daß man dcm Kaiser gefalle, wenn man im Winter ohne Ucberrock durch die Straßen von Petersburg' geht! Diese heroische Schmeichelei direct gegen das Clima und indirect gegen den Kaiser hat schon mehr als einem Ehrgeizigen das Leben gekostet. Ehrgeizig ist indeß zu viel gesagt, denn man schmeichelt hier uneigennützig. Sie können sich denkcn, daß man in einem Lande leicht mißfallen kann, wo man aus solche Weise zu gefallen sucht. Zwei 27 Arten des Fanatismus, zwei Leidenschaften, die größere Aehnlichkeit mit einander haben, als es auf den ersten Blick scheint, der Stolz auf Popularität und die frivole Selbstverleugnung der Höflinge, wirken Wunder; der erste erhell die Sprache zum Gipftl der Veredtsamkcit, die letztere giebt die Kraft oes Schweigens; beide aber haben ein und dasselbe Ziel im Auge. Es sind also unter dem schrankenlosen Despotismus die Geister so aufgeregt und unruhig, wie unter der Republik, nur mir dem Unterschiede, daß die stumme Unruhe der Unterthanen der Autocratie die Gemüther tiefer aufwühlt, weil der Ehrgeiz sich in Geheimniß hüllen muß, um unter einer unbeschrankten Regierung seinen Zweck zu erreichen. Vei nns muffen die Opfer, wenn sie Nutzen bringen sollen, öffentlich geschehen, hier dagegen unbekannt bleiben. Der allmächtige Fürst haßt nichts so sehr, als einen öffentlich sich aufopfernden Unterthanen; jeder Eifer, der über einen blinden und sclavischen Gehorsam hinausgeht, wird ihm lastig „no verdächtig; die Ausnahmen führen zu Ansprüchen, Ansprüche verwandeln sich in Rechte, und unter einem Despoten ist der Unterthan, welcher Rechte zu haben glaubt, ein Rebell. Der Marschall Paskicwiisch könnte die Wahrheit dieser Bemerkungen bestätigen; man wagt es nichr, ihn zu zer, malmen, aber man annullirt ihn so sehr als möglich. Ehe ich meine Reise machte, hatte ich mir meine Ideen über den Despotismus durch die Beobachtung der Gesellschaft in Oesterreich und Preußen gebildet. Ich dachte Nicht daran, daß diese Staaten nur dem Namen nach despotische sind, und daß die Sitte dort häufig für die Institutionen eintritt; ich sagte mir: hier scheinen despotisch regierte Völker die glücklichsten Menschen auf der Erde zu sein; der durch milde Gewohnheiten gemäßigte Despotismus 28 ist also nicht so Hassmswerth, als unsere Philosophen uns einreden wollen; -— ich hatte noch keine unbeschrankte Regierung mit einer ^^ation von Sclaven gesehen. Man muß nach Nußland kommen, wenn man das Resultat dieser schrecklichen Verbindung des Geistes und der Wissenschaft Europas mit dem Genius Asiens schen will; ich halte es für um so furchtbarer, weil es von Dauer sein kann, da der Ehrgeiz und die Furcht, die Leidenschaften, welche an andern Orten den Menschen dadurch in's Verderben stürzen, daß sie ihn veranlassen, zu viel zu sagen, hier Schweigen hervorbringen. Dieses gewaltsame Schweigen erzeugt eine erzwungene Nuhe uno eine scheinbare Ordnung, die starker und schrecklicher ist als die Anarchie, weil das Unbehagen, das sie bewirkt, ewig zu sein scheint. Ich gebe in der Politik nur sehr wenig Grundideen zu, weil ich in Bezug auf Negierung mehr an die Wirksamkeit der Umstände als der Principien glaube; meine Gleichgültigkeit geht aber nicht so weit, daß ich auch Instimtioncn duldete, welche meiner Meinung nach die Characterwürde nothwendig ausschließen muffen. Vielleicht brachten eine unabhängige Justiz und eine starke Aristocratie den russischen Gemüthern Nuhe und dem Lande Glück; ich glaube aber nicht, daß der Kaiser an diese Mittel, den Zustand seiner Völker zu verbessern, denkt; ein wie überlegener Mensch er auch sein mag, er wird es nicht freiwillig aufgeben, selbst das Glück Anderer zu schaffen. Mit welchem Rechte wollten wir übrigens den Kaiser von Rußland wegen seiner Herrschsucht tadeln? Ist die Revolution in Paris nicht eben so tyrannisch, wie es der Despotismus in Petersburg isN Wir sind es uns jedoch selbst schuldig, hier eine Beschränkung eintreten zu lassen, um den Unterschied zwischen dem socialen Zustande der bei- 29 den Länder zu charactcrisiren. In Frankreich ist die Revolutions-Tyrannei cin vorübergehendes U^bel, in Rußland ist die Tyrannei des Despotismus cin? pcrinanente Revolution. Eie können sich glücklich schätzen, daß ich von dem Gegenstände dieses Briefes abgekommen din; ich hatte ihn angefangen, um Ihnen das erleuchtete Theater und die Vorstellung «'» ^!.l zu beschreiben, und die Uebersetzung, die Pantomime (russischer Ausdruck) eines französischen Ballets zu analvsir.n. Hätte ich wieder daran gedacht, so würden Sie Ihren Antheil von der Langeweile «halten haben, die ich ertragen mußte, denn diese dramatische Festlichkeit ermüdete mich, ohne zu blenden, trotz den goldbeladenen Fracks der Zuschauer; aber auch der Tanz in dcr Oper in Petersburg ohne die Taglioni ist steif und kalt wie alle Tänze in den europäischen Theatern, wcnn sie nicht durch die ersten Talente in der Welt ausgeführt werden, und die Anwesenheit des Hofes erwärmt Niemanden, weder die Künstler noch die Zuschauer. Sie wiffen, daß es im Beisein des Kaisers nicht erlaubt ist zu klatschen. Die Künste, wie sie in Petersburg disciplinirt sind, bringen bestellte Zwischenspiele hervor, welche vielleicht Soldaten in der Zeit zwischen dcn Exercitien unterhalten können. Es ist Alles mchc oder minder prachtig, königlich, kaiserlich, — aber durchaus nicht unterhaltend. Die Künstler bereichern sich hier, begeistern sich aber nicht; Reichthum und Eleganz sind allerdings den Talenten nühlich, aber Unentbehrlich sind d^r gute Geschmack und die geistige Freiheit des urtheilenden Publicums. Die Russen haben den Punkt der Civilisation noch nicht erreicht, auf welchem man an dcn Künsten sich wirklich erfreuen kann. Bis jetzt ist ihr Enthusiasmus leine Eitelkeit, eine Prätmtion wie ihre Vorliebe für die griechische 30 Nrchitectur und die classische Säule. Das Volk möge zu sich selbst zurückkehren, auf seinen eigenen Genius hören, und es wird, wenn es uon dem Himmel die Empfänglichkeit für die Kunst erhielt, den Copicn entsagen, um das zu schaffen, was Gott und die Natur von ihm erwarten; bis dahin wird alle Prachtliebe für die kleine Zahl der Russen, die wahre Verehrer des Schönen sind und in Petersburg vegetiren, einen Aufenthalt in Paris oder eine Reise in Italien nicht aufwiegen. Das Opernhaus ist nach dem Plane der Theater in Mailand und Neapel gebaut; diese sind aber edler und machen einen weit wohlthuendem Eindruck als Alles, was ich bis jetzt in dieser Art in Rußland gesehen habe. Vierzehnter Brief. Petersburg, den 22. Juli !539. Die Einwohnerzahl von Petersburg beläuft sich auf 45)0,000 Seelen ohne das Militär, wie die gut patriotischen Russen !"M; wohlunterrichtete Leute aber, die hier deßhalb für Böswillige gelten, versichern, sie betrage mit der Garnison "och nicht 4ll0Ml). So viel ist gewiß, daß diese Stadt dcr Paläste mit ihren ungeheuren leeren Näunnn, welche man Pla^e nennt, mit Pl.iukcn umgebenen Feloparzeücn gleicht. In den von dem Mittelpunkte en'tftmten Theilen bilden die kleinen hölzernen Hauser die Mehrzahl. Die Russen sind aus einer Vereinigung von Völkerschaften hervorgegangen, welche lange nomadisch und immer kriegcnsch waren, und sie haben das Bivouac-Leben noch Nicht ganz vergessen. Alle vor Kurzem aus Asien angekommenen Völker lagern in Europa wie die Tütken. Petersburg ist der Stab einer Armee, nicht die Hauptstadt einer Nation, und so prachtig auch diele Milit^kstadl ist, so kommt sie doch einem Manne aus dem Westen kahl vor. „Die Entfernungen sind die Geißel Rußlands," s^gte der Kaiser zu mir, und es ist dies eine Bemerkung, deren Nichtigreit man in dm Strain Petersburg erproben kann, weshalb man hier auch nicht aus Luxus in einem Wagen mit vier Pferden fahrt. Ein Besuch ist hicr eine kleine Neise. Die russischen feurigen Pferde besitzen die Muskelkraft 32 der unsrem nicht; das rauhe Pflaster ermüdet sie; Mi Pferden würde rs schwer werden^ einen gewöhnlichen Wa-gen in den Straßen von Petersburg lange zu ziehen; das Viergespann ist deßhalb für Jeden, der einigermaßen Geftll-schaften besuchen will, ein unabwcislichrs Bedürfniß. Ab« nicht alle Russen haben das Recht, vier Pferde an ihren Wagen zu spannen; man giebt diese Erlaubniß nur Personen von einem gewissen Range. Wenn man sich nur wenig von dem Mittelpunkte entfernt, verirrt man sich in Gegenden mit Hütten, welche bestimmt zu sein scheinen, Handwerker aufzunehmen, die wegen irgend einer großen Arbeit da vorübergehend zusammengedrängt sind. Es sind Fourage-Magazine, Schuppen voll von Vckleidungbstücken und allen Artcn Vorrathen für die Soldaten; man glaubt bei einer Revue zu sein oder es müsse ein Markt beginnen, der aber nie anfangt. Es wächst Gras in diesen immer öden sogenannten Straßen, weil sie für die Dawohnenden viel zu geräumig sind. Es sind den Häusern so viele Peristyle angefügt, so viele Portiken zieren die Casernen, wrlche Palaste gleichen, man hat bei Erbauung dieser provisorischen Hauptstadt einen so großen Luxus mit geborgten Verzierungen aufgeboten, daß ich auf den wegen ihrer Große und namentlich wegen ihrer ewigen Regelmäßigkeit immer stillen und traurigen Platzen Petersburgs mehr Säulen als Menschen zahle. Das Richtmaß oder die Schnur paffen so gut zu der Art, wie unumschränkte Fürsten die Dinge anzusehen pflegen, daß die geraden Winkel die Klippe der despotischen Architektur sind. Die lebendige Architectur — erlauben Sie mir diesen Ausdruck — laßt sich nicht befehlen, sie entsteht gleichsam von selbst lind geht wie unwillkürlich aus dem Genius und den Bedürfnissen des Volkes hervor. Wird eine große Nation 33 geschaffen, so wird unfehlbar auch eine Architects hervorgerufen, und ich würde mich gar nicht wundern, wenn man bewiese, daß es so viele, Original-Bauarten gäbe als Stammsprachen. Uebrigens ist bic Manie der Symmetrie den Russen nicht ausschließlich eigcn. Wir selbst habm sie von der Kaiserzcit geerbt. Ohne diesen schlechten Geschmack der pariser Architecten winoen wir schon langst einen vernünftigen Plan zur Verzierung und Vollendung unseres monströsen Carrousel-Platzes lMen; aber die angebliche Nothwendigkeit der Parallelen hält Alles auf. Als geniale Künstler allmälig ihre Bemühungen vereinigten, um den großherzoglichen Platz in Florenz zu einem der schönsten in der Welt zu machen, ließen sie sich keines-wcgs durch die Passion für gerade Linien und symmetrische Gebäude tyrannisiren; sie sahen vielmehr die Schönheit in der Freiheit, außerhalb langer Vierecke und vollkommener Vierecke. Statt des Kunstgefühles und der freien Schöpfung dcr Phantasie nach in dem Volke liegenden Thatsachen leitete ein mathematisch richtiges Augenmaß die Erschaffung P^röburgs. Man kann deshalb auch keimn Augenblick vergessen, wenn man diese Heimath geistloser Gebäude durchwandert, daß es eine Stadt ist, die durch einen einzigen Mann, nicht durch ein Volk hervorgerufen wurde. Die Entwürfe sehen kleinlich aus, obgleich die Dimensionen in's Ungeheuerliche gehen. Alles laßt sich befehlen, nur nicht die Grazie, die Schwester der Phantasie. Die Hauptstraße Petersburgs ist die Newski-Perspective, eine dn- drei Straßen, die auf den Admiralitatspalast stoßen. Disse drei Linien, welche eine Gansepfotc bilden, theilen die südliche Stadt, welche, wie Versailles, sacherför-wig ist, regelmäßig in fünf Theile Diese Stadt, welche "> 3 34 zum Theil neuer ist, als der durch Peter l. bei dcn Inseln geschaffene Hafen, hat sich, gegen den eisernen Willen des Gründers, auf dem linken Nser der Newa ausgedehnt; diesmal war die Furcht vor Ueberschwcmmung größer, als die Furcht vor dem Ungehorsam, und die Tyrannei der Natuv überwand dcn Despoten. Die Newski-Perspective verdicnt schon etwas ausführ-licher beschrieben zu werden. Es ist eine schöne, eine Stunde lange Straße von der Breite unserer Boulevards, und in mehreren Theilen derselben hat man eben so unglückliche Baume angepflanzt wie in Paris; sie dient als Promenade und Sammelplatz aller Müssiggänger in der Stadt. Deren giebt es nun allerdings wenig, denn hier bewegt man sich nicht, um sich zu bewegen; jeder Schritt eines Jeden har vielmehr feinen von dem Vergnügen unabhängigen Zweck. Einen Befehl zu überbringen, den Hof zu machen, irgend einem Herrn zu gehorchen, das ist es, was den größten Theil der Einwohner Petersburgs und des Reiches in Bewegung bringt. Dieses Boulevard, das man Perspective nennt, ist mit abscheulichen kahlköpfigen Kieseln gepflastert. Man hat aber hier, wie in einigen andern Hauptstraßen, zwischen die Steine doch wenigstens Holzblöcke gelegt, welche Bahnen für die Wagenräder bilden; diese schönen Bahnen, in gleicher Höhe mit dem Pflaster, sind durch tief eingesenkte tannene Würfel oder Achtecke gebildet. Eine jede besteht aus zwei, zwri bis drei Fuß breiten Streifen, die durch Ki.'selpssaster getrennt sind, auf welchem das eine Pferd geht; zwei solcher Bahnen, oder vier Holzstrciftn, zichen sich in der Newst'i-Perspective hin, eine an der rechten, die andere an der lin-ken Seite der Straße, ohne aber die Häuser zu berühren, von denen sie wieder durch Steinplatten gettvnnt sind. Die 3.'i letztern bilden Trottoirs für die Fußgänger, und diese vortrefflichen Wege unterscheiden sich gar sehr von den abscheu^ licl)en Bretter-Troltoirs, welche noch hcut zu Tage einige der entlegener« Straßen verunzieren. Cs giebt also vier Plattcnreihen in dieser schönen, weiten Perspective, die, unmerklich menschenleerer, allmalig häßlicher und trübseliger, sich bis zu den unbestimmten Grenzen der bewohnbaren Stadt, b. h. bis an die Grenzen der asiatischen Barbarei ausdehnt, von welcher Petersburg stets umlagert ist, denn am Ende der prachtvollsten Straßen findet man die Wüste. Etwas jenseits der Aniskoff-Vrücke stößt man anf die Iclog-naia-Straße, welche zn einer Wüste führt, die der Alexander-Platz heißt. Ich bezweifle es, daß der Kaiser Nicolaus jemals diese Straße gesehen hat. Die stolze, von Peter dem Großen geschaffene, durch Katharina l!. verschönerte, durch alle andern Kaiser mit der Schnur über eine schlammige, f.ist immer überschwemmte Haide weiter geführte Stadt verliert sich endlich in einem entsetzlichen Gemenge von Schuppen und Werkstätten, in einem verworrenen Haufen namenloser Gebäude und zweckloser Platze, welche durch die natürliche Unordnung und die angeborene Schmutzigkeit des Volkes seit hundert Jahren mit Ueberresien von allen Dingen und mit Un reinig keilen aller Art gefüllt werden. Dieser Schmutz haust sich in den russischen Städten von Jahr zu Jahr auf, um gegen die ausgesprochene Absicht der deutschen Fükstcn zu protestiren, welche sich schmeicheln, die slawischen Nationen zu recht gründlich gebildeten Menschen zu machen. Der ursprüngliche Character dieser Völker bricht, wie entstellt er auch durch das Joch sein mag, wenigstens in irgend einem Winkel ihrer Despotenstädte und ihrer Sclavenhäuser durch, und wenn sie überhaupt jene Dinge haben, welche man Städte und Hauser nennt, so kommt es nicht daher, 3" 36____ daß sie dieselben lieben oder das Bedürfniß darnach fühlen, sondern daher, daß man ihnen sagte, sie müßten sie haben over vielmehr dulocn, um mit den alt^n Völkern des civi-lisirten Westens gleichzustehen, vorzugsweise aber daher, daß man sie mit Peitschenhieben in ihre asiatische Heimath zurückjagen würde, wenn sie eine eigene Meinung den Männern gegenüber haben wollten, die sie militairisch führen und ausbilden, und die zugleich Corporal? und Schulmeister sind. Di^'s? armen fremdländischen Vögel, welche die europäische Civilisation in den Käsig gesperrt hat, sind die Opfer der Manic ober eigentlich des tief berechneten Ehrgeizes der Cza-ren, der künftigen Welteroberer, die recht wohl wissen, daß sie uns erst nachahmen müssen, bevor sie uns unterjochen. Auf den ersten Blick bemerkt man in Petersburg eine Kalmückmhorde, die um einen Haufen antiker Tempel her unter Baracken lagert, eine griechische Stadt, die für Tartaren als Thcaterdecoration improvisirt wurde, als prachtige, aber geschmacklose Decoration für ein wirkliches und schreckliches Drama. Ich habe oben die armen Baume rnvahnt, welche das Unglück haben, als Schmuck für die Newski-Perspective verwendet zu werden; diese armseligen Birken leben nur eben genug, um nicht zu sterben, uno werden bald eben so zu beklagen sein wie die Ulmen der Boulevards und der elysai-schen Felder in Paris, die langsam verkümmern, ausgedörrt durch das Gas und halb in dem Asphalt vergraben. Die Bäume in Petersburg werden kein besseres Schicksal haben; im Sommer zehrt der Staub an ihnen, im Winter werben sie in Schnee begraben, und wenn das Hhauwetter eintritt, springt ihre Rinde auf, lösen sich ihre Wurzeln ab. Natur und Geschichte haben an der russischen Civilifa-tion so gut wie gM keinen Antheil; nichts ist aus dem 37 Buden oder aus dem Volke herausgewachsen; es gab keine Entwickelung, kein Fortschreiten, — eines Tages wurde Alles fertig aus dem Auslande eingeführt. In diesem Siege der Nachahmung liegt mehr Handwerk als Kunst, es ist derselbe Unterschied wie der zwischen einem Kupferstiche und einer Zeichnung. Das Talent des Kupferstechers wird auch nur an den Ideen Anderer geübt. Von dem Zustande der Straßen Petersburgs bei dem Aufgange des Eises kann kein Fremder sich ein? Vorstellung machen, sagt man mir. Vierzehn Tage lang schwimmen in der Newa Eisblöcke; alle Brücken sind weggenommen, und die Communication zwischen den beiden Haupttheilen der Stadt ist einige Tage gänzlich unterbrochen-, mehrere StadU theile veröden ganz. Man erzählte mir, daß eine angesehene Person gestorben fei, weil es unmöglich gewesen, in diesen unseligen Tagen ihren Arzt holen zu lassen. Dann gleichen die Straßen Wildbachcn, und die Flut reift Alles mit fort. Wenige politische Krisen würden so großen Schaden anrichten, als diese jährlich? Auflehnung der Natur gegen eine unvollständige und unmögliche Civilisation. Seitdem man mir die Zeit des Thauwetters in Petersburg beschrieben hat, klage ich nicht mehr über das Pflaster, so abscheulich es auch ist, da es alle Jahre neu gelegt werden muß. Es ist ein Sieg des menschlichen Willens, elf Monate lang im Wagen in einer Stadt fahren zu können, welche durch die Zephore des Pols so bearbeitet wird. Nach Mittag fahrt eine ziemlich große Alizahl Wagen von verschiedener Art und oft seltsamer Form durch die Newski-Perspective, über den großen Palastplatz, über die Kais und Brücken, und diese Bewegung echeittrt in etwas die gewöhnliche Traurigkeit dieser Stadl, der monotonsten aller 38 Hauptstädte Europa's, die cine deutsche Residenz im großen Maßstabe ist. Auch das Innere der Hauscr sieht traurig aus, weil man, trotz der prächtigen Meuble^, die man auf englische Manier in Gesellschafts- und Besuchszimmern aufhäuft, einen Schmutz und cine Unordnung bemerkt, welche an Asien erinnern. Am wenigsten braucht man in einem russischen Hause das Bett. Die weiblichen Dienstboten schlafen in einer Art Verschlag, während die Männer sich aus der Treppe, in dem Vorhause und selbst, wie man mir sagt, in dem Saale auf Kissen herumwalzen, die sie für die Nacht dahin legen. Ich machte diesen Vormittag dem Fürsten ... einen Besuch. Er ist ein ruinirter großer Herr, gebrechlich, krank, wassersüchtig, kann nicht aufstehen und hat doch auch das nicht, was man in dcn langer civilisitten Landern ein Vett nennt. C'r wohnt in dem Hanse seiner abwesenden Schwester. In diesem kahlen Palaste ist er allein, uno er verbringt die Nacht auf einer hölzernen Bank, auf die man cincn Teppich und einige Kiffen legt. Man kann dies keineswegs der eigenthümlichen Neigung eines Menschen zuschreiben; ich habe in allen russischen Hausein, die ich besuchte, die Bemerkung gemacht, daß der Schirm nothwendig ;u dem Bette der Slawen gehört, wie der Moschus zu ihrer Person, — eine Unreinlichkeit, welche nicht immer eine scheinbare Eleganz ausschließt. Visweilen besitzt man ein Paradebett, eiiun Luxusgegenstand, den man aus Rücksicht auf die europäische Mode zur Schau stellt, ohne Gebrauch davon zl« machen. Ein Schmuck dagegen ist den Wohnungen einiger ele-gantcn Nüssen eigenthümlich, nämlich ein Gartchen in einem Winkel des Zimmers. Drei lange Blumenkasten schließen 39 ein Fenstet cin und bilden einen grünen Saal (,l>l,,n,l), eine Art Kiosk, welche an die Kiosks in den Gärten erinnert. Ueber diesen Kästen befindet sich eine Barriere von Insclholz oder von vergoldetem Holze, die mannshoch ist. Dieses kleine offene Boudoir ist von Epheu und andern KlMer-gewächsen umgeben, die an dem Gitterwerk sich hinschlan-gcln, und in einem großen mit Go!d und Meubles überladenen Zimmer recht gut aussieht, weil das Auge in einem glänzenden Gemache durch ein wenig Grün und Frische, in diesem Lande der Lurusgegenstände, erquickt wird. Hier sitzt nun mcist die Frau vom Hause an einem Tische, und neben ibr sieht man einige Stühle; denn mehr als zwei, höchstens drei Personen rönnen aus einmal in diesem traulichen Raume nicht Platz finden. Ich finde den Eindruck eines solchen Zimmerboskcts auf das Auge schr anqenchm und die Idee ganz verständig in einem Lande, wo jedes vertrauliche Gespräch im Geheimen geführt werden muß. Diese Sltte ist gewiß aus Asien herübergebracht worden. Ich würde mich nicht wundern, wcnn man in irgend eincm Hause in Paris diesen künstlichen Garten der russischen Salons nachahmte. Er würde die Wohnung der jetzt in Frankreich modischesten Staatsfrauen nicht verunzieren. Auch würde ich mich über diese Neuerung freuen, wäre es auch nur aus Haß gegen die Anglomanen, denen ich den Schaden nie verzeihen werde, welchen sie dem guten Geschmacke und dem echt französischen Geiste zugefügt haben. Die Slawen haben, wenn sie schön sind, cinen schlau-ken zierlichen Wuchs, der dennoch Kraft verräth; alle besitzen mandelförmig geschnittene Augen und den schlauen verstohlenen Vlick der asiatischen Völker. Ihre Augen, sie mögen 40 schwarz oder blau sein, sind immer durchsichtig, lebhaft, beweglich und besonders schön, wenn sie lachen. Das mehr gezwungen als der Natur nach ernste Volk wagt nur mit den Augen zu lachen, aber dieser Blick vertritt vollkommen das beredteste Wort, so viel Leidenschaft giebt er dem Gesichte. Er ist fast immer geistreich, bisweilen mild, oft äußerst traurig und hat etwas von dem des gefangenen Wildes. Die Menschen, welche geboren sind, einen Wagen zu lenken, haben Racengleichheit wie die Pferde, welche sie lenken; ihr seltsames Aussehen und die Leichtfüßigkeit ihrer Thiere machen es zu einer angenehmen Unterhaltung, durch die Straßen Petersburgs zu fahren. Und so gleicht diese Stadt wegen ihrer Bewohner und trotz ihrer Erbauer keiner andern europäischen. Die russischen Kutscher halten sich gerade aus dem Bocke und fahren immer scharf, aber sehr sicher; ihr schneller richtiger Vlick ist wahrhaft bewundernswerth; sie haben stets, sie mögen mit zwei oder vier Pse^en fahren, zwei Zügel für jedes Pferd und halten sie mit ausgestreckten Armen, weit ab von dem Leibe, fest in den Handen; kein Hinderniß halt sie auf. Pferde und Kutscher sind halb wild, und sie jagen mit einer beunruhigenden Freiheit durch die Stadt; aber die Natur lM ihnen Gewandtheit gegeben, und so sind trotz der außerordentlichen Kühnheit dieser Kutscher die Unglücksfalle in den Straßen von Petersburg sehr selten. Oft haben diese Leute nicht einmal cine Peitsche, und wenn sic eine haben, so ist sie so kurz, daß sie dieselbe nicht brauchen können. Da sie die Stimme eben so wenig zu .hülfe nehmen, so lenken und treiben sie die Pferde nur durch Zügel und Zaum. Man kann Sttuiden lang ln den Straßen sein, ohne einen einzigen Schrei zu hören. Weichen die 41 Fußgänger nicht schnell genug bei Seite, so läßt der ^Ilcilrr (Vorreiter, der auf dem vordern rech ten Pferde bei einem Viergespanne reitet) cinen gewissen Ton boren, und auf diese Drohung, welche etwa sagen will: ausgewichen! weicht Allcs bei Seite, und der Wagen ist wie durch Zauberei uorbcigekommen, ohne in dem schnellen Laufe nachzulassen. Die Equipagen sind im Ganzen geschmacklos und schlecht gehalten; die schlecht gewaschenen, schlecht bemalten und noch schlechter lackirten Nagen besitzen nichts Aechtelc-gantes. Laßt man cinen aus England kommen, so widersteht cr dem Petersburger Straßenpflaster und dem Laufe der russischen Pferde nicht lange. Die dauerhaften, leichten und zierlichen Geschirre aber sind uon vortrefflichem Leder gemacht, und trotz der Nachlässigkeit des Stallpersonals und des Mangels an Erfindungsgabe bei den Handwerkern haben die Equipagen etwas Originelles und Malerisches, was bis zu einem gewissen Punkte die sorgfältige Unterhaltung ersetzt, aus die man an andern Orten einen besondern Werth legt. Da ferner die großen Herren immer vierspännig fahren, so sehen die Hofceremonien, selbst von der Straße aus betrachtet, gut aus. Vier Pferde nebm einander spannt man nur bei Reisen und langen Fahrten außerhalb der Stadt; in Petersburg gehen die Pferde immer paarweife; das Vordcrpaar ist außerordentlich lang gespannt, und der Knabe, der dasselbe lenkt, persisch gekleidet wie der Kutscher. Dieser Anzug, Ar-miac genannt, paßt indeß nur für den sitzenden Kutscher und ist beim Reiten unbequem; trotzdem ist der russische Vurreiter gewandt und kühn. Die Ernsthaftigkeit, der schweigende Stolz, die Gefchick-lichkeit, die durch nichts zu erschütternde Tollkühnheit dieser kleinen slawischen Jungen laßt sich nicht beschreiben; ich 42 freue mich über ihre Dreistigkeit und Gewandtheit jedesmal, wenn ich in der Stadt gehe, und deshalb spreche ich auch so oft von ihnen; sie fthen glücklich aus, und das ist hier etwas noch Seltencrs als anderswo. Diejenigen, welche im Dienste vornehmer Herren stehen, halten auch auf Eleganz und erscheinen immer sorgfältig g, kleidet; die Miethpferde aber und dic Mü-thrutscher erregen mein Mitleid, denn ihr Leben ist ein sehr beschwerliches. Sie halten von früh bis zum Abend auf der Straße an der Thüre dessen, der sie miethet, oder auf den Platzen, welche ihnen die Polizei anweist. Die immer angeschirrten Thiere und die immer auf dem Bocke sitzenden Kutscher fressen und essen auf ikrem Posten, ohne ihn einen Augenblick zu verlassen. Die armen Pferde! Weniger noch beklage ich die Menschen, denn dem Nüssen a/fällt die Sclaucrei. Man stellt den Pferden tragbare Krippen vor, und so findet man seinen Wagen stets bereit, wenn man ausfahren will, ohne daß man nöthig hat, ihn vorher zu bestellen. So leben indeß die Kutscher nur im Sommer, im Winter haben sie Schuppen, welche auf den belebtesten Platzen aufgebaut werden. Um diese Obdacher her, welche in der Nahe der Theater, der Palaste und der Oertec sind, wo Festlichkeiten stattfinden, zündet man große Feuer an, und an diesen warmen sich die Domestiken; trotzdem ver. geht im Januar keine Vallnacht, ohne daß ein oder ein Paar Menschen auf der Straße erfrieren; die Vorsichlsmaßi regeln beweisen auch mchr die Gefahr, als daß sie dieselbe abwenden, und das hartnäckige AblaugNen der Russen br-stangt mir die Wahrheit der Thaisache, dir ich Ihnen berichte. Eine Frau, die aufrichtiger war als die andern, antwortete mir auf meine wiederholten Fragen darüber: „Es 43 ist möglich, aber ich habe nic etwas davon gehört," — ein? Ablaugnung, die doch dem vollständigsten Geständnisse gleich: kommt. Man muß hierher kommen, um zu erfahren, wie weit die Reichen die Nichtachtung des Lebens der Armen treiben und cincn wie geringen Werth das Leben überhaupt in den Augen des Menschen hat, der unter dem Absolutismus leben muß. Das Leben ist in Rußland für Jedermann peinlich und lastig; der Kaiser selbst ist nicht weniger an Strapsen und Unannehmlichkeiten gewöhnt als der geringste leibeigene. Man hat mir sein Bett gezeigt, und unsere Bauern würden sich über die Harte dieses Lagers verwundern. Alle Menschen müssen sich hier fortwährend eine harte Wahrheit wiederholen, daß nämlich der Zweck des Lebens nicht auf dieser Erde zu finden und durch Vergnügen nicht zu erreichen sei. Jeden Augenblick tritt Einem d.is sirenge Vild der Pflicht und des Gehörsinns vor die Augen, so daß man das Elend und die Beschwerlichkeit dcs menschlichen Lebens, Arbeit und Schmerz, nie vergesftn kann. Man kann in Rußland nur bann bestehen, wenn man der Liebe für das irdische Vaterland, die durch den Glauben an das himmlische gehciliget wird. Alles zum Opfer bringt. Wenn ich auf einem öffentlichen Sp";iergange einmal einige Müßigganger sah und mich dadurch zu der Annahme verleiten ließ, es könnte in Nußland, wie in andern Landern, Menschen geben, die das Vergnügen blos des Vergnügens wegen suchen, für die das Vergnügen ein Geschäft ist, so wurde ich augenblicklich durch den Anblick des Feldjägers enttäuscht, der still in seiner Telega dahin galoppirt. Der Feldjäger ist der Mann der Macht, das Wort des Gebieters, der lebendige Telegraph, dcr einen Befehl an 44 einen andern Menschen überbringt, welcher von dcm Gedanken, der sie beide in Bewegung setzt, eben so wenig weiß als er; der andere Automat erwartet ihn hundert, tausend, fünfzehnhundert Stunden weit im Innern. Die Telega, in welcher der eiserne Mensch reiset, ist von allen Reisewa-gen der unbequemste. Man denke sich einen kleinen Karren mit zwei Lederbanken ohne Federn und Lehne, — aber man kann kein anderes Fuhrwerk auf den Wegen brauchen, in die alle großen Straßcn auslaufen, welche man bis jetzt in diesem weiten, wilocn Reiche angefangen hat. Auf der ersten Bank scht der Kutscher oder Postillon, der auf jeder Station wechselt, auf der zweiten der Courier, der reiset bis an feinen Tod, welcher ihn bald genug ereilt. Diejenigen, welche ich in allen Richtungen durch die schonen Straßen der Stadt jagen sehe, erinnern mich sogleich an die Wüsten und Einöden, in die sie gelangen; ich folg? ihnen in Gedanken, und am Ziele ihrer Fahrt erblicke ich Sibirien, Kamtschatka, die Sal;wüste, die chinesische Mauer, Lappland, das Eismeer, Nova ZemblH, Persien, den Caucasus. Diese historischen, fast fabelhaften Namen stellen sich mir dar wie die nebelige Ferne in einer großen Landschaft, — aber Sie können sich denken, wie sehr solche Vorstellungen die Seele betrüben. Nichtsdestoweniger ist die Erscheinung dieser tauben, blinden und stummen Voten für den Geist des Menschen eine poetische Nahrung. Dieser Mensch, der geboren ist, um auf seinem Karren zu leben und zu sterben, verbreitet über die geringsten Scenen des Lebens cin trauriges Interesse; bei so vielen Leiden von solcher Größe kann in dem Geiste nichts Prosaisches aufkommen. Man muß gestehen, daß der Despotismus, wenn er die Völker, die er unterdrückt, unglücklich macht, für das Vergnügen der Reisenden erfunden worden ist, die er in ein immer 45 neues Staunen versetzt. Unnr der Freiheit wird Alles veröffentlicht und vergessen, denn man übersieht mit einem Blicke Alles; unter der absoluten Regierung aber wird Alles verheimlicht, aber Alles auch errathen, und daraus cnt-sicht ein lebhaftes Interesse; man achtet auf die geringsten Umstände, und eine geheime Neugierde belebt die Gespräche, welche durch das Geheimnißvolle und gerade durch den Mangel eines sichtbaren Interesses um so pikanter werden. Hier ist der Geist mit dem Schleier geschmückt, wie bei den Muselmännern die Schönheit. Wenn auch die Bewohner eines so regierten Landes sich nicht eigentlich amüsiren können, so kann es doch einem Fremden nicht mißfallen. Je weniger man den Dingen auf den Grund sehen kann, um so mehr muß der äußere Schein lnteressiren. Ich für meinen Theil denke etwas zu viel über das, was ich nicht sche, als daß ich mit dem ganz zufrieden stin könnte, was ich sche; nichtsdestoweniger fesselt mich der Anblick, wenn er mich auch betrübt. Rußland hat keine Vergangenheit, sagen die Alterthumsfreunde. Das ist wahr, aber die ausschweifendste Phantasie kann sich in der Zukunft und in dem weiten Raume hinlänglich ergehen. Der Philosoph in Rußland ist zu beklagen, dem Dichter kann und muß es da gefallen. Eigentlich unglücklich sind nur die Dichter, welche unter der Herrschaft der Oessentlichkeit schmachten. Wenn Jedermann Alles sagen kann, bleibt dem Dichter nichts übrig, als zu schweigen. Die Poesie ist etwas Geheimnißvollcs, das mehr ausdrückt als die Sprache, und sie kann bei den Völkern nicht bestehen, welche die Gedankenscham verloren haben. Die poetische Wahrheit ist die Vision, die Allegorie, die Apologie; in den Landern der OeffentlichkVit wir) aber diese Wahrheit durch die Wirklichkeit erdrückt, die für die 46 Phantasie immer zu roh und zu plump ist. Hier fehlt das poetische Element dem Genie, das seiner Natur nach immer erzeugt, abcr nichts Vollständiges hervorbringt. Die Natur muß ein tiefpoetisches Gefühl in die Seele der Russ.'n, eines spottsüchcigen und melancholischen Volkes, gelegt haocn, da es ihnen möglich wurde, Stadlen, die von Menschen ohne alle Phantasie und zwar in dem flachsten, traurigsten, monotonsten und kahlsten ^ande der Welt erbaut wurden, ein originelles und malerisches Aussehen zu geben. Ewige Ebenen, düstere, flache Einöden, — das ist Rußland. Dennoch »rinde ich mit jeder Zeile cin Genrebild liefern, wenn ich Ihnen Petersburg, seine Straßen und Bewohner so schildern könnte, wie ich sie vor mir sehe. So machlig hat der Geist der slawischen Nation gegen die unfruchtbare Manie ihrer Regierung angekämpft. Diese antinationale Regierung schreitet nur durch militairische Evolutionen vor und erinnert an Preußen unter dem ersten Könige. Ich habe Ihnen einc Stadt ohne Character beschrieben, die mchr pomphaft als imposant, mehr groß als schön und angefüllt ist mit Gebäuden ohne Styl, ohne Geschmack, ohne historische Bedeutung. Um aber vollständig, d. h. wahr zu scin, müßte ich Ihnen auch zu gleicher Zeit in diesem pre-tentiösen und lacherlichen Nahmen Menschen zeigen, die von Natur graziös sind und mit ihrem orientalischen Geiste sich eine Stadt anzueignen verstanden, welche für ein nirgends existirendes Volk erbaut wurde; denn Petersburg wurde durch reiche Leute erbaut, die ohne tieferes Studium die verschiedenen Lander Europas verglichen hatten. Diese Legion mehr oder minder rafsinirter Reisender mir mehr Erfahrung als Niffm war eine künstliche Nation, eine Auswahl kluger und gewandter Geister aus allen Nationen der Welt; — es war nicht das russische Volk, das duckmäufe- 4? rig ist, wie dcr Sclave, der sich über sein Joch tröstet, in-dem er im Stillen darübn' spottet, abergläubisch, prahlend tapfer und faul,' wie der Soldat, poetisch, musitalisch und grudelnd, wie der Hirt (— di? Gewohnheiten der nomadischen Race werden unter den Slawen noch lange vorherrschen —), und alles dies paßt weder zu dem Style dcr Gebäude, noch zu dem Plane der Straßen Petersburgs; dcr Baumeister und dcr Bewohner sind hier offenbar verschiedener Ansicht. Die europäischen Ingenieurs sagten den Moskowitern, wie sie eine die Bewunderung Europas verdienende Stadt bauen und ausschmücken müßten, und die Moskowiter gehorchten in ihrer milicairischen Unterwürfigkeit dem Befehle. Peter dcr Große hat Petersburg mehr gegen die Schweden, als für die Russen erbaut; aber das eigentliche Naturell des Volkes brach doch durch, trotz seiner Ehrfurcht vor den saunen des Gebieters und trotz seinem Mißtraum gegen sich selbst, und diesem unwillkürlichen Ungehorsam verdankt Rußland seine Originalität. Nichts vermochte den ursprünglichen Character der Bewohner zu verwischen, und dieser Sieg angeborener Eigenschaften und Fähigkeiten über eine falsch geleitete Erziehung ist ein interessantes Schauspiel für jeden Reisenden, der es zu würdigen versteht.. Zum Glück für den Maler und den Dichter sind die Russen wesentlich religiös; ihre Kirchen wenigstens sind russisch; die unabänderliche Gestalt dieser Gebäude gehört zu dem Eultus, und der Aberglaube schützt diese Kirchen-Festungen gegen die Manie der mathematischen Figuren von Bausteinen, der länglichen Vierecke, der ebenen Flächen und geraden Linien, rurz gegen die mehr militairische als classische Architektur, welche einer jeden Stadt dieses Landes das Aussehen eines Lagers giebt, oaS nur einige 48 Wochen lang während großer Manoeuver gebraucht wer-/dm soll. Man erkennt ferner den Geist eines Nomadenvolkes in den Wagen, den Kutschen, dem Geschirr und Gespann der Russm. Man denke sich Schwärm?, Wolken uon Droschken, die dicht am Boden Hinstreisen zwischen langen Reihen in schnurgerader Linie stehender, sehr niedriger Hauser, über denen man die Spitzen zahlreicher Kirchen und einiger berühmten Gebäude erblickt; wenn dieses Ganze nicht schön ist, so ist es doch wenigstens bewundernswctth. Diese vergoldeten oder buntbemalten Spitzen unterbrechen die einförmigen Linien der Dacher der Stadt, und sie ragen so spitz in die Luft hinein, daß das Auge den Endpunkt nicht unterscheiden kann, wo ihre Vergoldung in dem Nebel eims nordischen Himmels verschwindet. Die Spitze der Citadelle, der Wurzel und Wiege Petersburgs, und die der Admiralität, die mit dem Golde der holländischen Ducaten bedeckt ist, welche die Republik der vereinigten Provinzen dem Czar Peter gab, sind die bemcrkenswerthesten. Diese Gebaudc-aigretten, eine Nachahmung des asiatischen Schmuckes, woran, wie man sagt, Moskau so reich ist, erscheinen mir außerordentlich hoch und kühn. Man begreift nicht, wie sie sich in der Luft halten; sie sind eine acht russische Zierde; man o^nke sich nur eine Unmasse von Kuppeln mit den vier nochwendigen Thürmen der modernen Griechen bei ein«r Kirche; man denke sich eine Menge versilberter, vergoldeter, blauer, mit Sternen besäeter Kuppeln, die smaragd-oder ulrramaringrül». angestrichenen Dacher dcr Paläste, auf den Platzen Bronzestatuen zu Ehren der wichtigsten historischen Personen Rußlands und der Kaiser; man begrenze dieses Bild mit einem ungeheuren Flusse, der an ruhigen Tagen alle Gegenstände abspiegelt, bei stürmischen Alles ____49____ zerreißt; man füge die Schiffbrücke hinzu, die an ber breitesten Stelle über die Newa gespannt ist, zwischen dem Marsftldc, wo die Statue Suwarows sich im weiten Raume verliert, und der Citadelle, wo Peter der Große mit seiner Familie in schmucklosen Gräbern schläft "); man vergesse nicht, oaß die immcr volle Newa in gleicher Höhe mit dem Boden fließt lind cine Insel mitten in der Stadt kaum verschont, die gan; mit Gebäuden mit griechischen Säulen auf Granitgrund „ach dem Muster heidnischer Tempel be: deckt ist, — und man wird zugeben, daß Petersburg eine unendlich malerische Stadt ist, trotz der geschmacklosen erborgten Bauart, trotz dem sumpfigen Aussehen der Gegend umher, trotz dem gänzlichen Mangel an Höhen und trotz den blassen schönen Sommertagen unter dem nordischen Clima. Die geringe Bewegung des Flusses in der Nähe seiner Mündung, wo ihn das Meer oft zum Stillstehen, ja zum Zurückweichen zwingt, erhöhet das Ungewöhnliche des Anblickes noch mehr. Werfen Sie mir meine Widersprüche nicht vor, ich bemerkte sie schon vor Ihnen und mochte sie nicht vermeiden, denn sie liegen in den Dingen, — es sei dies ein für allemal gesagt. Wie soll ich Ihnen ein richtiges Bild, von dem geben, was ich Ihnen beschreibe, wenn ich mir nicht bei jedem Worte widerspräche? Wenn ich minder aufrichtig ware, würde ich consequentcr erscheinen; aber vergessen Sie nicht, daß, im Körperlichen wie im Geistigen, die Wahrheit eben nichts weiter ist, als eine Zusammenstellung so schreiender Kontraste, daß man sagen möchte, Natur und Gesellschaft sind nur geschaffen, um Elemente °) Der griechische Ritus gestattet keine Begräbnisse in den Kirchen. 50 zusammenzuhalten, die außerdem einander ausschließen und meiden müßten. Nichls ist so trübselig, als der Himmel in Petersburg um Mittag; wenn aber unter dieser Breite der Tag glanzlos ist, so sind die Abende und Morgen prachtvoll, denn dann verbreiten sich in der Luft und auf dem Eise der fast uferlosen Fluthen, welche die Fortsetzung des Himmels bilden, Lichtgarben und Feucrstraußer, die ich noch nirgends gesehen habe. Die Dämmerung, welche hier drei Viertel des Lebens dauert, ist reich an bewunderungswürdigen Erscheinungen; die gegen Mitternacht einen Augenblick untergesunkene Sommersonne schwimmt lange am Horizonte in gleicher Höhe mit der Newa und den Niederungen an derselben, und verbreitet in dem leeren Raume einen Fl^mmenschein, dcr die ärmlichste Natur schön machen würde. Man empfindet aber bei diesem Schauspiele nicht die Begeisterung, welche die Färbung der Landschaften in der heißen Zone erregt, sondern vielmehr den Reiz eines Traumes, die unwiderstehliche Gewalt eines an Hoffnungen und Erinnerungen reichen Schlafes. Die Inselpromenade ist um diese Zeit eine wahre Idylle. Es fehlt dieser Gegend allerdings gar vielerlei, ehe sie eine schöne Landschaft wird, aber die Natur vermag doch auf die Phantasie des Menschen mehr als die Kunst; ihr Anblick genügt unter allen Ionen dem Bedürfniß der Bewunderung, das er im Busen tragt, und könnte es eine bessere Richtung nehmen? Wenn auch Gott in der Nahe des Poles die Erde so flach und kalt als möglich gemacht hat, so wird doch der Anblick der Schöpfung für das menschlich? Auge immer der beredteste Dolmetscher der Absichten des Schöpfers bleiben. Haben nicht auch die kahlen Köpft ihre Schönheit? Ich für meine Person finde die 51 Umgegend von Petersburg mehr als schön; sie befitzt einen Character erhabener Trauer, der einen eben so tiefen Eindruck macht, als die Pracht und Mannichfaltigkeit dcr berühmtesten Landschaften dcr Erde. Diese Umgegend ist kein pomphaftes, künstliches Werk, leine angenehme Erfindung, sondern eine tiefe Einsamkeit, eine Einsamkeit, schrecklich und schön wie der Tod. Rußland vernimmt von dem einen Ende seiner Ebenen, von dem einen Ufer seiner Meere bis zum andern die Stimme Gottes, die nichts aufhält und die zu dem Menschen sagt, dcr sich mit der armseligen Pracht seiner armen Städte stolz bläht: „Was Du auch thust, ich bin immer der Gewaltigste." Wir ahnen unsere Unsterblichkeit darin, baß den Erdenbewohner vor Allem das interesn'rt, was ihn an etwas Anderes als an die Erde mabm. Bewundern Eie die Macht der Urcigenschafcen der Nationen: über hundert Jahre lang haben die gebildeten Russen, die Großen, die Grlehrtm, die Gewaltigen des Landes in allen Gesellschaften Europa's Ideen gebettelt und Muster copirt, aber dieser lacherliche Einfall der Fürsten und Völker hinderte das Volk nicht, originell zu bleiben.") Dieses geistreiche Volk ist seiner Natur nach zu klug und hat einen zu feinen Tact, als daß es sich mit den deutschen Völkern verschmelzen könnte. Der deutsche Bürgerstand ist heute noch Rußland fremdartiger, als er es Spanien mir seinen Völkern mit arabischem Blüte ist. Das langsame, schwerfällige, plumpe, schüchterne, linkische Wesen widerstrebt dem Geiste der Clawen. Eie würden lieber Rache und Tyrannei ertragen. Sogar die deutschen Tugen- °) Dieser Vorwurf, dcr Peter I. und dessen unmittelbare Nachfolger trifft, wird ein Lob für dcr, Kaiser Nicolaus, welcher diesem Strome Einhalt zu thun angefangen hat. 52 den sind den Russen verhaßt, und deshalb haben diese in wenigen Jahren, trotz den religiösen lind politischen Abscheulichkeiten, in der Meinung Warschau's mehr gewonnen als die Preußen, trotz den seltenen und vortrefflichen Eigenschaften, wclche die Deutschen auszeichnen. Ich will nicht behaupten, daß dies etwas Kutcs sti, ich erwähne es als Thatsache; nicht alle Brüder lieben einander, aber sie verstehen einander. ") Die Aehnlichkeit, welche ich in gewissen Punkten zwischen den Russen und Spaniern zu bemerken glaube, erklart sich durch die Verbindungen/ welche ursprünglich zwischen den arabischen Stammen und einigen Horden bestanden ha: ben mögen, die aus Asien nach Rußland zogen. Die maurische Bauart hat Aehnlichkeit mit der byzantinischen, dem Vorbilde der achten moskowilischen Architectur. Der Geist der asiatischen Völker, die in Afrika umherziehen, kann den anderen Nationen des Orients nicht widersprechen, die sich vor nicht langer Zeit in Europa niedergelassen haben; die Geschichte findet ihre Erklärung in dem fortschreitenden Einstuffe der Volksstammc; er ist für die Nationen, was der Character für die Person ist. Ware der Unterschied der Religionen und die Verschiedenheit der Volkssitten nicht, ich würde hier in einer der höchsten und unfruchtbarsten Gegenden Eastilims zu sein glauben. Es herrscht jetzt wirklich eine afrikanische Gluth; Rußland hat seit zwanzig Jahren keinen so heißen Sommer gesehen. Trotz einer tropischen Temperatur versorgen sich doch die Russm bereits mit Holz für den Winter. Vöte mit Birkenscheiten, dem einzigen Brennholze, dessen man sich ") Man s. den fünften und ncununbzwanzigsten Brief. 53 hier bedient, wo die Eiche ein Lurusbaum ist, verdecken und verstopfen die zahlreichen und breiten Canale, welche die nach dem Muster Amsterdams gebaute Stadt in allen Richtungen durchschneiden, denn in den Hauptstraßen Petersburgs strömt ein Canal der Newa. Dieses Wasser verschwindet im Winter unter dem Schnee und im Sommer unter der Menge von Boten, die sich an den Kais drangen, um ihre Vorräthe an das Land zu bringen. Das Holz ist schon gesagt und zwar sehr kurz. Sobald es aus den Böten ausgeladen ist, bringt man es auf ziemlich seltsame Wagen. Diese Karren von patriarchalischer Einfachheit bestehen aus zwei Stangen, die eine Trage bilden und die Vorderrader mit den Hinterrädern verbinden. Auf diese langen nahe an einander befindlichen Stangen, denn die Wagenspur ist nur schmal, schichtet man einen Haufen Scheite gleich einer Mauer sieben bis acht Fuß hoch auf; von der Seite grsehen, gleicht diese Holzschicht einem wandelnden Hause. Durch eine Kette wird das Holz auf dem Wagen festgehalten; wird sie durch das Zusammenrüt-tcln des Holzes bei dem Fahren locker, so zieht sie der Fuhrmann unterwegs durch einen Rodel an, ohne sein Pferd anzuhalten oder nur langsamer gehen zu lassen. Sieht man den Mann so an seinem Holzhaufen hangen, so könnte man ihn für ein Eichhornchen halten, das sich in seinem Käsige an einem Stricke oder im Walde an einem Zweige schaukelt. Wahrend dieser Operation bewegt sich die Holzwand still immer weiter fort in der Straße, denn unter der hiesigen Negierung geschieht Alles ohne Anstoß, ohne Worte, ohne Geräusch. Die Furcht bringt den Menschen zu einer berechneten Ruhe und Sanftmuth, die noch sicherer ist als die natürliche. Ich habe nicht ein einziges Mal einen dieser wandeln- 54 den Holzbaue auf den oft weiten Fahttm durch die Stadt zusammenstürzen sehen. Das russische Volk ist im höchsten Grade anstellig/ und diese Menschenrace wurde gewiß gegen dm Willen der Na-lur durch die menschlichen Umgestaltungen nach dem Pole gedrangt, wo sie nur durch die politische Nothwendigkeit festgehalten wird. Wer indeß genauer in die Absichten und Pläne der Vorsehung hineinblicken könnte, würde vielleicht erkennen, daß der Kampf gegen die Elemente die harte Prüfung ist, welcher Gott diese Nation unterwerfen wollte, die er berufen hat, einst über vitle andere zu herrschen. Der Kampf ist die Schule der Vorsehung. Das Brennmaterial wird in Rußland selten, und man bezahlt das Holz in Petersburg so theuer wie in Paris. In manchem Haushalte kostet die Heizung den Winter hindurch neun- bis zehntausend Francs. Sieht man die Vrr-wüstung der Wälder, so muß man sich besorgt fragen, womit stch die nachfolgende Generation erwärmen soll. Verzeihen Sie mir den Scherz: ich glaube oft, es würde eine Maßregel der Klugheit von Seiten der Völker sein, welche ein schönes Gima haben, wenn sie die Russen in den Stand setzen wollten, zu Hause tüchtige Fcuer anzünden zu können. Sie würden dann weniger Sehnsucht nach einer warmem Sonne empfinden. Die Karren, welche den Kehricht und Schmutz aus der Stadt fortschaffen, sind klein und unbequem; ein Mann und ein Pferd können mit einer solchen Maschine in einem Tage sehr wenig verrichten. Die Russen zeigen ihre Klug-heit meist mehr in der Art, wie sie schlechte Werkzeuge gehrauchen, als in der Vervollkommnung derer, welche sie besitzen. Da sie keine besondere Erfindungsgabe haben, so fehlt cs ihnen meist an den geeigneten Vorrichtungen, um 55 den beabsichtigten Zweck zu erreichen. Es geht diesem Volke, das so viel Anmuth, so viel Leichtigkeit besitzt, der schaffende Geist ab. Ich muß es noch einmal wiederholen, die Russen sind die Römer des Nordens. Beide haben ihre Wissenschaften und Künste aus dem Auslande herbeigezogen. Sie besitzen Geist, aber den Geist der Nachahmung, der folglich mehr ironisch als fruchtbar ist; dieser Geist macht Alles nach, erfindet aber nichrs selbst. Der Spott ist der vorherrschende Zug in dem Character der Tyrannen und der Sclaven. Jede unterdrückte Nation ist zur Satyr?, zur (5aricatur, zur Verlaumdung geneigt; sie rächt sich für ihre Unthätigkeit und Unterdrückung durch Sarkasmen. Es bleibt nur noch die Aehnlichkeit zu berechnen und zu bestimmen übrig, die zwischen den Nationen und den Konstitutionen besteht, die sie sich geben oder die sie ertragen müssen. Meiner Meinung nach hat jede gebildete Nation gerade die und nur die Ncgicrung, welche sie haben kann. Ich beabsichtige keineswegs, Ihnm dieses System aufzudrängen oder auch nur auseinander zu setzen. Diese Arbeit überlasse ich Andern, die würdiger und gelehrter sind als ich; mein Zweck ist heute ein weit minder hochstrebender, da ich Ihnen das beschreiben will, was mir in den Straßen und auf den Kaien in Petersburg auffallt. An manchen Stellen ist die Newa ganz mit Heuböten bedeckt. Diese Baue sind höher als manche Hauser, und ihr Anblick tam mir malerisch und sinnreich vor wie Alles, was die Elawen sich selbst verdanken. Diese Böte, auf denen die Leute, welche sie lenken, auch wohnen, sind mit Strohteppichen überspannt, einer Art Spartene, die zwar plump genug ist, dein beweglichen Gebäude aber doch das Aussehen eines orientalischen Pavillons oder einer chinesischen Dschonke giebt. Nur in Petersburg habe ich Heumauern 56 mit Strohbekleidung erblickt, und untcr diesem Heu Menschen hervorkommen sehen wie Thiere, welche aus ihrer Höhle herauskriechen. Das Gewerbe cines Hausanstreichers ist in einer Stadt sehr wichtig, wo das Innere der Häuser von Ungeziefer aller Art wimmelt, während das Aeußere regelmäßig durch den Winter verdorben wird. In Rußland muß jedes Jahr jedes Gebäude neu berappt werden, wenn es vor schnellem Verderben bewahrt werden soll. Die Art, wie der russische Maurer dabei zu Werke geht, ist merkwürdig; außen an den Häusern kann er nur drei Monate lang arbeiten. Sie können sich denk«,, daß die Zahl der Arbeiter groß sein muß; man findet sie an jeder Straßenecke. Diese Leute, die mit Lebensgefahr auf einem Brctc sitzen, das schlecht an einem großen Stricke befestigt ist, schweben wie Insccten an den Gebäuden, die sic neu anstreichen. Etwas Aehnliches kommt auch bei uns vor, wo Arbeiter sich ebenfalls an Knoten eines Strickes hängen, um an den Hausern emporzusteigen und sich herabzulassen-, aber in Frankreich sind die Anstreicher minder zahlreich und minder tollkühn, denn überall schlägt der Mensch das Leben nach dem Werthe an, den es wirklich hat. Denken Sie sich Hunderte von Spinnen, die an den Fäden ihrcs durch das Wetter zerrissenen Nehes hangen und sich beeilen, mit bewundernswürdiger Geschicklichkeit den Schaden auszubessern, und Sie werden sich eine Vorstellung von der Arbeit jener Leute in den Straßen von Petersburg wahrend des kurzen nordischen Sommers machen können. Die Häuser sind nicht über drei Etagen hoch und sehen weiß aus, aber sie trügen, denn man halt sie für reinlich. Ich tennc das Innere und gehe an dieser glänzenden Facade 57 mit Widerwillen vorbei. In dcr Provinz streicht man die Städte an, durch welche dcr Kaiser kommt; ist das cine Ehre, welche man dem Souverain erweist, oder wilt man ihm das Elend des Landes verbergen? Die Russen haben im Allgemeinen einen unangenehmen Geruch, den man selbst von Weitem bemerkt; die Leute von Stande riechm nach Moschus, die aus dem gemeinen Volke nach saurem Kohl, Zwiebeln und allem schmierigem Leder. Diese Gerüche finden sich regelmäßig. Daraus können Sie schließen, daß die dreißigtauscnd Unterthanen des Kaisers, welche ihm am 1. Januar ihre Glückwünsche in seinen Palast bringen, sowie die sechs- bis siebentausend, die wir morgen im Schlosse zu Peterhof sehen werden, um die Kaiserin zu feiern, einen fürchterlichen Geruch zurücklassen müssen. Von allen Frauen aus dem Volke, die ich bis jetzt in den Straßen gesehen habe, ist mir noch keine einzige schöne aufgefallen, die meisten kamen mir sogar äußerst häßlich und widerlich-schmutzig vor. Man staunt, wenn man bedenkt, daß dies die Frauen und Mütter jener Manner mit so starken, so regelmäßigen Zügen, mit griechischem Profil und zierlichem schlanken Wüchse sind, die man selbst unter den niedrigsten Classen der Nation bemerkt. Nichts übertrifft die Schönheit der alten Männer, nichts die Häßlichkeit dcr alten Weiber in Nußland. Frauen vom Bürgerstande habe ich nur wenige gesehen. Eine Merkwürdigkeit Petersburgs besteht auch darin, baß die Anzahl der Frauen im Verhältnisse zu jener der Männer geringer ist als in den Hauptstädten der andern Lander; man versichert mir, sie machten höchstens den dritten Theil der gesammten Bevölkerung der Stadt aus. 58 In Folge dieser Seltenheit werden sie nur zu sehr gefeiert; man beeifert sich so schr um sie, daß sich keine nach einer gewissen Stunde allein in die Straßen der nicht schr belebten Stadttheile wagt. In der Hauptstadt eines ganz militairischcn Landes und bei einem dem Trunke ergebenen Volke fmde ich diese Vorsicht vollkommen gerechtfertigt. Ucbcrhaupt zeigen sich die Russinnen weniger öffentlich als dic Französinnen, und man braucht nicht weit zurückzugehen, um zu der Zeit zu gelangen, wo sie eingesperrt wurden wie die Frauen in Wen. Vor noch kaum hundert Jahren hielten die Russen sie unter Schloß und Riegel. Dieser Umstand, den man nicht vergißt, erinnert, wie so viele andere russische Gebrauche, an den Ursprung dieses Volkes. Er trägt zu der Einförmigkeit der Festlichkeiten und der Straßen in Petersburg bei. Das Schönste, was man in dieser Stadt sieht, sind die Paraden, und ich konnte deshalb mit vollem Rechte sagen, jede russische Stadt, von der Hauptstadt angefangen, ist ein etwas stabileres und friedlicheres Lager als ein Bivouac. Es giebt in Petersburg wenige Kaffeehäuser und im Innern der Stadt gar keine erlaubten öffentlichen Bälle. Die Promenaden werden nicht sehr besucht, und man bewegt sich auf denselben mit einem gar nicht erheiternden gravitätischen Wesen. Wie aber die Furcht die Menschen hier ernsthaft macht, so werden sie durch dieselbe auch sehr höflich. Ich habe nie so viel Leute einander rücksichtsvoll behandeln sehen, und zwar in allen Classen. Der Droschenkutscher grüßt unveränderlich seinen Camcraden, der an ihm vorüberkommt und den Gruß erwiedert; der Lastträger grüßt den Haußn-anstreicher und so fort. Der Hut und der Stock sind in Nußland sehr wichtige Gegenstände. Diese Höflichkeit ist 59 vielleicht erheuchelt, wenigstens, wie ich glaube, erzwungen, aber sie trägt zur Annehmlichkeit des Lebens bei. Wenn die lügnerische Höflichkeit so viel Vortheil gewährt, welchen Reiz müßte die achte Höflichkeit und Artigkeit gewähren? Der Aufenthalt in Petersburg würde für einen Reisen, der den Worten glaubte und doch Character hätte, ganz angenehm sein. Aber es würde viel dazu gehören, um alle die Festlichkeiten auszuschlagen und den Diners zu entsagen, welche eine wahre Plage in der russischen Gesellschaft sind, wie in jeder Gesellschaft, in welche Fremde Zutritt erhaltm und wo folglich die Vertraulichkeit »erbannt ist. Ich habe hier nur sehr wenige Einladungen von Privatpersonen angenommen; ich war besonders neugierig auf die Hoffeicrlichkeiten, aber ick habe davon genug gesehen, denn man wird der Wunder bald überdrüssig, bei denen das Herz nichts fühlt. Wenn man verliebt wäre, könnte man sich allenfalls entschließen, einer Dame in den Palast zu folgen, die man lieben würde, während man das Schicksal verwünschte, das sie an eine Gesellschaft fesselt, wclche nur durch den Ehrgeiz, die Furcht und die Eitelkeit bewegt wird. Man sagt zwar, die große Welt sei überall dieselbe, aber Rußland ist das Land in Europa, wo die Hofintri-guen den größten Theil des Lebens jeder Person ausfüllen. F l, u sz e h ll t c r Brief. Peter Hof. den 23. Juli I839. 3/l.m muß das Fest von Peterhof von zwei Gesichtspunkten betrachten, von dem materiellen und dem moralischen; unter beiden macht das Schauspiel einen verschiedenen Eindruck. Ich habe für die Augen nichts Schöneres, für den Gedanken nichts Traurigeres gesehen, als diese sogenannte nationale Versammlung von Höflingen und Landlcuten, die in denselben Sälen zusammenkommen, ohne sich im Herzen einander zu nahern. In socialer Hinsicht mißfallt mir das, weil, nur es vorkommt, als setze der Kaiser durch diesen falschen Popularitatsluxus die Großen herab, olme die Klei-nern zu heben. Vor Gott sind alle Menschen gleich, und für einen Russen ist der Kaiser Gott. Der Herrscher und höchste Gebieter steht hier so hoch über der Erde, daß er keinen Unterschied, keinen Abstand zwischen dem leibeigenen und dem Herrn sieht; von der Höhe aus, auf welcher seine Erhabenheit sich befindet, entgehen seinen göttlichen Blicken die kleinen Nuancen, welche die Menschen trennen, wie die Höhen und Tiefen der Erde den Augen eines Sonnen-bcwohners veischwindm würden. Wenn der Kaiser, scheinbar frei, seinen Palast den bevorzugten Bauern und dcn auserwahlten Bürgern öffnet, 61_____ denen er zwei Mal jährlich die Ehre gewährt, ihm den Hof Machen zu dürfen"), so sagt er nicht zum Landmanne und zu dem Kaufmanne: „Du bist ein Mensch wie ich," wohl aber sagt er zu dem großen Herrn: „Du bist ein Sclave wie sie, und ick, Euer Gott, schwebe über euch Allen." Das ist, jede politische Fiction bei Seite gelassen, der moralische Sinn dieses Festes, und das verdirbt in meinen Augen das Schauspiel. Ueberdies habe ich bemerkt, daß es dem Herrn und den leibeigenen weit mehr gefiel als den Höflingen von Profession. Wenn man ein Scheinbild von Popularität in der Gleichheit der Andern sucht, so ist das ein grausames Spiel, ein Dcspotenscherz, der die Menschen eines andern Jahr: Hunderts blenden konnte, der aber Völker nicht mehr tau: schen sollte, die das Alter der Erfahrung und der Ueber-legung erreicht haben. Nichr der Kaiser Nicolaus hat diese Tauschung hervorgeslicht; da er aber dieses politische Kinder: spiel nicht erfunden hat, so wäre cs seiner würdig, dasselbe abzuschaffen. Freilich läßt sich in Rußland nichts ohne Gefahr abschaffen-, die Völker, demn cs an Bürgschaften fehlt, stützen sich. nur auf Herkommen und Gewohnheit.' Das hartnäckige Festhalten an dem Herkommen, das durch Aufstand und Gift geschützt wird, ist eine der Säulen der Constitution, und der periodische Tod der Souveraine beweiset den Russen, daß diese Constitution sich Achtung zu verschaffen weiß. Das Gleichgewicht einer solchen Maschine ist für mich ein tiefes und schmerzliches Geheimniß. Als Decoration, als malerische Zusammenstellung von Menschen aus allen Standen, als Musterung prächtiger °) Am I. Januar in Petersburg und bei dem Frfte der Kaiserin in Pcttrhof. 62 ober seltsamer Anzüge ist das. Fest in Peterhof nicht genug zu rühmen. Nichts uon dem, was ich darüber gelesen, was man mir davon erzahlt hatte, hatte mir eine Vorstellung von einer solchen feenhaften Erscheinung geben können, die Phantasie wäre hinter- der Wirklichkeit zurückgeblieben. Denken Sl'e sich einen Palast auf einer Terrasse, deren Höhe einem Verge gleich kommt in einem Lande mit unabsehbaren Ebenen, in welchem man von einer Anhöhe von W Fuß einen unermeßlichen Horizont vor sich hat. Unter diesem imposanten Baue beginnt ein großer Park, der erst am Meere endigt, wo man eine Reihe von Kriegsschiffen sieht, die am Abende des Festes iltumimtt werden sollen; es grenzt an Zauberei; das Feuer entzündet sich, glänzt und verbreitet sich wie eine Feuersbrunst von den Voskets und den Terrassen des Palastes bis an die Fluchen des finnischen Meerbusens. Den Park erleuchten die Lampen taghell. Man sieht da Baume, die durch Sonnen uon verschiedener Farbe bunt beleuchtet sind. Nicht nach taufenden, nicht nach zchntausenden zahlt man die Lichter in diesen Armidengarten, fondcrn nach hunderttauscnden, und alles dils bewundert man von den Fenstern eines Schlosses aus, das im Sturme durch ein Volk genommen wird, welches so ehrerbietig ist, als ware es lebenslang am Hofe gewesen. In dieser Menge, in welcher man die Rangunterschiede verwischen will, finden sich nichtsdestoweniger alle Stande, ohne zu verschmelzen. Welchen Angriff die Aristocrats auch durch den Despotismus erlitten hat, es bestehen noch immer Kasten in Rußland. Es ist dies eine Aehnlichkeit mehr mit dem Oriente und keiner der wenigst auffallenden Widersprüche der gesellschaftlichen Ordnung, wie sie durch die Sitten des Volkes in Verbindung mit der Regierung des Landes gemacht worden 03 ist. So habe ich bei diesem Feste der Kaiserin, einem wah-rm Vacchantenfeste der absoluten Macht, unter der schein-barm Unordnung des Balles das Bild der Ordnung erkannt, welche in dem Staate regiert. Ich sah nichts als Kaufleute, Soldaten, Landleute und Höstmgc, und Alle unterschieden sich uon einander durch ihre Kleidung; ein Anzug, der den Rang des Mannes nicht anzeigte und ein Mann, der nichts Anderes hätte als scin persönliches Verdienst, würden hier Abweichungen von der Regel, durch unruhige Neuerer und durch unvorsichtige Reisende eingeführte europäische Erfindungen sein. Vergessen Sie nicht, daß wir an der Grenze Asiens sind; «in Russe im Frack in der Heimath sieht aus wie ein Fremder. Rußland liegt an der Grenze zweier Continente; was aus Europa kommt, ist nicht geeignet, sich vollständig mit dem zu verschmelzen, was aus Asien hergebracht worden ist. Dieser Staat ist bishcr nur ciuilisirt worden, indem er den Ungestüm und das Ungleichartige der beiden Civilisationen duldete, die beide vorhanden, aber noch sehr verschieden sind. Dies wird für den Reisenden rinc Quelle interessanter, wenn auch nicht tröstlicher Beobachtungen. Der Ball ist ein Gedränge; er heißt ein Maskenball, weil die Leute ein Stückchen seidenes Zeug, das man einen venetianischen Mantel getauft hat und das lacherlich über den Uniformen flattert, unter dem Arme tragen. Sind die Säle des alten Palastes mit Menschen angefüllt, so gleichen sie einem Ozeane von Köpfen mit falbem Haar, über die alle der edle Kopf des Kaisers hinwegragt, dessen Gestalt, Stimme und Wille gleichsam über seinem Volke schweben. Dieser Fürst schcint würdig und sahig zu sein, die Geister niederzuhalten, wie er die Körper überragt; es umgiebt seine Person gewissermaßen ein Wundcrglanz; man sieht in ihm 64 in Peterhos, wie bei der Parade, wie im Kriege, wie im ganzen Reiche, wie in allen Augenblicken seines Lebens, den Herrscher. Dieses fortwahrende und stets angebetete Herrschen würde eine wahre Comobie sein, wenn nicht von dieser permanenten Repräsentation die Existenz von sechzig Millionen Menschen abhinge, die nur leben, weil ihnen der Mann, den Sie da vor uns in kaiserlicher Haltung sehen, die Erlaub-niß giebt zum athmen, und die Art vorschreibt, wie ste diese Erlaubniß benutzen sollen. Es ist eine Anwendung dcS göttlichen Rechts auf den Mechanismus des gesellschaftlichen Lebens, und das ist die ernste Seite der Repräsentation; aus ihr gehen so wichtige Dinge hervor, daß die Furcht vor denselben die Lust, darüber zu lachen, nicht aufkommen laße. 'Es giebt jetzt in der Welt keinen einzigen Menschen, der eine gleiche Gewalt besitzt und sie gebraucht, in der Türkei nicht, nicht einmal in China. Denken Sie sich die Geschicklichkeit unserer durch Jahrhunderte lange Uebung geprüften Negierungen im Dienste eines noch jungen und rohen Staates, denken Sie sich, wie die Rubriken der Verwaltungen des Abendlandes mit der ganzen neuen Erfahrung dem Despotismus des Orients beistehen, wie die europäische Disciplin die asiatische Tyrannei stützt, wie die Bildung gebraucht wird, die Barbarei zu verbergen, um sie zu verewigen, statt zu ersticken; denken Sie sich, wie die bisciplinirte Brutalität und Grausamkeit, die Taktik der Armeen Europas, dazu beitragt, die Politik dcs Orients zu befestigen, stellen Sie sich ein halbwildes Volk vor, das man in Regimenter ordnet, ohne es zu cioilisiren, und Sie werden den geistigen und gesellschaftlichen Zustand des russischen Volkes verstehen. 65 Seit Peter I. haben die Männer, welche Rußland beherrschen, die Aufgabe zu löstn gehabt, die administrativen Forlschritte der europäischen Nationen zu bemchen, um sechzig Millionen Menschen auf orientalische Art zu regieren. Die Regierungen Katharinas der (kroßen und Alexanders verlängerten nur die systematische Kindheit dieser Nation, die erst dem Namen nach eristirt. Katharina haue Schulen errichtet, um die französischen Philosophen zufrieden zu stellen, deren Lob ihre Eitelkeit erstrebte. Der Gouverneur von Moskau, einer ihrer ehemaligen Favoriten, der durch eine pomphafte Verbannung in die ehemalige Hauptstadt des Reiches belohnt wurde, schrieb ihr eines Tages, daß Niemand seine Kinder in die Schule schicke, und die Kaiserin antwortete in ungefähr folgenden Worten: „Mein lieber Fürst, klagen Sie nicht darüber, daß die „Russen keine Lust haben, etwas zu lernen; ich errichte „die Schulen nicht unsertwegen, sondern wegen Europa, „wo wir unsern Rang in der Meinung be-„Häupten müssen. Von dem Tage an, da unsere „Bauern ansingen sich aufzuklaren, würden wir beide, „Sie und ich, nicht lange auf unsern Platzen bleibm." Diesen Brief hat eine Person gelesen, der ich volles Vertrauen schenke. Die Kaiserin war, als sie ihn schrieb, ohne Zweifel zerstreut, und eben weil sie sich bisweilen vergaß, fand man sie so liebenswürdig und hatte sie eine so große Gewalt üder Manner mit Phantasie. Die Russen werden nach ihrer gewöhnlichen Tactik die Aechtheit dieser Anecdote laugnen, ich kann aber, wenn ich auch die Worte nicht ganz genau kenne, versichern, daß sie den Gedanken der Kaiserin vollkommen genau ausdrücken. Dies muß ihnen und mir genügen. 66 In diesem einzigen Zuge können Sie den Geist der Eitelkeit erkennen, welcher die Russen beherrscht und peinigt und die über ihnen stehende Gewalt schon in der Quelle verdirbt. Diese unglückliche europäische Meinung ist ein Phantom, das sie fortwährend verfolgt und die Civilisation für' sie zu einem Taschenspielerstückchen macht, das mit größerer oder geringerer Geschicklichkeit ausgeführt wird. Der jetzige Kaiser mit feinem gesunden Urtheile und seinem hellen Geiste hat die Klippe gesehen; wird er sie aber vermeiden können? Es gehört mehr als die Kraft Peters des Großen dazu, um ein Uebel zu beseitigen, das durch diesen ersten Verderbcr der Russen veranlaßt worden ist. Jetzt hat sich die Schwierigkeit verdoppelt; der Geist des Bauern, der roh g^licben ist, sträubt sich grgen die Cultur, wahrend seine Gewohnheiten und seine Natur ihn dem Zügel unterwerfen. Gleichzeitig widerstrebt die falsche Eleganz der großen Herren dem Nationalcharacter, auf den man sich doch stützen müßte, um das Volk edler zu machen. Welche Verwickelung! Wer wird diesen neuen gordischen Knoten lösen? Ich bewundere den Kaiser Nicolaus; nur ein genialer Mensch kann die Aufgabe erfüllen, die er sich gestellt haw Er hat das Uebel geschen, er hat auch das Heilmittel erkannt und bemüht sich, dasselbe anzuwenden. Heller Geist und starker Wille machen Fürsien groß. Reicht aber eine Regierung hin, Uebe! zu heilen, die bereits anderthalb hundert Jahre alt sinb i Diese Uebel sind «so eingewurzelt, daß sie selbst dem nicht eben aufmerksamen Fremden auffallen, obgleich Rußland ein Land ist, in welchem Jedermann sich bemüht, den Reisenden zu tauschen. Wissen Sie, was es heißt, eine Reise in Rußland zu S7 machen? Ein leichtfertiger Sinn nähert sich da mit Illusionen; für den aber, welcher offene Augen und bei nur einiger Beobachtungsgabe Unabhängigkeit besitzt, wird sie eine fortwährende Arbeit, weil er mit Mühe stets zwei Natlonen aus einander halten muß, welche in einem Gedranqe mit einander kämpfen. Diese beiden Nationen sind Nußland, wie es ist, und Nußland, wie man es den Fremden zeigen möchte. Der Kaiser ist noch weniger als irgend Jemand vor Tauschung gesichert. Erinnern Sie sich nur an die Reise Katharinens nach Cherson; sie reiftte durch Einöden, aber man baute ihr Reihen von Dörfern eine halbe Stunde uon dem Wege vor, auf welchem sie hinfuhr, und da sie nicht hinter diese Thratercoulissen blickte, so hielt sie ihre südlichen Provinzen für bevölkert, während sie, mehr in Folge des Druckes ihrer Regierung, als wc^en der natürlichen Beschaffenheit, unfruchtbar blieben Die Schlauheit der Manner, denen der Kaiser das Detail der russischen Verwaltung übertragen hat, setzt noch heut zu Tage den Souveram ähnlichen Tauschungen aus. Ich gedenke deshalb auch oft an diese Thatsache. Das diplomatische Corps und die Abendländer überhaupt sind stets uon dieser Negierung mit byzantinischem Geiste und von ganz Rußland, für übelwollende und neidische Spione gehalten worden. Die Nüssen und die Chinesen haben das mit einander gemein, daß beide stets glauben, die Fremden beneideten sie; sie beurtheilen uns nach sich. Die so sehr gerühmte russische Gastfreundschaft ist deshalb auch eine Kunst geworden, die sich in eine sehr schlaue Politik auflöset und darin besteht, die Gaste mit so wenig Aufrichtigkeit als möglich zufrieden zu stellen. Unter den Reisenden sind diejenigen am willkommensten, welche sich 98 am gutmüthigsten und am längst«: hinter das Licht führen lassen. Die Höflichkeit ist hier nickts weiter als die Kunst, einander gegenseitig die Furcht zu verbergen, welche man empfindet und welche man einflößt. Ich sehe hinter Allem ein heuchlerisches Sichgcwaltanthun, das schlimmer ist als die Tyrannei Vattis, von welcher das moderne Rußland weit weniger entfernt ist, als man es uns gern glauben machen möchte. Ich höre überall die Sprache der Philosophie reden und sehe überall Unterdrückung an der Tagesordnung. Man sagt mir: ,.wir mochten wohl gern die Willkür entbehren, wir würden reichcr und mächtiger sein, aber wir haben es mit asiatischen Völkern zu thun." Gleichzeitig denkt man aber! „wir möchten herzlich gern von dem Liberalismus und der Philanthropie gar nicht reden, wir würden glücklicher und machtiger sein, aber wir haben mit den europäischen Regierungen zu verhandeln." Man muß cs gestehen, die Russen aller Klassen wirken mit verwund^'rungswürdiger Uebereinstimmung zusammen, um der Achscliragerci und der Doppelzüngigkeit den Sieg zu verschaffen. Sie besitzen eine Fertigkeit in der Lüge und eine natürliche Anlage zur Verstellung, deren Erfolg meine Aufrichtigkeit eben so sehr cmpölt, als er mich erschreckt. Alles, was ich anderswo bewundere, Haffe ich hier, weil ich es zu theuer bezahlt finde: die Ordnung, die Geduld, die Eleganz, die Artigkeit, die Achtung, die natürliche und moralische Uebereinstimmung, welche zwischen dem, welcher Plane entwirft und jenem, der sie ausführt, bestehen muß; mit einem Worte Alles, was wohl organisircen Staaten Werth und Reiz verleiht, Alles, was den politischen Institutionen einen Sinn und Zweck giebt, schmilzt hier in einem einzigen Gefühle, der Furcht, zusammen. In Rußland ersetzt, d. h. lahmt die Furcht den Gedanken, und dieses 69 Gefühl kann, wenn es allein vorherrscht, nur den äußern Schein der Civilisation hervorbringen; die kurzsichtigen Gesetzgeber mögen mir es nicht übel nehmen, aber die Furcht wird nie die Seele eines gut organisirten Staates sein; sie ist nicht die Ordnung, sondern die Umhüllung des Chaos, weiter nichts; wo es keine Freiheit giebt, fehlt auch die Seele und die Wahrheit, Rußland ist ein Körper ohne Leben, ein Loloß, der durch dcn Kopf besteht, dessen Glieder aber der Kraft entbehren und hinwelken. Daraus ergiebt sich nun eine tiefgreifende Unruhe, ein unbeschreibliches Unbehagen, und dieses Unbehagen liegt nicht, wie bei den neuen französischen Revolutionärs, in der Unklarheit der Ideen, in dem Mißbrauche, in der Langweiligkeit des materiellen Wohlbefindens, in der Eisersucht allein, welche die Concur-renz erzeugt, nein, es ist der Ausdruck eines positiven Leidens, das Symptom einer organischen Krankheit. Meiner Meinung nach ist Nußland von allen Theilen der Erde derjenige, wo die Menschen am wenigsten wirkliches Glück besitzen. Wir sind auch nicht glücklich, aber wir fühlen doch, daß das Glück von uns abhangt; bel den Russen ist es unmöglich. Denken Sie sich, daß die republikanischen Leidenschiften ^denn, noch einmal, unter dem Kaiser von Rußland herrscht die eingebildete Gleichheit) in der Stille des Despotismus kochen; es ist dies eine entsetzliche Verbindung, namentlich wegen der Zukunft, welche sie der Welt verheißt. Rußland ist ein festv^rschlossener Kessel mit kochendem Wasser über einem Feuer, das immer heftiger brennt; ich fürchte eine Explosion und es kann nicht zu meiner Beruhigung dienen, daß der Kaiser wahrend seiner mühseligen Regierung mehrmals dieselbe Besorgniß gehegt hat: — mühselig nenne ich seine Regierung und sie ist es im Frieden wie im Kriege, denn die Reiche sind in 70 unsern Tagen wie die Maschinen, welche verderben, wenn sie stillstehen. Die Klugheit lähmt, die Besorgniß verzehrt sie. Jener Kopf ohne Körper also, jener Fürst ohne Volk giebt Volksfeste. Meiner Meinung nach sollte erst ein Volk geschaffen werden, ehe man nach dem Beifall des Volkes strebte. Dieses Land fügt sich in der That merkwürdiger Weise in alle Vetrugsarten; es giebt auch an andern Orten Sklaven, um aber so viele Höflings-Sklavcn zu finden muß man nach Rußland kommen. Man weiß nicht, soll man sich mehr über die Inconsequenz oder über die Heuchelei wundern; Katharina ll. ist noch nicht todt, denn troh dem so offenen (Character ihres Nachkommen wird Rußland noch immer durch Verstellung regiert. In diesem Lande wurde die eingestandene Tvmnnei ein Fortschritt scin. In diesem Punkte, so wie in vielen andern, kaben sich die Fremden, welche über Rußland schrieben, mit den Russen verbunden, um die Welt zu tauschen. Kann man hinterlistiger gefällig sein, als die meisten dicser Schriftsteller, die aus allen Enden der Welt hierher kamen, um sich sentimental über die rührende Veriraulichkeit vernehmen zu lassen, welche zwijchen dem Kaiser von Rußland und seinem Volke herrsche? Ist der Wunderglanz des Despotismus so gewaltig, daß er selbst die blos Neugierigen blendet und besticht 5 Rußland ist entweder bisher nur durch Leute geschildert worden, deren Character und Stellung ihnen kein freies, selbststänbiges Urtheil gestattete, oder auch die Aufrichtigsten verlieren die Freiheit des Urthnls, sobald sie Rußland betreten. Ich für meine Person schütze mich vor dieser Einwirkung durch meinen Abscheu vor der Heuchelei und Verstellung. Ich Haffe nur ein Uebel und zwar weil es meiner Mei- 71 nung nach alle andern Uebel erzeugt und voraussetzt, — die Lüge. Ich bemühe mich deshalb auch, ihr überall, wo ich sie finde, die Maske abzureißen; der 'Abscheu vor der Falschheit erregt in mir den Wunsch und giebt mir den Muth, diese Reise zu beschreiben, die ich aus Neugierde unternommen habe und aus Pflichtgefühl schildern werde. Die Wahrheitsliebe ist eine Muse, welche Kraft, Tugend und Gelehrsamkeit vertritt. In mir geht dieles Gefühl so weit, daß ich selbst die Zeit liebe, in welcher wir leben; wenn auch unser Jahrhundert etwas grobsinnilich ist, so ist es doch auch ehrlicher als das letztvcrgangene und zeichnet sich durch den, bisweilen brutalen, Widerwillen gegen alles Affecnrte aus und diese Abneigung theile ich. Der Haß gegen die Heuchelei ist die Fackel, die mir in dem Labyrinthe dieser Welt leuchtet. Ich halte die Menschen, wclche in irgend einer Art betrügen, für Giftmischer, und die am höchsten Gestellten, die Mächtigsten sind die Schuldigsten. Wenn das Wort lügt, die Schrift lügt, die Handlung lügt, so verachte ich sie, wenn aber das Schweigen lügt, wie in Nußland, so mache ich mich zu seinem Dolmetscher und strafe es dadurch. Dies hinderte mich denn gestern auch, mich geistig an einem Schauspiele zu erfreuen, das meine Augen unwillkürlich bewunderten; wenn es auch nicht rührend war, wie man es mir einreden wollte, so war es doch großartig, prachtvoll, ungewöhnlich, neu, aber es kam mir trügerisch vor und dies reichte hin, ihm in meinen Augen allen Glanz zu nehmen. Die Wahrheitsliebe, welche heut zu Tage in den französischen Herzen herrscht, ist in Rußland noch unbekannt. Was ist denn nun auch diese Menschenmenge, die man Volk genannt hat und deren ehrerbietige Vertraulichkeit in Gegenwart der Fürstcnfamilie man alberner Weise in Europa rühmen zu müssen glaubt? Man täusche sich nicht, — es 72 sind Sclaven von Sclaven. Die großen Herren schicken, um die Kaiserin zu feiern, ausgewählte Bauern und man sagt, sie waren zufällig gekommen; diese ausgnrahltcn Leibeignen erhalten die Ehre, in dem Paläste ein Volk vorstellen zu dürfen, das sonst nirgends eristirt; sie drängen sich da mit der Dienerschaft des Hofes, der man an diesem Tage ebenfalls den Eintritt gestattet, und mit dcn Kausicuten, die im besten Rufe stehen, und die ihrer Hingebung wegen genau bekannt sind, denn einige Manner mit Bärten müssen auch da sein, um die achten, die alten Russen zufrieden zu stellen. Das ist mm das Volk, dessen vortreffliche Gesinnungen und Gefühle dcn andern Völkern von den Souverainen Rußlands von der Kaiserin Elisabeth an als Muster aufgestellt werden! Von der Regierung Elisabeths, glaube ich, schreiben sich diese Feste her, und jetzt tonnte sie del,- Kaiser Nicolaus, trotz seinem eisernen Character, seiner bewundernswürdigen Gerad-sinnigkeit und trotz der Gewalt, die ihm seine öffentlichen und Privattugcnden sicheln, vielleicht nicht abschaffen, so wahr ist es, daß selbst unter einer scheinbar unumschränkten Regierung die Umstände stark.r sind als die Menschen. Nichts ist für einen Menschen, wie hoch er auch über den andern stehen mag, so gefahrlich, als wenn er zu einer Nation sagt: „Man hat dich getauscht, ich will nicht länger Schuld an deinem Irrthume haben." Das gemeine Volk hängt an der Lüge, selbst an der, welche ihm schadet, mehr als an der Wahrheit, weil der menschliche Stolz das, was von dem Menschen herrührt, dem vorzieht, was von Gott kommt. Das ist unter allen Regierungen wahr, schmerzlich wahr aber unter dem Despotismus. Eine Unabhängigkeit gleich jener der Muschiks von Peterhof beunruhigt Niemanden. Eine solche Freiheit, eine solche Gleichheit paßt für die Despoten; sie kann man 73 ohnc Gefahr rühmen, aber rathen Sie einmal Rußland cine allmalige Emancipation an und Gie werden sehen, was man in diesem Lande mit Ihnen vornimmt, was man von ihnen sagt. Alle Leute vom Hofe hörte ich gestern im Vorbeigehen die Höflichkeit ihrer Leibeigenen rühmen. „Veranstalten Sie einmal'ein solches Fch in Frankreich," sagten sie. Ich hätte ihnen gern geantwortet: „Ehe wir die beiden Völker vergleichen, wollen wir warten, bis das Ihrige cxistirt." Ich erinnerte mich zu gleicher Zeit an ein Fest, das ich Leuten aus dem Volke in Sevilla gab, — unter dem Despotismus Ferdinands VIl. Die achte Höflichreit dieser, wenn nicht dem fechte, doch der Sache nach sreien Menschen gab mir einen Gegenstand des Vergleichs, der für die Russen nicht eben günstig aussiel. ") Nußland ist das Land der Verzeichnisse; wenn man nur die Aufschii'ften lies't, so klingt es prachtig, aber man hüte sich, weiler zu gehen. Schlagt man das Buch auf, so sin-oet man nichts von dcm, was es ankündigt; alle Kapitelüberschriften sind da, aber es fehlen die Kapitel selbst. Wie viele Waldcr stnd nichts als Sümpfe, in denen man nicht ein Holzbündel schneiden konnte! Die entfernteren Regimenter sind Cadres ohne einen Mann; die Städte, die Straßen sind projectirt, die Nation selbst ist nichts als ein Anschlagzettel an Europa, das sich durcl^ eine unkluge diplomatische Fiction tauschen läßt. Ich habe hier nirgends eigenes Leben gefunden als bei dem Kaiser, nirgends etwas Natürliches als am Hofe. Die Kaufleute, die eine Mittelklasse bilden würden, find °) Man vergleiche dcs Verfassers: „Spanien unter Ferdinand VII." 74 so wenig zahlreich, daß sie nicht mitzählen können, und übrigens sind sie zum größtßn Theile Ausländer. Von Schriftstellern erscheinen in jeder Generation höchstens zwei; mit den Künstlern ist es wie mit den Schriftstellern. Ihre geringe Anzahl erwirbt ihnen Achtung, aber wenn ihre Seltenheit auch zu ihrem persönlichen Glücke bnträgt, so schadet sie doch ihrem gesellschaftlichem Einflüsse. Advocaten giebt eo in einem Lande nicht, in dem es keine Justiz giebt; wo alsu sollte man jene Mittelclasse finden, welche die eigentliche Starke der Staaten ausmacht und ohne welche ein Volk nichts als eine Hcerde ist, die durch einige gut dresstrte Hunde geleitet wird? Eine Art Menschen habe ich nicht erwähnt, die weder unter die Großen noch unter die Kleinen zu rechnen sind, — die Söhne der Geistlichen. Fast Alle werden Subaltern-Beamle, und dieses Volk von niedern Beamten ist die offene Wunde Nußlands"); es bildet eine Art Corporation obscu-ren Adels, welcher sehr feindselig gegen die Großen gesinnt ist, einen Adel, dessen Geist antiaristocratisch ist, in der eigentlichen politischen Bedeutung des Wortes, und der zu gleicher Zeit schwer auf den Leibeigenen lastet. Von diesen dem Staate unbequemen Menschen, Früchten bcs Schismas, welches dem Priester die Ehe erlaubt, wird die nächste Revolution in Rußland ausgehen. Die Corporation dieses sccundaren Adels verstärkt sich auch durch die Verwaltungsbeamten, die Künstler, die Angestellten aller Art, die aus dem Auslande kamen, und die geadelten Kinder derselben. Sehen Sie in allem diesem das Element eines wahrhaft russischen Volkes, das werth ') Man sthe weiter unten den Brnf aus Iaroslaw. 75 und fähig wäre, die Volksfreundlichkeit deS Km'sers zu rechtfertigen und zu würdigen? Noch einmal, Alles ist Täuschung in Rußend und die freundliche Vertraulichkeit des Czaren, der in seinem Palaste seine Leibeigenen und die Leibeigenen seiner Höftinge aufnimmt, nur ein Spott mehr. Die Todesstrafe cxistirt in diesem Lande nicht außer für das Verbrechen des Hochverrathes; dennoch giebt es gewisse Schuldige, die man umbringen will. Um die Milde des Gesetzes mit der herkömmlichen Nohheit der Russen in Einklang zu bringen, verfährt man auf folgende Weise: ist ein Verbrecher zu mehr als hundert Knutenhieben verurtheilt, so tödtet der Henker, der schon weiß, was ein solches Urtel zu bedeuten hat, aus Menschlichkeit den armen Sünder bei dem dritten Hiebe, indem er ihn an einen Theil schlägt, wo ein Schlag todtlich wird. Aber die Todesstrafe ist abgeschasst! ") Ist eine solche Lüge gegen das Gesetz nicht schlimmer als die offen bekannte kühnste Tyrannei i Ich habe unter den sechs bis siebentausend Repräsentanten dieser «nachten russischen Nation, die gestern Abend in dem Palast Peterhof zusammengedrängt waren, vergebens ein heiteres Gesicht gesucht; wenn man lügt, lacht man nicht. Sie können mir glauben, was ich Ihnen über diese Resultate der absoluten Regierung sage, denn als ich hierher kam, um das Land kennen zu lernen, hegte ich dieHoff-nung, ein Mittel gegen die Uebel zu finden, welche unser Vaterland bedrohen. Wenn Sie meinen, ich beurtheile Rußland zu streng, so liegt es an dem unwillkürlichen Ein- °) Man srhe die Broschüre von Tolstoi ,r I» ^8>!jll,tion ru8«s etc. 76 drucke, den die Dinge und die Personen täglich auf mich machen, und den sie auf jeden Freund der Menschheit an meiner Stelle machen würden, wenn er gleich mir über das, was man ihm zeigt, hinwegsehen wollte. Dieses Reich, so unermeßlich es auch sein mag, ist nichts als ein Gefängniß, zu dem der Kaiser den Schlüssel hat, und in diesem Staate, der nur von Eroberungen leben kann, kommt in vollem Frieden, nichts dem Unglücke der Unterthanen gleich, als etwa das Unglück des Fürsten. Das Leben des Kerkermeisters habe ich dem des Gefangenen immer für so ähnlich gehalten, daß ich die Macht der Phan-taste nicht genug bewundern kann, nach welcher der Eine von Vciden sich einbildet, er fei unendlich weniger zu beklagen als der Andere. Der Mensch kcmn hier weder die wahren gesellschaftlichen Genüsse der Gebildeten, noch die unbeschrankte und thierische Freiheit der Wilden, noch die Selbststandigkcit des Halbwilden, des Barbaren; ich sehe unter dieser Regierung keim- Entschädigung für das Unglück, als die Traume des Stolzes und die Hoffnung der Herrschaft, und auf diese Leidenschaft komme ich immer wieder zurück, wenn ich das geistige Leben der Bewohner Rußlands erforschen will. Der Russe denkt und lebt als Soldat, als erobernder ' Soldat! Ein ächter Soldat, welches Land auch sein Vaterland sein mag, ist nicht Bürger; hier ist er es weniger als sonst irgendwo; er ist ein Gefangener lebenslang und hat Gefangene zu bewachen. Das Wort Gefängniß bezeichnet in Rußland noch etwas mehr als an andern Orten. Man schaudert, wenn man an alle die unterirdischen Grausamkeiten denkt, welche unserm Mitleiden durch die Disciplin des Schweigens in 77 einem Lande entzogen werden, wo Jedermann von dcr Geburt an Verschwiegenheit lernt. Man muß hierherkommen, um die Zurückhaltung hassen zu lernen; so viel Klugheit und Vorsicht verrath eine geheime Tyrannei, deren Vilo sich mir überall uor Augen steltt. Jede Bewegung in dm Zügen, jedes absichtliche Verschweigen, jeder Ton der Stimme zeigt mir die Gefahr des Vertrauens lind des Naturels. 'Selbst das Aussehen der Hauser erinnert mich an die schmerzlichen Zustande der menschlichen Existenz in diesem Lande. Wenn ich über die Schwelle eines großen Herrn schreite und ich bemerke da einen ekelhaften Schmuh, der durch einen Luxus, der mich nicht tauscht, nur schlecht versteckt ist; wenn ich das Ungeziefer selbst in dem Hause des Reichthums so zu sagen einathme, so sage ich nicht- das sind Fehler, man ist aber doch ehrlich; nein, ich bleibe nicht bei dem, was mir in die Sinne fallt, ich gehe weiter, ich stelle mir alsbald den Schmutz vor, welcher die Kerker in einem Lande verpesten muß, wo selbst die Reichen die Unreinlichkeit im eigenen Hause nicht fürchten; ist mir die Feuchtigkeit in meinem Zimmer zuwider, fo denke ich an die Unglücklichen, welche der Feuchtigkeit der unterseeischen Kerker in Kronstadt, in der Festung zu Petersburg und der andern politischen Graber ausgesetzt sind, drren Namen ich nicht einmal kenne; das bleiche Aussehen der Soldaten, die auf der Straße gehen, erinnert mich an die Diebstähle der Beamten, welchen die Proviantlicfc-rung für die Armee übertragen ist; der Betrug dieser Ver-räthcr, welche der Kaiser bezahlt, damit sie stine Garden nähren, die sie aber hungern lassen, steht in bleifarbigen Zügen auf den Gesichtern der Unglücklichen ge-schril'bcu, denen eine gesunde, sogar eine zureichende Nah- 78 rung durch Menschen entzogn wird, die an nichts weiter denken', als sich schnell zu bereichern, ohne sich zu scheuen, die Regierung zu schänden, dir sie bestehlen, oder den Fluch der in Negimenter geordneten Sclaven auf sich zu laden, die sie umbringen; kurz bei jedem Schritte, den ich hier thue>, steigt vor mir das Gespenst Sibirien aus und ich gedenk^ an Alles, was der Name dieser politischen Wüste, dieses Abgrundes von Elend, dieses Gottesackers der Lebenden bedeutet, jener Welt fabelhafter Schmerzen, jenes Landes mit ehrlosen Verbrechern und hochherzigen Helden, jener Colonie, ohne welche dieses Reich so unvollständig sein würde, wie ein Palast ohne Keller. Solche düstere Bilder treten vor meine Seele, während man uns das rührende Verhältniß des Czarcn zu seinen Unterthanen rühmt. Nein, ich bin gewiß nicht geneigt, mich durch die kaiserliche Voltsfreundlichkrit blenden zu lassen; ich will im Gegentheil lieber die Freundschaft der Russen als die Geistesfreiheit verlieren, mit welcher ich ihren Kaiser und die Mittel beurtheile, welche sie anwenden, um uns und sich selbst zu täuschen. Aber ich fürchte ihren Zorn nicht, denn ich lasse ihnen Gerechtigkeit widerfahren, und glaube, daß sie im Grund des Herzens ihr Vaterland noch strenger beurtheilen als ich, weil sie es besser kennen als ich. Wenn sie mich laut auch tadcln, im Stillen werden sie mich freisprechen, und das genügt mir. Ein Reisender, der sich hier durch Lanocseimvohner bereden ließe, könnte das Reich von einem Ende zum andern durchwandern und nach Hause zurückkommen, ohne etwas anderes als Facaden gesehen zu haben. Ich sehe wohl ein, dies muß man thun, wenn man seinen Wirthen gefallen will; aber für diesen Preis ist mir ihre Gastfreundschaft zu theuer. Ich will lieber ihren Lobeserhebungen ganz entsagen, als 79 den wahren und einzigen Zweck meiner Reise verfehlen, — die Erfahrung. Wenn ein Reisender sich dumm-geschäftig zei^t, früh aufstcht, nachdem er sich spat niedergelegt, kcinm Ball versäumt, nachdem er allen Manövern beigewohnt hat, mit einem Worte, wenn er so geschäftig ist, daß er nicht zum Denken kommen .kann, so ist er überall willkommen, so wird er überall mit Wohlwollen beurtheilt 'und ferirt, Eine Menge unbetannter Leute werden ihm die Hand drücken, so oft der Kais« mit ihm gesprochen, ihn anqelächrlt hat, und ist er fort, so wird man ihn einen ausgezeichneten Reisenden nennen. Die, Russen haben ein vortreffliches französisches Wort gemacht, um ihre politische Gastfreundlichkett zu bezeichnen; wenn sie von Fremden sprechen, welche sie durch Feste blenden, so sagen sie, man muß sie ?n«m>-!.'ln«l!'i-") (unter Blumen ersticken). Aber er lasse ja nicht merken, daß der Handwerts-eifer in ihm nachlaßt; bei dem geringsten Zeichen von Ermattung oder von Hellsehen, bei der geringsten Nachlässigkeit, welche, wenn auch nicht gerade Langeweile, aber doch die Möglichkeit der Langeweile verriethe, würde der russische (Hcist der beißendste von allen, wie eine gereizte Schlange sich gegen ihn erheben. Die Spöttelei, dieser ohnmächtige Trost des Unterdrückten, ist hier das Vergnügen des Bauern, wie der Seruilis-muS die Eleganz des großen Herrn bildet. Die Ironie und die Nachahmungskunst sind die einzigen natürlichen Talente, welche ich bei den Russen gesunden habe. Der Auslandes der einmal die Zielscheibe ihrrr giftigen Bekrittelung geworden ist, kann sich nicht mehr retten; er erhalt wie ein Deserteur Spießruthcn laufen muß, von allen Seiten Zungen- ') Siehe das Ende des letzten Ba»des. 80 hiebe und must am, Ende unter die Füße einer Menge von Ehrgeizigen gerathen, der unbarmherzigsten und verhartet-sten, die es in der Welt giebt. Die Ehrgeizigen finden immer ein Vergnügen dawn, einen Menschen umzubringen. „Ersticken wir ihn aus Vorsorge; es ist dann immer einer weniger; ein Mensch ist fast ein Nebenbuhler, denn er könnte es werden." Um einige Illusion von der orientalischen Gastfreiheit der Russen zu behalten, darf man nicht am Hofe leben. Hier ist es mit der Gastfreiheit wie mit den alten Refrains, welche die Völker noch immer singen, wenn auch das 5!ied für die, welche es noch singen, keinen Einn mehr hat. Der Kaiser stimmt diesen Refrain an und die Höflinge singen ihn im (5hore nach. Die russischen Höflinge kommen mir vor wie Marionetten, die an zu sichtbaren, zu dicken Bindfäden bewegt werden. Auch an die Rechtlichkeit der Muschik glaube ich nicht mrhr. Man versickert mich mit Emphase, er würd? in dem Garten des Ezar keine Blume entwenden. Das bestreite ich nicht; ich weiß, welche Wunder die Furcht bewirkt; ich weiß abcr auch, daß dieses Musteruolk, dieser Hofbauer sich kein Gewissen daraus macht, die großen Herren, seine Nebenbuhler einen Tag lang zu bestchlen, wenn sie, gerührt durch seine Anwesenheit im Palaste, zu hohes Vertrauen auf die Gefühle der Ehre des für einen Tag geadelten Leibeigenen setzen und einen Augenblick aufhören, ihm auf die Hände zu sehen. Gestern, bei dem kaiserlichen Volksballe, wurde dem sar-dlnischen Gesandten sehr geschickt die Uhr aus der Tasche gestohlen, trotz der Kette, die sie festhalten sollte. Viele Personen verloren in dem Gedränge ihre Taschentücher und andere Gegenstände. Mir selbst nahm man eine Börse mit 81 einigen Ducaten, aber ich tröstete mich über diesen Verlust, indem ich im Stillen über die Lobeserhebungen lachte, welche die Herren über die Ehrlichkeit ihres Volkes aussprachen. Sie wissen recht gut, welchen Werth ihre schönen Redens-arten haben, aber es thut mir nicht leid, daß ich es nun eben so gut weiß, wie sie. Sehe ich alle diese nutzlosen schlauen Lügen, so blicke ich mich nach denen um, welche dadurch irregeführt werden und ich rufe wie Basil aus: „Wen tauscht man hieri Jedermann ist in dem Komplotte." Was die Russen auch sagen und thun mögen, jeder aufrichtige Beobachter wird bei ihnen nichts als Griechen aus dem oströmischen Reiche sehen, welche durch die Preußen des 18. und durch die Franzosen des 19. Jahrh, nach der modernen Strategie ausgebildet wurden. Die Popularität eines Autocraten kommt mir in Nußland eben so verdächtig vor, wie die Aufrichtigkeit der Männer, welche in Frannkreich die absolute Democratic im Namen der Freiheit predigen. Blutige Sophismen! Wer die Freiheit vernichtet, wahrend er den Liberalismus prediget, begeht einen Todtschlag, denn der Staat lebt von Wahr-heit; wer aber eine patriarchalische Tyrannei ausübt, thut dasselbe. Ich kann mich von der fixen Idee nicht trennen, daß man die Menschen beherrschen kann und muß, ohne sie zu betrügen. Wenn in dem Privatleben die Lüge eine Niederträchtigkeit ist, so ist sie im öffentlichen Leben ein Verbrechen und dieses Verbrechen wird eine Ungeschicklichkeit werden. Jede Negierung, welche lügt, ist eine gefährlichere Verschwörerin, als der Mörder, dcn sie legal hinrichten laßt, und trotz dem Beispiele gewisser großer Geister, die durch ein Zeitalter von Schöngeistern verdorben wurden, ist das II. 6 82 Verbrechen, d. h. die Lüge, dcr größte Fehler; das Genie, das dcr Wahrheit entsagt, dankt ab; der Herr erniedrigt sich dann vor dem Sclaven, denn der Betrüger steht unter dem Betrogenen. Das gilt von der Negierung, von der Literatur, wie von der Religion. Meine Idee von der Möglichkeit, christliche Aufrichtigkeit auch in der Politik walten zu lassen, ist nicht so hohl, als sie den Gewandten vielleicht erscheint, denn sie ist auch die Idee des Kaisers Nicolaus, dcr gewiß einen hellen und praktischen Blick bcscht. Ich glaube nicht, daß jetzt auf irgend cinem Throne ein Fürst sitzt, welcher die Lüge so verabscheut und so wcnig lügt als der Kaiser von Nußland. Er hat sich zum Ritter der monarchischen Gewalt in Europa aufgeworfen und Sie wissen, daß er diese Rolle offen und ehrlich durchführt. Er predigt nicht, wie eine gewisse Regierung, an jedem Orte eine verschiedene Politik, je nach den mercantilen Intcreffen; im Gegentheil, er begünstigt überall ohne Unterschied die Prinzipien, die mit seinem Systeme zusammenpassen; so ist er absoluter Royalist. Kann man dasselbe von dem liberalen, constitutionel-len und der Philanthropie günstigen England sagen? Dcr Kaiser Nicolaus liest alle Tage ein französisches Journal, ein einziges, vom Anfange bis zu Ende, das .Inusll.il <1e8'I1>!kiU8. Die andern überliest er nur, wenn man ihn auf einen intcressantm Artikel aufmerksam macht. In Frankreich habcn die besten Geister den Zweck, die Gewalt zu unterstützen, um die sociale Ordnung zu retten; das ist auch der fortwährende Gedanke dcs ^umnzj ,1l>5 !>«!-l'.-ll», und es vertheidigt ihn mit geistiger Ueberlcgenheit. Dies erklärt das Ansehen, welches dieses Blatt in Frankreich, wie in dem übrigen Europa genießt. 83 Frankreich leidet an der Krankheit unserer Zeit, mehr sogar als irgend ein anderes Land; diese Krankheit ist der Haß gegen die Neuerung und das Heilmittel besteht also darin, die Regierung zu befestigen und stark zu machen. So denkt der Kaiser in Petersburg und das ^mim,-,! O^l« ii, Paris. Da sie aber nur über den Zweck einstimmig sind, so stehen sie einander um so feindlicher gegenüber, je naher sie einander gekommen zu sein schienen. Veruneiniget die Wahl der Mittel nicht gar oft diejenigen, welche unter einer und derselben Fahne kämpfen? Als Bundesgenossen kamen sie zusammen, als Feinde trennen sie sich. Die Legitimität durch Erbrecht halt der Kaiser von Rußland für das einzige Mittel, seinen Zweck zu erreichen, das ^«,u'n»l al«l aber thut dem gewöhnlichen Sinne des alten Wortes Legitimität ein wenig Gewalt an, unter dem Vorwande, es gebe eine andere, sicherere, die auf die wahren Interessen deS Landes gegründete Wahl nämlich, und es baut dadurch im Namen des Staatenwohles Altar gegen Altar auf. Aus dem Kampfe dieser beiden Legitimitäten nun, von denen die eine blind ist wie die Nothwendigkeit, die a'nbere schwankend wie die Leidenschaft, geht ein Zorn hervor^ der um so starker ist, als den Vertheidigern der beiden Systeme, die sich gleicher Ausdrücke bedienen, um zu entgegengesetzten Schlüssen zu gelangen, die entscheidenden Gründe abgehen. So viel ist über allen Zweifel gewiß, daß Jedermann, der die Geschichte Rußlands seit der Entstehung dieses Reiches, besonders aber seit der Thronbesteigung der Romanow, überblickt, sich nicht wundern kann, daß der Fürst, welcher jetzt über dieseS Land regiert, als Vertheidiger des monarchischen Dogma von der Legitimität durch Erbrecht in dem 6' 84 Sinne auftritt, welchen Frankreich in seinem politischen Glauben sonst dem Worte Legitimität beilegte, während ihn die Logik der Ereignisse lehren würde, die Legitimität des ^»urnlll <^8 I>,!>»iu» vorzuziehen, wenn er sich der gewaltsamen Mittel erinnern wollte, welche mehrere seiner Vorganger anwendeten, um die Gewalt auf ihre Nachfolger zu übertragen. Aber er gehorcht seiner Ueberzeugung, ohne an sich selbst zu denken. Ich mache, wie Sie langst wissen, gern solche Abschweifungen, ich ziche gern Nebengedanken heran, die mir ein Gegenstand bietet, denn der Mangel an strenger Ordnung behagt meiner Phantasie, die Alles liebt, was der Freiheit gleicht. Die Gegend von Peterhof ist biö jetzt das schönste Naturbild, das ich in Rußland geschcn habe. Eine nicht sehr hohe Küste blickt über das Meer hinaus, das am Ende des Parks, etwa eine Drittel-Stunde unterhalb des Schlosses, beginnt, welches am Nande dieser kleinen fast steil abfallenden Küste gcbaut ist. An dieser Stelle hat man prachtige Rampen angelegt; man steigt von Terrasse zu Terrasse bis in den Park hinab, wo man Voskcts findet, die ihres dichten Schattens und ihrer Größe wegen majestätisch sind. Der Park ist mit Springbrunnen und künstlichen Cascaden in dem Geschmack jener zu Versailles geschmückt, auch ziemlich mannigfaltig für einen nach der Manier Lc-notres angelegten Garten. Man hat darin einige erhabene Punkte, Bauten angebracht, von denen aus man das Meer, die Küsten Finnlands, das Arsenal der russischen Marine, die Insel Kronstadt mit ihren Granitmauern in der Höhe des Wassers, und weiterhin, neun Stunden weit zur Rechten, Petersburg, die weiße Stadt, erblickt, welche von weitem bunt und glänzend aussieht, und mit jhrcr Menge von 85 Palästen mit bunt angestrichenen Dächern, mit ihren In-se^n, ihren Tempeln mit begipsetm Säulen, mit ihrem Wald von minaretähnlichen Thürmen gegen Abneo einem Fichtenwalde gleicht, dessen silberne Pyramiden durch eine Feuers-brunst beleuchtet werden. Aus der Mitte dieses Waldes, der durch Arme des Flusses durchschnitten wird, sieht man die verschiedenen Arme der Newa herauskommen, die sich in der Nähe des Meerbusens theilt und am Meere in aller Majestät eines großen Flusses endigt, dessen prachtige Mündung verge,jen läßt, daß er nur achtzehn Stunden lang ist. Wiederum blos Schein! Selbst die Natur scheint hier mit den Menschen sich zu vereinigen, um den geblendeten Reisenden mit Tau schungen zu umgeben. Diese Landschaft ist flach, kalt, aber großartig und in ihrer Traurigkeit imposant. Die Vegetation giebt in den Landschaften Ingermann-lands sehr wenig Mannigfaltigkeit; die der Garten ist völlig nachgemacht, und die im Freien besteht in einigen Vir-kengruppen mit traurigem Grün und in Alleen von Birken, die wie Grenzpfähle zwischen sumpfigen Wiesen und Feldern stehen, auf denen kcin Weizen wächst; denn was wächst hier unter dem sechszigsten Grade der Breite? Nenn ich alle die Hindernisse bedenke, welche der Mensch hier besiegt hat, um in Gesellschaft zu leben, um in Bären- und Wolfshöhlen, wie man zu Katharinen sagte, eine Stabr zu bauen, und mehr als einen König wohneil zu lassen und ihn da mit der Pracht zu erhalten, welche der Eitelkeit der großen Fürsten und großen Völker genügt, so erblicke ich keine Krautstaude, keine Nose, ohne versucht zu werden, Wunder! Wunder! auszurufen. Wenn Rußland ein überpinseltes Lappland ist, so ist Peterhof Armioens Palast unter Glas. Ich glaube nicht in freier Luft zu ein, w.'nn 86 ich so viele pomphafte, zierliche, glänzende Dinge sehe und bedenke, daß einige Grad weiter hinauf das Jahr in cincn Tag, eine Nacht und zwei Dämmerungen von dreimonatlicher Dauer zerfallt. Dann muß ich bewundern. Ich bewundere den Sieg des menschlichen Willens überall, wo ich ihn finde, was freilich nicht oft geschieht. Man fahrt eine Etunde in dem kaiserlichen Park in Petcrhof, ohne zweimal durch dieselbe Allee zu kommen; nun denken Sie sich diesen Park ganz in Feuer. In diesem eisigen Lande ohne helles Licht sind die Illuminationen eine Feuersbrunst; man könnte sagen, die Nacht müsse den Tag trösten. Die Baume verschwinden unter einem Dia-mantcnschmucke; in jeder Allee giebt es so viele Lampchen als Blatter; es ist Asien, nicht das wirkliche, das moderne Asien, sondern das fabelhafte Bagdad aus „Tausend und Einer Nacht", oder das noch fabelhaftere Babylon der Se-miramis. Wie man sagt, kommen an dem Tage des Geburtsfestes der Kaiserin sechstausend Wagen, dreißigtausend Fußganger und eine zahllose Menge uon Böten aus Petersburg, um ein Lager um Petcrhof zu bilden. Es ist dies der einzige Tag und das einzige Fest, wo ich in Rußland eine Menschenmenge gesehen habe. Ein bürgerliches Bivouac in einem ganz militairischen Lande ist eine Curiositat. Aber es fchlt auch die Armee bei dem Feste nicht; ein Theil der Garbe und das Cadcttencorps lagern ebenfalls bei der kaiserlichen Residenz, und alle diese Leute, Ossiziere, Soldaten, Kaufleute, Leibeigene, Herren und Große bewegen sich in dem Parke umher, aus welchem die Nacht durch zweimal hundert und fünfzig tausend Lampm vertrieben wird. 87 Man hat mir diese Zahl genannt und ich wiederhole sie auf Geradewohl, dmn ob zweimal hundert tausend obcr zwei Millionen, das ist in meinen Auge gleich; jch habe kein Augenmaß. So viel aber weiß ich, daß diese Feuermasse ein künstliches Licht verbreitet, dem die natürliche Tageshclle des Nordens nicht gleichkommt. In Rußland kann der Kaiser die Sonne erbleichen lassen. Um diese Zeit des Sommers beginnen die Nachte wieber und werden sehr schnell lang; ohne die Illumination würde es schon einige Stunden in den großen Alleen des Parkes zu Peterhof sin-stcr gewesen sein. Man erzahlt ferner, alle Lampen im Parke würden binnen funfunodreißig Minuten durch achtzchnhundert Menschen angezündet; der Theil der Illumination vor dem Schlosse tritt binnen fünf Minuten vollständig hervor. Er begreift un>ter andern einen Canal, der dem Hauptbalcon des Palastes entspricht und sich in gerader Linie in den Park nach dem Meere zu in weite Entfernung hinzieht. Diese Perspective gewahrt einen zauberhaften Anblick; die Wasserflache des banales ist so mit Lichtern begrenzt und spiegelt einen so hellen Glanz zurück, daß man sie für Feuer halten kann. Ariost besäße vielleicht eine so glänzende Phantasie, um Ihnen so viele Wunder in der Sprache der Feen zu schildern; man muß Geschmack und Phantasie in dem Gebrauche anerkennen, dcn man hier von dieser Lichtmasse macht; man giebt verschiedenen glücklich vertheilten Lampen-gruppen originelle Formen; sie bilden baumgroße Blumen, Sonncn, Vasen, Weinlaubcn gleich dcn italienischen l",-ß<,le, Obelisken, Säulen, Wände in maurischer Form, kurz eine ganze phantastische Welt zieht an den Augen vorüber, obnc daß etwas die Blicke fesselt, denn alle diese Wunder folgen mit reißender Schnelligkeit auf einander. Von einer 88 Feuerfeste wird man abgezogen durch Draperien und Spitzen von Juwelen; Alles glänzt und brennt, Alies ist Flamme und Diamant, und man fürchtet, daß das prachtvolle Schauspiel in einem Aschenhausen endigt wie eine Feuersbrunst. Das Staunenswertheste, von dem Palaste aus gesehen, bleibt immer der große Canal, der einer unbeweglichen Lava in einem brennenden Walde gleicht. Am Ende dieses Canals erhebt sich auf einer ungeheuren Pyramide von farbigem Feuer (sie ist, glaube ich, siebcnzig Fuß hoch) der Namenszug der Kaiserin, der in blendendem Wriß über allen diesen rothen, grünen und blauen Lichtern umher brennt und einer Diamantenaigrette zwischen bunten Steinen glncht. Alles ist in einem so großen Maßstabe, daß man seinen Augen nicht zu traurn wagt. Solche Anstrengungen wegen eines jahrlichen Festes sind unmöglich, werden Sie'sagen; ja, was ich sehe, ist zu groß, als daß es wirklich scin könnte; es ist der Traum eines verliebten Riesen, erzählt durch einen verrückten Dichter. Eden so wunderbar als das Fest selbst sind die Episoden zu denen es Veranlassung giebt. Zwei, drei Nachte hindurch lagert die ganze Menschenmenge, von der ich gesprochen habe, um das Dorf her und zerstreut sich in ziemliche Entfernung von dem Schlosse. Viele Frauen schlafen in ihren Wagen, Bäuerinnen in ihren Karren; alle diese Fuhrwerke, die hundertweise in Vretervlanken eingeschlossen sind, bilden Lagerplätze, deren Besuch eine sehr amüsante Unterhaltung gewährt, und die es wohl verdienten, durch eint« geistreichen Künstler gemalt zu werden. Die Eintagsstadte, die der Russe für seine Feste im-provisirt, sind weit amüsanter, hab.-n einen weit nationalern Character als die wirklichen Städte, die in Rußland durch Fremde gebaut wurden. In Peterliof ist Alles, Pferde, 89 Herren und Kutscher, innerhalb hölzerner Einfriedigungen vereinigt, und diese Bivouacs sind durchaus nothwendig, denn es giebl in dem Dorse nur wenige blos leidlich schmutzige Häuser, in denen man die Stuben mit zwei- bis fünfhundert Rubel für die Nacht bezahlt. Mein Mißbehagen wird, seit ich unter den Ruffen lebe, dadurch erhöht, daß mir A'lies den wirklichen Werth dieses unterdrückten Volkes verrath. Der Gedanke an das, was es leisten konnte, wenn es frei ware, steigert dm Unwillen, den ich empfinde, wenn ich sehe, was es jetzt thut. Die Gesandten mit ihrer Familie und ihrem Gefolge so wie die vorgestellten Fremden werden von dem Kaiser aufgenommen und bewirthet; es ist zu diesem Zwecke ein hübsches großes Gebäude in Form eines vierseitigen Pavillons, bestimmt, das man den englischen Palast nennt. Dieses Gebäude steht eine Viertelstunde von dem kaisellichcn Palaste am Ende des Dorfes in einem schönen englischen Parke, welcher ganz natürlich aussieht, so malerisch ist er. Die Menge und Schönheit des Waffers und die Unebenheit des Bodens, eine Seltenheit in der Umgegend von Petersburg, machen diesen Garten angenehm. Da in diesem Jahre die Zahl der Fremden gröber als gewöhnlich war, so fanden sie keinen Platz in dem englischen Palaste, welchen man für die Beamten und die offiziell Geladenen rescrvirm mußte; ich habe also nicht dort geschlafen, sveis'te aber mit dem diplomatischen Corps und sieben- bis achthundert Personen alle Tage an einer vollkommen gut scrvirten Tafel. Das ist großartige Gastlichkeit! Wenn man im Dorfe wohnt, muß man seme Pferde anspannen lassen und Uniform anziehen, um zum Diner an dieser Tafel sich zu begeben, an welcher Einer der großen Staatsbeamten den Vorsitz führ:. 90 Der Gmeraldirector der Hostheater hat mir für die Nacht zwei Echauspielerlogen in dem Theater in Peterhcf zur Verfügung gestellt, uno um diese Wodnung welde ich von Jedermann beneidet. Es fehlt mir nichts da als ein Vett. Zum Glück habe ich mein kleines eisernes Vett aus Petersburg mitgebracht. Das ist ein durchaus nochwendiger Gegenstand für einen Europaer, der in Rußland nist und sich nicht gewöhnen mag, die Nacht, in einen Teppich gewickelt, auf einer Bank oder auf einer Treppe zuzudrin gen. Man versorgt sich hier mit seinem Bette, wie man in Spanien seinen Mantel tragt. Aus Mangel an Stroh, das in einem Lande, wo kein Getreide wächst, eine Seltenheit ist, wird meine Matratze mit Heu ausgestopft, das man fast überall findet. Will man kein Vett mitnehmen, so muß man wenigstens ein Betttuch bci sich haben. Das thue ich für meinen Diener, dcr eben so wenig als ich auf russische Manier schlafen lernen will» Ich würde sogar das Bett noch leichter entbehren können als er, da ich beinahe zwei Nachte an dem geschrieben habe, was Sie eben lesen. Die Dilettanten-Bivouacs find das Malerischeste ln Peterhof, denn in den Soldatcnlagern fmdel man die mi-lilainsche Gleichförmigkeit. Die Uhlanen biuouakiren auf einer Wiese um einen Teich in der Nähe des Palastes, und da lagert auch das Regiment Garde zu Pferd der Kaiserin, ungerechnet die Tscherkessen, die eine Caserne am Ende des Dorfes haben. Die Cadets sind zum Theil in den Hauftrn untergebracht, zum Theil haben sie ein mi-litairischrs Lager. In jedem andern Lande würde eine so große Men-schcnmenge einen betäubenden Tumult, ein ungeheures Hin-und Herwogen veranlassen. In Rußland geht Alles ernst- 9« haft und gravitätisch zu, erhalt Allcs eincn ceremoniettm Character; das Schweigen ist nothwendig; wenn man die jungen Leute sieht, die da ihres Vergnügens oder Andern zum Vergnügen versammelt sind, aber weder zu lachen, noch zu singen, noch sich unter einander zu zanken, noch zu spielen, noch zu tanzen, noch zu laufen'wagen, so könnte man sie für Gefangene halten, die eben an den Ort ihrer Bestimmung abgeführt werde-n sollen. Wieder eine Erinnerung an Sibirien! Allem, was ich hier sehe, fehlt es weder an Großartigkeit, noch an Pracht, auch nicht an Geschmack und Eleganz, — sondern an Fröhlichkeit; die Fröhlichkeit laßt sich nicht befehlen, im Gegentheil der Befehl verscheucht sie wie die Schnur und die Nwellirwaage die malerischen Bilder zerstören. Ich habe in Rußland nichts erblickt, was nicht symmetrisch ware, vollkommen geordnet aussahe, aber unbekannt ist die Mannichfaltigkeit, welche der Ordnung Werth gicbt und aus welcher die Harmonie hervorgeht. Die Soldaten sind im Biuouac einer strengern Disciplin unterworfen als in der Kaserne; eine so große Strenge mitten im Frieden, im Lagrr, an einem Festtage, erinnert mich an den Ausspruch des Großfürsien Konstantin über den Krieg. „Ich liebe den Krieg nicht," sagte er; „er verdirbt die Soldaten, beschmutzt die Uniformen und zerstört die Disciplin." Dieser militairische Prinz sagte nicht 'Alles; er hatte noch einen andern Grund, auS welchem er den Krieg nicht liebte. Das hat sein Verhalten in Polen bewiesen. An dem Ball- und Illuminationstage begiebt man sich um sieben Uhr Abends in den kaiserlichen Palast, Die Personen vom Hofe, das diplomatische (5orps, die eingeladenen Fremden und das sogenannte Volk, das man zu 92 dem Feste zuläßt, Alle werden bunt unter einander m die großen Gemacher eingeführt. Vei den Männern, die Mu-schiks in o !!!>,,' zu gelangen; sehr leicht ist es dagegen in ihrer Abwesenheit . . Ich werde jedoch einen Versuch machen." Ich hatte meinen Aufenthalt in Peterhof verlängert, da ich mit Ungeduld, aber ohne große Hoffnung auf die Antwort der Frau von .. wartete. Gestern früh endlich erhielt ich ein Briefchen von ihr des InhaltS: „Kommen Sie drei Viertel auf elf Uhr zu mir. Man hat mir aus ganz besonderer Gunst erlaubt, Ihnen die <'s'!>^«' zu zeigen, während der Kaiser und die Kaiserin ihre Promenade machen, d. h. Punkt elf Uhr. Sie wissen, wie pünktlich sie sind." Ich fand mich auch pimklich nn. Die Frau von . . bewohnte ein sehr hübsches Schloß in einer Ecke des Parks. Sie folgt der Kaiserin überall, wohnt aber, so lange es möglich ist, in einem abgesonderten Hause in der Nähe der kaiserlichen Residenz. Halb elf Uhr war ich bei ihr. Drei H«4 Viertel auf elf Uhr stiegen wir in einen Wagen mit vier Pferden, fuhren rasch durch den Park, und einige Minuten vor elf Uhr waren wir an dcr Thüre der ^»««ßv. Es ist, wie ich oben gesagt habe, ein englisches Haus, umgeben von Blumen, beschattet von Bäumen und nach den schönsten Häusern gebaut, die man bei London, zu Twickenham, an der Themse sieht. Kaum waren wir durch die ziemlich kleine Vorhalle gegangen und hatten einige Augenblicke ein Zimmer betrachtet, dessen Meudles mir für den Character des Hauses zu prachtig vorkamen, so flüsterte ein Kammerdiener im Frack der Frau von . . etwas in das Ohr. Sie schien sich zu verwundern. „Was giebt es?" fragte ich, als der Mann sich wieder entfernt hatte. „Die Kaiserin kommt wieder zurück." „Wie schade!" rief ich aus; „so werde ich nichts sehen können." „Vielleicht; gehen Sie über diese Terrasse hinaus, in dcn Garten hinunter und erwarten Sie mich am Eingänge des Hauses." Da befand ich mich seit etwa zwei Minuten, als ich die Kaiserin ganz allein schnell die Stufen herunter und auf mich zukommen sah. Ihr hoher schlanker Körper besitzt eine eigenthümliche Anmuth; ihr Gang ist rasch, leicht und doch edel; sie hat gewisse Bewegungen der Arme und Hände, gewisse Stellungen, eine gewisse Bewegung des Kopfes, die man nicht vergessen kann. Sie war weißgekleidet; ihr Gesicht, daß ein weißer Hut beschattete, sah ruhig aus; ihre Allgen hatten einen melancholischen, sanften, ruhigen Ausdruck» ein graziös zurückgeschlagener Schleier siel um ihr Gesicht; ein durchsichtiger Longshawl legte sich um ihre Schultern und vervollständigte das eleganteste Morgencostüm. 105 Sie war mir noch nie so vortheilhaft erschienen und die düstern Ahnungen vom Balle verschwanden gänzlich. Die Kaiserin kam mir vor wie neuerstanden und ich fühlte jene Art von Sicherheit, die nach einer'unruhigen Nacht mit dem Tage sich wieder emfmdet. Ihre Majestät, dachte ich, muß kräftiger sein als ich, da sie das vorgestrige Fest, die Nevue und den gestrigen Ball überstanden hat und so strahlend aufstehen konnte, wie ich sie sehe. „Ich habe meinen Spaziergang abgekürzt," sagte sle zu mir, „weil ich wußte, daß Sie da waren." „Ich war weit entfernt, so uiel Güte zu erwarten." „Von meiner Absicht hatte ich der Frau von . . nichts gesagt und sie zürnte mir, daß ich Sie überrascht habe; sie versichert, ich störe Sie in Ihrer Besichtigung. Wollen Sie hier unsere Geheimnisse errathen?" „Das möchte ich wohl; man kann nur gewinnen, wenn man in die Gedanken von Personen einbringt, die zwischen der Pracht und der Eleganz so gut zu wählen verstehen." „Der Auftnthalt in Peterhof ist mir unerträglich und um meine Augen von der massiven Vergoldung ausruhen zu lassen, bat ich den Kaiser um cin Häuschen. Ick bin nie so glücklich gewesm als in diesem Haust; jetzt ist es sreitlch zu groß geworden für uns, da eine meiner Töchter vcrheirathct ist und meine Söhne ihre Studien anderswo machen." Ich lächelte ohne zu antworten; der Zauber wirkte auf mich; es kam mir vor, als müßte diese Dame, eine.ganz andere als jene, der zu Ehren das prachtvolle Fest gegeben worden war, alle meine Gefühle getheilt, gleich mir die Ermattung, die Leere, den lügnerischen Glanz der gebotenen Pracht empfunden haben. Ich verglich die Blumen der c<,l>^<> mit dm Lustres des Palastes, die Sonne eines schönen Morgens l06 mit den Lampen einer Fastnacht, die Stille eines freundlichen Häuschens mit dem Tumulte einer Menschenmenge in einem Paläste, das Fest der Natur mit dem Hoffeste, die Frau mit der Kaiserin und war entzückt von dem guten Geschmack und dem Geiste, womit die Fürstin der Langeweile der Repräsentation zu entfliehen gewußt hatte, um sich mit dem Reiz des Privatlebens zu umgeben. „Ich mag der Frau von . . nicht Necht geben," fuhr die Kaiserin fort. „Besichtigen Sie die c«, wie Sie wollen; mein Sohn wird sie Ihnen zeigen. Unterdessen werde ich meine Blumen besuchen und ich hoffe Sie wieder zu sehen, bevor sie fortgehen." So empfing mich diese Frau, welche nicht blos in Europa, wo man sie nicht kennt, sondem auch in Rußland, wo man sie in der Nahe suhl, für stolz gilt. In diesem Augenblicke trat der Großfürst Thronfolger zu seiner Mutter und zwar in Begleitung der Frau von . . und der ältern Tochter dieser Dame, eines Madchens von etwa vierzehn Jahren, frisch wie eine Rose und hübsch, wie man es in Frankreich zur Zeit Bouchers war. Das junge Mädchen ist das lebendige Musterbild eines der lieblichsten Portraits dieses Malers. Ich wartete, bis die Kaiserin mich entließ. Wir gingen vor dem Hause auf und ab, ohne daß wir uns weit von den» Eingänge entfernten, vor welchem wir Anfangs gestanden hatten. Die Kaiserin wußte, wie sehr ich mich für die Familie der Fruu von .. ütteressirte, die eine Polin ist. Sie wußte auch, daß ein Bruder dieser Dame sich seit mehreren Jahren in Paris befmdet. Sie brachte das Gespräch auf diesen jungen Mann und erkundigte sich mit offenbarer Theilnahme nach seinen Ansichten, seinen Meinungen und feinem Cha> l07 ratter; ich konnte ihr also Alles leicht sagen, was mlr meinc Liebe zu ihm eingab. Sie körte mich sehr aufmerksam an. Als ich schwieg, wendete sich der Großfürst an seine Mutter und sagte: „Ich habe ihn in Ems getroffen; er befand sich recht wohl." ..Dennoch hindert man einen so ausgezeichneten Mann, hierher zu kommen, weil er sich nach der polnischen Revolution nach Deutschland zurückzog/' siel die Frau von .. mit Schwesterliche und dem Freimuthe ein, den sie durch ihren langen Aufenthalt am Hofe nicht verloren hat. „Was hat er gethan?" fragte mich die Kaiserin in einem Tone, den die Mischung von Ungeduld und Güte, welche er ausdrückte, unnachahmlich machte. Ich war verlegen, auf eine so directc Frage zu antworten, dcnn ich hatte auf den dclicatcn Punkt der Politik eingehen müssen und dadurch Alles verderben können. Der Großfürst kam mir mit einer Anmuth und Freundlichkeit, die ich nie vergessen werde, zu Hülfe. Er glaubte ohne Zweifel, ich hätte zu viel zu sagen, als daß ich zu antworten wage, vermied deshalb eine Niederlage, welche meine Verlegenheit verrathen und die Sache gefährden konnte, für die ich mich verwenden wollte nnd siel lebhaft ein: „aber, Mutter, wer hat je ein Kind von fünfzehn Jahren gefragt, was es Politisches gethan?" Diese Antwort zog mich aus der Verlegenheit, machte aber auch dem Gespräche ein Ende. Wenn ich das Schweigen der Kaiserin zu deuten wage,-so möchte ich sagen, sie dachte: „was ist jetzt in Rusiland mit einem wieder zu Gnaden aufgenommenen Polen zu machen? Für die alten Russen wird er immer tin Gegenstand des Neides sein und seinem neuen Herrn wird er Mißtrauen einflößen. Er wird sein Leben und seine Gesundheit in den Prüfungen einbüßen, «08 denen man ihn zu unterwerfen genöthiget sein wird, um sich von seiner Treue zu überzeugen, und wenn man endlich auf ihn rechnen zu können glaubt, verachtet man ihn, eben weil man auf ihn rechnen kann. Was kann ich übrigens für den jungen Mann thun? Ich habe so wenig Einfluß." Ich glaube mich nicht sehr zu irren, wenn ich sage, daß die Kaiserin so dachte-, ick dachte ungcfahc eben so und wir beide zogen daraus im Stillen den Schluß, daß für einen Edelmann, der keine Mitbürger, keine Waffenbrüder mehr hat, unter zwei Uebeln das geringste da4 ist, fern von dem Lande zu bleiben, in welchem er geboren wurde; das Land allein macht nicht das Vaterland und für einen Mann ist es das Schlimmste, in der Heimach ein Fremder zu sein. Auf einen Wink der Kaiserin gingm wir, der Großfürst, die Frau vou . ., deren Tochter und ich, in die coll,-,^ wieder hinein. Ich hätte gewünscht, in diesem Hause weniger Meubksluxus und mehr Kunstgegenstände zu finden. Das Erdgeschoß gleicht allen Wohnungen der eleganten und reichen Leute in England; aber kein ausgezeichnetes Gemälde, kein Gegenstand in Marmor oder t^o.-l cxtw verrath bei den Besitzern des Hauses eine Vorliebe für die Meisterwerke in der Malerei und Bildhauerkunst. Die Liebe für die Kunst zeigt sich nicht darin, daß man selbst recht leidlich zeichnet, sondern in dem Besitz von Meisterwerken und in der Liebe zu ihnen. Ich bedaure es immer, wenn ich diese Liebe bei Personen vermisse, welche sie so leicht befriedigen könnten. Man sagt zwar, Statuen und Gemälde von hohem Werthe würden in einem Hauschm nicht an ihrem Platze sein; aber dieses Häuschen ist der Liedlingsa::fenthalt seiner Besitzer, und wenn man sich eine Wohnung nach scinem Ge-sckwacke einrichtet, wenn man die Kunst liebt so verrath 109 sich diese Liebe auch auf die Gefahr hin, die Einheit des Styls, die Harmonie zu stören. Und in einer kaiserlichen cut!i,z;l! ist einige Disharmonie schon erlaubt. Ueberdies sind ja die Kaiser von Rußland nicht römische Kaiser; sie halten es nicht für nöthig, die Kunst standcs-wegen zu lieben. An der Einrichtung und der Ausschmückung dieser l>(,tl>!^' erkennt man, daß die Lieblingsneigungen und die Lebensweise der Familie das Arrangement und den Plan der Wohnung leiteten, was von noch größerem Werthe ist als das Gefühl für Schönheit. Nur etwas mißfiel mir an der Einrichtung und dem Amcublement dieser eleganten Wohnung, — die zu sclavische Nachahmung der englischen Mode. Wir hatten das Erdgeschoß sehr schnell besichtigt, weil wir fürchteten, unsern Führer zu ermüden. Die Anwesenheit eines so hohen Cicerone setzte mich in Verlegenheit. Ich weiß, daß den Fürsten nichts unangenehmer und lastiger ist als unsere Schüchternheit, wenn sie nicht erheuchelt ist, um ihnen zu schmeicheln; diese Kenntniß ihrer Gefühle vermehrt mein Mißbehagen, weil ich auch die Ueberzeugung habe, ihnen unvermeidlich zu mißfallen. Sie haben es gern, wenn man sie in einen behaglichen Zustand versetzt; das ist aber nicht möglich, wenn man sich selbst nicht behaglich fühlt. Ich bin also meiner Sache gewiß und eine solche Ueberzeugung ist höchst unangenehm, denn Niemand mißfällt gern. Einem ernsten Fürsten gegenüber kann ich mich durch das Gesprach zu retten hoffen; bei einen jungen eleganten «Prinzen von heiterm leichten Sinne weiß ich mich nicht zu benehmen. Eine sehr schmale Treppe, die aber mit englischen Tep-vichen belegt war, brachte uns in die obere Etage; hier 110 befindet sich das Zimmer, in welchem die Großfürstin Marie einen Theil ihrer Kindheit verbracht hat (jetzt steht es leer); das der Großfürstin Olga wird wahrscheinlich auch nicht lange bewohnt bleiben. Die Kaiserin hatte also Recht, als sie sagte, das Haus sei zu groß. Jene beiden einander fast ganz gleichen Zimmer sind höchst einfach. Der Großfürst blieb oben an der Treppe stehen und sagte mit der seltenen Artigkeit, deren Geheimniß er trotz seiner großen Jugend besitzt,' „Gewiß würden Sie Alles lieber ohne mich sehen und ich habe es so oft gesehen, daß ich Sie gern, ich gestehe es, die Besichtigung mit der Frau von . . aliein beendigen lasse." Er grüßte uns freundlich und entfernte sich. Es ist ein großer Vorzug für einen Fürsten, ein Mann uon vollkommner Erziehung zu sein. Ich hatte also oics-mal meine gewöhnliche Wirkung nicht hervorgebracht; die Verlegenheit, die ich fühlte, hatte nichts Ansteckendes gehabt. Ware dies der Fall gewesen, so würde er geblieben sein, denn die Schüchternheit kann eben nur ihre Pein dulden, weiß sich von ihr nicht frei zu machen; das Opfer, das sie lahmt, welchem Rang es auch angehören mag, hat die Kraft nicht, das, was ihm hinderlich ist, muthig zu ertragen oder ihm zu entfliehen. Diese Pein ist bisweilen die Wirkung einer unzufriedenen und rafsinirten Eigenliebe. Wer eine gewisse Meinung uon sich allein zu haben fürchtet, wird aus Eitelkeit schüchtern. Am hausigsten ist die Schüchternheit rein körperlich, eine Krankheit. Manche Menschen können ohne eine unwillkürliche Unruhe den Blick eines. Andern nicht auf sich ruhen sehen. Dieser Blick versteinert sie, hemmt sie im Gehen und Denken und hindert sie am Sprechen, besonders am Bewegen. ____^ll____ Ich habe diese körperliche Schüchternheit in den Dörfern erfahren, wo ich Allrr Blicke als Fremder auf mich zog, oft noch mehr empfunden als in den imposantesten Salons, wo Niemand auf mich achtete. Ich könnte eine Abhandlung über die verschiedenen Arten der Schüchternheit schreiben, denn ich habe es d^rin zu einer wahren Vollkommenheit gebracht; Niemand hat mehr als ich von meiner Kindheil an von dieser unheilbaren Krankheit gelitten, die Gott sei Dank! den Menschen der nach mir folgenden Generation fast unbekannt ist, was ein Beweis sein dürfte, daß die Schüchternheit, außer der körperlichen Anlage dazu, hauptsachlich das Resultat der Erziehung ist. Wer sich oft in Gesellschaft bewegt, lernt diese Schwache verbergen, nichts weiter; die schüchternsten Menschen sind oft durch die Geburt, durch Würden und selbst durch Verdienst in hohem Grade ausgezeichnet. Lange glaubte ich, die Schüchternheit sei eine Verbindung von Bescheidenheit mit übergroßer Achtung vor den socialen Auszeichnungen oder vor geistigen Gaben; wie wäre dann aber die Schüchternheit der großen Schriftsteller und der Fürsten zu erklären? Zum Glück sind die Prinzen aus der kaiserlichen Familie von Rußland nicht schüchtern; sie haben dies von ihrer Zeit; man bemerkt weder in ihrem Benehmen, noch in ihrer Sprache irgend eine Spnr von der Verlegenheit, welche lange die Oual der hohen Ve^ wohner von Versailles war. Sei dem nun wie ihm wolle, ich fühlte mich freier als ich den Großfürsten fortgehen sah und dankte ihm im Stillen dafür, daß er meinen Wunsch so gut errathen und so artig erfüllt hatte. Ein nur halb Gebildeter wird nicht auf den Gedanken kommen, die Leute allein zu lassen, um ihnen angenehm zu sein. Doch ist es oft das größte Vergnügen, das man ihnen bereiten kann. Es ist der höchste Grad der N2 Artigkeit, das Meisterstück oer Gastlichkeit, seinen Gast verlassen zu können, obne ihn zu verletzen. Dies ist in dem gewöhnlichen Leben der eleganten Welt, was in der Politik die Freiheit ohne Unordnung sein würde; eine Aufgabe, die man sich immer stellt, aber nicht löset. Als der Großfürst sich entfernte, befand sich Fräulein .. hinter ihrer Mutter. Der Prinz blieb sehr ernst, mit etwas spöttischer Miene, vor ihn stehen und machte ihr eine tiefe Verbeugung, ohne ein Wort zu sagen. Das Mädchen sah, daß dieser Gruß ironisch war, und blieb stumm in ehrerbietiger Stellung stehen, ohne den Gruß zu erwiedern. Ich bewunderte dieses außerordentliche Zartgefühl und zweifele, ob sich eine Dame von fünfundzwanzig Jahren an diesem Hofe durch ein solches Zeichen von Muth auszeichnen würde; nur die Unschuld weiß mit dem richtigen Gefühle ihrer Würde, das kein Mensch verlieren darf, die Rücksicht zu verbinden, welche den socialen Vorrechten gebührt. Dieses Beispiel von Tact blieb nicht unbemerkt. „Immer dieselbe!" sagte der Großfürst Thronfolger im Fortgehen. Sie waren Kinder mit einander und spielten oft zusammen, trotz einem Unterschied im Alter von fünf Jahren. Eine solche Vertraulichkeit vergißt man nicht, selbst am Hofe. Mich unterhielt die stumme Scene sehr, die sie eben spielten. Der Blick, welchen ich in das Innere der kaiserlichen Familie thun durfte, unterhielt mich sehr. Man muß die Fürsten in der Nahe sehen, um sie richtig beurtheilen zu können. Sie sollen an de'r Spitze ihres Landes stehen, denn sie sind in jeder Hinsicht die Ersten. Die kaiserliche Familie verdient in Rußland, so viel ich gesehen habe, die Bewunderung und den Neid der Fremden am meisten. Ganz hoch oben in der catt^« befindet sich das Arbeits- !I3 zimmer des Kaisers, das ziemlich groß und sehr einfach verziert ist. Es geht auf einen Valcon, der eine Terrasse dem Meere gegenüber bildet. Von hier aus tann der Kaiser selbst seiner Flotte Befehle ertheilen. Er besitzt zu diesem Zwecke ein Fernrohr, ein Sprachrohr und einen kleinen Telegraphen. Ich hätte dieses Zimmer gern mit Allem, was es enthält, im Einzelnen besichtiget und viele Fragen gethan, aber ich fürchtete, meine Neugierde könnte indiscret erscheinen und ich wollte daher lieber nur einen flüchtigen Blick umher-werfen, als den Schein auf mich laden, als gedenke ich ein Inventar auszunehmen. Uebrigens intercssirt mich immer mehr das Ganze der Dinge, das auch im Allgemeinen einen tiefern Eindruck auf mich macht als die Einzelnheiten. Ich reise, um die Gegenstände zu sehen und zu beurtheilen, nicht um sie auszumessen, aufzuzahlen und abzuzeichnen. Es ist eine Gunst, in die eollZß« eingelassen zu werben fast im Beisein der Bewohner derselben. Ich hielt es deshalb für meine Schuldigkeit, mich dieser Gunst dadurch würbig zu zeigen, daß ich zu genaues Nachforschen vermied, das die Grenzen einer achtungsvoll schmeichelhaften Huldigung überschritten haben würde. Nachdem ich mich darüber gegen die Frau von .. ausgesprochen hatte, beeilte ich mich, mich von der Kaiserin und dem Großfürsten Thronfolger zu verabschieden. Wir fanden sie in dem Garten, wo sie noch einige freundliche Worte an mich richttten und mich dann entließen. Ich war befriedigt von Allem, was ich gesehen hatte, dankbar für ihre Güte und entzückt von dem Adel und der Anmuth der Aufnahme, die ich bei ihnen gefunden. Ich sehte mich sogleich in dem Wagen, um in aller Eile Oranienbaum zu besuchen, die berühmte Wohnung Katharina's !!., die von Menzikof erbaut wurde. Der Unglückliche U. 8 Il4 wurde nach Sibirien verwiesen, bevor er die Wunder seines Palastes vollendet hatt.', der für zu königlich für einen Mit-nister gehalten wurde. Er gehört jetzt der Großfürstin Helene, der Schwagerin des jetzigen Kaisers. Das Schloß Oranienbaum, das zwei bis drei Stunden von Peterhof im Angesicht des Meeres und auf einer Verlängerung derselben Küste liegt, auf welcher der kaiserliche Palast steht, ist imposant, obgleich nur von Holz erbaut. Ich kam frühzeitig genug an, um alles Merkwürdige darin zu sehen und in dem Garten umhergehen zu können. Die Großfürstin war nicht in Oranienbaum. Trotz dem unklugen Luxus des Mannes, der diesen Palast bauen ließ und der Prachtliebe der hohen Personen, die ihn seitdem bewohnt haben, ist er nicht ungewönlich groß. Terrassen, Rampen, Vortreppen, mit Orangenbäumen und Blumen bedeckte Valcons vereinigen das Haus mit dem Park und dieser Aufputz hebt sich gegenseitig; die Bauart selbst ist nichts weniger als reich. Die Großfürstin Helene hat hier den Geschmack bewiesen, der alle ihre Einrichtungen leitet, und aus Oranienbaum eine reizende Wohnung gemacht, trotz der traurigen Landschaft und der Erinnerung an die Dramen, die hier gespielt wurden. Als ich den Palast verließ, äußerte ich den Wunsch, die Ueberreste des kleinen Forts zu sehen, aus dem man Peter III. hervorholte, um ihn nach Ropscha zu schleppen, wo er ermordet wurde. Man führte mich in ein entlegenes Dörfchen, wo ich trockene Grabcn, Spuren von Befestigungen und Haufen von Steinen sah, — eine moderne Ruine, die mehr durch die Politik als durch die Zeit entstanden ist. Aber die gebotene Stille, die erzwungene Oede, welche um diese verfluchten Trümmer her herrschen, erinnern gerade an das was man uns verbergen möchte; die offizielle Lüge wird hier 115 wie überall durch die Thatsachen vernichtet; die Geschichte ist ein Zauberspiegel, in welchem die Völker nach dem Tode der Menschen, die dcn größten Einfluß aus ihre Angelegenheiten hatten, alle nutzlosen Gesichterverzerrungen sehen. Die Personen sind verschwunden, aber ihre Gesichter lassm sich von diesem unerbittlichen Spiegel nicht verwischen. Man kann die Wahrheit nicht mit den Todten begraben-, sie siegt über die Furcht der Fürsten und die Schmeichelei der Völker, welche nie das Aufschreien des Blutes zu ersticken vermögen; sie bricht durch alle Kerker, selbst durch das Grab hindurch, besonders durch das Grab der Großen; den unbeachteten Grabern wird es leichter als den fürstlichen Mausoleen, die Verbrechen zu verbergen, die sich an das Andenken des Menschen knüpfen. Wenn ich es nicht gewußt hätte, daß das Fort Peters lll. abgetragen worden, würde ich es haben errathen müssen-, da ich aber sehe, welchen Werth man hier darauf legt, die Vergangenheit vergessen zu lassen, so wundere ich mich, daß man irgend etwas davon übrig laßt. Selbst die Namen sollten mit den Mauern verschwinden. Es war nicht genug, das Fort abzutragen, man hatte, auch' dcn Palast niederreißen müssen, der nur eine Viertelstunde davon stand. Wer nach Oranienbaum kommt, sieht sich begierig nach den Ucberrcsten dieses Kerkers um, wo Peter lll. seine freiwillige Abdankung unterzeichnen mußte, die sein Todesurtheil wurde, denn nachdem man dieses Opfer von ihm erhalten hatte, mußte er verhindert werden, dasselbe zu widerrufen. Die Ermordung dieses Fürsten in Ropscha wird von Herrn v. Nulhi^ere in den Anecdoten über Nußland, die er seiner Geschichte von Polcn angehängt hat, in folgender Weise erzahlt: „Die Soldaten staunten über das, was sie 8" 116 „gethan hatten, und begriffen nicht, durch welchen Zauber „man sie dahin gebracht hatte, oen Enkel Peters des Großen „zu entthronen, um scine Krone einer Deutschen zu geben. „Die Meisten waren ohne Plan und Gedanken durch die „Andern mit fortgerissen worden und sie fühlten Neue, nachdem das Vergnügen, über eine Krone zu verfügen, verschwunden und jeoer in seine Niedrigkeit zuruckuersunken war. „Die Matrosen, die man zu dem Aufstande nicht beigezogen „hatte, warfen den Garden öffentlich in den Wirthshausern „vor, sie hatten ihren Kaiser für Bier verkauft. Das Mit-„leiden, das selbst die größten Verbrecher rechtfertiget, regte „sich in allen Herzen. In einer Nacht empörte sich eine „Anzahl Soldatm bei der Kaiserin aus unbegründeter Besorg-„niß, indem sie äußerten, „ihre Mutter sei in Gefahr." Man „mußte dieselbe wecken, damit die Soldaten sie sehen konnten. „In der darauf folgenden Nacht entstand eine noch gefährlichere „Emeute. So lange das Leben des Kaisers einen Vorwanb zu „Besorgnissen geben konnte, glaubte man keine Nuhe zu haben. „Einer der Grafen Orlof, — sie erhielten gleich am ersten „Tage diesen Titel — derselbe Soldat, der Narbige genannt, „welcher den Brief der Fürstin von Aschkoff entwendet hatte, „und ein gewisser Teplof, der sich durch eine seltene Kunst, „seine Nebenbuhler zu verlieren, von den niedrigsten Aemtern „emporgeschwungen hatte, begaben sich zu jenem unglücklichen „Fürsten und zeigten ihm im Eintreten an, daß sie gekom-„men waren, um mit ihm zu speisen. N.'ch der russischen „Sitte brachte man vor der Mahlzeit Glaser mit Vrannt-„wem. Der, welchen der Kaiser trank, war vergiftet. Um „entweder ihre Nachricht recht schnell zu überbringen, oder „weil der Graus vor ihrer That sie zur Eile antrieb, wollte ihm gleich darauf ein zweites Glas einschenken. Da „die Schmerzen sich bei ihm bereits einstellten, und die Züge 117 „der beiden Männer ihm verdächtig vorkamen, so schlug er „das zweite Glas aus; sie versuchten es ihm mit Gewalt „einzugießen, während er sich bemühete, sie von sich fern zu „halten. In diesem Kampfe, und um sein Rufen um „Hülfe zu ersticken, das man bereits in der Fcrne hören „mußte, sielen sie über ihn her, faßten ihn an der Kcble und „warfen ihn nieder; da er sich aber mit allcr Kraft wehrte, „welche die äußerste Verzweiflung giebt, da sie ihm keine „Wunde beibringen wollten und für sich selbst fürchten muß-„ten, riefen sie zwei Offiziere zu Hülfe, die ihn zu bewachen „hatten und sich vor der Thüre des Gefängnisses befanden. „Es war der jüngste Fürst Boratinski und ein gewisser Po-„temkin, ein junger Mann von siebzehn Jahren. Sie hatten „so großen Eifer in der Verschwörung gezeigt, daß ihnen „trotz ihrer Jugend, diese Bewachung anvertraut worden „war. Sie kamen herbei; der eine dieser Mörder band eine „Serviette ftst um den Hals des unglücklichen Kaisers und „Orlof tniere ihm auf die Brust. So erstickten und erwürg-„ten sie ihn und sie ließen ihn nicht los, bis er todt war. „Man weiß nicht mit Bestimmtheit, welchen Antheil die „Kaiserin an diesem Vorfalle gehabt hat; so viel aber kann „versichert werden, daß an demselben Tage, als die Kaiserin „sich sehr heiter an die Tafel setzte, jener Orlof mit aufgelösetem Haar, mit Schweiß und Staub bedeckt, mit zerbissenen Kleidern und mit verstörten Zügen zu ihr trat. „Seine unruhigm funkelnden Augen suchten sofort die der „Kaiserin. Sie stand schweigend auf und ging in ein Zim-„mer, in das er ihr folgte. Nach einigen Augenblicken ließ „sie den Grafen Panin, der bereits zu ihrem Minister er-„nannt war, rufen, und zeigte ihm an, daß der Kaiser todt „sei. Panin rieth, eine Nacht vergehen zu lassen und die „Nachricht erst am andern Tage zu verbreiten, als wenn man 118 „sie in der Nacht erhalten hätte. Dieser Rath wurde genehmigt, die Kaiserin erschien mit unverändertem Gesicht „wieder und setzte ihre Mahlzeit mit derselben Heiterkeit fort. „Am andern Tage, als man die Nachricht verbreitete, Peter „sei an einer Hamorrhoidalkolik gestorben, erschien sie in „Thränen gcbadet und veröffentlichte ihren Schmerz durch „ein Edict." Bei der Wanderung durch den großen und schönen Park vonOranicnbaum befugte ich mehrere der Pavillon, in welchen die Kaiserin Katharina ihreLiebes-Rmdezvous gab-, es sind prachtvolle darunter; bei einigen herrschen schlechter Geschmack uno kindische Verzierungen vor; im Allgemeinen fehlt es diesen Gebäuden an Styl und Großartigkeit, für den Zweck aber, zu dem sie die Göttin des Ortes bestimmte, waren sie vollkommen genügend. Ich kehrte darauf nach Petcrhof zurück und schlief die dritte Nacht in dem Theater. Diesen Vormittag schlug ich den Weg über Krasnoe Selo cin, wo ein merkwürdiges Lager zu sehen ist. Man sagt, es waren hier 4llMU, andere meinen 70,000 Mann von der kaiserlichen Garde unter Zelten untergebracht oder in den benachbarten Dörfern vertheilt. Jedermann dringt mir hier in Rußland seine Zahl auf, aber diese Aufzählungen sind mir sehr gleichgültig, weil sie immer trügen. Ich bewundere nichts als den Werth, den man darauf legt, Unwahrheiten über Dinge und Begebenheiten zu verbreiten. Eine Art Täuschung scheint dem Kindesalter anzugehören. Die Völker legen sn> ab, wenn sie aus der Kindheit in das reifere Alter übergehen. Ich unterhielt mich mit der Betrachtung der Uniformen und mit der Vergleichung der ausdrucksvollen rohen Gesichtrr dieser ausgewählten und aus allen Theilen des Reichs daher nu qebrachten Soldaten. Lange Neihcn weißer Zclte glänzten in der Sonne auf den Unebenheiten eines Bodens, den man uon weitem für eben halten würde, der abccr wirklich sehr coupirt und ziemlich malerisch ist. Ich bedauere jeden Augen-blick das Unzureichende meiner Worte, wenn ich gewisse nordische Gegenden und namentlich manche Lichteffccte zu schildern versuche. Einige Pinselstriche würden Ihnen das originelle Aussehen dieses traurigen und seltsamen Landes besser verdeutlichen, als die längste Beschreibung. Siebzehnter Brief. Petersburg, dm 29. Juli I839. 3lach den letzten Nachrichten, welche ich diesen Vormittag über die Unfälle bei Gelegenheit des Festes zu Peterhof erhiclt, übersteigen sie meine Vermuthungen. Genau wird man übrigens die Umstände bei diesem Ereignisse nie erfahren. Jeder Unfall wird hier wie eine Staatsangelegenheit behandelt; der liebe Gott vergißt, was er dem Kaiser schuldig ist. Der politische Aberglaube, welcher die Eccle des Staates ist, macht das Oberhaupt desselben für alle Beschwerden der Schwache über die Starke, für alle Klagen der Erde gegen den Himmel verantwortlich. Ist mein Hund verwundet, so fordert er die Heilung von mir; züchtigt Gott die Nüssen, so appellircn sie an den Kaiser. Dieser Fürst, der in politischer Hinsicht für Nichts verantwortlich ist, muß für Alles stehen, was von der Vorsehung ausgeht, — eine natürliche Folge davon, daß der Mensch sich die Rechte Gottes anmaßte. Ein König, der sich für mehr als einen Sterblichen halten laßt, nimmt alles Unglück auf sich, das der Himmel wahrend seiner Regierung der Erde senden kann, und aus diesem politischen Fanatismus geht eine argwöhnische Empfindlichkeit und Reizbarkeit hervor, von der man sich in einem andern Lande keine Vorstellung machen kann. In jedem Falle verfehlt das Geheimniß, in welches die Polizei auch die Unglücksfalle hüllen zu müssen glaubt, die von dem menschlichen Willen völlig unabhängig sind, den Zweck, ___12l____ weil der Phantasie freier Spielraum bleibt; Jedermann erzählt eine und dieselbe Sache auf verschiedene Weist je nach seinem Interesse, seinen Besorgnissen, seinem Ehrgeize oder seiner Lust, nach der Meinung, die er nach seinem Amte am Hofe und nach seiner Stellung in der Welt haben muß. In Folge davon ist die Wahrheit in Petersburg ein Um-standswescn, wie sie es in Frankreich durch entgegengesetzte Ursachen geworden ist; eine willkürliche Censur und eine unbeschrankte Freiheit rönnen ähnliche Resultate herbeiführen und die Ermittelung der Wahrbeit über die einfachste Thatsache unmöglich machen. So sagen Einige, es wären vorgestern nur dreizehn Personen umgekommen, wahrend Andere von zwölfhundert, zweitausend und noch Andere von hundert und fünfzig sprechen. Denken Sie sich unsere Ungewißheit über alle Dinge, da die Umstände eines Ereignisses, das gleichsam vor unsern Augen vor sich gegangen ist, selbst für uns immer zmeifelhalft bleiben werden. Ich wundere mich fortwährend, wenn ich sehe, daß es ein Volk giebt, welches so sorglos ist, selbst in dem Halbdunkel ruhig zu leben und zu sterben, das ihm die Polizei gestattet. Bisher war ich immer der Meinung, der Mensch könne die Wahrheit für den Geist eben so wenig entbehren, als die Luft und Sonne für den Körper; meine Reise in Rußland enttäuscht mich. Die Wahrheit ist ein Bedürfniß für die ungewöhnlichen Geister und die am weitesten vorgeschrittenen Völker; die gemeine Menge macht sich Lügen zurecht, die für ihre Leidenschaften und Gewohnheiten passen. Hier heißt lügen, die Gesellschaft schätzen, wie die Wahrheit sagen, gleichbedeutend ist mit! den Staat umstürzen.") ') Siehe die Note auf Scitc 124. 122 Hier zwei Episoden, deren Wahrheit ich verbürgen kann. Neun Personen aus einer und derselben Familie und aus einem und demselben Hause, die vor Kurzem erst aus der Provinz in Petersburg angekommen waren, Herren, Frauen, Kinder, Diener, hatten sich unvorsichtiger Weise auf ein Boot ohne Verdeck lxgeben, das nicht stark genug war, um dem Meere widerstehen zu können. Der Sturm brach los und nicht eine der Personen erschien wieber. In den drei Tagen, seit man Nachforschungen an den Küsten anstellt, hatte man noch keine Spur von diesen Unglücklichen aufgefunden, welche nur durch die Nachbarn reclamirt wurden, da sie keine Verwandten in Petersburg hatten. Endlich hat man das Boot wieder gefunden, das sie trug-, es lag umgekehrt auf einer Sandbank in der Nahe des Strandes, drei Stunden von Petechof und sechs Stunden von Petersburg; von den Menschen keine Spur, eben so wenig von den Schiffern als von den Passagieren. Das sind neun Todte, ohne die Schiffer, und die Zahl der kleinen Fahrzeuge, die Wie das erwähnte umgeschlagen wurden, ist sehr bedeutend. Diesen Morgen legte man die Gerichtssiegel an der Thüre des leeren Hauses an. Es stößt an das meinige, und ohne diesen Umstand würde ich von der Sache nichts wissen, wie ich von vielen andern nichts weiß. Die politische Dämmerung ist minder durchsichtig als die des Himmels. Alles wohl erwogen, würde Offenheit gewiß besser sein, denn wo man mir etwas verbirgt, muthmaße ich viel. Nun dic andere Episode aus der Katastrophe von Peterhof. Drei junge Engländer, von denen ich den ältesten kannte, befanden sich seit einigen Tagen in Petersburg; ihr Vater ist in England, ihre Mutter erwartet sie in Earlsbad. Am Tage des Festes zu Peterhof bestiegen die beiden jüngern ein Boot ohne ihren Bruder, der sie durchaus nicht begleiten ____123____ wollte, wcil er, wie er sagte, nicht neugierig sei. Drei Stunden nachher waren die beiden Brüder mit mehrern Frauen, einigen Kindern und zwei bis drei Männern, die sich in demselben Boote befanden, ertrunken-, nur ein Schift fer, cm guter Schwimmer, rettete sich. Der unglückliche, überlebende Bruder, der sich fast schämt, noch zu exisiircn, befindet sich in einer schwer zit beschreibenden Verzweiflung; er schickt sich zur Abreise an, um die schreckliche Nachricht seiner Mutter zu überbringen. Sie hatte ihnen geschrieben, ja das Fest in Pcterhof nicht zu versäumen, und ihnen gestattet, so lange, als es ihnen gefalle, in Petersburg zu bleiben; sie würde geduldig in Karlsbad warten. Wäre sie weniger gütig gewesen, hatte sie ihnen vielleicht das ^eben erhalten. Denken Sie sich nun die tausend Erzählungen, Erörterungen, Einfalle und Vermuthungen, den Schrei des Entsetzens, den ein solches Ereignis; in jedem andern ^ande ver^ Ursachen würde! Wie vicle Zeitungen, wie vk'le Personen würden ausrufen, die Polizei thlie ihre Pflicht nicht, die Vote wären schlecht, die Schisser gewinnsüchtig, und die Ve-hörde entferne nicht nur die Gefahr nicht, sondern verschlimmere sie durch ihre Sorglosigkeit oder strafliche Nachsicht; man würbe hinzusetzen, die Heirath des Großfürsten wäre unter trüben Vorbedeutungen erfolgt wie viele andere fürstlichen Vermahlungen, und dann viele Beispiele und Anspielungen anführen! — Hier nichts von alle dem. Eine Stille, die noch schauerlicher ist als das Unglück selbst! Zwei Zeilen in der Zeitung ohne Details; am Hofe, in der Stadt, in den Salons der großen Welt kein Wort. Wenn man hier nicht davon spricht, spricht man an andern Orten auch nicht davon. Kaffeehäuser, in denen man über Journale, die man nicht har, reden könnte, giebt cö in Peters- 124 burg nicht; die Subaltern-Beamten sind furchtsamer als die großen Herren und was man bei den Chefs nicht zu sagen wagt, wird noch viel weniger bei dm Untern besprochen; es bleiben also die Handelsleute übrig-, diese sind aber vorsichtig wie Jedermann, der in diesem Lande leben und fortkommen will. Wenn sie von wichtigen und deshalb gefährlichen Dingen sprechen, so geschieht es nur unter vier Augen und halblaut.") ") Ich glaube hier das Bruchstück eines Briefes mittheilen zu muffen, den mir dieses Jahr eine Freundin schrieb. Die Erzählung setzt den Details, die Sie gelesen haben, nichts hinzu, außer daß die merkwürdige Vorsicht, mit der ein Fremder, ein Künstler, in einer «Arstllschaft in Paris über ein Ereignik spricht, das vor drei Jahren in Petersburg vorgekommen ist, Ihnen einc Vorstcli lung von dcr Unterdrückung der Weistcr in Nußland gebcn kann. „Gin italienischer Künstler, der sich gleichzeitig mit Ihnen in Pe: „tereburg befand, ist jetzt in Paris. Er erzählte die Katastrophe, „bei welcher ungefähr 4N0 Personen umkamen, wie Sie mir die-„selbe erzahlt hatten; aber er sprach ganz leise davon. Als ich „ihn darauf aufmerksam machte, antwortete er: dcr Kaiser hat „verboten, davon zu sprechen. Ich bewunderte diesen Gehorsam „nach so langer Zeit und in so weiter Ferne." Noch führe ich hier ein Bruchstück aus den trefflichen Arrikeln des .Imll'nal li»t3 vom it Octbr. 1^42 über eine Schrift I^i's^clitimiz tit »«»ll'rulices «^ ll'^Ülje r,i»t>w!i!>!>« «n ltiü^i« an. „Im October 1540 stiren zwei Wagenjüge, die einander wegen „des dichten Nebels nicht gesehen hattcn, auf der Eisenbahn von „KrasnoeZelo zusammen. Alles wurde durch diesen gewaltigen Stoß „zertrümmert. Fünfhundert Personen blieben, wie man saat, todt, „verstümmelt, mehr oder minder schwer verwundet auf den Platze. „In Petersburg erfuhr man kaum etwas davon. Am andern „Tage sehr früh wagten nur einige Neugierige an Ort und Stelle „zu gehen; sie fanden alle Trümmer bereits weggeräumt, die „Tobten und Verwundeten weggebracht, und die alleinigen Zeichen „des Unfalls waren einige Polizeidiener, welche die Neugierigen 125 Rußland hat sich das Wort gegeben, nichts zu sagen, was die Nerven der Kaiserin angreifen könnte, und so läßt Man sie tanzend leben und sterben. „Sie würde sich betrüben; schweigen Sie!" Dabei ertrinken Kinder, Freunde, Verwandte, alle Lieben, und man wagt es nicht, sie zu beweinen. Man ist zu unglücklich, um sich zu beklagen. Die Russen sind immer Höflinge; Soldaten und Geistliche, Spione, Kerkermeister, Henker, Alle thun hier zu Lande mehr als ihre Pflicht; sie betreiben ihr Handwerk auf Hofmannsmanier. Wer sagt, wohin es mit einer Gesellschaft kommen kann, die nicht auf der Menschenwürde beruht? Ich wiederhole es oft; es müßte hier Alles anders gemacht werden, wenn man ein Volk schaffen wollte. Diesmal ist das Schweigen der Polizei nicht reine Schmeichelei, sondern auch eine Wirkung der Furcht. Der Sclave fürchtet die üble Laune seines Herrn, und bietet Alles auf, um ihn in schützender Heiterkeit zu erhalten. Ketten, Kerker, Knute, Sibirien hat ein erzürnter (5zar nahe bei der Hand, wenigstens den Caucasus, dieses gemilderte Sibirien für einen Despotisnnis, der alle Tage nach den Fortschritten der Zeit auch milder wird. Man kann nicht leugnen, daß in dem vorliegenden Falle die erste Ursache des Unglücks der Sorglosigkeit der Verwaltung zuzuschreiben ist; wenn man die Schiffer in Petersburg hinderte, ihre Böte zu überladen oder sich mit so schwachen Fahrzeugen, die dem Wogenschlage nicht widerstehen können, in den Meerbusen zu wagen, würde vielleicht Niemand umgekommen sein. Indeß, die Nüssen sind schlechte „nach dcr Veranlassung des frühzeitigen Besuchs fragten, sie wegen „ihrer Rcugicrde ausschalten und ihnen barsch befahlen, sogleich „wieder nach Hause zurückzukehren." 126 Seeleute und man ist mit ihnen immer in Gefahr. Man nehme nur Asiaten mit langen Gewandern und langen Bärten, mache sie zu Matrosen und wundre sich dann auch noch über Schisfbrüchel An dem Festtage war cincs der Dampsböte, welche gewöhnlich zwischen Petersburg und Kronstadt sichren, nach Peterhof abgegangen. Es glaubte, wie die kleinsten Böte, umzuschlagen, od es gleich groß und dauerhaft ist; ohne einen Fremden, welcher sich darauf befand, würde es gesunken sein. Als dieser Mann (ein Engländer) in geringer Entfernung mehrere Böte sinken sah, die, Gefahr erkannte, der er mit der Mannschaft ausgesetzt war und sich übrigens überzeugte, daß wegen schlechten Commando's schlecht manövrirt wurde, kam er auf den glücklichen Gedanken, mit seinem eigenen Messer alle Stricke des Zeltes zu durchschneiden, das zur Bequemlichkeit der Passagiere auf dem Verdeck aufgespannt war. Dieses Zelt muß bei dem ersten Anschein von schlechtem Wetter sofort weggenommen werden; die Russen hatten an diese einfache Vorsichtsmaßregel nicht gedacht, und das Schiff würde ohne die Geistesgegenwart des Fremden unfehlbar umgeworfen worden sein. Es wurde gerettet, freilich sehr beschädigt, konnte die Fahrt nicht fortsetzen und mußte sich glücklich schätzen, so schnell als möglich nach Petersburg zurückzukommen. Ware der Englander, der es rettete, nicht mit einem Engländer, cinen meiner Freunde, bekannt gewesen, so würde ich gar nicht erfahren haben, daß es in Gefahr gewesen. Ich erwähnte etwas davon gegcn gut unterrichtete Personen; sie bestätigten mir den Vorfall, ersuchten mich aber, darüber zu schweigen. Es würde unschicklich s«n, von der Sündstut zu sprechen, wenn dicsc Katastrophe unter der Regierung eines Kaisers von Rußland eingetreten wäre. - 127 Die einzige geistige Fähigkeit, die min hier schätzt, ist der Tact. Denken Sie sich eine ganze Nation umer dem Joche dieser Ealontugend! Stellen Sie sich ein gan^s Volk vor, das, vorsichtig geworden ist wie ein Diplomat, der sein Glück machen will, so werben Sie eine Idee von der Annehmlichteic der Unterhaltung in Rußland haben. Wenn die Hoflust uns seldst am Hofe druckend vorkommt, wie lebenshinderlich muß sie uns vorkommen, wcnn sie bis in unser geheimstes Familienleben dringt! Die Russen sind eine Nation von Stummen; irgend ein Zauberer hat sechzig Millionen Menschen in Automaten verwandelt, die nur auf den Zauberstab eines andern Hexenmeisters warten, um wieder Leben zu erhalten. Das Land kommt mir vor wie ein Feenschloß; es ist glänzend, prächtig, von Gold strahlend, es fehlt nichts — als das Leben, d. h. die Freiheit. Dem Kaiser selbst muß dieser Zustand lästig sein. Ohne Zweifel liebt der, welcher zum Gebieter geboren ist, den Gehorsam; aber der Gehorsam eines Menschen ist doch besser als der einer Maschine. Die Lüge hängt so eng mit der knechtischen Unterwürfigkeit zusammen, daß ein Fürst das nie erfahren wird, was man ihm verbergen zu können hofft; er muß also an jedem Worte zweifeln, jedem Menschen mißtrauen. Das ist das Loos cmcs unumschränkten Herrn; wollte er sich auch gutmüthig zeigen und als Mensch leben, die Macht der Umstände würden ihn gegen seinen Willen unempfindlich machen; er nimmt die Stelle eines Despoten ein, und er muß mm sein Geschick ertragen, muß die Gesinnungen eines Despoten annehmen oder doch wenigstens die Nolle eines solchen spielen. Das Uebel der Verstellung greift hier weiter, als man glaubt; die russische Polizei, die so rasch und thatig ist, 128 wenn es darauf ankommt, die Leute zu quälen, braucht lange Zeit, sie aufzuklaren, wenn sie sich an sie wenden, um wegen einer zweifelhaften Sache Aufklarung zu erhalten. Hier ein Beispiel von dieser berechneten Trägheit. Vei dem letzten Carneual hatte eine mir bekannte Dame ihrem Kammermädchen erlaubt, am Sonntage auszugehen. Es wurde Nacht; das Mädchen kam nicht zurück. Am andern Morgen schickte die besorgte Dame zur Polizei.") Man antwortete ihr, es sei in Petersburg in der vergangenen Nacht kein Unfall vorgekommen, das ^Kammermädchen müsse sich deshalb bald gesund und wohlbehalten wiederfinden. Der Tag verging in dieser trügerischen Sicherheit; keine Nachricht; am zweiten Tage darauf kam endlich ein junger Mann, ein Verwandter des Madchens, der mit dem geheimen Verfahren dcr Polizei ziemlich bekannt war, auf den Einfall, sich in das anatomische Theater zu begeben, wohin ihn ein Freund führte. Hier erblickte er sogleich den Leichnam seiner Cousine, der eben von den Zöglingen der Anstalt secirt werden sollte. Als guter Russe behielt er Selbstbeherrschung genug, um seine Erschütterung zu verbergen. „Wer ist das Mädchen?" „Man weiß es nicht; man hat sie in der vorgestrigen Nacht todt in der und der Straße gefunden; man glaubt, sie wurde erwürgt bei ihrem Sträuben gegen Manner, die ihr Gewalt anthun wollten." „Wer waren diese Manner?" °) Ich halte es für nöthig, einige Umstände zu ändern und die Namen zu verschweigen, welche auf die Spur der Personen führen könnten; das Wesentliche der Geschichte ist aber gewissenhaft beibehalten. 12U „Das wissen wir nicht. Man hat nur Muthmaßungen Über die Sache; es fehlt ganz an Bcweism." „Wie aber sind Sie zu dem Leichnam gekommen?" „Die Polizei hat ihn uns insgeheim verkauft, also sprechen Eie nicht davon/' — der nothwendige Refrain nach jeder Phrase, die ein Nüsse oder ein eingebürgerter Fremder ausspricht. Ich gestehe, daß dieser Zug nicht so empörend ist als das Verbrechen des Vurke in England, aber das schirmende Stillschweigen über solche Uebelthaten charakterisirt Rußland. Der Vetter schwieg und die Herrin des Opfers wagte nicht zu klagen; heute, nach sechs Monaten, bin ich vielleicht die einzige Person, der sie den Tod ihres Kammermädchens erzählte, weil ich ein Fremder din und — nicht schreibe, wie ich ihr sagte. Sie sehen, wie die Subalternbeamten der russischen Polizei ihre Pflicht thun. Diese unbekannten Menschen hatten cinen doppelten Vortheil, den Leichnam der Ermordeten zu verkaufen; erstens erhielten sie einige Rubel dafür und dann verheimlichten sie den Mord, der ihnen cinen starken Verweis zugezogen haben würde, wenn die Sache bekannt geworden ware, Die Verweise, welche die Leute erhalten, sind, glaube ich, von etwas derben Demonstrationen begleitet, welche die Worte unuerlöschlich in das Gedächtniß des Unglücklichen eingraben, der sie hört. Der gemeine Ruffe wird in seinem Leben so oft geprügelt als gegrüßt. Die Ruthenhiebe (in Nußland ist die Ruthe ein großes gespaltenes Rohr) werden mit großer Wirkung in der socialen Erziehung dieses mehr etikettirtcn als civili-sitten Volkes angewendet. Uebrigens kann man in Rußland nur in der und der blasse und von dem und dem aus der und II. v 130 der Classe geschlagen werden. Die Mißhandlungen sind hier geregelt wie ein Zolltarif. Die Castenwurde wird zugestanden, aber bis jcht ist es noch Niemandem eingefallen, der Menschenwürde in dcn Gesten oder auch nur in den Gebräuchen Einfang zu verschaffen. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen von der Höflichkeit der Nüssen aller Gassen erzählt habe. Ich überlasse es Ihnen, was Sie von dieser Höflichkeit halten wollen und beschranke mich darauf, Ihnen einige der Scenen zu beschreiben, die taglich vor meinen Augen vorgehen. Ich habe in einer und derselben Straße zwei Droschkenkutscher ceremonies die Hüte vor einander abnehmen sehen; es ist das feststehende Sitte; sind sie genauer mit einander bekannt, so legen sie mit freundschaftlicher Miene, wahrend sie an einander vorüber fahren, die Hand auf den Mund und küssen sie mit einem sehr ausdrucksvollen Augenblinzeln. Das wegen der Höflichkeit. Weiterhin sah ich cincn Reiter, einen Feldjäger oder einen andern untern Regierungsbeamten, absteigen, auf einen dieser höflichen Kutscher zugehen und denselben mit Peitschenhieben, Stock- oder Faustschlagen tractiren, die er rücksichtslos auf die Vrust, in das Gesicht und auf den Kopf giebt. Der Unglückliche, welcher vielleicht nicht schnell genug ausgcwichen ist, laßt sich prügeln ohne die geringste Reclamation, ohne allen Widerstand, aus Respect vor der Uniform oder der Caste eines Henkers, dessen Zorn nicht immer durch schnelle Unterwürfigkeit des Delinquenten entwaffnet wird. Habe ich nicht gesehen, baß ein solcher Depeschenübcr-bringer, Courier eines Ministers oder galonnirter Kammerdiener cines Adjutanten des Kaisers, einen jungen Kutscher von dem Bocke herunter riß und ihn so lange schlug, dis er ihm das Gesicht blutig geschlagen? Das Opfer er- 131 trug diese Mißhandlung wie ein Lamm, ohne den geringsten Widerstand, wie man einem unabwendbaren Urtel gehorcht oder irgend einem Naturereignisse nachgabt. Die Vorübergehenden blieben bei solcher Grausamkeit gleichgültig, ein llamcrad des Geprügelten, der einige Schritte weiterhin seine Pferde tränkte, kam sogar auf einen Win'k des erzürnten Feldjägers herbei, um dessen Pferd zu halten, während er fortprügelte. Man fordere einmal in irgend einem andern Lande einen Mann aus dem Volke zur Beihilfe bei der Züchtigung eines willkürlich gestraften Kameraden auf!... Das Amt und der Anzug des Mannes, welcher die Schläge austheilte, gaben ihnen das Recht, den Kutscher beliebig zu schlagen; die Strafe war all'o rechtmäßig, und ich kann nur hinzusetzm: um so schlimmer für ein Land, in welchem solche Handlungen gesetzlich sind. Der Auftritt, den ich eben erzählte, kam im schönsten Stadttheile zur Promenadenzeit vor. Als der Geprügelte losgelassen war, wischte er das Blut ab, das ihm über das Gesicht strömte, stieg ruhig wieder auf den Vock und grüßte jeden Kameraden, der vorbeikam, mit derselben Freundlichkeit wie vorher. Das Vergehen, wenn es cines gewesen, hatte durchaus keine nachchciligen Folgen gehabt. Bedenken Eie dabei, daß diese Mißhandlung in vollkommener Ordnung in Beisein einer schweigenden Menge stattfand, der es nicht einfiel, den Schuldigen zu vertheidigen oder zu entschuldigen, ja die nicht einmal lange stehen zu bleiben wagte. Eine christlich regierte Nation würde gegen diese Gesellschaftsdisciplin, welche jede individuelle Freiheit vernichtet, laut protestircn. Trotz der Verehrung des heiligen Geistes hat diese Nation immer ihren Gott auf der Erde. Der Kaiser von 9" 132 Rußland wird wie Valu, wie Tamerlan von seinen Unter-thanen angebetet; das russische Gesetz ist noch nicht getauft. Alle Tage höre ich das sanfte Wesen, die milde Gesinnung und die Höflichkeit des Volkes in Petersburg rühmen. An andern Orten würde ich diese Ruhe bewundern: hier halte ich sie für das grauenvollste Symptom des Uebels, über welches ich klage. Man zittert dermaßen, daß man seine Furcht unter einer für den Bedrücker befriedigenden und fur dcn Unterbrückten besänftigenden Ruhe verbirgt. Die wahren Tyrannen verlangen, daß man lache. In Folge des Schreckens, der über allcn Häuptern schwebt, kommt die Unterwürfigkeit Jedermann zu Statten; Opfer und Henker, Alle bedürfen des Gehorsams, welcher dem Uebel, das sie veranlassen, und dem Uelx'l, das sie ertragen, Dauer giebt. Man weiß, daß das Einschreiten der Polizei zwischen Leuten, die einander schlagen, dieselben weit schlimmern Strafen aussetzen würde, als die Puffe sind, die sie einander im Stillen versetzen, und man vermeidet das Gerausch, weil lauter Zorn den strafenden Hmker herbeirufen würde. Zufällig wurde ich indeß doch diesen Morgen Zeuge eines tumultuöscn Auftrittts. Ich ging an einem Canale hin, der von Voten mit Holz bedeckt war. Leute trugen dies Holz an's Land, um es mauerartig auf Wagen aufzuschichten; ich habe Ihnen dies bereits beschrieben. Einer dieser Männer, welcher das Holz aus dem Boote zu nehmen hatte, gericth in Streit mit seinen Cameraden und bald entstand eine allgemeine Schlägerei. Der Angreifende, der schwächste, ergriff die Flucht und kletterte gewandt, wie ein Eichhörnchen, an dem großen Mäste des Bootes hinauf-, bis hierher fand ich die Sache amüsant; der Flüchtige forderte, auf einer Raa sitzend, scinc minder geu'.n^ten Gegner, keck heraus. Diese vergaßen, als sie sich 133 in ihrer Nachsucht getäuscht sahen, dafi sie in Rußland waren, und gaben ihre Wuth durch lautes Geschrei und durch Drohungen zu erkennen. In gewissen Entfernungen stehen in allen Strasien der Stadt uniformirte Polizeidiener; zwei derselben, welche dieses Geschrei hörten, kamen herbei und forderten den Hauptschuldigen auf, von seiner Höhe herabzusteigen. Er gehorchte nicht; ein Polizeimann ging auf das Boot und wiederholte seine Aufforderung; der Schuldige oben verharrte in seinem Ungehorsam. Wüthend darüber, versuchte der Polizeidiener selbst an dem Mäste hinauf zu klettern und die Füße des Widerspenstigen zu ergreifen. Was that er? Er zog seinm Gegner mit allen Kräften, ohne al/e Vorsicht, auf die Gefahr hin, den Unglücklichen herabzustürzen. Dieser gab endlich die Hoffnung auf, der Strafe, die ihn erwartete, zu entgehen und überließ sich seinem Schicksale-, er siel rücklings, den Kopf voran, auf einen Holzhaufen, wo stin Körper unbeweglich wie ein Sack liegen blieb. Ob der Fall ein schlimmer war, mögen Sie sich selbst denken, da er aus einer wenigstens doppelten Mannshöhe erfolgte. Der Kopf prallte von dm Holzscheiten zurück, und ich hörte das Aufschlagen, ob ich gleich wohl fünfzig Schritt davon stand. Ich hielt den Mann für todt; sein Gesicht war ganz mit Vlut bedeckt; als der arme Teufel aber von der ersten Betäubung sich erholt hatte, richtete er sich auf. Sein Gesicht war, wo es von Vlut frei geblieben, entsetzlich bleich; er fing an zu brüllen wie ein Stier; sein entsetzliches Geschrei minderte mein Mitleid; es kam mir vor, als sehe ich nur ein Vieh vor mir und als dürft ich mit ihm keineswegs Mitleiden haben, wie mit Einem meines Gleichen. Je mehr der Mensch schrie, um so harter wurde mein Herz, — so wahr ist es, daß die Gegenstände unseres Mit- 134 leids einiges Gefühl ihrer eigenen Würde behalten müssen, damit wir ernstlich Antheil an ihren Leiden nehmen können. Das Mitleid ist eine Verbindung, und wer möchte, wenn er auch noch so theilnebmend ist, sich mit dem verbinden, den er verachtet? Man trug ihn endlich fort, ob er sich gleich lange und verzweifelt wehrte; eine kleine Barke mit andern Polizei-bienern näherte sich schnell; man band dem Gefangenen die Hände auf den Rücken und warf ihn so mit dem Gesicht nach unten in das Boot. Auf diesen Fall, der noch schlimmer war als der erste, folgte ein .Hagel von Schlagen. Aber das war noch nicht Alles, und Eie sind selbst mit der vorläufigen Strafe noch nicht zu Ende. Der Sergeant, der den Mann ergriffen hatte, sah kaum, daß derselbe lag, als er ihm auf den Leib sprang. Ich trat hinzu und spreche hier als Augenzeuge. Er stampfte mit den Füßen wiederholt auf dem Unglücklichen herum. Wahrend dieser Mißhandlung verdoppelte sich anfangs das fürchterliche Geheul und Geschrei des Gezüchtigten; als es aber anfing schwacher zu werden, ging mir selbst die Kraft aus, und ich eilte fort, da ich nichts hindern konnte; ich hatte leider schon zu viel gesehen. Das geschah vor meinen eigenen Augen auf freier Straße wahrend einer Promenade, denn ich wollte wenigstens auf einige Tage von meiner Arbeit als schriftstellerischer Reisender ausruhen. Wie konnte ich meinen Unwillen unterdrücken? Ich mußte sogleich wieder zu der Feder greifen. Mich empört vorzüglich der Anblick der raffinirtesten Eleganz neben so widerwärtiger Barbarei. Gabe es weniger Luxus und Zierlichkeit in dem Leben der Leute von Welt, so würde mir der Zustand der Leute aus dem Volke weniger Mitleiden einflößen. Solche Dinge, und das, worauf sie schließen lassen, würden mir das schönste Land auf Erden 13b verhaßt machen; um wie viel mehr muß ich dabei eine übertünchte Haide, einen angestrichenen Morast verabscheuen! Welche Uebertreibung! werden die Nuffcn ausrufen. Welche hochtönende Phrasen um so geringfügige Dinge! Sie nennen dies geringfügige Dinge, ich weiß es wohl und mache es ihnen ;um Vorwurfe; die Gewöhnung an solche Gräuel erklart ihre Gleichgültigkeit, rechtfertigt sie aber nicht. Sie achten nicht mehr auf die Stricke, mit denen sie einen Menschen binden sehen, als auf das Halsband, das man ihren Jagdhunden umlegt. Ich gestehe, diese Handlungen liegen in ihren Sitten, denn ich konnte keinen Ausdruck des Tadels oder des Abscheus in den Zügen eines der Zuschauer bei diesem abscheulichen Auftritte bemerken, und es waren Leute aus allen Classen zugegen' Wenn Sie diese stillschweigende Billigung der Menge als Entschuldigung anführen, so sind wir einverstanden. Am hellen Tage, auf freier Straße einen Menschen halb oder ganz todt zu schlagen, ehe er gerichtet ist, kommt dem Publicum und den Sbirren von Petersburg sehr einfach und natürlich vor. Bürger und Große, Soldaten und Zivilpersonen, Arme und Reiche, Große und Kleine, Elegante und Leibeigene, Bauern und Stutzer, alle Russen lassen gan; ruhig solche Dinge vor ihren Augen geschehen, ohne im Mindesten darnach zu fragen, ob sie gesetzlich sind oder nicht. An andern Orten wird der Bürger durch AUe gegen den Diener der Gewalt in Schutz genommen, der seine Befugnisse überschreitet, hier dagegen schützt man den öffentlichen Diener gegen die gerechte Beschwerde des mißhandelten Menschen. Der Leibeigene beschwert sich nie. Der Kaiser Nicolaus hat ein Gesetzbuch geschaffen! Wenn die Dinge, die ich Ihnen erzählte, mit diesen Gesetzen 136 übereinstimmen, um so schlimmer für den Gesetzgeber; sind sie ungesetzlich, um so schlimmer für den, welcher die Ge, setze handhabt. Immer ist der Kaiser verantwortlich. Wie Schade, daß man nur ein Mensch ist, wenn man ein Gott sein will oder sein muß! Die absolute Regierung sollte wenigstens nur Engeln anvertraut werden. Ich verbürge die Nichtigkeit der von mir erzählten Thatsachen; bei der Erzählung, die Sie eben gelesen, habe ich nicht das Mindeste hinzugefügt oder hinweggenommen; ich bin nach Hause gegangen, um sie meinem Briefe beizufügen, während mir alle Umstände noch ganz frisch im Gedächtnisse waren "). Wenn auch solche Dinge in Petersburg mit den Er-lauterungm veröffentlicht werden können, die nöthig sind, um sie den in allen Arten der Rohheit und Ungesetzlichkeit blasirten Menschen bemerklich und eindringlich zu machen, so würden sie doch das Gute nicht wirken, welches man sich vielleicht davon verspräche; die russische Verwaltung würde es so einrichten, daß die Polizei in Petersburg von da an sanfter in ihren Berührungen mit den Leuten aus oem Volke zu Werke ginge, wäre es auch nur wegen der empfindlichen Augen der Fremden "). Das wäre Alles. °) Ich brauche wohl kaum zu wiederholen, daß dicscr Brief, wie fast alle aMrc, während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes in Rußland sorgfältig aufbewahrt und vcrborgen gehalten worden ist. °°) Dieser Ausspruch rührt von dem Bischöfe vonTarent her, von wllchmi Vattn) eine sehr interessante und vollständige Schilderung in seiner Schrift: „^„l>c)t«Ä et ^»ri"5itt':8 iw^m,,^" mitgetheilt hat. Ich glaube, der Kaiser Napoleon hat denselben Gedankm, aber noch energischer ausgesprochen. Ucbrigcns fällt er Iedermam, cm, drr die Russm in der Nähe sieht. 137 Die Sitten eines Volkes sind das allmalige Erzeugniß der Wechselwirkung der Gesetze auf die Gebräuche und der Gebräuche auf die Gesetz?, und sie lassen sich nicht durch einen Zauberschlag ändern. Die Sitten der Nüssen sind trotz allen Pratcntionen dieser Halbwilden grausam und werden es noch lange bleiben. Vor nicht mehr als einem Jahrhunderte waren sie wahre Tartaren; Peter der Große sing an, die Manner zu zwingen, die Frauen in die Gesellschaften mitzubringen, und mehrere dieser Parvenus der Civilisation haben unter ihrer modernen Eleganz die Bärenhaut behalten und sie nur umgewendet; wenn man aber ein wenig kratzt, kommen die Haare zum Vorschein. Nachdem das Volk die Zeit des Nitterwesens hat vorübergehen lassen, welche die Nationen des westlichen Europa's in ihrer Jugendzeit so wohl benutzten, bedarf es vor allen Dingen eine unabhängige und erobernde Religion. Rußland besitzt nun allerdings Glauben; aber der policische Glaube macht den Geist des Menschen nicht frei, er schließt ihn vielmehr in den engen Kreis seiner natürlichen Neigungen ein. Mit dem katholischen Glauben würden die Russen bald allgemeine Ideen erwerben, welche auf einer verstandigen Erziehung und auf einer ihrer Bildung entsprechenden Freiheit beruhten. Ich für meinen Theil bin überzeugt, daß sie die Welt beherrschen würden, wenn sie jene Höhe erreichen tonnten. Das Uebel sitzt tief, und die Mittel, welche man bis jeht angewendet hat, wirkten nur auf die Oberflache, verbargen die Wunde, ohne sie zu heilen. Die gute und wahre Civilisation gcht von dem Mittelpunkte nach dem Umkreise, während die russische Civilisation von dem Umkreise in den Mittelpunkt gelangt ist; das ist übertünchte Barbarei, nichts weiter. 138 Wenn ein Wilder die Eitelkeit eines Mannes von Welt blscht, so folgt noch keineswegs, daß er auch dessen Bildung hade. Ich habe es bereits gesagt, wiederhole es und werde es vielleicht nochmals wiederholen: es liegt den Nüssen weniger daran, civilisirt zu sein, als uns glauben zu machen, sie waren es. So lange diese Krankheit der Staatseitelkeit an ihrem Herzen nagt und ihrem Geiste eine solche Richtung giebt, werden sie wohl einige große Herren haben, welche im In- und Auslande die Elegants spielen können, im Ganzen aber Barbaren bleibcn. Leider hat der Wilde Feuergewehre. Der Kaiser Nicolaus rechtfertigt mein Urtlxil; er hat schon vor mir den Gedanken gchabt, die Zeit des bloßen Schemens sei für Rußland vorüber, und das ganze Gebäude der Civilisation in dem Lande müsse neu aufgeführt werden; er unternahm es, die Gesellschaft allmalig umzugestalten. Peter, der Große genannt, würde sie zum zweiten Male ganz umstürzen, um sie neu aufzubauen; Nicolaus ist klüger. Er verbirgt seinen Zweck, um ihn desto sicherer zu erreichen. Ich fühle mich von Achtung ergriffen vor diesem Manne, der mit aller Kraft seines Willens im Stillen gegen das Werk des Geistes Peters des Großen kämpft, den großen Reformator dabei vergöttert, aber eine Nation, die über ein Jahrhundert lang auf dem Pfade der Nachahmung umherirrte, auf ihre eigme Natur zurückzuleiten sucht. Der Gedanke des jetzigen Kaisers äußert sich sogar in den Straßen Petersburgs; er baut nicht flüchtig Eolonnaden von übertünchten gebranntm Steinen; überall ersetzt er den Schein durch die Wirklichkeit! überall Verdrangt der Stein den Gips, und Gebäude einer starken und massiven Archi-tectur werden die Spuren einer falschen Größe vergessen lassen. Nur dann, wenn man ein Volk zuerst auf seinen 139 eigentlichen Character zurückführt, macht man es der wahren Civilisation fadig und würdig, odne welche eine Nation nicht für die Nachwelt arbeiten konnte. Soll ein Volk Alles schaffen, was es schassen kann, so darf es nicht die Fremden copiren-, es muß vielmehr den Nationalist ungehemmt entwickln. In dieser Welt komml der Gottheit nichts näher alS die Natur. Die Natur beruft die Russen zu großen Dingen, wahrend man sie scit ihrer sogenannten Civilisation mit Geringfügigkeiten beschäftigte; der Kaiser Nicolaus hat ihren Beruf besser erkannt als seine Vorgänger, und unter seiner Regierung hat sich Alles durch eine Rückkehr zur Wahrheit vergrößert. Eine Säule ragt über Petersburg hinweg, das größte Granitstück, das durch Menschenband beHauen worden ist, auch die ägyptischen Denkmäler nicht ausgenommen. Eines Tages erschienen 7l),0W Soldaten, der Hof, die Stadt und ein Theil dor Umgegend, ohne einander zu drangen und zu Hinbern, auf dem Platze vor dem kaiserlichen Palaste, um schweigend der wunderbaren Aufrichtung dieses Denkmals beizuwohnen, das durch einen Franzosen, Herrn v. Mont-fcrrand, entworfen, ausgeführt und aufgestellt wurde. Die Nüssen brauchen die Franzosen noch immer. Bewundernswürdige Maschinen arbeiteten mit Erfolg, belebten den Stein, und in dem Augenblicke als die Säule, ihrer Fesseln entledigt, sich aufrichtete wie durch eigene Lebenskraft und sich selbst zu bewegm schien, sanken die Armee, die Menge, der Kaiser selbst auf die Knie, um Gott für ein solches Wunder zu danken und ihn zu prellen wegen der großen Dinge, die cr ihnen zu vollbringen gestatte. Das nenne ich ein Nl'.tionalfest; rs ist keine Schmeichelei, die man für eine Satyre halten könnte, wie die Maskerade in Peterhof, es 'st auch kein Genrebild, sondern ein historisches Gemälde 140____ im größten Style. Großes und Kleines, Schlechtes und Erhabenes, alle Gegensätze finden sich in diesem seltsamen Lande; das Schweigen verlängert die Dauer des Wunders und bewahrt die Maschine uor dein Zerbrechen. Der Kaiser Nicolaus dehnt die Reform bis auf die Sprache der Personen in seiner Umgebung aus; er verlangt, daß man am Hofe russisch spreche. Die meisten vornehmen Damen, namentlich die, welche in Petersburg geboren wurden, verstehen ihre Muttersprache gar nicht; aber sie lernen einige russische Redensarten, die sie hörm lassen, um dem Kaiser zu gehorchen, wenn er durch die Säle des Palastes geht, in denen der Dienst sie festhält. Eine hält immer Wache, um bei rechter Zeit durch ein Zeichen die Ankunft des Wcbiettrs zu melden; d>inn hört sogleich die französische Conversation auf, und die russischen Redensarten, welche dem kaiserlichen Ohre schmeicheln sollen, ertönen in dem Paläste. Der Kaiser freut sich, wenn er sieht, wie weit sich seine Reformator-Macht erstreckt; sobald cr aber vorüber ist, lachen ihn seine schelmischen Unterthaninnen aus. Ich weiß nicht, was mir am meisten auffallt, wenn ich diese unermeßliche Macht sehe, ihre Gewalt oder ihre Schwache. Der Kaiser besitzt übrigens, wie jeder Reformator, die Ausdauer, welche endlich das Ziel erreicht. Am Ende des Platzes, der so groß ist wie ein Land und auf dein sich die Säule erhebt, erblickt man auch ein Granitgebirge! die Isaakskirche in Petersburg. Dieses Gebäude ist weniger pomplM, weniger schön in seinen Formen, weniger mit Verzierungen überladen als die Peterskirche in Rom, aber eben so stauncnswerth. Noch ist sie nicht vollendet, man kann also über das Ganze nicht urtheilen; jedenfalls aber ist es ein Nett, das außer Verhältniß zu dem steht, was 14» der Geist des Jahrhunderts jetzt bei den andern Völkern schafft. Die Materialien, die man dabei verwendet, sind Granit, Bronze und Eisen, sonst nichts. Die Farbe ist imposant, aber düster. Dieser bewundernswürdige Tempels der unter Alexander begonnen wurde, wird unter Nicolaus bald vollendet sein, und zwar durch denselben Franzosen, Montferrand, welcher die Alexandersaule aufrichtete. So viele Anstrengungen für einen durch die Politik beschnittenen Cultus! Wird man das Wort Gottes nie unter diesem Gewölbe höreni Die griechischen Kirchen umschließen nicht mehr die Kanzel der Wahrheit. Gegen den Willen des heil. Anathasius und des heil. Chrysostomus wird die Religion den Russcn nicht öffentlich gelehrt. Die russischen Griechen reißen das Wort von ihrem Cultus ab, wahrend die Protestanten den ihrigen auf daS Wort beschränken; weder die Erstem noch die Leitern wollen den Christus hören, der, das Kreuz in der Hand, von den beiden Enden der Erde seine verirrten Heerden zusammenruft und von der Kanzel in St. Peter herab spricht: „Kommt zu mir Alle, die Ihr reinen Herzens seid, die Ihr Ohren habt zu hören und Augen zu sehen." Was auch der Kaiser mit Hülfe seiner Armeen von Soldaten und Künstlern thun mag, es wird ihm nie gelingen, der griechischen Kirche eine Macht zu geben, die Gott ihr nicht gegeben hat; man kann sie verfolgunassüchtig machen, aber nicht apostolisch, d. h. civilisirend und erobernd in der Welt der Geister. Menschen discipliniren, heißt nicht Seelen belehren. Diese politische und nationale Kirche besitzt weder moralisches noch übernatürliches Leben. Demjenigen, welchem die Unabhängigkeit fehlt, fehlt Alles. Das Schisma, das den Geistlichen von seinem unabhängigen Oberhaupte losreißt, giebt ihn auch in die Hände seines 142 weltlichen Fürsten, und so wird die Empörung durch die Sclamrei bestraft. Man müßte an Gott verzweifln, wenn das Werkzeug der Unterdrückung das der Befreiung würde. Auch in den blutigsten Zeiten der Geschichte bemühcte sich die katholische Kirche, die Nationen zu emancipircn; der ehebrecherische Priester verkaufte den Gott des Himmels an den Gott der Erde, um den Mcnscken im Namen Christi zu tyrannmsiren, aber dieser gottlose Priester klarte selbst da, wo er dem Körper den Tod gab, den Geist auf; denn auf wie schlimmen Abwegen er sich auch befand, er gehörte doch noch zu einer Kirche, welche das Leben und das Licht besaß. Der griechische Geistliche giebt weder Leben noch Tod; er ist selbst todt. Zeichen des Kreuzcs, Grüße auf der Straße. Kniebeugung vor den Kapellen, Niedersinken alter Betschwestern auf den Steinen der Kirchen, Handküsse, — eine Frau, Kinder und die allgemeine Verachtung, — das hat der Pope durch seine Untreue gewonnen. Welche Lehre! .Welche Strafe! Man sehe und bewundere, wie der schismatische Priester im Siege seines Schisma ohnmachtig ist! Will der Geistliche die weltliche Macht sich anmaßen, so geht er unter, weil ihm der hohe Ueberblick fehlt, um den Weg zu erkennen, den Gott ihm vorgezeichnet hat; der Priester, welcher sich durch den König entthronen läßt, geht unter, weil es ihm an Muth gebricht, jenem Wege zu folgen; beide erfüllen ihren hohen Beruf nicht.. Hat nicht Peter der Große eine große Verantwortlichkeit auf sich geladen, als er den Schatten von Unabhängigkeit, den Ucberrest der Freiheit, die seiner unglücklichen Kirche geblieben waren, für sich und seine Nachfolger in Anspruch nahm? Er übernahm ein Werk, das menschliche Kräfte übersteigt; von diesem Augenblicke an wurde der Zweck des ,43____ Schismas unmöglich, b. h. in den Augen der Vernunft und wenn man das Menschengeschlecht vom rein menschlichen Gesichtspunkte aus betrachtet. Ich weiß es meinen herumschweifenden Gedanken Dank, denn wahrend ick sie frei von einem Gegenstände zum andern, von einer Idee zur andern überspringen' lasse, schildere ich Ihnen ganz Rußland; mit einem methodischeren Style würde 'ch auf zu grelle Contraste zu stoßen fürchten und, um dem Vorwurfe der Verwirrung, der Abschweifung oder der Inconsequenz zu entgehen, die Mittel verlieren, Ihnen die Wahrheit so darzulegen, wie sie mir erscheint. Der Zustand des Volkes, die Große des Kaisers, das Aussehen der Straßen, die Schönheit der Gebäude, die Verdumpfung der Geister, eine Folge dcr Ausartung des religiösen Princips, Alles fallt mir gleichzeitig in die Aligen und geht gleichsam unter mnner Feder hin: das Alles ist aber auch eben Rußland, dessen Lebensprincip sich meinem Geiste durch die scheinbar unbedeutendsten Gegenstande enthüllt. Wir sind noch nicht zu Ende; ich bin noch nicht am Ziele meiner sentimentalen Wanderungen angekommen. Gestern ging ich mit einem geistreichen Franzosen spazieren, welcher Petersburg genau kennt. Er befindet sich als Lehrer in einer vornehmen Familie und kann also die Wahrheit wissen, die wir durchreisende Fremde vergebens suchen. Er findet mein Urtheil über Rußland zu günstig, und ich lache über seinen Tadel, wenn ich an den Tadel denke, welchen die Russen über mich aussprechen werden. Jener Franzose lebt fortwährend unter russischen Aristocrat««, und da giebt es denn eine wohl zu beobachtende Meinungsverschiedenheit. Wir wanderten auf Geradcwoht hin. Als wir in der Mitte der Ncwski-Perspective ankamen, der schönsten und besuchtesten Straße in der Stadt, gingen wir langsamer, 144 um länger auf den Trottoirs dieser glänzenden Promenade zu bleiben. Ich war in der Stimmung, w welcher man gern bewundert. Mit einem Male kam uns etn schwarzer oder ganz dunkelgrüner Wagen entgegen. Er war lang, viereckig, ziemlich niedrig und an allen vier Seiten verschlossen. Man hätte ihn für einen ungeheuern Sarg auf einem Wagengestclle halten können. Vier kleine Oeffnungen von etwa sechs Zoll im Quadrat, mit Eisenstaben vergittert, ließen Luft und Licht in dieses bewegliche Grab hinein; ein Knabe von acht oder zehn Jahren lenkte die beiden Pferde an dieser Maschine, welche zu meiner Verwunderung durch eine bedeutende Anzahl Soldaten beglnttt wurde. Ich fragte meinen Begleiter, was dieses seltsame Fuhrwe^ bedeute. Noch hatte ich meine Frage nicht ganz beendigt, als ein bleiches Gesicht an einem der Gitter sich zeigte und mir also Antwort gab. In diesem Wagen bringt man die Gefangenen an den Ort ilner Bestimmung. „Es ist der Zellenwagen der Russen," sagte mein Ve-gleiter zu mir. „Es giebt überall etwas dem Aehnliches, aber man entzieht es so viel als möglich den Blicken; sieht es nicht aus, als stelle man es hier recht absichtlich zur Schau? Welche Regierung!" „Bedenken Sie aber auch die Schwierigkeiten, auf die sie stößt," ent^egnete ich. „Lassen Sie sich noch immer durch ihre Worte tauschen? Ich sehe es wohl, die russischen Behörden werden aus Ihnm machen, was sie wollen." „Ich bestrebe mich, mich in ihren Gesichtspunkt zu stellen; denn nichts verdient mehr Berücksichtigung als eben der Gesichtspunkt der Regierenden, weil sie ihn nicht selbst wählen. Ilde Regierung muß von gegebenen und vollendeten Thatsachen ausgehen; die hiesige hat den Zustand der 145 Dinge, welchen sie energisch vertheidigen und klug vervollkommnen soll, nicht geschaffen. Wenn der eiserne Zepter, der dieses noch rohe Volk leitet, einen Augenblick nicht auf ihm lastete, würde die ganze Gesellschaft zusammenbrechen " „So sagt man, abcr, glauben Sie mir, man sieht diese angebliche Nothwendigkeit sthr gern. Diejenigen, welche am lautesten über die Härte und Strenge klagen, die sie anzuwenden gezwungen sind, wie sie sagen, würden sie nur höchst ungern aufgeben. Im Grunde lieben sie die Negierungen ohne Gegengewicht, weil sie sich leichter bewegen lassen. Kein Mensch opfert gern, was ihm seine Aufgabe erleichtert. Verlangen Sie einmal von einem Prediger, er solle die Hölle aufgeben, wenn er sich bemüht, verstockte Sünder zu bekehren! Die Hölle ist die Todesstrafe der Theologen "); anfangs bedienen sie sich derselben nur ungern, wie eines nothwendigen Uebels, bald aber finden sie Geschmack an dem Gewerbe, den größten Theil der Menschen zu uerurtheilen. Eben so ist es mit den strengen Maßregeln in der Politik; man fürchtet sie, bevor man sie versucht; sieht man aber einen glücklichen Erfolg davon, so bewundert man sie. Das geschieht, verlassen Sie sich darauf, hier zu Lande sehr hausig. Ich glaube, man ruft mit Vergnügen Gelegenheiten hervor, um zll strafen, damit man nicht aus der Gewohnheit komme. Wissen Sie, was in diesem Augenblicke an der Wolga geschieht?" „Ich hörte von ernsten Unruhen sprechen, die aber schnell unterdrückt worden wären." „Allerdings, aber wie? Wenn ich Ihnen dann sage, diese schrecklichen Unordnungen sind die Folge clnes Wortes des Kaisers ..." ') Vergessen Ste nicht, baß ich dies nicht sage. II. 10 146 „Sie werben mich nie überreden, daß er solche Abl scheulichkeiten gebilligt habe." „Das will ich auch nicht sagen, aber ein Wort von ihm, das er in aller Unschuld sprach, ich bin davon eben so überzeugt wie Sie, hat das Unglück veranlaßt. Trotz den Ungerechtigkeiten der Kronbeamten ist das Schicksal der Kronbauern dem der andern Leibeigenen noch immer vorzuziehen, und wenn der Kaiser irgend ein Gut kauft, werden die Bewohner dieser Landereien, welche die Krone erwarb, von allen ihren Nachbarn beneioet. Vor Kurzem kaufte er ein beträchtliches Gut in dem Bezirke, der seitdem aufgestanden ist, und sofort wurden von allen Punkten der Gegend Bauern zu den neuen Verwaltern der kaiserlichen Besitzung abgeordnet, um den Kaiser bitten zu lassen, er möchte doch auch die Bauern und Güter in der Nähr kaufen; Leibeigene wurden als Abgeordnete sogar nach Petersburg geschickt. Der Kaiser ließ sie vor und empfing sie gütig, aber zu ihrem großen Bedauern taufte er sie nicht. Ich kann nicht ganz Rußland kaufen, sagte er zu ihnen, es wird aber hoffentlich eine Zeit kommen, da jeder Bauer des Landes frei ist. Wenn es nur von mir abhinge, würden die Russen heute schon die Unabhängigkeit haben, ble ich ihnen wünsche und die ich ihnen in dcr Zukunft zu verschaffen mich bestrebe." „Nun, diese Antwort war ganz verständig, freimüthig und gütig." „Allerdings, aber der Kaifer sollte wissen, an wen er seine Worte richtet, und nicht seinen Adel aus Liebe zu den Leibeigenen ermorden lassen. Jene Worte, die sich neidische und halbwilde Menschen auslegten, versetzten eine ganze Provinz in Feuer und Flammen. Dann mußte er das Volk wegen Verbrechen strafen, deren Veranlassung er gewesen war. „Der Vater will unsere Befreiung," riefen die Abgeord- 147 neten, als sic an die Ufer der Wolga kamen. „Er strebt nur nach unserm Glücke und hat es uns selbst gesagt; die Herren also und die Beamten sind unsere Feinde, die sich den guten Absichten des Vaters widersetzen. Wir wollen uns rächen, wir wollen den Kaiser rächen!" Die Baucrn glaubten also ein gutes Werk zu verrichten, wenn sie über ihre Herren herfielen, und so wurden alle Herren eines Bezirks und alle Intendanten mit ihren Familien auf einmal ermordet. Den einen spießten sie, um ihn lebendig zu braten, den andern kochten sie in einem Kessel; den Abgeordneten schnitten sie den Leib auf, die Beamten ermordeten sie auf verschiedene Weise; alles, was ihnen in den Weg kam, wurde niedergemacht, ganze Städte verwüsteten sie mit Feuer und Schwerdt, kurz sie verheerten eine Provinz nicht im Namen der Freiheit, — was diese ist, wissen sie nicht -^ sondern im Namen der Befreiung und unter dem Geschrei: es lebe der Kaiser!" „Vielleicht sahen wir eben einige dieser Kannibalen in dem Gefangenenkasige vorbeikommen. Es giebt indeß doch Manches, was unsern philanthropischen Unwillen maßigen kann. . Man regiere einmal solche Wilde mit den sanften Mitteln, welche man von den Regierungen des Abendlandes verlangt!" „Der Geist der Bewohner müßte allmalig umgewandelt werden, aber man findet es bequemer, ihren Aufenthaltsort zu wechseln; nach jedem Auftritte der Art deportirt man in Masse Dörfer, ganze Bezirke; Niemand ist sicher, auf seinem Gebiete zu bleiben und die Folge dieses Systemes ist, daß der Mensch, an die Schotte gefesselt wie er ist, in der Sclaverei nicht einmal die einzige Entschädigung findet, welche sich mit ihr verträgt: feste Wohnung und Anhänglichkeit an dieselbe. Nach einer teuflischen Berechnung 10' 148 ist er unstät, ohne frei zu sein. Ein Wort des Fürsten entwurzelt ihn wie einen Baum, entreißt ihn der Heimath und schickt ihn an das Ende der Welt, wo er verkümmern oder sterben mag. Was wird aus dem Landbewohner, der in ein Dorf versetzt ist, in welchem er nicht geboren wurde, wahrend dort sein Leben an alle Gegenstände um ihn her gebunden ist?") Der Bauer, der in dieser Weise den Stürmen der höchsten Gewalt ausgesetzt ist, liebt seine Hütte nicht mehr, das einzige in dieser Welt, was er lieben kann, er verabscheut daS Leben, und achtet seine Pflichten nicht, denn ein Glück muß der Mensch haben, wenn er seine Obliegenheiten begreift« soll; das Unglück lehrt ihn nur die Verstellung und den Aufruhr. Wenn das wohlverstandene Interesse nicht die Grundlage der Sittlichkeit ist, so wird es doch die Stütze dl'lselbm. Wenn ich Ihnen die authentischen Details über die Ereignisse in... mittheilen dürfte, würden Sie sich entsetzen." „Es ist nicht leicht, den Geist eines Volkes umzuwandeln ; es ist das nicht das Werk emes Tages oder auch einer Regierung." „Arbeitet man reblich daran?" „Ich glaube es, aber auch mit Vorsicht." „Was Sie Vorsicht nennen, nenne ich Falschheit; Sie kennen den Kaiser nicht." „Nennen Sie ihn hart und unbeugsam, aber nicht falsch. Die Unbeugsamkeit ist bei einem Fürsten oft eine Tugend." ') Der Russe leidet von dieser Veränderung weniger als ein anderer, wegen der überall gleichen Beschaffenheit seines Vaterlandes und wegen seiner einfachen Lebensweise. Ich habe dies an andern Orten bewiesen. (Anm. d. Verf.) 149 „Das ließe sich wohl läugnen, aber ich will von der Hauptsache nicht abschweifen-, Sie halten den Kaiser für aufrichtig? Erinnern Sie sich an sein Benehmen bei dem Tode Puschkins." „Ich kenne die Umstände dabei nicht." Wahrend dieses Gesprächs waren wir auf dem Marsfelde angekommen, einem großen Platze, der ganz öde aussieht, ob er gleich mitten in der Stadt liegt; aber er ist so groß, baß die Menschen sich darauf verlieren. Man sieht sie von Weitem kommen und kann da mit größerer Sicherheit sprechen als in seinem Zimmer. Mein Cicerone fuhr alsl, fort' „Puschkin war, wie Sie wissen, der größte Dichter Nußlands?" „Wir können darüber nicht urtheilen." „Er galt doch für den größten Dichter." „Man rühmt seinen Styl, — das ist ein geringes Verdienst für einen Mann unter einem noch ungebildeten Volke, aber in einer Zeit raffmirter Civilisation, denn cr kann die bei den Nachbarvölkern umlaufenden Ansichten und Ideen aufgreifen und in der Heimath originell erscheinen. Seine Sprache gehört ihm an, weil sie noch ganz neu ist, und um unter einer unwissenden Nation, um die ringsherum aufgeklärte Völker leben, Epoche zu machen, braucht man nur zu übersetzen, ohne eigenen Gedankenaufwand zu machen. Der Nachahmer gilt da für einen Schöpfer." „Puschkin hatte einen großen Ruf, derselbe mochte verdient sein oder nicht. Er war noch iung und von reizbarem Temperamente; er hatte bekanntlich von seiner Mutter maurisches Blut. Seine sehr schöne Frau flößte ihm mehr Leidenschaft als Vertrauen ein, und mit seiner Dichterseele, mit seinem afrikanischen Character war er zur Ei- 150 fersucht geneigt. Durch den Schein irre geleitet, durch falsche Berichte getäuscht, verlor der russische Othello alle Selbstbeherrschung und wollte den Mann, durch den er seiner Meinung nach hintergangen wurde, zwingen, sich mit ihm zu schlagen. Dieser Mann war ein Franzost und überdies sein Schwager; er hieß Herr von Antes. Das Duell ist in Nußland eine gefahrliche Sache, um so gefährlicher, als es nicht, wie bei uns, mit den Sitten gegen die Gesetze übereinstimmt, sondern den geltenden Ideen widerspricht. Die Nation ist mehr orientalisch als ritterlich. Das Duell ist hier ungesetzlich wie überall, findet aber weniger als irgendwo eine Stütze in der öffentlichen Meinung. „Herr von Antes that, was er konnte, um Eclat zu vermelden; als der erzürnte Ehemann lebhaft in ihn drang, weigerte er fich würdevoll, Genugthuung zu geben, änderte aber auch sein Benehmen gegen die Frau des Dichters nicht. Puschkin wurde fast wahnsinnig; die unvermeidliche Anwesenheit des Mannes, nach dessen Tod er verlangte, erschien ihm als eine fortwahrende Schmach und er wagte Alles, um ihn zu vertreiben; es kam so weit, daß das Duell nicht mehr umgangen werden konnte. Die beiden Schwager schlugen sich also und Puschkin siel von der Hand des Herrn, von Antes; der Mann, den die öffentliche Meinung beschuldigte, blieb Sieger und der beleidigte Ehemann, der National-Dichter, der Unschuldige unterlag. „Dieser Todesfall war ein öffentliches Aergerniß und wurde allgemein bedauert. Puschkin, der vorzugsweise russische Dichter, der Verfasser der schönsten Oden in der Muttersprache, der Stolz des Landes, der Wiederhersteller der slawischen Poesie, das erste eingeborene Talent, dessen Namen mit einigem Glänze nach Europa gedrungen war, — nach Europa!! — kurz der Ruhm der Gegenwart, die 151 Hoffnung der Zukunft, Alles war verloren; das Götzenbild war in seinem Tempel gestürzt und der Held siel, in seiner ganzen Kraft, unter der Hand eines Franzosen .... Nie mannichfacher Haß, wie viele Leidenschaften wurden da aufgeregt! Petersburg, Moskau, das ganze Reich war tt als solcher menschliche Schwachen. Er wurde wahrscheinlich durch etwas in der Gedantcnnchtung des jungen Dichters verletzt. Sie waren gewiß mehr europäisch als national. Der Kaiser ist das Gegentheil von Katharina ll.; er trotzt Europa statt ihm zu schmeicheln; es ist das Unrecht, ich gebe es zu, 153 aber ein wohl verzeihliches Unrecht, besonders wenn Sie bedenken, welchen Nachtheil die Fürsten, die ihr ganzes Leben lang von der Nachahmungssucht gequält waren, Rußland zugefügt haben." „Sie sind unverbesserlich," entgegnete der Vertheidiger der lehtcn Bojaren. „Auch Sie glauben an die Möglichkeit einer Civilisation auf russische Manier? Das war wohl vor Peter l. möglich, aber dieser hat die Frucht im Keime erstickt. Reisen Sie nach Moskau, dem Mittelpunkte des ehemaligen Reiches und Sie werden sehen, daß Alle sich den industriellen Speculations zuwenden und daß dort der Nationalcharacter eben <> verwischt ist' wie in St. Petersburg. Der Kaiser Nicolaus begeht jetzt, in anderm Sinne, einen ähnlichen Fehler wie der Kaiser Peter I. Er achtet die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, des Jahrhunderts Peters des Großen für nichts. Die Geschichte hat ihre unabänderlichen Gesetze, die Vergangenheit wirkt überall auf die Gegenwart. Wehe dem Fürsten, der sich dem nicht unterwerfen will!" Es war spat geworden; wir trennten uns und ich setzte meinen Spaziergang fort, in Gedanken mit dem kräftigen Oppositwnsgciste beschäftiget, der in den Seelen keimen muß, welche in der Stille des Despotismus zu denken gewöhnt sind. Die Characters, die eine solche Regierung nicht ver-thiert, werden in ihr gestählt. Ich ging dann nach Hause, um Ihnen zu schreiben. Das thue ich fast alle Tage, aber es wird doch noch eine ziemlich lange Zeit vergehen, ehe Sie diese Briefe erhalten, da ich sie verheimliche wie Verschwörungspläne, bis ich sie Ihnen mit Sicherheit senden kann, was so schwer ist, daß ich sie ihnen wohl werde selbst überbringen müssen. 154 Fortgesetzt am 30. Juli 1839. Ich las gestern, nachdem ich zu schreiben aufgehört hatte die Uebersetzung einiger Gedichte von Puschkin wieder, und sie bestärkten mich in der Meinung, welche mir die erste Lecture gegeben hatte. Dieser Mann hat einen Theil seiner Farben von der neuen Dichterschule in dem westlichen Europa entlehnt. Nicht die antireligiösen Meinungen Lord Byrons, nicht die socialen Ideen unserer Dichter oder die Philosophie der Deutschen hat er angenommen, aber ihre Art zu schildern, ihre Manier. Ich sehr also keinen ächten russischen Dichter iü ihm. Der Pole Mickicwicz erscheint mir weit slawischer, obgleich auch aus ihn, wie auf Puschkin, die Literatur des Abendlandes eingewirkt hat. Uebrigens könnte jetzt der wahre russische Dichter, wenn einer eristirte, nur zu dem Volke sprechen; in den Salons würde man ihn nicht anhören, nicht verstehen. Wo es keine Sprache giebt, kann es auch rVine Poesie, keine Den: ker geben. Man lacht jetzt darüber, daß der Kaiser Nico-laus ,verlangt, es solle am Hofe Russisch gesprochen werden; diese Neuerung sieht einer Laune des Herrn ähnlich, aber die nachfolgende Generation wird ihm für diesen Sieg des gesunden Verstandes über die schöne Welt danken. Wie sollte der natürliche Geist in einer Gesellschaft durchbrechen, in welcher man vier Sprachen spricht, ohne selbst eine zu haben? Die Selbststanoigkric dcs Denkens hängt inniger, als man glaubt, mit der Integrität der Sprache zusammen. Das vergißt man seit einen, Jahrhunderte in Nußland und seit einigen Jahren in Frankreich. Unsere Kinder werden die Manie für englische Bonnen empfinden, die sich bei uns aller fashionable« Mütter bemächtiget hat. 155 In Frankreich war der erste und ich glaube der beste französische Sprachmeister — die Amme. Der Mensch muß seine Sprache sein ganzes Leben hindurch stubiren, das Kind aber darf sie nicht erlernen; es empfängt sie in der Wiege ohne Studium. Dagegen stammeln unsere kleiuen Franzosen jetzt englisch und radcbrcchen deutsch in der Wiege, dann lehrt man sie das Französische wie eine fremde Sprache. Montaigne wünschte sich Glück, das Lateinische vor dem Französischen gelernt zu haben; dieesm Vorzuge, über den sich der Verf. der I^z.'is freut, verdanken wir vielleicht das naivste und nationalste Talent unserer alten Literatur. Er hatte Ursache, sich darüber zu freuen, denn das Lateinische ist die Wurzel unserer Sprache; aber die Bestimmtheit, die Leichtigkeit dcs Ausdrucks verliert sich bei einem Volke, welches die Sprache seiner Väter nicht achtet; unsere Kinder sprechen englisch, wie unsere Dienstleute Puder tragen: in Folge einer Manie. Ich bin überzeugt, daß der Mangel an Originalität in der neuen slawischen Literatur seinen Grund in der Gewohnheit hat, welche die Russen und Polen im 18. Jahrhunderte annahmen und seitdem befolgten, ausländische Gouvernanten und Erzieher in ihren Familien aufzunehmen. Wenn die gebildeten Russen sich wieder zu ihrer eigenen Sprache wenden, übersetzen sie, und dieser entlehnte Styl hemmt den Aufschwung dcs Gedankens, indem er die Einfachheit des Ausdruckes vernichtet. Warum haben die Chinesen bis jetzt in der Literatur, der Philosophie, der Moral, der Gesetzgebung mehr für das Menschengeschlecht gethan als die Russen? Weil sie nicht aufhörten, ihre Sprache zu lieben. Die Sprachvermengung schadet den mittelmäßigen Geistern nicht, im Gegentheil sie unterstützt dieselben in ihrer Industrie; die oberflächliche Bildung, die einzige, welche 156 für diese Geister paßt, wird durch dies gleich oberflächliche Studium der lebenden Sprachen erleichtert, ein leichtes Studium oder vielmehr ein Spiel des Geistes, das sich vollkommen für die Fähigkeiten des tragen oder ausschließlich auf einen materiellen Zweck gerichteten Nerstandes eignet. Wird aber unglücklicherweise dieses System einmal auch bei dcr Erziehung cines überlegenen Talentes angewendet, so hält es die Arbeit der Natur auf, führt den Geist irre und schafft ihm für die Zukunft eine Quelle unfruchtbaren Bedauerns oder nöthigt ihn zu Arbeiten, für welche wenige, selbst ausgezeichnete Menschen nach der ersten Jugend Muße und Muth haben. Nicht alle großen Schriftsteller sind Rousseaus; Rousseau studirte die französische Sprache wie ein Fremder und cs gehörte sein Aus-drucksgenic, seine bewegliche Phantasie nebst seinem ausdauernden Character und seiner Absonderung in der Gesellschaft dazu, daß er französisch verstehen lernte, als ob er es nicht gelernt hatte. Trotz dem ist das Französisch der Genfer weniger uon dem Saint-Simons und Fcnelons verschieden als das mit Englisch und Deutsch untermischte Kauderwelsch, welches jetzt in Paris die Kinder der vorzugsweise eleganten Personen erlernen. Vielleicht würde das Gekünstelte, das sich in den Phrasen Nousseaus nur zu deutlich aufspricht, nicht da sein, wenn der große, Schriftsteller in Frankreich zu der Zeit geboren worden wäre, als die Kinder da Französisch sprachen. Das Studium der alten Sprachen, das damals Sitte war, hatte keineswegs eine nachtheilige Folge, sondern gab uns vielmehr die alleinigen Mittel, zu einer tiefgehenden Kenntniß der unsrigen zu gelangen, welche von jenen herstammt. Jenes Studium, das uns zu unserer Quelle führte, stärkte unsere Natur, abgesehen davon, daß es ssch 157 mehr für die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Kindheit eignete, für die man vor Allem das Werkzeug des Denkens, die Sprache, vorbereiten muß. Dic Vermischung dcr beliebten Sprachen begünstiget die Unklarheit und das Unbestimmte der Gedanken; die Mittelmäßigkeit findet sich leicht darein, der überlegene Mensch fühlt sich aber empört und erschöpft seine Kraft in der Neubildung des Werzcugs des Genies, dcr Sprache. Wenn man nicht besser darauf achtet, wird das Französisch, das ächte alte Französisch, nach fünfzig Jahren eine todte Sprache sein. Während das durch den jetzigen Herrscher nach früher verkannten Grundsahen langsam regenerirte Rußland auf eine Sprache, auf Dichter und Prosaisten hofft, bereifn die Elegants und die sogenannten Aufgeklärten bei uns in Frankreich cine Generation von nachahmenden Schriftstellern und Frauen ohne geistige Unabhängigkeit vor, welche Shakespeare und Goethe so gut im Original verstehen werden, daß sie die Prosa Vossucts und (5hateaubriands, die beflügelte Poesie Hugos, die Perioden Racines, die Originalität und Natürlichkeit Molares und La Fontaines, den Geist, den Geschmack der Frau von Scvign<> und den göttlichen Wohllaut Lamartines nicht mehr würdigen. So wird man sie unfähig gemacht haben, etwas Originelles hervorzubringen, den Ruhm ihrer Sprache fortzupflanzen und wie sonst die Leute dcr andern Lander zu nöthigen, nach Frankreich zu kommen, um da die Mysterien des guten Geschmacks zu studiren. Achtzehnter V r i e f. Petersburg, den 30. Iult 1839. Acute Morgen, ziemlich früh, besuchte mich der Franzose, mit dem ich gestern das Gespräch führte, das ich Ihnen in dem letzten Briefe mittheilte. Er brachte mir einige von dem jungen Fürsten . . ., dem Sohne seines Gönners, französisch geschriebene Seiten. Diese Schilderung einer nur zu wahren Wegebenheit betrifft eine der zahlreichen Episoden des neuerlichen Vorfalles, welcher alle empfänglichen Gemüther, alle. ernsten Geister im Stillen hier beschäftiget. Kann man sich unbesorgt des Luxus einer prachtvollen Residenz erfreuen, wenn man bedenkt, daß einige hundert Stunden von dem Palaste die Unterthanen einander ermorden und daß dle Gesellschaft sich auflösen müßte ohne die schrecklichen Mittel, die man zu ihrer Vertheidigung anwendet? Der junge Fürst. ., welcher diese Schilderung niederschrieb, ware für immer verloren, wenn man ahnen könnte, daß er der Verfasser sei. Deshalb theilt er mir sein Manuscript mit und trägt mir auf, dasselbe zu veröffentlichen. Er genehmigt die Aufnahme der Anecdote von dem Tode Thele-nefs in den Text meiner Reisebeschreibung, wo ich sie als das gebe, was sie ist, ohne Jemanden zu compromittircn. Sie wild überdies einige Abwechselung ln meine Schilderung bringen. Die Richtigkeit der Hauptsachen hat man mir verbürgt; glauben Sie nun davon so viel oder so wenig als 159 Ihnen beliebt; ich glaube stels, was die Leute sagen, die ich nicht kenne. An Lüge denke ich erst, wenn der Beweis vorliegt. Abgesehen davon, baß die Hauptsache der nachstehenden Erzählung wahr ist, liegt auch ein geheimer Sinn in der Uebereinstimmung zwischen den Ereignissen in der Welt und dcn Ideen, die sie in jedem Menschen hervorrufen; die Verkettung der Umstände, die uns anziehen, das Zusammenwirken von Ereignissen, die uns auffallen, sind die Aeußerung des göttlichen Willens unsern Gedanken und unserm Urtheile gegenüber. Würdiget nicht am Ende Jedermann die Ereignisse und Personen nach den Begebenheiten, die seine eigene Geschichte bilden? Hiervon geht stets der Gedanke des überlegenen oder mittelmäßigen Mannes bei der Beurtheilung aller Dinge aus. Wir sehen die Welt nur in der Perspective und die Anordnung der unserer Beobachtung dargebotenen Gegenstande hängt nicht von uns ab. Von diesem Eingreifen Gottes in unser intellectual's Leben kann sich unser Geist nicht freimachen. Die beste Rechtfertigung unserer Art zu urtheilen, wird also immer darin bestehen, die Prüfungen, welche sie hervorgerufen und motivirt haben, in ihre gebührende Stelle zu sehen. Der große Poet, welcher unscre Geschicke leitet, kennt die Wichtigkeit der Vorbereitungen für den Effect des ilebensdra-mas differ als wir. Eine Neise ist ein, allerdings kunstloses, Drama, das aber, wenn es auch unter den Regeln der literarischen Composition bleibt, nichtsdestoweniger einen philosophischen und moralischen Zweck, eine gewisse kunstlose, aber keineswegs interesse- und nutzlose Entwickelung hat. Diese rein intellectuelle Entwickelung besteht in der Berichtigung einer Menge uon Vorurtheilen und falschm Ansichten. Der Mensch, der reiset, unterwirft sich einer Art moralischer 16« Operation, welche durch die wohlwollende Gerechtigkeit Gottes, die sich in dem Schauspiele der Welt zeigt, an dem Ver-stände des Reisenden vorgenommen wird; der Reisende, welcher seine Reise beschreibt, unterwirft dieser Operation den Leser. Der junge Russe, der Verf. jenes Bruchstückes, welcher durch die Erinnerung an die Grauel unserer Reuolulion die Nohheit der Menschen in seinem Vaterlande rechtfertigen wollte, führte eine Handlung der Grausamkeit aus Frankreich an: die Ermordung des Herrn von Belzunce in Caen. Er hatte sein Verzcichniß leicht ausdehnen können: — Mlle. v. Sombreuil, die gezwungen wurde, ein Glas Blut zu trinken, um das Leben ihres Vaters zu retten; der heldenmüthige Tod des Erzbischofs von Aries und seiner ruhmreichen Mar-tyrerthumsgenossen in dem Earmeliterkloster zu Paris; die Metzelei durch Kartatschenschüsse in Lyon und — ewige Schmach dem Eifer der revolutionairen Henker! — die trügerischen Versprechungen jener Mörder, um die Opfer, welche nach den ersten Schüssen noch lebten, zum Aufstehen zu veranlassen; die Noyaden in Nantes, welche Carrier republikanische Trauungen nannte, und viele andere Schändlichkeiten welche die Geschichtschreiber nicht einmal verzeichnet haben, hatten zu dem Beweise dienen können, daß die menschliche Wildheit auch bei den civilisirtesten Nationen nur schlummert; aber es ist doch ein Unterschied zwischen der methodischen kalten und andauernden Grausamkeit der Muschiks und zwischen dem vorübergehenden Wahnsinne der Franzosen. Diese befanden sich wahrend ihres Krieges gegen Gott und die Menschen nicht mehr in ihrem natürlichen Zustande; der Blut-durst hatte ihren Character verändert und die Inconsequenz der Leidenschaften leitete ihre Handlungen, denn sie waren nie weniger frei als zur Znt, da bei ihnen Alles im Namen der Freiheit geschah. Dagegen werden Sie die Russen sich unter ^161____ einander ermorden sehen, ohne daß sie ihren Character ver-läugnen; sie erfüllen eine Pflicht. Vei einem gehorchenden Volke ist der Einfluß der socialen Institutionen in allen Classen so grosi, beherrscht die unwillkürliche Ausbildung durch die Gewohnheiten die Eharactere dermaßen, daß auch die äußersten Ausschweifungen der Rache bei ihncn noch durch eine gewisse Disciplin geleitet zu werden scheinen. Der berechnete Mord wird hier gleichsam im Tacte vollbracht; Menschen geben andern Menschen den Tod militai-risch, religiös, ohne Zorn, ohne Aufregung, ohne Worte, mit einer Nuhe, die schrecklicher ist als der Wahnsinn dcs Haffes. Sie stoßen an einander, werfen einander um, zermalmen einander, und schreiten über die Leichen dahin, wie Maschinen sich regelmäßig in ihren Angeln drehen. Diese physische Gleichgültigkeit und Ruhe bei den gewaltthatigsten Handlungen, jene monströse Kühnheit im Entwerfen, die Kaltblütigkeit in der Ausführung, die stille Wuth, der stumme Fanatismus sind, wenn man sich so ausdrücken kann, das gewissenhafte Verbrechen; eine gewisse unnatürliche Ordnung leitet in Rußland auch die unerhörtesten Excesse; die Tyrannei und die Empörung schreiten im Tact und richten sich nach einander. Hier gebietet die Erdr selbst und das einförmige'Aussehen der Gegend die Symmetrie; der gänzliche Mangel an Bewegung in dem überall stachen und meist kahlen Boden, der Mangel an Mannigfaltigkeit in der immer armlichen Vegetation der nördlichen Lander, die ganzliche Abwesenheit von malerischem Wechsel in den ewigen Ebenen, in denen ein landschaftliches Vild den Reisenden wie ein böser Traum von einem Ende des Reiches bis zu dem andern verfolgt, kurz Alles, was Gott für dieses Land nicht gelhan hat, trägt zu II. 11 162 der unveränderlichen Gleichförmigkeit des polischen und socialen Lebens der Menschen bei. Da Alles gleich ist, so kann trotz der unermeßlichen Ausdehnung des Gebietes in Rußland, Alles von einem Ende bis zum andern mit zauberartiger Pünktlichkeit und Uebereinstimmung ausgeführt werden. Wenn es je gelänge, eine wirkliche Revolution durch das russische Volk zu Wege zu bringen, so würde die Metzeln so regelmäßig scin wie die Schwenkungen eines Regiments. Die Dörfer würden in Cascrnen verwandelt werden, der ocganisirte Mord würde bewaffnet aus den Hütten heraustreten und in Neil) und Glied, in guter Ordnung vorrücken; die Russen würden sich zur Plünderung vorbereiten von Smolensk bis Irkutsk, wie sie zur Parade auf dem Platze vor dem Winterpalaste in Petersburg aufmarschiren. Aus so großer Gleichförmigkeit zwischen den natürlichen Neigungen des Volkes und seiner socialen Lebensgewohnheit geht eine Uebereinstimmung hervor, deren Wirkungen, im Guten wie im Bösen, wunderbar werden können. Die Zukunft der Welt liegt völlig dunkel vor uns; gewiß aber ist, daß sie einmal seltsame Scenen sieht, welche die russische Nation vor den Völkern aufführen wird. Die Russen stören die Ordnung fast immer aus blinder Ehrfurcht vor der Gewalt. So würden auch die Bauern, wenn man glauben darf, was man einander zuflüstert, ohne die Worte des Kaisers zu ihren Abgeordneten, die Waffen nicht ergriffen haben. Nach dieser Thatsache und nach denen, die ich Ihnen sonst schon angeführt habe, werden Sie ermessen, wie gefährlich es ist, Leuten liberale Meinungen einzuimpfen, die sie so schlecht begreifen. In Bezug auf die politische Freiheit gilt der Ausspruch i je mehr man die Sache liebt, um ,63 so mehr muß man vermeiden, den Namen vor Menschen «uszusprechen, welche eine heilige Sache durch die Art, wie sie dieselbe vertheidigen, nur gefährden können; deshalb ziehe ich auch die unvorsichtige Antwort, welche man dem Kaiser zuschreibt, in Zweifel. Dieser Fürst kennt den Character seines Volkes besser als irgend Jemand, und ich kann nicht glauben, daß er den Aufstand der Bauern hervorgerufen hätte, selbst ohne es zu wollen. Hinzufügen muß ich aber auch, daß mehrere gut unterrichtete Personen hierüber ganz anders denken als ich.! Die Grauel des Aufstandes werden durch den Verfasser Thelenefs mit einer um so gewissenhafter« Treue beschrieben, als die Haupthandlung in der Familie des Erzählers selbst vorkam. Er erlaubte sich, den Character und die Liebe der beiden jungen Leute zu veredeln, weil er eine dichterische Phantasie besitzt; wenn er aber auch die Gefühle verschönerte, so ließ er doch den Menschen ihre nationalen Gewohnheiten, kurz, dieser klune Roman scheint mir weder wegen der Thatsache, noch wegen der Leidenschaften oder Sitten in einem Werke, dessen ganzes Verdienst in der Wahrheit der Schilderungen besteht, am unrechten Orte zu sein. Ich setze hinzu, baß die blutigen Auftritte sich noch jetzt taglich auf verschiedenen Punkten derselben Gegend wiederholen, wo die Ordnung auf eine so entsetzliche Weise gestört und wieder hergestellt wurde. Sie sehen daraus, daß die Russen ganz mit Unrecht den Franzosen die politischen Ruhestörungen vorwerfen und daraus Schlüsse zu Gunsten des Despotismus ziehen. Man gebe Rußland nur vierundzwanzig Stunden Preßfreiheit und Sie werden sich vor dem entsetzen, was man Ihnen erzählen wird. Die Unterdrückung bedarf des Schweigens durchaus. Unier einer absoluten Ne- 11' 164 gierung ist manche Ausplauderung so schlimm als ein Hoch-verrathsverbrechen. Wenn man unter den Russen bessere Diplomaten findet als bei den ciuilisirtesten Nationen, so liegt der Grund darin, daß unsere Zeitungen sie von Allem benachrichtigen, was bei uns vorgeht und im Werke ist, daß wir, statt ihnen klug unsere Schwachen zu verhüllen, sie jeden Morgen leidenschaftlich offenbaren, wahrend im Gegentheile ihre byzantinische Politik im Dunkeln arbeitet und uns sorgfaltig verbirgt, was man bei ihnen denkt, thut und fürchtet. Wir schreiten in hellem Lichte einher, sie schleichen im Dunkel; die Partie ist also nicht gleich. Die Unkcnntmß, in welcher sie uns lassen, blendet uns; unsere Aufrichtigkeit klart sie auf; wir haben die Schwachheit des Plauderns, sie besitzen die Starke des Geheimnisses, und dies allein macht ihre Ge-schicklichkeit aus. Die Geschichte Thelenefs*). Die Ländereicn des Fürsten ... wurden seit mehrern Jahren durch einen Intendanten, Namens Thelenef, verwaltet. Der anderswo beschäftigte Fürst dachte an seine Besitzungen nicht, reis'te, durch ehrgeizige Hoffnungen getauscht, lange, um die Langeweile des in Ungnade gefallenen großen Herrn abzuschütteln, und als er es müde war, in der Kunst ") Ich habe auf Geratewohl die Namen der Ocrter und Personen gewählt, denn ich hatte nur den Zweck, die wirklichen zu verhüllen; ja ich habe die Namen aauz weagclaffcn, wo ich nicht zu fürchten brauchte, der Deutlichkeit zu schaden. 165 und Natur T» ost gegen Irrthümer in der Politik zu suchen, kehrte er in sein Vaterland zurück, um sich dem Hofe von Neuem zu nähern, den er nicht wieder verließ, um wo möglich durch Eifer und Zuvorkommenheit die Gunst des Gebieters zu gewinnen. Während er fruchtlos sein Leben und sein Vermögen erschöpfte, um abwechselnd in Petersburg den Hofmann, und im Süden Europas den Alterthumssreund zu spielen, verlor er die Liebe seiner Bauern, welche durch die üble Behandlung erbittert wurden, die sie von Thelencf erfuhren. Dieser Mann herrschte unbeschrankt auf den weitläufigen Besitzungen ;u Wologda"), wo er sich durch die Art, wie er die Herrengewalt ausübte, allgemein verhaßt machte. Thelenef besaß aber «ine reizende Tochter, Seme""). Die Sansmuth dieses Madchens war eine angeborne Tugend, denn da sie ihre Mutter frühzeitig verloren hatte, so erhielt sie keine andere Erziehung als die, welche ihr Vater ihr geben konnte. Er unterrichtete sie in der französischen Sprache und so lernte sie einige classische Schriften aus dem Zeitalter Ludwigs XVl., welche der Vater des Fürsten in dem Schlosse Wologda zurückgelassen hatte, fast auswendig. Die französische Bibel, Telemach, Pascals .,,"'«5»>.>5" waren ihre Lieblingsbücher. Wenn man wenige Schriftsteller lies't, eine gute Wahl trifft, und das Gelesene oft wiederholt, hat man großm Gewinn von dem Lesen. Eine Ursache der Frivolität der modernen Geister ist die große Menge von Büchern, die noch schlechter gelesen werden, als sie geschrieben sind und mit denen die Welt überschwemmt wird. Man würde den nachkommenden Generationen einen Dienst erweisen, wenn ') Ein erdichteter Name für den wirklichen. "') Dieser schöne Name ist der einer russischen Heiligen. 166 man sie gut lesen lehrte, ein Talent, das immer seltener wird, seit Jedermann schreiben kann. tenie galt für eine Gelehrte und erfreute sich schon in ihrem neunzehnten Jahre in dem ganzen Gouvernement... eines verdienten Anschens. Man kam aus allen benachbarten Dörfern herbei, um sich bei ihr Raths zu erholen; Tenie war die Führerin und Stütze der armen Bauern in deren Krankheiten, Geschäften und Schmerzen. Ihr versöhnlicher Sinn zog ihr oft den Tadel ihres Vaters zu, aber die Ueberzeugung, etwas Gutes gethan oder etwas Schlimmes verhindert zu haben, entschädigte sie für Alles. In einem Lande, wo die Frauen im Allgemeinen so wenig Einfluß haben"), übte sie eine Macht aus, die ihr kein Mensch in dem Bezirke hatte streitig machen können, die Macht des Verstandes übcr ungebildete Menschen. Selbst ihr Vater fühlte, so ungestüm und heftig er auch seiner Natur und Gewohnheit nach war, den Einfluß dieses wohlthuenden Gemüthes; er erröthete oft, wenn er sich in seinen Zornausbrücken durch die Vesorgniß zurückgehalten sah, seiner Henie weh zu thun, und er klagte sich an, zu gutmüthig zu sein, wie ein tyrannischer Fürst sich seine Milde vorhalten würde. Er rechnete sich sein heftiges Aufbrausen, das er Gerechtigkeit nannte, als Tugend an, aber die Leibeigenen des Fürsten . . . gaben ihm einen ganz andern Namen. Vater und Tochter bewohnten das Schloß Wologda, das in einer unermeßlichen Ebene liegt, welche jedoch ein für Nußland ziemlich hirtenartiges Ausfthen hat. Das Schloß ist am Ufer eines Sees gebaut, der es von °) Bekanntlich Icbten vor dem achtzehnten Jahrhundert die russischen Frauen wie im Kloster. 167 drei Seiten umgiebt. Dieser See mit flachen Ufern steht mit der Wolga durch Canäle in Verbindung, die nicht lang und in mehrere Arme getheilt sind. Diese geschlangclten Bäche fließen langsam in der Ebene hin, und das Auge folgt, wenn es auch die verborgenen Krümmungen nicht sehen kann, ihrem Laufe wegen der ärmlichen Weiden und der verkrüppelten Gebüsche, die an den tiefen Canälen wachsen, welche die Wicse weder verschönern noch befruchten, denn das Waffer, das aus denselben sich verläuft, verbessert den sumpfigen Voden nicht. Das Gebäude hat etwas Großartiges in seinem Aussehen. Von den Fenstern des Schlosses aus überblickt das Auge auf der einen Seite den See, der an das Meer erinnert, denn die stachen Sandufer verschwinden früh und Abmds in den Nebeln des Horizonts, auf der andern weite von Graben durchschnittene und mit Weidengebüsch bedeckte Wiescnflächen. Das nicht abgemähte Gras bildet den Hauptreichthum der Gegend, und die Abwartung des Viehes, das frei umherstreift, die einzige Beschäftigung der Bauern. Zahlreiche Heerden weiden am Ufer des Sees von Wo-logda. Diese Thiergruppen allein, der einzige Schmuck der Landschaft, ziehen die Blicke in der stachen kalten Gegend an, wo der verschwimmende Horizont, der ewig graue und neblige Himmel die Eintönigkeit der Ferne weder durch Linien noch durch Farben unterbricht. Die kleinen schwächlichen Thiere empfinden die Strenge des Climas, aber trotz ihrer Winzigkeit schmückt doch der Glanz ihres Felles die hohen Damme in dem Sommer ein wenig. Auf diesem Farbenwechsel ruht das Auge von den torfartigen Tinten der Wiese aus, auf welcher mehr Schilf als Gras wächst. Solche Landschaften haben ohne Zweifel nichts Schönes, sie sind aber still, imposant, großartig und in ihrer tiefen Nuhe ^____ gebricht es ihnen weder an Majestät noch an Poesie; es ist der Ozean ohne Sonne. Eines Morgens war Tenie zu gleicher Zeit mit ihrem Vater ausgegangen, um ihm bei dem Zahlen des Viehes bei-zustehen, was er jeden Tag vornahm. Die malerisch in bestimmten Entfernungen vor dem Schlosse aufgestellten Thiere belebten das Ufer und glänzten im Grase bei dem Aufgange der Sonne, während das Glöckchen einer benachbarten Kapelle einige wegen ihrer Gebrechen unbeschäftigten Frauen und einige Greise, welche die Nuhe des Alters mit Ergebung genossen, zum Morgengebete rief. Der Adel dieser Kopse mit weißem Haar und die noch frische Farbe dieser Gesichter mit Silberbarren zeugen von der Gesundheit der Lust und von der Schönheit der Menschenrace unter dem talten Himmelsstriche. Man darf nicht die jungen Gesichter fragen, ob in einem Lande der Mensch schön ist. „Siehe, Vater," sagte tenie, indem sie über den Damm schritt, welcher die Halbinsel des Schlosses mit der Ebene verband, „sieh, die Fahne flattert auf dem Hauschen meines Milchbruders." Die russischen Bauern entfernen sich oft mit Erlaubniß, um ihre Kräfte und ihre Geschicklichkeit in den benachbarten Städten, selbst in Petersburg zu benutzen; sie zahlen dann dem Herrn eine Abgabe, und was sie darüber verdienen, ist ihr Eigenthum. Kommt einer dieser reisenden Leibeigenen zu seiner Frau zurück, so erhebt sich aus seinem Hauschen eine Fichte wie ein Mastbaum, und oben auf dem Wipfel des Heimkehrbaumes wcht und glänzt ein Fahnchen, damit auf dieses Zeichen der Fröhlichkeit die Bewohner des Dorfes und der benachbarten Dörfer sich mit der Frau freuen. Nach diesem alten Herkommen war auf dem Hauschen 169 die Fahne aufgepflanzt. Die alte Elisabeth, die Mutter Fedors, war die Amme toniens gewesen. „Dein Taugenichts von Milchbruocr ist also dlese Nacht zurückgekommen l" bemerkte Thelenef. „Ich freue mich sehr darüber," entgegnete Xenie. „Wir haben nun einen Taugenichts mehr in der Gegend," setzte Thclencf hinzu; „es fehlt uns schon jetzt nicht daran." Das meist melancholische Gesicht des Intendanten nahm einen finsterern Character an. „Es wäre leicht, ihn gut zu machen," entgegnete Xenie; „aber Du willst Deine Macht nicht brauchen." „Du hinderst mich daran, Du verdirbst das Herrschen mit Deinem sanftmüthigen Wesen und Deinem falschen Klugheitsrathe. So wurden die Leibeigenen des Vaters unsers Hcrrn von meinem Vater und Großvater nicht behandelt," „Bedenkst Du nicht," entgegnete Xenie mit bebender Stimme, „daß die Kindheit Fedoro eine glücklichere war als die der gewöhnlichen Bauern? Wie sollte cr nun sein wie die Andern? Er erhielt eine so gute Erziehung wie ich." „lZr sollte besser sein als die 'Andern und ist schlimmer, — das war die schöne Frucht oer Erziehung. Eö ist Dttne Schuld; Du und Deine Amme, Ihr brachtet ihn immer in das Schloß, und da ich in meiner Gutherzigkeit Dir immer gefällig sein wollte, so vergaß ich und ließ ihn vergessen, daß er nicht dazu geboren ist, mit uns zu leben." „Du hast ihn in der Folge grausam daran erinnert!" antwortete Hmie seufzend. „Du trägst Dich mit Ideen herum, die gar nicht russisch sind, und früher oder später wirst Du zu Deinem Schaden erfahren, wie man unsere Bauern behandeln muß." Dann murmelte cr zwischen den Zahnen: „Was hat der 170 verfluchte Febor gethan, daß er trotz meinen Briefen an den Fürsten zurückkommt? ... Der Fürst lies't sie aber nicht, und der Intendant da unten ist neidisch auf mich." tcnie hatte die leiser gesprochenen Worte Theleness gehört und war besorgt dem wachsenden Zorne ihres Vaters gefolgt, dem cin unbändiger Leibeigener selbst in seinem Hause zu trotzen wagte. Sie glaubte ihn zu besänftigen, indem sie die verstandigen Worte an ihn richtete: „Warum hast Du vor zwei Jahren meinen Milchbruder fast todt prügeln lassen? Und was erlangtest Du durch Deine Grausamkeit? Nichts; kein Wort der Entschuldigung kam über seine Lippen; er hätte lieber den Geist unter den Ruthen aufgegeben, ehe er sich vor Dir beugte. Das kam daher daß die Strafe zu hart für das Vergehen war; ein Schuldiger, der sich empört fühlt, bereut nie. Er war Dir ungehorsam gewesen, ich gebe es zu, aber er liebte Katharinen, und Du wolltest nicht einsehen, daß die Veranlassung zu der Schuld die Größe derselben mindert. Seit jenem Auftritte, seit der Heirath und seiner Abreise ist der Haß aller unserer Bauern so schrecklich geworden, daß ich Deinetwegen fürchte, Vater." „Und Du freust Dich der Rückkehr eines der furchtbarsten meiner Feinde?" fragte Thelenef erzürnt. „Ach, ihn fürchte ich nicht; wir haben dieselbe Milch getrunken; eher würde er sterben, als mir wehthun." „Hat er es nicht schon bewiesen? Er würde zuerst über mich herfallen und mich ermorden, wenn er es wagte." „Du beurtheilst ihn nicht recht; im Gegentheil, Fedor würbe Dich gewiß gegen Alle vertheidigen, obgleich Du ihn tödtlich beleidigt hast ... Jetzt ist er verhurathet und hat ein Kind; dies Glück muß seinen Character mildern; die Kinder ändern das Herz der Väter." 171 „Schweig; ich könnte die Geduld bei Deinen romanhaften Ideen verlieren. Suche in Deinen Büchern zanfüh-lenoe Bauern und edle Sclaven. Ich kenne die Leute, mit denen ich es zu thun habe, besser als Du; sie sind faul und rachsüchtig wie ihre Väter, und Du wirst sie nicht bekehren." „Wenn Du mich handeln ließest, wenn Du mir beistandest, würden wir sie wohl bekehren. Aber da kommt meine gute Elisabeth aus der Messe." A'nie siel bei diesen Worten ihrer alten Amme um den Hals. „Nun bist Du recht glücklich!" „Vielleicht," antwortete die Alte ganz leise. „Er ist zurückgekommen." „Nicht für lange Zeit; ich fürchte ..." „Was meinst Du?" „Sie haben Alle den Verstand verloren, aber still! still!" „Nun, Mutter Pacom," fiel Thelenef cin, indem er die Alte von der Seite ansah, „Du hast also Deinen Taugenichts von Sohn wieder? Seine Frau wirb zufrieden sein. Diese Rückkehr beweiset Euck Allen, daß ich nichts gegen ihn habe." „Desto besser, Herr Intendant; wir bedürfen Ihres Schutzes. Der Fürst wird kommen, und wir kennen ihn nicht." „Wie? Welcher Fürst? Unser Herr?" Dann unterbrach er sich und setzte verwundert hinzu, um nicht mcrken zu lassen, daß er nicht wisse, was eine Bauerfrau zu wissen schien: „Ja, ohne Zweifel, werde ich Euch schützen. Uebri-gens wird er so bald nicht kommen. Es verbreitet sich alle Jahr um diese Zeit ein solches Gerücht." ____172____ „Verzeihen Sie. Herr Thelenef, er wirb sehr bald hier sein." Der Intendant hätte gern die Amme 3eniens ausge-fragt, aber er mochte seiner Würde nichts vergeben, tcnie errieth seine Verlegenheit und kam ihm zu Hülfe. „Sage mir, Amme, woher kennst Du die Pläne und die Reise unseres Herrn Fürsten so genau?" „Ich bade es von Fedor erfahren. Ach, mein Sohn weiß noch viele andere Dinge. Er ist ein Mann geworden. Er ist einundzwanzig Jahr alt, gerade ein Jahr älter als Sie, meine schöne Mamsell, groß, und wenn ich es wagte, würde ich sagen, so schön! Er sieht Ihnen ahnlich." „Schweig, Schwätzerin! Warum sollte meine Tochter Deinem Sohne ähnlich sehen?" ,,Sie haben beide von derselben Milch getrunken, und — aber min, wenn Sie nicht mehr unser Vorsteher sind, werde ich Ihnen sagen, was ich von Ihrem Character denke." „Wenn ich nicht mehr Euer Vorsteher sein werde?" ,/I", ja. Mein Sohn hat den Vater gesehen." „Den Kaiser?" „Ja, und der Kaiser laßt uns sagen, wir würden frei werden; er will es so, und wenn es nur von ihm abhinge, wäre es schon geschehen." (Geschichtlich.) Thelencf zuckte die Achseln und fuhr sodann fort: „Wie konnte Feoor mit dem Kaiser sprechen?" „Wie? Er schloß sich unsern Leuten an, die von hier und aus allen Dörfern ringsum abgeschickt wurden, um unsern Vater zu bitten ..." Die Alte brach hier plötzlich ab. „Um ihn um was zu bitten?" Die Alte, die etwas spat bemerkte, daß sie ausplaudere, schwieg nun hartnäckig, wie eifrig auch der Intendant mir 173 Fragen in sie drang. Dieses plötzliche Schweigen hatte etwas Ungewöhnliches und konnte bedeutungsvoll erscheinen. „Was habt Ihr vor gegen uns?" rief Thelcnef wüthend, indem er die Alte an beiden Achseln faßte. „Das ist leicht zu errathen," sagte Heme, die vortrat, um il)n>n Vater und ihre Amme zu trennen. „Du weißt ja, daß der Kaiser im vorigen Frühjahre die Besitzung .. . gekaust hat. Seitdem träumen die Bauern von nichts als von dem Glücke, der Krone anzugehören. Sie beneiden ihre Nachbarn, deren Zustand, wie sie glauben, sich um Vieles gebessert hat, wahrend er sonst dem ihrigen gleich war. Mehrere der geachtetsten Greise haben Dich unter verschiedenen Vorwanden um die Erlaubniß ersucht, eine Reise machen zu dürfen; nachdem sie sich entfernt hatten, erfuhr ich, daß sie von den andern Leibeigenen als Abgeordnete gewählt worden warcn, um den Kaiser zu bitten, sie auch zu kaufen, wie ihre Nachbarn. Verschiedene Bezirke der Umgegend schloffen sich den Abgeordneten von Wologda an, um Sr. Majestät ein ähnliches Bittgesuch zu übergeben. Man versichert sogar, sie hatten ihm das ganze Geld angeboten, das zur Eckaufung der Besitzung des Fürsten nöthig stin würde, Menschen und Grund und Boden," „Das ist wahr," sagte die Alte, „und mein Sohn Fe« dor, der sic in St. Petcrsburg sah, schloß sich ihnen an, um mit unserm Vater zu sprechen; sie sind gestern zusammen wieder angekommen." „Ich habe Dir von diesen Bestrebungen nichts erzahlt," fuhr tenie mit einem Blicke auf ihren höchlich verwunderten Vater fort, „weil ich im Voraus wußte, daß sie nichts erreichen würden." „Du irrst Dich; sie haben den Vater gesehen." 174 „Der Vater selbst kann nicht thun, was sie verlangen; er müßte denn ganz Rußland kaufen." „Da seht," entgegnete Thelenef, „die Spitzbuben sind so reich, daß sie dem Kaiser solche Geschrnke anbieten können, und bei uns spielen sie die Bettler und schämen sich nicht zu sagen, wir nähmen ihnen Alles ab, während wir, doch, wenn wir klüger und weniger gutmüthig waren, sogar den Strick nehmen sollten, mit dem sie uns erwürgen werden." „Dazu wirb es Ihnen an Zeit fehlen, Herr Intendant," sagte cine sehr leise und sehr sanfte Stimme eines jungen Mannes, der naher gekommen war, ohne daß man ihn bemerkt hatte, und der blöde, aber nicht furchtsam, die Mütze in der Hand, vor einem Weidengebüsche stand, aus dem man ihn plötzlich heraustreten sah. „Ach, Du bist es, Taugenichts!" rief Thelmef aus. „Fedor, und zu Deiner Milchschwester sagst Du gar nichts?" siel Uenie ein; „Du hattest doch versprochen, mich nicht zu vergessen!! Ich habe mein Wort besser gehalten als'Du; denn ich habe Deinen Namen nicht einm einzigen Tag in dem Gebete dort in der Kapelle vor dem Bilde des heiligen Wladimir vergessen, das mich an Deine Abreise erinnerte. Denkst Du noch daran? In dieser Kapelle sagtest Du mir vor beinahe einem Jahre Lebewohl." Sie warf nach diesen Worten ihrem Bruder einen Blick voll Liebe und Vorwurf zu, dessen Sanftmuth und Strenge eine große Gewalt hatten. „Ich Sie vergessen!" rief der junge Mann ans, indem er die Augen gen Himmcl aufschlug. Xenie schwieg, betroffen von diesem Blicke; denn er hatte etwas Beunruhigendes, was grell von der sanften Stimme, von den Worten und Geberden des jungen Mannes abstach. 575 Xenie war cine jener nordischen Schönheiten, wie man sie in keinem andern Lande findet; sie schien kaum der Erde anzugehören. Die Reinheit ihrer Zügc, welche an Raphael erinnert, hatte vielleicht wie Kalte ausgesehen, wenn nicht ihr Gesicht, das noch keine Leidenschaft trübt", durch den Ausdruck des innigsten Zartgefühls ein anderes Aussehen erhalten hatte. Obwohl sie zwanzig Jahre zählte, so wußte sie doch noch nicht, was das Herz bewegt. Sie war groß und schlank; ihr Wuchs besaß eine eigenthümliche Grazie, obwohl ihre gewöhnlich langsame Bewegung die Gefügigkeit verbarg. Wenn man sie über das bethauete Gras hingleiten sah, hätte man sie mit dem letzten Strahle des Mondenlichtes vergleichen können, der auf dem unbeweglichen See vor der Morgenröthe flieht. Ihr schmachtendes Wesen hatte cillen Rei;, der nur den Frauen ihrer Heimath angehört, die mehr schön als hübsch sind, aber auch vollkommen schön, wenn sie es einmal sind, was unter den niedern Klaffen selten ist; denn in Rußland giebt es auch in der Schönheit Aristocratic. Die Bäuerinnen sind im Allgemeinen von der Natur »reuiger bedacht worden wie die vor-ncbmen Damen. Tenie war schön wie eine Königin und frisch wie ein Landmadchen. Ihr Haar war auf d^ hohen elfenbeinweißen Stirn gescheitelt; ihre blauen Augen mit den langcn schwarzen umgebogenen Lidern, welche einen Schatten auf die frischen, aber kaum gefärbten Wangen warfen, waren durchsichtig wie eine klare Quelle; die vollkommen gezeichneten, aber wenig vorstehenden Brauen hatten eine dunklere Farbe als das Haar; der ziemlich große Mund ließ Zahne von blendender Neiße sehen, die rothen Lippen glänzn von dem Lichte' der Unschuld; ihr fast rundes Gesicht besaß dennoch viel Adel und drückte ein Zartgefühl und eine fromme Schwärmerei 176 aus, deren Reiz sogleich auf Jedermann Eindruck machte. Es fehlte ihr nur ein silberner Heiligenschein, um die schönste der byzantinischen Madonnen zu sein, mit denen man die russischen Kirchen ausschmücken läßt °). Ihr Milchbrudcr war riner der schönsten Manner des durch die Schönheit, den schlanken hohen Wuchs, die Gesundheit und Gewandtheit seiner Bewohner berühmten Gouvernements. Die Leibeigenen dieses Theiles deS Reichs sind ohne Zweifel die am wenigsten zu beklagenden Menschen in Rußland. Der zierliche Anzug der Bauern staud ihm vortrefflich. Sein blondes wchlgescheiteltes Haar siel in reichen Locken an beiden Seiten des Gesichtes herab, das ein vollkommenes Oual bildete-, der starke kraftige Hals war unbedeckt und das Haar hinten über dem Nacken glatt abgeschoren, wahrend eine diademahnliche Schnur die weiße Stirn des jungen Mannes theilte und das Haar vorn fest und glatt auf dem Scheitel hielt, der wie ein Christus Guido's in der Sonne glänzte. Er trug das am Halse eng geschnittene und nur an der Seite wenig geschlitzte farbige Hemd mit schmalen Streifen; zwei Knöpfe zwischen der Achsel und dem Schlüsselbeine hielten diese Oeffnung zusammen, die gerade nur so groß ist, daß der Kopf durchgesteckt werden kann. Diese Kleidung der russischen Bauern, die an die griechische Tunica erinnert, fällt außen über die Beinkleider, welche bis an das Knie bedeckt werden. DieS würde der französischen Blouse etwas gleichen, wenn es nicht ungemein graziöser wäre, sowohl ') Der Bildercultus ist bis z>, einem gewissen Punkte in der griechischen Kirche noch immer verboten, 'vo die wahren Gläubigen nur Bilder in einem herkömmlichen Style mit gewissen goldenen und silbernen Zierarten in Relief dulden. 177 wegen der Art, wie dieses Kleidungsstück geschnitten ist, als auch wegen dcs Geschmacks, mit dem man es unwillkürlich trägt. Fedor war schlank und zierlich gewachsen; sein Kopf rultte aus den breittn niedrigen Schultern, die nach denen einer antiken Statue geformt zu sein schienen; der junge Mann trug ihn aber fast immer gesenkt. Aus seinen Zügen sprach ein «iefer Seelenschmerz. Mit einem griechischen Profil, blauen klaren Augen, die »on Jugend und Geist blitzten, mit einem spöttischen Munde, über welchem ein kleiner goldbrauner seidenweicher Schnurrbart glänzte, mit einem jugendlichen kurzen, lockigen, dichten Kinnbarte, endlich mit der Muskelkraft des Athleten und der Gewandtheit des spa-Nischen Matadors, mit der blühenden Frische deS Nordländers, d. h. mit allen äußern Gaben, die einem Menschen Stolz und Selbstvertrauen geben, stand Fedor doch fast immer in der Stellung eines Verurtheilten b^, welcher sein Urtcl anhören soll, weil er eine höhere Erziehung erhalten hatte, als dem Range, den er in seinem Vande einnahm, sonst zukam, und weil er durch dieselbe und vielleicht durch einen natürlichen Instinct erkannt hatte, wie grell sein Zu« stand von seiner persönlichen Würde absteche. Er hatte diese schmerzliche Stellung im neunzehnten Jahre angenommen, cm dem Tage, als er die Strafe erlitten, die ihm The^nef zuerkannte, weil der junge Mann, der Milchbruder seiner Tochter und bis dahin ein verbogener Liebling, einem ich weiß nicht welchem sogenannten wichtigen Befehle nicht gehorcht hatte. Man wird weiter unten den wahren und triftigen Beweggrund zu dieser Barbarei erkennen, welche keineswegs die Wirkung blos einer Laune war. Xenie hatte die Ursache des Vergehens, das ihrem Bruder verderblich wurde, zu errathen geglaubt; sie bildete II. 12 178 sich ein, Fedor liebe Katharina, ein junges schönes Bauer-madchen in der Nähe. Sobald der Unglückliche von seinen Wunden genesen war, was erst nach einigen Wochen geschah, beschäftigte sie sich ernstlich damit, das Ucdel, so weit es von ihr abhängen konnte, wieder gut zu machen» sie glaubte, das einzige Mittel, dies zu bewirkn, bestehe darin, daß sie ihm das junge Madchen, in das er ihrer Meinung nach verliebt war, zur Frau gäbe. Kaum hatte Seme diesen Plan ihrem Vater mitgetheilt, als der Haß desselben nachzulassen schien, und die Heirath wurde in aller Schnelligkeit zur großen Freude Teniens vollzogen, welche glaubte, Fedor würde über dem Glücke des Herzens den tiefen Gram und seine Rache vergessen. Sie irrte sich; ihrm Bruder vermochte nichts zu trösten. Sie allein erritth die Scham, die ihn zu Boden drückte; sie war seine Vertraute, ohne daß er ihr etwas mit? theilte; denn er klagte nie, und übrigens war die Behandlung, deren Opfer er geworden, etwas so Gewöhnliches, daß Niemand eine große Wichtigkeit darauf legtc; außer ihm und tenien dachte Niemand daran. Mit bewundernsivürdigcm Instincie vermied er AlleS, was an seine Leioen hatte erinnern können; aber er floh auch unwillkürlich und schandernd, wenn er sah, daß einer seiner Gefährten geschlagen werden sollte, und er erbleichte bei dem Anblicke eines Rohrs, eines Stockes in der Hand eines Mannes. Es nniß wiederholt werden: er hatte sein Leben auf eine zu lxqueme Weise begonnen; durch den Intendanten begünstigt und deshalb von allen seinen Obern geschont, von allen seinen Kameraden beneidet, überall der Glücklichste, wie der Schönste auf der Besitzung des Fürsten... genannt, von seiner Mutter vergöttert, in seinen eigenen Augen durch 179 die Freundschaft Hem'ens geadelt, hatte er auf'seine grauenvolle Lage nicht vorbereitet werden können. An einem Tage trat ihm plötzlich sein ganzes Elend vor die Seele. Er hielt min seinen Zustand für einen ungerechten; denn er w.ir in den Augen der Menschen, vorzüglich in seinen eigenen, erniedriget, aus dem glücklichsten Sterblichen in einem Augenblicke der Beklagenswertheste, aus einem Gotte ein Vieh geworden. Wer sollte ihn trösten über das Glück, das er unter den Streichen des Zuchtmeisters verloren halte? Konnte die Liebe einer Frau diese stolze Sclavenseele wieder aufrichten? Nein, sein verschwundenes Glück mußte ihn überall und immer verfolgen und ihm die Schande nur um so unerträglicher machen. Seine Schwester tenie hatte ihm das Glück zu sichern geglaubt, indem sie ihn verheirathcte; er hatte gehorcht, aber diese Nachgiebigkeit erhöhete nur sein Unglück; denn der Mensch, der sick an die Tugend ketten will, indem er mehr und mehr Pflichten übernimmt, öffnet sich nur immer mehr Quellen der Reue. Fedor fühlte in seiner Verzweiflung zu spat, daß Xcnie bei aller ihrer Freundschaft nichts für ihn gethan hatte, und da er das Leben an dem Orte, der Zeuge seiner Erniedrigung gewesen war, nicht langer ertragen konnte, so verließ er sein Dorf, seine Frau und seinen Schutzengel. Seine Frau fühlte sich gedemüthiget, aber aus einem andern Grunde, die G^tiin erröthet vor Scham, wenn ihr Gatte nicht glücklich ist; deshalb hatte sie ihm auch nicht gesagt, daß sie schwanger sei, sie wollte dieses Mittel nicht anwenden und bei sich einen Mann nicht zurückhalten, den sie, wie sie wohl einsah, nicht glücklich machen konnte. Nach einer Abwesenheit von einem Jahre ram er zu-rück. Er fand seine Mutter, seine Frau und ein Kind in der Wiege, einen kleinen Engel, der ihm glich, aber nichts 180 vermochte die Traurigkeit zu bannen, die an ihm nagte. Er saß und stand unbeweglich und schweigend da, selbst vor seiner Schwester Xenie, die er jetzt nur Mademoiselle zu nennen wagte. Die cdeln Züge der beiden jungen Leute hatten, wie die Amme meinte, eine gewisse Aehnlichreit mit einander, wie ihre Character. Man hatte sie auf der Weide, unter den Viehgruppen, für Adam und Eva, von Alb. Dürer gemalt, halten können. Henie war ruhig, fast heiter, wahrend aus den Zügen des jungen Mannes heftige Seelenleiden sprachen, die er unter der erzwungenen Gleichgültigkeit kaum zu bergen vermochte. Trotz ihrem sichern weiblichen Instincte tauschte sich Seme über d^s Schweigen Fedors; sie schrieb den Kummer ihres Bruders nur peinlichen Erinnerungen zu und glaubte, der Anblick der Orte, wo er gelitten, erhöhe seinen Schmerz; sie rechnete noch immer darauf, daß die Liebe und Freundschaft seine Wunden vollends heilen würden. Als sic ihren Bruder verließ, versprach sie, ihn häufig in dem Hauschen ihrer Amme zu besuchen. Der letzte Blick Fedors erschreckte jedoch das junge Madchen; es lag in diesem Blicke mehr als Traurigkeit, — eine gewisse wilde Freude. Sie fürchtete, er würde wahnsinnig werben. Der Wahnsinn hatte ihr immer ein besonderes Grauen eingeflößt, und sie schrieb dieses Gefühl einer Ahnung zu; ihr Aberglaube erhökete deshalb ihre Btsorgniß. Die Furcht wird unbezwinglich, wenn man sie für eine Prophezeiung hält; aus einem unklaren flüchtigen Gefühle wird die Stimme des Schicksals; die Phantasie schafft endlich, was sie fürchtet. Es waren einige Tage vergangen, in denen Thelenef häufig abwesend gewesen, tenie, die sicl' ganz der Trauer 151 über die scheinbar unheilbare Melancholie Febors überließ, hatte nur ihre Amme gesehen und nur an ihren Bruder gedacht. Eines Abends befand sie sich im Schlosse; ihr Vater war am Morgen ausgegangen und hatte sagen lassen, man möge Abends nicht auf ihn warten, tenie, die an diese Reisen gewöhnt war, ängstigte sich über die Abwesenheit Thelenefs nicht. Die Alisdehnung der Besitzungen, welche cr verwaltete, nöthigte ihn hausig zu solchen oft lange dauernden Reisen. Sie las. Plötzlich erschien ihre Amme bei ihr. „Was willst Du so spat?" sagte tenie zu ihr. „Trinken Sie Ihren Thee bei uns, er ist schon fertig," entgegnete die Amme in gleichgültigem Tone "). „Ich bin es nicht gewöhnt, so spat auszugehen." „Heute müssen Sie ausgehen, kommen Sie; fürchten Sie bei mir etwas i" Seme, welche die Schweigsamkeit der Russen kannte, glaubte, ihre Amme habe ihr irgend eine Ueberraschung vorbereitet. Sie stand also auf und folgte der Alten. Das Dorf war still und öde. Anfangs glaubte tenir, cs schlafe bereits Alles; die Nacht war nicht sehr dunkel; kein Windhauch bewegte die Weiden in dem Sumpfe oder das hohe Gras auf der Wiese; kein Wölkchen verschleierte die blassen Sterne. Man hörte weder das Bellen eines Hundes, noch das Blöken eines Schafes; die Stute wie- ') Auch die ärmsten Russen haben eine Theekanne und einen Kcsscl von Kupfer; sie trinken früh und Abends Thec in der Familie, in Hutttn, deren Wände und Drckm Tannenhölzer sind, welche an den Enden in einander gefügt werden. Dim schlecht vcrbundcnm Baumstämme werdm mit Moos und Pech kalfatert, und man sieht daraus, daß die Plumpheit der Wohnunq gnll von d"' Eleganz des Getränks absticht, das man in derselben genießt- 182 berte nicht mchr; der Stier hatte aufgehört in dem warmcn Stalle zu brüllen; der Hirt sang sein trauriges Lied nicht mchr; eine tiesere Stille als gewöhnlich in der Nacht, herrschte in der Ebene und lastete auf der Brust Seniens, welcher zu grauen begann, ohne daß sie cine Frage zu thun wagte. „Ist der Engcl des Todes über Wologda hin geschwebt4" dachte'das zitternde junge Madchen. Plötzlich zeigte sich ein heller Schein am Horizonte.» „Woher diese Helle?" fragte tenie erschrocken. „Ich weiß es nicht," cntgegnete die Alte; „es sind vielleicht die letzten Strahlen der Sonne." „Nein," erwiederte tcnie, „es brmnt ein Dorf." „Ein Schloß," sprach die alte Elisabeth in hohlem Tone; „die Reihe ist an die Herren gekommen." „Was willst Du damit sagen?" fragte tenie, indem sie erschrocken den Arm ihrer Amme ergriff; „gehen die schrecklichen Prophezeiungen meines Vaters in Erfüllung?" „Wir müssen schnell gehen, denn ich habe Sie weiter zu führen als in unser Häuschen," antwortete Elisabeth. „Wohin willst Du mich führen?" „An einen sichern Ort ... Sie können in Wologda nicht bleiben." „Was ist aus meinem Vater geworden? Ich habe nichts zu fürchten; wo ist mein Vater?" „Er ist gerettet." „Gerettet! Aus welcher Gefahr? Durch wen? Was weißt Du? Ach, Du beruhigest mich nur, um mit mir zu machm, was Du willst.'" „Nein, ich schwöre es Ihnen bei dem Lichte des heiligen Gcistcs, mein Sohn bat ihn versteckt und zwar Ihretwegen, mit Gefahr seines eigenen Lebens; denn in dieser Nacht müffm alle Verrather sterben." ^ 183 „Fedor hat meinen Vater gerettet! Welcher Edelmuth!" „Ich bin nicht edclmüthig, Mademoiselle," sprach der jlinge Mann, indem cr hinzutrat, um die ohnmachtig werdende tenie in seinen Armen aufzufangen. Fedor hatte seine Mutter bis an das Thor des Schlosses begleiten »vollen, in das er nicht hineinzugehen gewagt. E>.' hatte sich außcn an der Brücke in einiger Entfernung versteckt und war dann von Weitem den beiden Frauen gefolgt, um die Flucht tenicns zu sichern, ohne sich sehen zu lassen. Die Ohnmacht, welche seine Schwester befiel, nöthigte ihn hervorzutreten, um ihr beizustehen. 3enie fand indeß bald die Kraft, welche die Gefahr in starken Seelen weckt. ,,Es bereiten sich große Ereignisse vor; erkläre mir dieses Geheimniß, Fedor, was giebt es?" „Die Russen werden frei und üben Rache; aber folgen Sie mir schnell," antwortete er. „Sie üben Rache? an wem i Ach, ich habe Niemandem Leids gethan." „Sie sind ein Engel ..., aber ich fürchte, daß man in dem ersten Augenblicke Niemanden verschont. Die Unsinnigen! Sie sehen in ihren ehemaligen Herren und in dem ganzen Geschlechte derselben nur Feinde; die Stunde des Blutvergießens ist gekommen; lassen Sie uns fliehen... Sie hören die Sturmglocke nicht i — es ist verboten, die Glocken zu lauten, weil unsere Fcindc dadurch gewarnt werden könnten; übrigens tönen sie nicht weit. Mai, ist übereingekommen, daß der leyte Schein der Abendsonne das Signal zum Niederbrennen der Schlösse und zur Nieder-metzelung aller Bewohner derselben sein solle." „Ich schaudere." Fedor nöthigte das Mädchen schneller zu gehen und erwiederte dabei: .ick sollte mit den Jüngsten und Muthigsien ,84 cuif die Stadt ... marschiren, wo die Unserigen die Gar: nison überfallen wollen, die nur aus einigen Veteranen be: sieht. Wir sind die Stärksten, und ich glaubte, man würde mich bei dem ersten Unternehmen entbehren können; ich handelte also wissentlich gegen meine Pflicht, verrieth die heilige Sache, verließ die a/weihete Schaar, um dahin zu eilen, wo ich Ihren Vatcr zu finden glaubte. Er wurde noch zu rechter Zeit durch mich gewarnt und hat sich in einem Häuschen auf einem Kron^ute versteckt. Jetzt zittere ich, daß es zu spät sein könnte, Sie zu retten," setzte er hinzu, wahrend er sie nach dem Asyl hindrängte, das er für sie ausgewählt hatte, „In der Hoffnung, Ihren Vater zu retten, verlor ich eine für Sie kostbare Zeit; ich glaubte, Ihnen zu gehorchen, und hoffte, Sie würden mich wegen dieser Verzögerung nicht tadeln. Uebrigens sind Sie von der Gefahr weniger bedroht als Thelenef, und ich hoffe, Sie noch retten zu können." „Ja, aber Du, Du bist verloren," sagte die Mutter in schmerzlichem Tone, den das Schweigen, das sie sich auferlegt hatte, noch herzzerreißender machte. „Verloren!" unterbrach sie Henie; „mein Bruder ist meinetwegen verloren?" „Hat er nicht die Stunde des Kampfes versäumt?" ent-gegnete die Alte; „er ist schuldig; man wird ihn umbringen/' ,/Ich habe den Tod verdient." „Und ich wäre die Ursache Deines Unglücks?" rief Xenie aus; „nein, nein, fliehe, verbirg Dich mit mir." „Nie." Wahrend die Fliehenden schnell dahinschritten, nahm die leuchtende Helle der Feucrsbrunst still zu und verbreitete sich von dcm Rande des Horizontes an, wo man sie anfanglich bemerkt hatte, bereits in den Himmel hinein-, kein Schrei, kein Flintenschuß, kein Glockengeläute verrieth die Annäherung 185 der Unordnung; es war ein stummes Morden. Die Ruhe einer schönen Nacht, welche so viele Mordthaten begünstigte, die Verschwörung, dle doppelt furchtbar war, wegen des Geheimnisses, in welchem sie angezettelt worden "), und wegen der Art von Mitschuld der Natur, welche oi'e Vorbereitungen zu der Metzelei gern zu begünstigen schien, erfüllten die Seele mit Grauen. Es war wie ein Gottesurtheil. Die Vorsehung ließ die Menschen handeln, um sie zu strafen. „Du wirst Deine Schwester nicht verlassen," fuhr tenie schaudernd fort. „Nein, Mademoiselle, aber wenn ich Ihretwegen unbesorgt sein kann, werde ich mich selbst ausliefern." „Ich gehe mit Dir," fuhr das Madchen fort, indem sie ihm krampfhaft den Arm drückte; „ich lasse Dich nicht. Glaubst Du, das Leben sei mir Alles?" In diesem Augenblicke sahen die Fliehenden im Sternenscheine eine Neihe schweigender schrecklicher Schatten hinziehen. Sie kamen höchstens hundert Schritte von Zenien vorüber, Fedor blieb stehen. „Was ist das?" fragte das Madchen leise. „Schweigen Sie," entgegnete Fedor noch leiser, indem er sich an eine Bretterwand drückte, die sie durch ihren dunkeln Schatten schützte. Als die letzte Gestalt vorüber war, setzte er hinzu- „Es ist eine Abtheilung unserer Leute, welche das Schloß des Grafen ... überrumpeln wollen. Wir sind hier in Gefahr uno müssen rasch weiter." „Wohin führst Du mich?" Zuerst zu einem Bruder meiner Mutter, vm Werst von Wologda; der alte Oheim ist kindisch und unschuldig ') Historisch. 186 und wirb uns nicht verrathen. Dort wechseln wic rasch die Kleidung, denn in der, welche Sie tragen, würde man Sie erkennen; hier ist ein anderer Anzug; meine Mutter bleibt bei ihrem Bruder, und Sie hoffe ich vor Ende der Nacht in das Versteck Thelenefs gebracht zu haben. In unserm unglücklichen Bezirke ist kein Ort sicher, der erwähnte noch am besten geschützt." „Du willst mich meinem Vater zurückgeben, ich danke Dir; aber sind wir dort...?" fragte das Madchen ängstlich. „So nehme ich Abschied." „Nie." „Nein, nein, Henie hat Recht, Du wirst bei ihnen bleiben," sagte die arme Mutter. „Thelcncf würde mir es nicht erlauben," entgegnete der junge Mann bitter. Xenie fühlte, daß es nicht die rechte Zeit zur Antwort sei. Die drei Flüchtigen sehten also ihren Weg schweigend und ohne Unfall fort bis an die Thüre des Hauschens des alten Bauern. Sie war nicht verschlossen, und sie traten ein, indem sie vorsichtig eine Klinke niederdrückten. Der Alte schlief, in sein schwarzes Schaffell gewickelt, auf der Vank, die sich an der Wand hinzog. Ueber seinem Kopfe brannte eine kleine Lampe vor ciner griechischen Mutter Gottes. Ein kleiner Kessel mit heißem Wasser, eine Theekanne und einige Tassen standen auf dem Tische. Wenige Augenblicke vor der Ankunft dor Mutter Pacom und Fedors hatte die Frau des i?chtem das Häuschen ihres Oheims verlasse«, um sich mit ihrem Kinde zu ihrem Vaser zu flüchten. Fedor schien weder überrascht noch besorgt deshalb zu sein; cr hatte ihr nicht aufgetragen, auf ihn zu warten, und wünschte, der Aufenthalt Xeniens mochte Jedermann unbekannt sein. 18? Nachdem man an der Lampe der Mutter Gottes eine andere angezündet hatte, führte er seine Mittler und Milchschwester in sin kleines fast offenes Gemach über dem Hauseingange. Alle russischen Häuser sind gleich gebaut. Dann setzte sich Fedor allein aus der ersten Stufe der kleinen Treppe nieder, auf welcher seine Schwester hinaufgegangen war, empfahl ihr nochmals, sich zu beeilen, stützte die beiden Ellenbogen auf die Knie und neigte sein Haupt nachdenkend auf die Hände. Xenie hatte uon dem kleinen Gemache aus Alles hören können, wenn in der niedrigen Stube unten etwas gesprochen worden wäre. Jetzt antwortete sie, sie würde ihren Bruder nicht lange warten lassen. Kaum hatte sie das Packet Kleidungsstücke aufgebunden, als Fedor besorgt aufstand und leise pfiff, um seine Mutter zu rufen. „Was willst Du?" fragte diese leise. „Löscht Eure Lampe aus, ich höre Schritte/' entgegnete der junge Mann noch leiser. „Löscht Eure Lampe aus, das Licht schimmert durch die Ritzen. Vor allen Dingen rührt Euch nicht." Das Licht oben wurde ausgelöscht, und Alles war still. Es vergingen einige Augenblicke in tödtlicher Angst, da wurde eine Thüre geöffnet. Aenie athmete kaum. Ein Mann, mit Schweiß und Blut bedeckt, trat herein. „Du bist es, Gevatter Basil/' sagte Fedor, indem er dem Andern entgegentrat, „kommst Du allein?" „Nein; eine Anzahl der Unserigen erwartet mich an der Thüre ... Kein i/icht?" „Ich will Dir Licht geben," entgegnete Fedor, indem er die kleine Treppe hinaufging und sogleich wieder herunterkam, um an der Lampe der Mutter Gottes die anzuzünden, die er aus den zitternden Handen seiner Mutter geholt 188 halte. Er hatte die Thür nur halb Öffner, cm welcher die beiden Frauen lehnen, um bcsser zu hören, was gcsprochm wurde. „Willst Du Thee, Glatter?" „Ja." „Da." Der Neuangekommene trank in kleinen Zügen die Tasse aus, welche Fedor ihm reichte. Der Mann trug ein Commandozcichen auf der Brust, war wie die andern Bauern gekleidet und hatte eincn bloßen blutigen Degen in der Hand. Ecin dicker rother Bart gab ihm ein rauhes Anschcn, das durch seinen Blick keineswegs gcmildcrt wurde. Dieser Blick, der auf keinem Gegenstände ruhen kann, findet sich bei den Nüssen sehr häufig, ausgenommen bei denen, welche durch die Sclaverei gänzlich vmhiert sind. Diese haben Augen, aber keine Blicke. Er war nicht hoch von Gestalt, hatte einen kräftigen Körper, eine Stumpfnase, eine gewölbte, aber niedrige Stirn und sehr vorstehende rothe Backenknochen, was von bermäßigem Vranntweingcnusse zeugt. Den Mund hielt er meist zusammengepreßt; öffnete er ihn, so sah man weiße, spitze, weitabstehcnde Zähne. Der Mund glich dem eines Panthers; der buschige verworrene Bart schien von Schaum besteckt zu sein. An den Händen erblickte man Blut. „Woher hast Du den Degen?" fragte Fedor. „Ich habe ihn einem Offizier entrissen, den ich dann mit seiner eigenen Waffe niederschlug. Wir sind Sieger; die Etadt... ist unser. Wir haben uns eine Güte gethan und reine Wirthschaft gemacht. Alles, was sich uns nicht anschließen und mit uns plündern wollte, wurde niedergemacht: Frauen, Kinder, Greise, Alles! Einige wurden in dem Kessel de^ Veteranen auf dem Marktplätze gekocht. (Historisch.) Wir wärmten uns an dem Feuer, über dem unsere Feinde kochten. Es war prächtig!" Fedor antwortete nicht. „Du sagst nichts?" „Ich denke." „Und was denkst Du?" „Ich denke, daß wir ein gewagtes Spiel spielen. Die Stadt war nicht vertheidiget; fünfzehnhundert Einwohner und fünfzig Veteranen sind von 2UW Bauern, die unversehens über sie herfallen, bald kampfunfähig gemacht. Aber nicht weit dauon stehen starke Truppenmafsen; man hat sich übereilt! wir werden erdrückt werden." „Was da! Was da! Und die Gerechtigkeit Gottes und dcr Wille des Kaisers? Weißt Du übrigens nicht, daß wir nicht mehr zurückkönnen? Nach dem, was geschehen ist, müfscn wir siegen oder sterben. Höre mich also an, ohne das Gesicht länger abzuwenden. Wir haben Alles mit Feuer und Schwerdt verwüstet; horst Du? Von Verzeihung kann da nicht die Nede sein. Die Stadt ist todt; es sieht drinnen aus, als hätte man sich acht Tage da geschlagen ... Ja, wenn wir anfangen, geht es rasch vorwärts. Du scheinst Dich übrigens unseres Sieges nicht eben zu freuen." „Es gefallt mir nicht, daß man Weiber ermordet." „Das schlechte Blut muß miteincm Male vertilgtwerden." Fedor schwieg, Basil aber fuhr in seiner Rede fort, die er nur durch einige Schlucke Thee unterbrochen hatte: „Du siehst sehr verdrießlich aus." Fedor schwieg. „Deine thörichte Liebe zu der Tochter ThelenefS, unseres Todfeindes, hat Dich unglücklich gemacht." „Ich meine Milchschwester lieben i Wohin denkst Du? Ich bin ihr Freund, allerdings, aber..." 190 „Eine schöne Freundschaft das! Mach' das Andern weiß." Fedor stand auf und wollte ihm die Hand auf den Mund legen. „Was willst du? Thust Du doch, als könnte Jemand uns hören!" fuhr Basil fort. Fedor blieb überrascht stehen, wahrend der Bauer fortfuhr : „Ich laffe mich von Dir nicht hinter das Licht führen, ihr Vater war auch so gescheidt als ich, sonst hatte er Dich nicht prügeln lassen. Du weißt es ja..." Fedor wollte ihn noch einmal unterbrechen. „Willst Du mich wohl reden lassen? Ja oder nein? Du hast cs eben so wenig Vergessen als ich, daß er Dich eines Tages auspeitschen ließ. Er that das nicht zur Strafe für ein Vergehen, das er ersonnen hatte, sondern wegen Deiner geheimen Liebe zu seiner Tochter. Er nahm den ersten besten Vorwand, um seine Gedanken zu verbergen und wollte dich aus der Gegend fortbringen, ehe das Uebel zu bös geworden." Fedor ging in der äußersten Aufregung in der Stube auf und ab, ohne ein Wort zu sagen. In seiner ohnmachtigen Wuth biß er sich in die Hände. „Du erinnerst mich an einen traurigen Tag, der aber . . wir wollen von etwas Anderm reden." „Ich rede von dem, was mir gefallt-, willst Du mir nicht antworten, so laßt Du es bleiben; ich kann auch allein reden, aber daß Du mich unterbrichst, dulde ich nicht. Ich bln alter als Du, der Pathe Deines neugebornm Kindes, Dein Hauptmann . . siehst Du das Zeichen auf meiner Brust dai Das beutet meinen Rang in unserem Heere an und ich habe somit ein Recht zu reden. Sprichst Du ein 191 Wort, so ruft ich meine Leute, die draußen bivouakircn; ich brauche nur zu pfeifen und sie umstellen das Haus, das brennen wird wie eine Kienfackel.." Febor setzte sich scheinbar sorglos nieder. „So ist es Recht," murmelte Basil zwischen den Zähnen. — Ich erinnere Dich an etwas Unangenehmes, nicht wahr? Freilich, — weil Du es zu bald vergessen hast/ mein Sohn." Mit stärkerer Stimme setzte er dann hinzu: „ich will Dir Deine eigene Geschichte erzählen und Du sollst sehen, baß ich in Deinen Gedanken zu lesen vermag . ." Basil unterbrach sich nochmals, öffnete den Laden und sprach heimlich mit einem Manne, der sofort mit fünf bewaffneten Bauern erschien, welche man im Schatten erkannte. Fedor hatte nach seinem Dolche gegriffen und steckte ihn in den Gürtel. Das Leben teniens stand auf dem Spiele; bei der geringsten Unvorsichtigkeit konnte das Haus in Brand gesteckt werden und mit Allem verbrennen, was es enthielt... Er hielt an sich; wünschte er doch seine Schwester wieder zu sehen. Wer kann aber Geheimnisse und Räthsel der Liebe enthüllen? Das Geheimniß seines Lebens war Xenien offenbart worden ohne seine Schuld und er empfand in diesem schrecklichen Augenblicke eine unsägliche Freude! Das höchste Glück ist zwar von kurzer Dauer, aber lebt es nicht ewig in der Erinnerung fort! — Doch diese gewaltigen Illusionen des Herzens werden stets den Menschen unbekannt bleiben, die nicht lieben können... Die wahre Liebe ist der Zeit nicht unterworfen und kann durch den kalten menschlichen Verstand nicht berechnet werden. Nach kurzer Pause fuhr Basil fort und beendigte die stille Seligkeit Fcdors. „Warum hast Du Deine Frau geheirathet, da du sie nicht liebtest? Du hast Dich da verrechnet." ___^92 . Die Frage erregte von Neuem einen gewaltigen Sturm in der Seele des jungen Mannes. Wenn er sagle, er liebe seine Frau, so verlor er Alles, was er ebcn gewonnen hatte. „Ich glaubte sie zu lieben," antworttte er; „man sagte mir, ich müßte heirathen; wußte ich, was mir im Herzen lag? Ich wollte der Tochter Thelenefs gefallig ftin, gehorchte ohne Ueberlegung; so sind wir es ja gewöhnt." „Du behauptest, nicht gewußt zu haben, was Du wolltest. Nun, ich will Dir es sagen . . Du wolltest Dich wieder mit Thel.nef aussöhne . ." „Du kennst mich schlecht." „Ich kenne Dich besser, als Du vielleicht Dich selbst kennst-, Du meintest: man braucht ftine Tyrannen immer, und gabst nach, um dic Verzeihung Thelenefs zu erhalten. Wir würden es an Deiner Stelle Alle so gemacht haben, aber das tadle ich, daß Du mich hintergehen willst, da ich doch Alles durchschaute. Es gab kein anderes Mittel, die Gunst des Vaters wieder zu gewinnen, als ihn über die Folgen Deiner Liebe zu seiner Tochter zu beruhigen, und deshalb heirachctest Du, ohne an den Kummer Deiner armen Frau zu denken, die Du zu ewigem Unglück verurtheiltest, und dic Du sogar verließest, als sie Dir'einen Sohn zu gtben hoffte." „Ich wußte das nicht, als ich sie verließ; sie hatte mir ihren Zustand verborgen. Ich versichere noch einmal, daß ich ohne Plan handelte. Ich war gewöhnt, mich durch den Rath meiner Milchschwester leiten zu lassen. Sie ist so klug!" „Ja, es ist Schade . ." „Wie so i" „Ich sage, es ist Schade; es wird ein Verlust für das Land sein. 193 „Ihr könntet..." „Wir können sie umbringen wie die Andern. . Hältst Du uns für so einfältig, daß wir das Blut Thelenefs, unseres Todfeindes, nicht bis auf den letzten Tropfen vergießen sollten?" „tenie hat aber nur Gutes gethan." „Sie ist seine Tochter und das reicht hin . . wir schicken den Vater in die Hölle und die Tochter in das Paradies . . das ist der ganze Unterschied")." „Ihr werdet eine solche Abscheulichkeit begehen?" „Wer soll uns daran hindern?" „Ich." „Du, Fedori Du, Verrather? Du, unser Gefangner? Du, der Du die Schaar Deiner Leute im Augenblicke des ") Vor wenigen Jahren, bci dem berüchtigten Aufstande der Micitaircolonic bei Nowogorod, fünfzig Stunden von Petersburg, entschlossen sich die Soldaten, welche durch die kleinlichen Placke: reien eines ihrcs Chefs erbittert waren, die Ofsiciere und denn Familien zu ermorden; sie hatttn Allm, ohne Ausnahmc, den Tod geschworen und hielten Wort, indem sie sowohl die tödtcten, welche sie licbten, als die, welche sie haßten. Sie umzingelten die Wohnung eines dieser Unglücklichen, drangen hinein, ermordeten seine Frau und stine Töchter vor seinen Augen und ergriffen dann auch ihn. „Ihr hobt mir Alles genommen," sagte er zu ihnen, „laßt mir das Leben. Warum wollt Ihr mich töd-ten, da Ihr Euch doch nicht über mich zu beklagen habt." — „Das ist freilich wahr," entgegneten die Henker so sanft und freundlich als möglich; ,,Du bist ein braver Mann, wir haben Dich Alle geliebt und wir lieben Dich noch, aber dir Andern haben sterben müssen, wir können kcine Ungerechtigkeit begehen und Dich leben lassen. Lebe wohl, guter Vater!" und sie erschlugen ihn wie die Andern, um nicht unbillig zu sein. Anm. des Reisenden. U. 13 194 Kampfes verlassen hast, um. . ." Er konnte nicht weiter sprechen. Fcdor schickte sich seit einigen Augenblicken z« dem letzten Mittel, den Mann niederzustoßen, an. Jetzt stürzte er sich auf ihn wie cin Tiger, zielce richtig und stieß ihm den Dolch in das Herz. Gleichzeitig erstickte er einen schwachen Schrei, den einzigen, mit einem Mantel, der ihm in die Hand fiel . . D.is letzte Röcheln des Sterbenden erschreckte Fedor nicht-, es war zu schwach, als daß es draußen gehört werden konnte. Dann beruhigte er seine Mutter mit wenigen Worten und wollte ihr eben die Lampe zurückgeben, damit Lenic sich zur Flucht vorbereiten könnte, aber in diesem Augenblicke ging er vor dem schlummernden Greise vorbei, der erschrocken auffuhr. „Wer bist Du, junger Mann?" redete er seinen Neffen an, den er nicht erkannte und dessen Arm er mit aller Kraft faßte. „Welcher Dunst! Blut!" Dann sah er sich in der Stube um und rief aus: ,,eine Leiche." Fedor hatte die Lampe ausgelöscht, aber die vor der Mutter Gottes brannte noch. „Mörder! Mörder! Zu Hilfe! Zu Hilfe!" rief der Alte mit Donnerstimme. Fedor konnte dieses Hilfeschreien nicht unterdrücken; vergebens versuchte er Alles, was in seiner Kraft stand. . . Gott schützte ihn nicht. Die Schaar Basils draußen hörte das Geschrei des Alten und ehe Fedor sich aus den kraftigen Handen des armen Blödsinnigen frei machen konnte, oes-sen Leben er aus Ehrfurcht schonte, stürzten sechs Mann mit Stricken, Heugabeln, Pfählen und Sensen herein. In einem Augenblicke war Fedor ergriffen, entwaffnet und geknebelt. Man schaffte ihn fort. „Wohin bringt Ihr mich?" fragte er. „In das Schloß Wologda, um Dich dort mit The- 195 lenef zu verbrennen... Du siehst, daß Dein Verrath ihn nicht gerettet hat." Diese Worte sprach der Atlteste der Schaar. Fedor antwortete nicht und jener fuhr fort! „Du battest nicht vermuthe, daß unser Sieg so bald errungen'und so vollständig sein würde. Unser Heer verbreitet sich überall hin wie ein Ausfluß der göttlichen Gerechtigkeit; Niemand wird uns entgehen, unsere Feinde haben sich in der eigenen Schlinge gefangen. Gott ist mit uns; man traute Dir nicht und beobachtete Dich; Thelenef ist in dem Versteck ergriffen worden, in das Du ihn geführt hattest. Ihr werdet mit einander sterben; das Schloß brennt schon." Fedor konnte kein Wort entgegnen, ließ den Kopf sinken und folgte seinen Henkern. Er glaubte so tenien zu retten, wenn er sich so schnell als möglich von dem Hauschen entferne. Sechs Männer trua/n vor ihm die Leiche Basils; sechs andere begleiteten sie mit Fackeln, die Ucbriqen folgten, ohne ein Wort zu sprechen. Der düstere Zug bewegte sich schweigend durch das von Brand erleuchtete ?and. Jeden Augenblick schien sich der Horizont zu verengen: ein Feuerkceis begrenzte die Ebene. Wologda brannte, die Stadt . . brannte, alle Schlösser, alle Vorwerke des Fürsten . . brannten nebst mehreren Dörfern in der Umgegend; selbst die Walder brannten. Die Flammen beleuchteten die ganze Gegend; der Schatten war aus der Einöde verbannt; es gab kein Asyl mehr gegen diesen Lichtstrom, der sich nach allen Seiten ausbreitete; daS Entsetzen hatte den höchsten Gipfel erreicht; die Nacht war entwichen und doch die Sonne nicht aufgegangen. Der Zug, der Fedor begleitete, wurde von allen Marodeurs verstärkt, die in der Gegend umherzogen und gelangte endlich auf den Schloßplatz. 13' 196 Ach, welches Schauspiel erwartete da den Gefangenen. Das ganz aus Holz erbaute Schloß Wologda war ein ungeheuerer Scheiterhaufen geworden und die Flammen desselben leckten bis zu dem Himmel hinauf. Die Bauern, welche diefe alte Herrcnwohnung umzingelt hatten, bevor sie Feuer daran legten, glaubten Xmien in der Wohnung ihres Vaters mitverbrannt zu haben. Eine dichtgedrängte Neihe von Booten vervollständigte auf dem Wasser die Einschließung des Schlosses. In der Mitte des Halbmondes, den das Heer der Empörer vor dem Schlosse bildete, war der unglückliche Thelenef, den man aus seinem Versteck geholt und mit Gewalt daher gebracht hatte, an einen Pfahl gebunden. Von allen Seiten strömten die Sieger zu diesem Schauspiele herbei. Die Echaar, welche die lebenden Opfer begleitete, bildete einen Kreis um ihre Beute und entfaltete im Scheine der Flammen ihre empörenden Banner. Welche Fahne! — Die blutigen Ueberreste der ersten Opfer, die auf Säbeln und Piken getragen wurden. Man sah da Frauenköpfe mit langem Haar, Körperstücke auf Heugabeln, verstümmelte Kinder, . . . wid'erliche Gestalten, welche der Hölle entronnen zu sein schicnen, um den Bacchanalien der letzten Erdenbewohner beizuwohnen. Dieser sogenannte Frciheitssieg war eine Scene des Weltendes. Die Flammen und Töne, welche aus dem Schlosse hervorbrachen, dem Herde der Feucrsbrunst, glichen dem Ausbruche eines Vulkans. Die Rache der Völker ist wie die Lava, welche lange in der Tiefe der Erde kocht, bevor sie am Bergesgipfel ausbricht. Verworrenes Gemurmel lief durch die Menge, aber man unterschied keine Stimme, außer etwa die des Opfers, an dessen Flüchen und Verwünschungen die Henker sich weideten. Diese 197 Unmenschen waren meist Leute uon auffallender Schönheit; alle sahen edel und mild aus und glichen so bösen Engeln, Dämonen mit Engelsgesichtern. Nur in der Schönheit glich Fedor seinen Verfolgern. Alle Russm aus reinem slawischen Stamme haben eine Familienähnlichkeit, und selbst wenn sie sich unter einander morden, sieht man, daß sie Brüder sind; ein Umstand, der die Metzelei noch grauenvoller macht. — Das kann aus dem Naturmenschen werden, wcnn cr sich den Leidenschaften überlaßt, die eine trügerische Civilisation hervorrief. Aber dann ist er kein Naturmensch mehr, sondern ein durch stiefmutterliche Gesellschaft verderbter Mensch. Der Naturmensch existirt nur in Büchern und ist ein Thema für philosophische Declamation, ein Ideal-Typus, nach welchem die Philosophen argumentiren, wie die Mathematiker bei gewissen Berechnungen nach angenommenen Größen operiren, die sie d^nin fallen lassen, um zu einem positiven Resultate zu gelangen. Die Natur ist für den ursprünglichen Menschen wie für den ausgearteten irgend eine Gesellschaft, und die ciuilisitteste bleibt, was man auch sagen mag, noch immer die Beste. Der Kreis öffnete sich einen Augenblick, um Fedor mit seinen schrecklichen Begleitern hindurch zu lassen. The-lencf stand so, daß er anfangs seinen jugendlichen Befreier nicht bemerken konnte. Seine Strafe sollte eben beginnen, als ein Gemurmel des Entsetzens durch die Menge lief. „Ein Gespenst! Ein Gespenst! Sie ist es!" rief man von allen Seiten. Der Kreis theilte sich uon Neuem und zerstreute sich; die hintern flohen vor einer gespenstigen Gestalt. — Die Grausamkeit geht gern Hand in Hand mit dem Aberglauben. Einige Kühnere hielten indeß die Fliehenden auf. 198 „Kommt zurück!" riefen sie ibnen zu. „Sie ist es selbst, «s ist Xcnle; sie ist nicht todt." „Haltet ein! haltet ein!" rief jetzt eine weibliche Stimme, deren herzzerreißender Ton in allen Herzen wieber: hallte, besonders in dem Herzen Fetors. „Laßt mich durch; ich will sie sehen! Es ist mein Vater und mein Beuder! — Ihr werdet mich nicht hindern, mit ihnen zu sterben." Nach diesen Worten stürzte tenie mit aufgelösetem Haar halb todt zu den Füßen Fedors nieder. Der Unglückliche fühlte vor Entsetzen seine eigenen Bande nicht. Wir kürzen die Details dieses grauenvollen Auftritts ab. Er währte lange, aber wir beschreiben ihn nur mit wenigen Worten, doch beschreiben wir ihn, denn wir sind in Rußland. Im Voraus bitten wir um Nachsicht für das noch Folgende. tenie hatte sich in dem Hauschen, in welchem wir sie verließen, anfangs bereden lassen zu schweigen, um die Gefahr nicht zu steigern, welcher Fedor ausgesetzt war, der ge< wiß jede Rücksicht aufgegeben, wenn er sie in den Handen der Mörder gesehen hätte; auch ihre Amme fürchtete sie zu gefährden. Als sie aber mit dieser allein war, entfloh das Mädchen, um das Schicksal ihres Vaters zu theilen. Die Strafe Thelcncfs begann, und welche Strafe, Gott! Um dem Unglücklichen den Tod entsetzlicher zu machen, stellte man zuerst Fedor und Henien vor ihn, die in geringer Entfernung auf einer schnell aufgebauten Erhöhung gefesselt saßen, dann schnitt man ihm einzeln und nach einander die Hände und die Füße ab. Als der verstümmelte Numpf sich verblutet hatte, ließ man ihn sterben, wahrend man den Kopf mit seinen eigenen Handen schlug und in den Mund einen der abgeschnittenen Füße stopfte. Die Menschen aus der Vorstadt von (5acn, welche auf der Brücke von Vaurelles das Herz des Herrn von Velzunce 199 verzehrten, waren Muster der Menschlichkeit gegen die ruhigen Zuschauer bei dem Tode ThelenefS. Und das geschah Vor wenigen Monaten, einige Tagereisen von einer stolzen Stadt, nach welcher jetzt ganz Europa strömt, um den schönsten Festen in der Welt beizuwohnen, Festen, die so prachtvoll sind, daß das Land, welches sie giebt, für das cimlisirteste der Erde gehalten werden könnte, wenn man nur Paläste sehen wollte. Vollenden wir unsere Aufgabe. Als der Vater ausgelitten hatte, wollte man auch die Tochter morden. Einer der Henker trat herbei, um tenien an dem Haar zu fassen, das um ihre Schullern hing; aber sie war kalt und steif. Wahrend und seit der Ermordung ihres Vatero halte sie sich nicht bewegt, hatte sie tcin Worr gesprochen. Fedor fand jetzt plötzlich seine ganze Kraft und Geistesgegenwart wicder; er zerriß wunderbarer Weis? seine Fesseln, machte sich von den Handen seiner Henker frei, stürzte zu seiner geliebten Schwester hin, schloß sie in seine Arme, hob sie rmpor und drückte sie lange an sein Herz. Dinn legte er sie nieder in das Gras und sprach ruhig, mit der Ruhe, welche den Orientalen selbst in den tragischesten Augenblicken ihres Lebens natürlich zu sein scheint, zu den Henkern: „Rührt sie nicht an; Oott hat die Hand auf sie gelegt, — sie ist wahnsinnig/ „Wahnsinnig!" wiederholte die abergläubische Menge; „Gott ist mit ihrl" „Er, der Verrather, ihr Liebhaber hat ihr gerathm, die Wahnsinnige zu spielen! Nein, nein, alle Feinde Gottes und der Menschen müssen sterben!" riefen die Erbittertsten; „übrigens bindet uns unser Schwur; thun wir unsere Pflicht; der Vater will es und wird uns belohnen." „Kommt heran, wenn Ihr es wagt!" entgegnete Fedor 200 im Wahnsinne der Verzweiflung; „sie hat sich in meine Arme schließen lassen, ohne sich zu sträuben. Ihr seht dar-aus, daß sie wahnsinnig ist. Aber sie spricht, hörll" Man trat herzu und horte die Worte: „Mich also liebte cr." Fedor, dcr allein den Sinn dieser Worte verstand, sank auf seine Knie und dankte Gott mit Thränen in den Augen. Die Henker entfernten sich von 3enim mit unwillkürlicher Ehrfurcht. „Sie ist wahnsinnig!" wiederholten sie leise. Von diesem Tage an ist keine Minute vergangen, in welcher sie nicht wiederholt hatte: „mich also liebte er." Mehrere zweifeln, wenn sie das Mädchen sehen, daß sie wirklich wahnsinnig sei; man glaubt, die Liebe Fedors, die ihr gegen seinen Willen enthüllt worden, habe in dem Herzen seiner Milschwester die leidenschaftliche und unschuldige Zärtlichkeit wieder geweckt, welche das unglückliche junge Mädchen lange schon unbewußt hegte, und ihr Herz gebrochen. Keine Ermahnung hat sie bisher zu hindern vermocht, jene Worte zu wiederholen, die wie mechanisch und fortwährend aus ihrem Munde hervorgehen: „mich also liebte cr." Alle ihre Gedanken, ihr ganzes Leben concentrirte sich auf das unwillkürliche Gestandniß der Liebe Fedors und die Organe des Geistes gehorchen gleichsam wie im Traume dem Ueberreste des Willens, der ihnen gebietet, immer und immer das geheimnißvolle und heilige Wort zu wiederholen, welches ihrem Leben gnügt. Fedor fand seinen Tod nach Thelenef nicht, nicht weil die Henker ermüdet, sondern weil die Zuschauer übersättigt waren; dcnn der unthatige Mensch wird des Verbrechens schneller müde, als der welcher es wirklich begeht. Die von Blut gesättigte Menge verlangte, daß man die Hinrichtung des 201 jungen Mannes bis zur nächsten Nacht verschiebe. In der Zwischenzeit kamen von mehreren Seiten bedeutende Truppenmassen herbei. Schon am nächsten Morgen war der ganze Kreis, in welchem der Ausstand ausgeblochen war, umzingelt; die Dörfer wurdm decimirt; die Schuldigsten, die man nicht zum Tode, sondern zu hundert und zwanzig Knutenhieben verurteilte, kamen dabei um das Leben; die übrigen depor-rirle man nach Sibirien. Die Bewohner der Umgegend von Wologda sind indeß noch immer nicht zur Ordnung zurückgekehrt! jeden Tag sieht man Bauern aus verschiedenen Kreisen, die in Massen verbannt werden, zu Hunderten nach Sibirien abführen. Die Herren dieser verödeten Dörfer verarmen dabei, denn bei solchen Besitzungen sind die Menschen der Reichthum der Herren. Die reichen Besitzungen des Fürsten ... sind verödet. Fedor war gezwungen, mit seiner Mutter und seiner Frau den Bewohnern seines verödeten Dorfes zu folgen. Bei dem Aufbluche der Verbannten war tenie zugegen, aber ohne Abschied zu nehmen, denn dieses neue Unglück gab ihr den Verstand nicht wieder. In diesem schrecklichen Augenblicke erhöhete ein unerwartetes Ereigniß den Schmerz Fedocs und seiner Familie auf grausame Weise. Schon befanden sich seine Frau und seine Mutter auf dem Wagen; er wollte selbst aus denselben steigen, um ihnen zu folgen und Wologda auf immer zu verlassen; aber er sah Anien nicht und er litt nur wegen seiner venvaiseten wahnsinnigen Schwester, die er auf der noch warmen Asche ihres Geburtsortes verlassen sollte. Jetzt, da sie uns braucht, dachte er, werden nur Fremde ihre Beschützer sein, und die Verzweifwng verstopfte die Quelle seiner Thränen. Ein gräßlicher Schrei auf dem Wagen rief ihn jetzt zu seiner Frau, die er in Ohnmacht daliegen sah; einer der 202 Soldatm der Bedeckung hatte das Kind Fedors weggenommen. „Was willst Du thun?" fragte der Vater im bittersten Schmerz. „Das Kind hierher an den Weg legen, damit man es begrabe; siehst Du nicht, daß es root ist?" antwortete der Kosak. „Ich will es mit mir nehmen." „Das darfst Du nicht." In diesem Augenblicke ergriffen andere Soldaten, welche dllrch den Lärm herbeigezogen worden waren, Fedor, welcher der Uebermacht nachgab, in dumpfes Hinbnttcn versank, dann weinte und bat: „es ist nicht todt; es ist nur ohnmächtig, laßt mich mein Kind küssen. Ich verspreche Euch," setzte er schluchzend hinzu, „das Kind zurück zu lassen, wenn sein Hcrz nicht mehr schlagt. Ihr habt vielleicht auch ein Kind, Ihr habt einen Vater; erbarmt Euch meiner," sagte dcr Unglückliche, von so großem Schmerze übermannt. Der gerührte Kosak gab ihm das Kind zurück; kaum aber hatte der Vater den eiskalten Körper berührt, als sein Haar sich sträubte; er blickte sich um, seine Augen begegneten dem begeisterten Blicke Xeniens. Weder das Unglück, noch die Ungerechtigkeit, noch der Tod, noch der Wahnsinn, nichts auf der Welt hinderte diese beiden für einander geborenen Herzen, einander zu verstehen und zu errathen. Der junge Mann winkte tenien; die Soldaten rcspectir-tm die arme Wahnsinnige, welche vortrat und den Leichnam des Kindeö aus den Handen deZ Vaters empfing,— Alles ohne ein Wort ;u sprechen. Die Tochter Thcleness nahm ihren Schleier ab, um ihn Febor zu geben, dann drückte sie die kleine Leiche an ihr Herz. Mit dieser Last blieb sie unbeweglich stehen, bis sie ihren geliebten Vrudcr zwischen einer 203 weinenden Mutter und einer sterbenden Gattin sich für immer aus dem Dorfe entfernen sah, in dcm sie geboren wurden. Lange blickte sie dem Zuge der deportirten Muschiks nach und keinen Character haben; sein Einfluß, den die unüberlegte Bewunderung der Nachwelt noch immer fortwirken laßt, hindert sie noch heute, in den Künsten und Wissenschaften einen Mann hervorzubringen, der bei den auswärtigen Völkern Epoche zu machen verdient. Ein Gesetzgeber wie Confucius konnte nicht nach eimm Nesormawr wie der Zimmermann von Saardam und der launenhafte Reisende folgen, dessen Barbarei Europa mit Schrecken ge-sehen hatte, wenn es auch die wunderbare Kraft unter der rauhen Hülle bewunderte. Dieser gekrönte Missionair bezwang einen Augenblick die Natur, weil er es vermochte, aber dies war auch Alles, was er vermochte. Was würde er gethan haben, wenn ez, im Leben gewesen ware, was er durch den Aberglauben der Völker und die Uebertreibung der Schriftsteller in der Geschichte geworden ist? Er hätte gewartet und durch diese Geduld seinen Namen als großer Mann verdient; aber er wollte ihn im Voraus erhalten und bei Lebzeiten heilig gesprochen sein. Alle seine Ideen mit den Characterfehlern, deren Folgen sie waren, wurden unter den nachfolgenden Regierungen noch übertrieben; erst der Kaiser NicolauS fängt an, den Strom zurückzuleiten und die Russen zu Russen zu machen. Dieses Unternehmen wird die Wclt bewundern, sobald sie die Festigkeit des Gastes erkannt hat, der es entwarf. Nach Regie, rungen wie die Katharinas und Pauls aus Rußland, wie es der Kaiser Alexander zurückgelassen hatte, wieder ein russisches Reich zu machen, russisch zu sprechen, russisch zudenken, zu gestehen, daß man im Herzen russisch ist, wahrend man den Vorsitz an einem Hofe von großen Herren, von Erben der Günstlinge der nordischen Semiramis, fuhrt, ist kühn. Welckcn Erfolg pin solcher Plan auch immcr haben mag, er wird dem, welcher ihn entwarf, zur Ehre gereichen. Die Höflinge des (5zars haben allerdings keine anerkannten und gesicherten Rechte, aber sie sind doch durch das im Lande fortgcerbte Herkommen stark gegen ihre Herren; ein Fürst, ocr den Anmaßungen dirser Menschen geradezu entgegentritt, der sich in einer schon langen Regierung eben so muthig gegen die heuchlerischen Freunde als gegen empörte Soldaten zeigt, ist gewiß kein gewöhnlicher Mensch. Dieser doppelte Kampf des Herrn gcgcn seine wüthenden Sclaven und gegen seine gebieterischen Höflinge, ist ein schönes Schauspiel. Der Kaiser Nicolaus hält, was er am Tage seiner Thronbesteigung versprochen hat und das will gewiß viel sagen, denn kcin Fürst hat die Herrschaft unter kritischeren Umstanden angetreten, keiner trat der Gefahr mit größerer Energie und höherer Seelengröße entgegen. Nach dem Aufstande vom 13. December rief der Herr de La Ferronnays aus: „ich habe den civilisirten Peter den Großen gesehen," und er sprach die Wahrheit. Sicht man densclbcn Mann an seinem Hofe seine Ideen von nationaler ___230___ Regeneration mit unermüdlicher Ausdauer, ohne Prahlerei, ohne Geräusch, ohne Gewaltthätigkeit entwickeln, so ßann man mit noch weit mehr Recht ausrufen: Peter der Große ist zurückgekommen, um das Ucbel wieder gut zu machen, das Peter der Blinde angerichtet hat. Ich hade mich bemüht, diesen Fürsten mit aller möglichen Unparteilichkeit zu beurtheilen, und finde an ihm so viel Lobenöwürdigcs, daß ich mir nichts vorreden lasse, was mich in meiner Bewunderung stören könnte. Die armen Fürsten sind wie die Statuen; man betrachtet sie mit einer so strengen Aufmerksamkeit, daß man über ihren Fehlern, welche die Krltik vergrößert, selbst die seltensten und reellsten Verdienste vergißt. Je mehr ich aber den Kaiser Nicolaus bewundere, um so ungerechter finden Sie mich vielleicht gegen Peter den Großen. Ich achte jedoch die Willenskraft sehr hoch, die er aufbot, um cine Stadt wie Petersburg in einem acht Monate des Jahres gefrorenen Sumpfe entstehen zu lassen. Wenn ich aber das Unglück habe, einige seiner armseligen i'i»»!i>'«i,»« zu bemerken, mit denen seine Vorliebe für die clajsische Architektur, die seine Nachfolger theilten, Rußland beglückt hat, so empört sich mein gesunder Sinn und Geschmack, und ich verliere wieder, was ich durch das Naisonnement gewonnen hatte. Antike Paläste als Kasernen für Finnen, Säulen, Simse, Frontons, römische Peristyls unter dem Pole, wo sie jedes Jahr mit schönem weißen Gips restaurirt werden müssen, — diese Parodie Griechenlands und Italiens ohne den Marmor und die Sonne kann mich, wie Sie zugeben werden, in Unwillen versetzen, Und wenn Sie mir mit Sibirien droben, ich wiederhole es doch, daß der Mangel an Sinn und Verstand in dem Ganzen eines Gebäudes und der Mangel an Harmonie in 231 den Einzelnheiten, unverträglich ist. Bei der Baukunst zeigt sich das Genie darin, daß eS das einfachste Mittel findet, die Gebäude für d«-n Gebrauch einzurichten, zu dem sie be: stimmt sind. Nun errache man aber einmal, zu welchem Zwecke vernünftige Menschen so viele Pilaster, Arcaden und Kolonnaden in einem Lande aufgerichtet haben, daS man neun Monate im Jahre nur mit hermetisch verschlossenen Doppelfenstern bewohnen kann! In Petersburg solitc man unter Wallen und hinter Mauern, nicht unter luftigen Pe-ri'styls umhergehen. Warum baut man keine Tunnels und gewölbten Galerien, die als Vorhallen, als vorgeschobene Werke, als Schutz für die Palaste dienen? ") Der Him« mel ist der Feind der Russen, sie sollten deshalb den Anblick desselben meiden-, es entgeht ihnen die Sonne, sie müssen also bei Kerzenlichte leben; Festungswerke und Kasematten würden ihnen nützlicher sein als off.'ne Hallen. Mit ihrer südlichen Architectur geben sie einen Anspruch auf schönes (5lima kund, welcher den Sommerregen und die Sommerwinde noch unerträglicher macht, von den Eisnadeln ganz zu schweigen, die man in den endlosen Wintern auf den prachtvollen Vortreppen einathmet. Die Kais in Petersburg gehören zu d?m Schönsten, was man in Europa sehen kann; warum? Weil der Luxus hier in der Dauerhaftigkeit liegt. Granicblöcke, die man in eine Niederung gebracht hat, um den Mangel der Erde auszugleichen, die ewige Dauer des Marmors im Gegensatz zu der zerstörenden Einwirkung der Kälte, zeugen von verstandiger Macht und Größe. Petersburg wird durch die prachtvollen Schutzwehren, welche man an dem Flusse angebracht hat, zu gleicher Zeit vor der Newa geschützt und geschmückt. „Der ') M. s. die Schilderung Moskaus. 232 Boden weicht unter unsern Füßen, wir muffen einen Felsengrund legen, der unsere Hauptstadt zu tragen vermag; es gehcn dabei vielleicht hunderttausend Menschen zu Grunde, aber das hindert nicht, wir werden dann auch eine europäische Stadt haben und für ein großes Volk gelten." Obgleich ich die Unmenschlichkeit beklage, welche diescn Ruhm schuf, so darf man hier doch bewundern, und ich bewundere selbst, wenn auch mit Widerstreben. Ich bewundere auch einige Ansichten von dem Winterpalaste. Dieser Palast liegt auf der sogenannten Admiralitatöinsel, die jetzt der schönste Theil der Stadt ist. Weber giebt, wie Schnitzler sagt, 1718 folgende Beschreibung davon: „Der Theil, welcher, an der „Newa weiter hinunter, an den Sommergarten stößt, heißt „die Admiralitäts-Insel oder auch Slobod der Deutschen, „weil die meisten Fremden sich hier niedergelassen haben. „Man trifft hier zuerst (da, wo die Moika aus der Newa „kommt) oie Hauptposten. Das für den Elephanten aus „Persien erbaute Haus, die lutherische Kirche der Finnen, so-„wie die katholische, beide von Hol;, stehen auf diesem Theile „der Insel, welche auch die finnischen Schcercn heißt, „weil sie zumeist von Verbannten aus Finnland und Schwe-„den bewohnt wird. Die armseligen Hütten in diesem Stadt-„theile sehen mehr wie Käfige denn wie Häuser aus. Schwer „dürfte es sein, hier die Personen zu finden, welche man „sucht, weil keine Straße benannt ist und alle nach einigen „vorzüglichen Leuten bezeichnet werden, die daselbst wohnen")." ') M. s. I.u «»«8W, !:< 1'ulu^ «t la I^ini-lm^, par ,Vl..1. H. Keimit?!«-. pari« 1^,',. ,i. lM. — Ich muß hier cm für allemal erklären, daß dieses gute und nützlich« Wcrk, das in Petersburg protc-girt wird, außerordentlich parttiisch ist, wmigstc"s dcr Sprache nach, — eine nothwendige Bedingung, wenn man will, daß m Nußland das geduldtt werden soll, was man über dieses Land geschrieben hat. 233 Dies war vor mehr als hundert Jahren der schönste Theil des jetzigen Petersburg. Obgleich die größten Gebäude dieser Stadt sich in einem Raume verlieren, der mehr eine Ebene als ein Marktplatz ist, so sieht doch der Palast imposant aus; der Baustyl aus der Regentschaftszeit hat etwas Nobles, und die rothe Farbe des Steines, aus welchem das Gebäude aufgeführt ist, gefallt dem Auge. Die Alexandersäule, der Generalstab, der Triumphbogen im Hintergrunde seines Halbkreises von Gebäuden, die Pferde, die Wagen, die Admiralität mit ihren zierlichen Säulchen und der vergoldeten Spitze, Peter der Große auf seinem Felsen, die Ministerien, welche eben so viele Paläste sind, und endlich die staunenswerthe Isaakskirche vor einer der drei Brücken über die Newa, alles dieses im Umkreise eines einzigen Platzes ist nicht schön, aber anstau-nenswerth groß. Der Platz heißt der Palastplatz. Ich finde da Vieles zu tadeln, aber ich bewundere das Gesammtaus-sehen der Gebäude, ob sie gleich in dem Naume, den sie schmücken sollen, eigentlich verschwinden. ,Ich stieg auf die Erzkuppcl der Isaakskirche hinauf. Die Gerüste dieser Kuppel, einer der höchsten in der Welt, sind an sich schon großartige Gebäude. Da aber die Kirche noch nicht beendiget ist, so kann ich mir keine Vorstellung von dem Effecte machen, den sie im Ganzen geben wird. Man überblickt von da Petersburg und dessen flache Umgegend; es ist immer das unabsehbare Einerlei; der Mensch kann hier nur durch fortdauernde Anstrengung leben. Das traurig pomphafte Resultat dieser Wunder verleidet mir die menschlichen Wunder und wird hoffentlich den Fürsten als Lehre dienen, denen es noch einmal einfallen sollte, bei der Wahl des Ortes, wo ihre Städte erbaut werden sollen, die Natur für etwas zu rcchnen. Ein Volk verfällt in keinen 234 solchen Irrthum; er ist gewöhnlich die Frucht des Fürsten-stolzes. Die Fürsten glauben die Macht zu besitzen, Großes an Orten schaffen zu können, wo die Vorsehung nichts schassen wollte; sie nehmen die Schmeichelei buchstablich und halten sich für schöpferische Geister. Die Fürsten fürchten am wenigsten durch ihre Eitelkeit getäuscht zu werden; sie mißtrauen Allem, nur sich selbst nicht. Ich besichtigte einige Kirchen. Die Dreifaltigkeitskirche ist schön aber kahl, wie das Innere der meisten griechischen Kirchen, die ich hier gesehen hab?, das Aeußere der Kuppeln dagegen blau angestrichen und mit hellglänzenden goldenen Sternen bedeckt. Die von Alexander erbaute Kathedrale von Kasan ist groß und schön, aber man gelangt durch einen Winkel in dieselbe, weil dir Vorschrift zu befolgen war, nach welcher der griechische Altar unfehlbar nach Morgen gekehrt sein muß. Da die Perspective sdie bekannte Straße) nicht in dieser Richtung läuft, so stellte man die Kirche quer. Die Kunstfreunde zogen den Kür^rrn, die Frommen trium-phirten, und so ist eines der schönsten Gebäude Rußlands durch den Aberglauben verdorben. Die Smolna-Kirche ist die größte und prachtvollste von allen in Petersburg; sie gchört einer Art Frauen- und Madchenkapitcl, das von der Kaisciin Anna gestiftet wurde. Ungeheure Gebäude sind zur Wohnung dieser Damen bestimmt. Nenn man den Raum dieses Asyls durchwandert, dieses stabtgroßen Klosters, dessen Bauart sich aber mehr für eine Militairanstalt eignen würde, weiß man nicht, wo man ist; was man sieht, ist weder Palast noch Kloster, ich tann «s nicht anders nennen als eine Frauen-Caserne. In Rußland ist Alles dem Militairregime unterworfen; auch in dem Kapitel der D.imen von Smolna hcrscht die Disciplin der Armee. 235 Ganz in der Nähe sieht man den kleinen taurischen Palast, den Potcmkin binnen wenigen Wochen für Katharina aufführen liest, einen zierlichen, aber verlassenen Palast. Was in diesem Lande verlassen wird, ist auch bald zerstört; denn selbst die Steine halten nicht, wenn man sie nicht sorgfältig pflegt. An einer ganzen Seite des Gebäudes zog sich ein Wintergarten hin; in der jetzigen Jahreszeit ist dieses prächtige Gewächshaus leer; wahrscheinlich wird es sehr vernachlässiget. Alte Kronleuchter beweisen, daß man hier Feste gegeben, daß man da getanzt und soupirt hat. Der letzte Ball, den der taurische Palast gesehen hat und wahrscheinlich sehen wird, fand zur Vermahlungsfeier der Grobfürstin Helene, der Gemahlin deS Großfürsten Michael, statt. In einem Winkel befindet sich eine mebiccische Venus, welche man für wirklich antik halt; es ist aber bekannt, daß diese Figur von den Römern oft wiederholt wurde. Die Statue steht auf einrm Sockel, an welchem man die Aufschrift in russischer Sprache liefttl Geschenk des Papstes Clemens XI. an den Kaiser Peter l. »717 oder 17!9. Diese Venus, die ein Papst einem schismatischen Fürsten sandte in dem bekannten (5ostümo, ist sicherlich ein seltsames Geschenk. Der CM, der schon langst mit dem Plan umging, das Schisma ewig zu machen, indem er die letzten Freiheiten der russischen Kirche an sich risse, wiro über diesen Beweis des Wohlwollens des römischen Bischofs sehr gelacht haben "). °) M. s. den 23, Bricf. 23« Ich sah auch die Gemälde in der Eremitage, beschreibe diese Ihnen aber nicht, weil ich morgen nach Moskau abreise. Eremitage! Ist das nicht ein pretentiöser Name für das Lusthaus eines Fürsten mitten in der Hauptstadt neben seinem gewöhnlichen Palaste i Man gelangt auf einer über die Straße gespannten Brücke aus einem Palaste in den andern. Sie wissen wie Jedermann, daß sich hier namentlich Schatze aus der niederländischen Schule befinden. Aber... ich liebe die Malerei in Rußland nicht, eben so wenig als die Musik in London, wo mir die Art, wie man die größten Talente und die erhabensten Meisterwerke anhört, die Kunst verleiden könnte. So in der Nahe des Pols ist das Licht den Gemälden nicht günstig, und Niemand fühlt sich geneigt, an den wunderbaren Nuancen des herrlichsten Colo-rits mit Augen sich zu weiden, welche durch den Schnee oder durch Scitenlicht geblendet und geschwächt sind. Der Rembrandt? Saal ist ohne Zweifel bewundernswürdig, trotzdem gefällt mir das besser, was ich von diesem Meister in Paris und an andern Ortcn gesehen habe. Die Claude Lorrain, die Poussin und einige Gemälde von italienischen Meistern, namentlich von Mantegna, Giam-bellini und Salvator Nvsa verdienen nur Erwähnung. Der Sammlung sehr zum Nachtheile gereicht die große Anzahl mittelmäßiger Bilder, die man vergessen muß, um die Meisterwerke zu genießen. Als man die Galerie in der Eremitage anlegte, ging man mit den Namen der großen Meister sehr verschwenderisch um; trotz dem sind die ächten Werke derselben selten da; die pomphafte Taufe sehr gewöhnlicher Bilder macht die Neugierigen nur ungeduldig, Niemand läßt sich dadurch verführen. In einer Sammlung von Kunstgegenstanden hebt das Schöne das Schöne heraus, 237 während das Schlechte ihm schadet; ein gelangweilter Richter kann kein Urtel abgeben; die Langeweile macht ihn ungerecht und grausam. Die Rembrandts und die Claude Lorrains in der Eremitage machen einigen Effect, nur weil sie in Sälen aufgestellt sind, wo sie keine Nachbaren haben. Die Galerie ist schön, scheint aber in einer Stadt verloren zu sein, wo zu wenig Personen sich um dieselbe kümmern. Es herrscht eine unbeschreibliche Trauer in dem Palaste, der ein Museum geworden ist, seit dem Tode Derjenigen, welche ihm durch ihre Gegenwart Leben gab und ihn mit Geist bewohnte. Jene unbeschränkte Fürstin verstand das trauliche Leben und die freie Conversation besser als irgend Jemand. Sie wollte sich in die Einsamkeit nicht fügen, zu welcher ihre Stellung sie verurtheilte, und wußte vertraulich zu plaudern, trotzdem baß sie willkürlich herrschte; sie vereinigte Vorzüge, die einander sonst ausschließen; wahrscheinlich befand sich aber die Kaiserin nicht besser dabei als ihr Volk. Das schönste Portrait, das von ihr existirt, befindet sich in einem der Sale der Eremitage. Ich bemerkte auch ein Portrait der Kaiserin Marie, der Gemahlin Pauls I., von Mad. Le Brun. Von derselben Künstlerin befindet sich auch ein Genius da, der auf einem Schilde schreibt. Das letztere ist eines der besten Werke der Malerin. Bei dem Eintritte in einen Saal fand ich unter einem grünen Vorhange, was Sie sogleich lesen werden, — das Reglement der vertraulichen Gesellschaft in der Eremitage für die Personen, die von der Czarin in dieses Asyl von — kaiserlicher Freiheit zugelassen wurden. Ich ließ diese Charte wörtlich übersetzen, welche von der Fürstin erlassen worden war. 238 Regeln, nach denen man sich hier zu benehmen hat. 1. Bei dem Eintritt« legt man Rang und Titel ab wie den Hut und Dc'gm. 2. Auch die auf Ocburtsvorrechte gegründeten Ansprüche, der Stolz und andere Gefühle ähnlicher Art müssen vor der Thüre bleiben. 3. Man sci heiter, zerbreche und verderbe aber nichts. 4. Man sehe sich, stehe, gehe, thue, was man will, ohne auf Jemanden zu achten. 5. Man spreche mäßig und nicht zu viel, um die Andern nicht zu stören. samkeit dieser Macht, welche mich zu schützen hatte, und glaubte, sie würde sich eben so unbedingten pünktlichen Gehorsam verschaffen, wenn sie den Auftrag erhielte, mich zu ermorden. Die Schwierigkeiten, auf die man stößt, wenn man in das Land hereinkommt, langweilen mich, wenn sie mich auch wenig schrecken; dagegen fürchte ich mich vor denen, welchen man ausgesetzt sein würde, wenn man ent-fliehen wollte. Die Leute aus dem Volke sagen: „die Thorc, durch die man nach Rußland kommt, sind groß, die aber, durch welche man hinausgeht, sind sehr klein." Wie groß auch das Neich ist, ich fühle mich beengt; wenn das Gefängniß auch groß ist, der Gefangene wird es immer zu eng finden. Es ist eine Tauschung der Phantasie, ich gestehe es, aber man muß hierher kommen, um sie kennen zu lernen. Ich war unter der Obhut meines Soldaten schnell an den Ufern der Newa hingefahren. Man verlaßt Petersburg aus einer Act Dorfstcaße, die um etwas weniger monoton ist als die Wege, welche ich bis jcht in Rußland kennen gelernt habe. Einige Aussichten auf den Fluß durch Birkcnallccn hindurch, eine Reihe von Fabriken, zahlreiche Werkstellen, die in großer Thätigkeit zu sein scheinen und 249 kleine Dörfer mit hölzernen Häusern geben der Landschaft eine geringe Mannichfaltigkeit. Denken Sie sich aber keine wahrhaft mansche Natur in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes; dieser Theil des Landes ist nur. weniger trostlos als jener, welchen man auf der andern Seite sieht. Ich habe übrigens eine Vorliebe für die traurigen Landschaften; es liegt immer etwas Großartiges in einer Natur, deren Betrachtung ein träumerisches Sinnen weckt. Als poetische Landschaft sind mir die Newa-Ufer noch immer lieber als die Abhänge des Montmartre nach der Ebene oon St. Denis zu oder alS die fruchtbaren Felder von Veauce und Brie. Das Aussehen mancher Dörfer hat mich überrascht; es zeigt sich in ihnen ein wirklicher Reichthum und selbst eine gewisse landliche Zierlichkeit, welche gefallt; dic Häuser stehen in gerader Linie längs der einzigen Straße und diese Hauser, die stets von Hol; sind, sehen recht nett und reinlich aus. Nach der Straße zu sind sie angestrichen und die Enden ihrer Dacher mit Verzierungen fast überladen, denn wenn man diesen äußern Luxus mit der Seltenheit bequemer Dinge und dem Mangel an Reinlichkeit im Innern dieser netten Häuser uergleicht, muß man bedauern, die Vorliebe für das Ueberflüssige bereits bei einem Volke herrschen zu sehen, welches das Nothwendige noch nicht kennt. Sieht man genauer hin, so bemerkt man, daß diese Hütten wirklich schlccht gebaut sind. Man hat kaum lx-hauene Balken auf einander gelegt, die man an den Enden zusammenfügte, um die Ecken der Hütten zu bilden; zwischen diesen Stämmen bleiben Ritzen, die man sorgfaltig mit getheertem Moose ausstopft, dessen Geruch sich im Innern und selbst nach außen verbreitet. Die Verzierungen an dm Dachenden bvstehen in aus« ____250^ gezacktem Holze, das man ansireicht und das so ziemlich dem ausgezackten Papiere der Conditorcn gleiche. Was sonst zu einem Hause auf dem Dorfe gehört, befindet sich in einem eingeplankten Hofe. Klingt das nicht Alles sehr schön? Es sieht aber schlecht und schmutzig aus. Trotz dem sehe ich diese nach der Straße zu aufgeputzten Häuser mit Vergnügen an, wenn ich auch nicht glauben kann, daß die Bauern darin wohnen sollen, welche ich auf den Feldern sehe. Sie gleichen mit ihren bunt angestrichenen und durchbrochenen, ausgezackten Bretern am Dache, Käfigen, die man mit Vlumenguirlandcn umwindet, und ihre Bewohner kommen mir vor wie fremde Handelsleute, deren Buden nach dem Feste weggerissen werdm. Immer dieselbe Vorliebe fur das, was in die Augen fallt 1 Der Bauer wird hier behandelt, wie der Herr sich selbst behandelt; beide finden es natürlicher und angenehmer, die Straße zu putzen, statt das Innere der Wohnung zu verschönern; man nährt sich hier von der Bewunderung, vielleicht von dem Neide, den man erregt. Aber wo lst das Vergnügen, das wahre Vergnügen? Die Russen selbst würden in Verlegenheit 'kommen, wenn sie darauf cine Antwort geben sollten. Der Reichthum Rußlands ist eine colossale Eitelkeit. Und da ich für meinen Theil von der Pracht nur das liebe, was nicht äußerlich erscheint, so tadele ich im Ge-danken A'ilcs, was ich hier, wie man hofft, bewundern soll. Eine Nation von DecorateurS und Tapezirern wird es nie weiter bringen, als mir die Veforgniß einzuflößen, W) könnte mich tauschen lassen. Wenn ich diese Bühne betrete, wo eS so viele verborgene Fallthüren giebt, so habe 'ch nur einen Wunsch, den nämlich, hinter die Coulissen zu irrten und den Hintergrund ein wenig in die Höbe 251 zu heben. Ich wollte ein Land sehen und befinde mich ,'n einem Theater. Ich hatte zehn Stunden von Petersburg andre Pftrde bestellt; sie erwarteten mich angeschirrt in cinem Dorfe. Ich fand da auch eine Art russischer v. nlil und trat hinein. Ich verliere auf der Neise nicht gern etwas von meinen ersten Eindrücken uno um diese zu genießen, durchziehe ich die Welt. Ich stieg also aus, um ein russisches Vauernhaus zu sehen. Ich sehe die Bauern zum ersten Male zu Hause, Pcterhof war nicht das natürliche Rußland; die dort zu einer Festlichkeit zusammengedrängte Menge änderte das gewöhnliche Aussehen des Landes und brachte das stadtische Leben auf das Land hinaus. Zuerst bemerkte ich einen großen Schuppen ganz von Holz, — Vreterwande auf drei Seiten, Vreter unter den Füßen, Breter über dem Kopfe. In diese ungeheure Halle trat ich ein, welche den größten Theil der bauerlichen Wohnung einnahm, und trotz dem Luftzuge siel mir der Geruch von Zwiebeln, Sauerkraut und Juchten auf, den die russischen Bauern und Dörfer verbreiten. Ein herrlicher Hengst, der an einem Pfahle angebunden war, zog die Aufmerksamkeit mehrerer Männer auf sich, die ihn, nicht ohne Mühe, zu beschlagen suchten. Die Leute waren mit Stricken versehen, um das feurige Thier zu binden, mit wollenen Lappen, um ihm die Augen zu verdecken, mit Zäumen ?c., um es zu fesseln. Das prachtige Thier gehörte, wie man mir sagte, zu der Stuterei des benachbarten Großen; in demselben Naume, im Hintergrunde des Schuppens, stand ein Bauer auf einem seyr kleinen Wagen l die russischen Wagen sind alle klein) und steckte ungebundenes Heu, das er mit einer Gabel anstach, über sich hinweg, auf einen Voden; ein andrer nahm es oben weg und stopfte es unter ___252 das Dach. Um das Pferd herum warcn etwa acht Personen beschäftiget und alle diese Leute zeichneten sich durch Wuchs, Kleidung und Gesichtsbildung aus. Die Bewohner der Provinzen um die Hauptstadt herum sind indeß nicht schon, nicht einmal die Russen, da sie sich sehr mit der sinnischen Race vermischt haben und den Lappländern gleichen. Im Innern des Reiches, sagte man mir, würde ich die Typen der griechischen Nation finden, uon denen ich einige Muster schon in Petersburg gesehcn hadc, wo sich die eleganten Herrn von Leuten bedienen laffen, die auf ihren entfernten Besitzungen geboren wurden. An jenen ungeheuren Schuppen stösit eine niedrige, nicht cben geräumige Stube-, ich trat hinein und glaubte mich in der Kajüte eines stachen Bootes zu befinden, das auf einem Flusse fährt, oder in einer Tonne, denn Alles ist uon Holz; die Wände, die Decke, der Fußboden, die Stühle, der Tisch sind eine Sammlung von Stammen und Brctern uon verschiedener Lange, grob gearbeitet. Der Geruch von Sauerkraut und Pech herrscht überall vor. In dieser Stube, fast ohne Luft und Licht, denn die Thüren sind niedrig und die Fenster klein wie Dachfenster, bemerkte ich eine alte Frau, welche vier oder fünf bartigen Bauern in Schafpelzen (es ist seit einigen Tagen ziemlich kalt, obgleich erst der August anfängt) Thee einschenkte. Diese meist kleinen Manncr saßen an einem Tische. Ihre Pelze sielen in verschiedenen Falten um sie, sie hatten etwas Eigenthümliches, rochen aber sehr schlecht: ich kenne keinen schlechtem Geruch als etwa den der Parfümerien der Großen. Auf dem Tische blitzte ein kupferner Theekessel und eine Kanne. Der Thee ist immer gut und sorg, faltig bereitet. Will man ihn nicht rein trinken, so findet man überall gute Milch. Dicses elegante Getränk in Hüt- 253 ten, die wie Scheunen meublirt sind (ich sage aus Artigkeit wie Scheunen), erinnert mich an die Chocolade der Spanier. Es ist das einer der tausend Contcaste, welche dem Reisenden bci jedem Schritte auffallen, den er bei diesen beiden Völkern thut, die gleich seltsam sind, nur auf so verschiedene Weise wie das Clima, unter dem sie wohnen. Ich habe oft Veranlassung, Ihnen zu wiederholen, daß das russische Volk Sinn für das Malerische hat. Un-tcr den Gruppen von Menschen und Thieren, welche mich in der Stube dieses russischen Vauemhauscs umgaben, würde ein Maler Gegenstande zu mehrern hübschen Bildern gefunden habm. Das rothe oder blaue Hemd der Bauern, das auf dem Schlüsselbeine zugeknöpft ist und um die Hüften durch einen Gürtel zusammen gehalten wird, übcr welchem der Obertheil sich in antike Falten legt, wahrcnd der Untertheil wie ein? Tunica lose flattert und die Beinkleider bedeckt, in die es nicht hineingestopft wird; das lange, oft offene persische Gr-wand, das, wenn der Mensch nicht arbeitet, diese Blouse zum Theil bedeckt; das an den Seiten lange, in der Mitte gescheitelte Haar, das hinten über dem Nacken glatt abgeschnitten wird, so daß man einen großen Tkeil des Halses sieht, bildet gewiß eine originelle und graziöse Tracht. Es fehlt dem zugleich sanften und doch wilden Aussehen der russischen Bauern keinesweges an Anmuth; ihr zierlicher Wuchs, ihre Kraft, welche die leichte Beweglichkeit nicht benachtheiligt, ihre Gewandtheit, ihre breiten Schultern, das milde Lach.ln ihres Mundes, die Mischung von Zärtlichkeit und Wildheit in ihrem Blicke, Alles dics unterscheidet sie von unsern Land-leuten eben so sehr als die Gegenden, die sic bewohnen, von den übrigen Landern Europas verschieden sind. Hier ist für einen Fremden Alles neu. Die Personen besitzen einen 254 gewissen Reiz, den man fühlt, der sich aber nicht beschreiben läßt, — das orientalische Schmachten in Verbindung mit der romantischen Träumerei der nordischen Völker, und zwar unter einer ungebildeten, aber cdeln Form, die ihr das Verdienst einer angebornen Gabe Gottes giebt. .Das Volk flößt viel Iittcr.sse, aber kein Vertrauen ein, was auch ein Gefühl ist, das ich erst hier kennen lernte. Die Leute aus dem Volte in Rußland sind unterhaltende Spitzbuben. Man könnte weit mit ihnen kommen, wenn man sie nicht hinterginge, aber die Bauern verdumpfen in List und Gemeinheit, wenn sie sel>n, daß ihre Herren uno die Agenten ihrer Herren noch mchr lügen als sie ftlbsi. Man muß selbst einen Werth haben, wenn man ein Volk civilisiren will; die Rohheit des Leibeigenen zeigt von der Verdorbenheit des Herrn. Wenn Sie sich über meine ungünstigen Urtheile wundern, so werde ich Sie in noch größeres Erstaunen versetzen, wenn ich hinzufüge, daß ich nur die allgemeine Meinung ausspreche; ich sage nur unverholen das, was hier Alle mit einer Vorsicht verbergen, die Sie nickt mehr verachten würden, wenn Sie gleich mir sähen, wie nothwendig diese Tugend, die so viele andere ausschließt, für jeden ist, der in Rußland lebt. Die Unreinlichkeit ist groß hier zu Lande, aber die der Häuser und der Kleidungsstücke fallt mir mchr auf als die der Leute selbst. Ihre Person pflegen die Nusftn so ziemlich; freilich widern uns ihre Dampfbader an; es sind Ausdünstungen von heißem Wasser; das reine fließende Nasser 'st mir lieber; indeß wäscht dieser kochende Dunst den Körper und stärkt ihn, wenn er auch die Haut uorzeitig runzelig macht. Nichtsdestoweniger sieht man in Folge des Gebrauchs dieser Bäder häufig Bauern, die reines Haar und rinen reinen Bart haben, während man von ihrem Anzüge 257, nicht dasselbe sagen kann. Warme Kleidungsstücke sind theuer; man muß sie lange tragen und sie sehen schmutzig aus, ehe sie abgenutzt sind. Stuben, in denen man sich eben nur vor der Kalte schützen will, dürfen nothwendigcc-weise minder luftig sein als es die Wohnungen der Südländer sind. Im Allgemeinen ist der nordisch? Schmutz widerlicher und ärger, als jener der Völker, die in der Sonne leben; es fehlt den Nüssen neun Monate des Jahres die reinigende Luft; der Schmutz in ihren Häusern und an ihren Körpern ist aber mehr die unvermeidliche Felge des Climas, unter welchem sie leben, als die Wirkung ihrer Nachlässigkeit. In manchen Gegenden tragen die Leute, welche arbeiten, eine dunkelblaue ballahnliche Mühe auf dem Kopfe. Diese Kopfbedeckung gleicht jener der Bonzen. Uebrigens haben sie mehrere Arten Kopfbedeckungen und alle ihre Mützen u. dgl. seken gut aus. Welcher Geschmack in Vergleich mit der prätentiösen Nachlässigkeit der gemeinen Leute in der Umgegend von Paris! Wenn sie mit unbedecktem Kopfe arbeiten, würden sie durch ihr langes Haar gehindert werden; um diesem Ucbcl-stande abzuhelfen, machen sie sich eine Art Diadem; sie binden ein Vand, einen Bindfaden, ein Rohr, eine Binse, einen Riemen um den Kopf. Dieses plumpe, aber immer sorgfältig umgelegte Diadem geht über die Stirn und hält ihr Haar glatt. Es steht besonders jungen Latten gut und da die Menschen dieses Schlags meist einen ovalen Kopf von hübscher Form haben, so wird diese bei der Arbeit nothwendige Vorrichtung ein Putz. Was aber soll ich von den Frauen sagen? Vis jcht sind mir die, welche ich gesehen habe, widerwärtig und abstoßend vorgekommen. Ich hoffte auf dichm Ausfluge einige 256 hübsche Bäuerinnen zu sehen. Aber cs ist hier wie in Petersburg; si? haben eine dicle kurze Taille und legen den Gürtel unter den Achseln, gleich über dem Vusen, um, der sich unter dem Rocke frci ausbreitet. Das ist häßlich! Zu dieser freiwilligen Verunstaltung denken Sie sich große Männerstieseln von stinkendem ^eder und einm weiten Rock von Schaffell gleich den Pelzen ihrer Männer und Sie werden sich eine Vorstellung von einem höchst unangenehmen mensch: lichen Wesen machen; leider ist diese Vorstellung vollkommen richtig. Um die Häßlichkeit vollständig zu machen, ist der Pelz der Frauen minder graziös geschnitten als der kurze Rock der Männer, wahrscheinlich aus lobeniiwerther Ökonomie; auch ist er meist mehr von Würmern zerfressen und er fallt oft buchstäblich in Stücke. Das ist ihr Putz. Gewiß entsagt nirgends das schöne Geschlecht der Gefallsucht mehr als die russischen Bäuerinnen (ich spreche natürlich von der Gegend, die ich gesehen habe). Nichtsdestoweniger sind diese Frauen die Mütter der Soldaten, auf die der Kaiser stolz ist, und jener schönen Kutscher, die man in den Straßen von Petersburg sieht und welche den Armiak und persischen Kaftan so gut zu tragen wissen. Die meisten Frauen, die man in dem Regierungsbezirk von Petersburg antrifft, sind allerdings von finnischem Stamme. Im Innern des Landes, das ich zu besuchen gedenke, soll es sehr schöne Bäuerinnen geben. Die Straße von Petersburg nach Echlüfsclburg ist an mcmchln Stellen schlecht; man kommt bald auf tiefen Sand, bald auf weichen Koch, auf den man Vreter geworfen hat, welche für die Fußgänger nicht ausreichen, für den Wagen nber geradezu nachtheilig sind. Diese schlecht zusammen gefügten Holzstücke schaukeln und spritzen den Koch bis in den Wagen himin. Das ist indeß nur dk> geringste Unannehm- 257 lichkeit des Weges; es giebt noch etwas Schlimmeres als die Vreter, nämlich die Knüttel, die man an gewissen schwamm migen Stellen quer über den Weg gelegt hat, damit man da nicht ganz einsinke. Leider sind diese Holzstücke nur so hingeworfen-, der ganze wackelige Bau tanzt gleichzeitig unter den Rädern auf dem bodenlosen Grunde, der bei dem geringsten Drucke elastisch wird. Bei der Geschwindigkeit, mit welcher man in Nußland fährt, hat man auf solchen Straßen seinen Wagen bald zerbrochen; die Menschen brechen Hals und Beine; die Reifen springen von den Rädern, die Federn zerbrechen und bald werden die Wagen zu dem einfachsten Fuhrwerke wie die Telega. Mit Ausnahme der berühmten Chaussee von Petersburg nach Moskau ist die Slraße nach Schlüsselburg noch immer cine von denen, wo es am wenigsten Knüttel giebt. Ich habe viele Brücken von schlechten Vretern gezahlt und eine davon kam mir sehr gefährlich vor. DaS menschliche Leben gilt in Rußland wenig. Bei meiner Ankunft in Schlüsselburg, wo ich erwartet wurde, empfing mich der Ingenieur, dem die Leitung der Schleusenarbeiten obliegt. Der Ladoga-Canal, so wie er jetzt ist, zieht sich an dem Theile des Sees hin, welcher zwischen der gleichnamigen Stadt und Schlüsselburg liegt; er ist ein herrliches Werk und schützt die Fahrzeuge vor den Gefahren, denen sie sonst die Stürme auf dem See aussetzten. Jetzt umfahren die Böte dieses stürmische Meer und die Orkane vermögen es nicht mehr, eme Schifffahrt zu unterbrechen, die sonst selbst bei den unerschrockensten Seeleuten für sehr gefährlich galt.") °) „Peter I. hatte durch eine Vereinigung der Mesta mit der Ncwa mitttlst eines Canals cine Verbindung des caspischm Mce-ll. «7 258 ^ Es war düsteres, kaltes, stürmisches Wetter. Kaum hatte ich den Wagen vor dem Hause dcs Ingenieurs, einer guten Wohnung, ganz von Holz, vcrlajsen, als er mich selbst in ein Zimmer führte, wo es mir ein leichtes Frühstück bot und mich mit einem gewissen ehelichen Stolze seiner jungen schönen Flau vorstellte. Sie erwartete mich da ganz allein auf einem Eopha, von dem sie bei meiner Ankunft nicht aufstand. Sie sprach kein Wort, weil sie nicht französisch verstand: auch wagte sie sich nicht zu bewegen-, ich weis; nicht warum; villleicht hielt sie die Unbcweglichkeit für Artigkeit. Die Art, wie sie die Honneurs im Hause machte, bestand darin, daß sie sich keine Bewegung erlaubte; sie schien sich zu befleißigen, vor mir die mit roth unterlegtem weißen res mit dem Laooga-Sce, d. h. cine Verbindung dcr Küsten Per-siens mit den Ostftc. Küsten bewirkt, aber der häufig stürmische See starrte von Klippen, auf denen Rußland jährlich sehr viele Fahrzeuge nerlor. Der Kaiser Peter l. entwarf deshalb den Plan, dem Handel diese gefährliche Fahrt zu ersparen, indem er durch einen neuen Canal den Wolkof mit dcr Newa verband. Er begann die Arkritcn, wurde aber schlecht unterstützt. Die Ingenieurs, denen er sein Vertrauen schenkte, täuschten ihn urd sich selbst; die Nivellements waren schlecht gemacht und das nützliche Werk wurde erst unter P,ter II, beendiget." (Histoire reckt, bei Mlcgcnhett von Arbeiten, wtlche den nachfolgenden Regierungen zur Ehre gereichen, einen Zug zu er-wahncn, welcher den Scharfblick des Gründers des modernen russischen Reiches hervorhebt. Im Allgemeinen irrte er sich bei seiner innern Politik, in den Verwaltungsdctails bewies er aber ein sicheres Urtheil und einen feinen Tact. 259 Muslin bekleidete Statue der Gastfreundschaft vorzustellen. Sie kam mir in diesem mehr gesuchten als eleganten Anzüge wie eine schöne Erscheinung vor. Betrachtete ich aufmerksam ihr broschirtes, vorn offenes und mit Seide gefüttertes Kleid mit allem Ausputze, wodurch sie den Fremden zu blendcn suchte, betrachtete ich, s^> ich, dieses rosenfarbene unveränderliche Wachsbild auf dem großen Sopha, von dem sie sich nicht losmachen zu können schicn, so hielt ich sie fast für eine griechische Madonna auf dem Altare; hätte sie minoer rosige Lippm, minder frische Wangen, einen Schleier nebst Gold- und Silber-Verzierungen gehabt, die Illusion ware vollkommen gewesen. Ich aß und wärmte mich schweigend; sie sah mich an, fast ohne zu wagen, die Augen von mir abzuwenden, weil sie dieselben dann hätte bewegen, müssen, und selbst die Augen sollten unbeweglich bleiben. Hatte ich ahnen tonnen, daß Schüchternheit ihren Antheil an diesem seltsamen Empfange gehabt hatte, so würde ich Mitleid gefühlt haben; ich empfand nur Verwunderung; mich tauscht das Gefühl in solchen Dingen nicht, denn auf die Schüchternheit verstehe ich mich. Mein Wirth ließ mich mit Muße diese seltsame Pagode betrachten, die mir bewies, was ich schon wußte, daß nämlich die nordischen Frauen selten natürlich sind und daß ihre Affectation bisweilen so groß ist, daß sie sich auch ohne Worte verrath. Der brave Ingenieur schien sich durch dic Wirkung geschmeichelt zu fühlen, welche seine Frau auf den Fremden hervorbrachte; er hielt mein Staunen für Bewunderung. Um jedoch ftinen Auftrag pünktlich zu erfüllen, sagte er endlich zu mir: „ich bedaure, Sie zum Aufbruche mahnen zu müssen, aber wir haben nicht viel Zeit zur Besichtigung der Arbeiten, die ich Ihnen im Detail zeigen soll, wie mir befohlen word>n ist." 17' ___260 Ich Hütte den Schlag vorausgesehen, ohne ihn abwenden zu können, nahm ihn also gefaßt hin und ließ mich von Schleuse zu Schleuse sichren, wahrend ich unablässig an die Festling dachte, an das Grab des jugendlichen Iwan, an das man mich nicht hinankommen lassen wollte. Unablässig stand mir dieser nicht eingestandene Zweck meiner Reise vor Augen. Wie er erreicht wurde, werden Sie sogleich sehen. Hoffentlich interessirt Sie es nicht, wie die Schleusen eingerichtet und angelegt sind, denn ich konnte es ihnen doch nicht erzählen, nur so viel will ich erwähnen, daß die Schleusen in den zehn Jahren, seit sie vollendet sind, keine Ausbesserung erfordert haben, — ein staumnöwerthes Beispiel von Dauerhaftigkeit in einem Clima gleich dcm des Ladoga-Sees, wo der Granit und der Harteste Marmor gewöhnlich nur einige Jahre aushalten. Dieser prachtige Vau ist bestimmt, den Unterschied des Niveaus zwischen, dem Ladoga-Canale und der Newa in der Nähe ihres Ursprungs, am westlichen Ende des Ausflusses, der sich in den Fluß ergießt, auszugleichen, Man hat die Schleusen mit bewundernswürdigem Luxus vervielfältiget, um eine Schifffahrt so leicht und schnell als möglich zu machen, welche kaum drei bis vier Monate des Jahres frei ist. In Bezug auf Dauerhaftigkeit und Genauigkeit der Arbeit ist nichts gespart worden. Man hat sich so ">el als möglich sinnischen »Granits zu den Brücken, Brustwehren und selbst zu dem Boden bedient. Die Holzarbeiter, sind so sorgfaltig, o.iß sie diesem Luxus entsprechen, kurz man hat alle Erfindungen und alle Vervollkommnungen der modernen Wissenschaft benutzt und in Schlüsselburg ein Werk ausge, sührt, das in seiner Art so vollkommen ist, als es dle rauhe Natur in diesem Clima erlaubt. 2Sl Die russische Binnenschifffahrt verdient die ganze Aufmerksamkeit der Leute vom Fach zu beschäftigen-, sie ist eine der Hauptquellen des Reichthumes des Landes; durch ein (5analsystcm, das colossal ist wie Alles, was man in diesem Reiche unternimmt, ist es seit Peter dem Großen gelungen, ohne Gefahr für die Böte das caspische Meer mittelst der Wolga, des Ladoga-Sees und der Newa mit der Ostsee zu verbinden. Man durchschifft so Europa und Asien auf Gewässern, welche den Norden mit dem Süden vereinigen. Dieser im Entwürfe kühne, in der Ausführung bewundernswürdige Gedanke hat ein Wunder der ciuilisirten Welt geschaffen. Es ist gut und schön, wenn man dies weiß, die Besichtigung kam mir aber sehr langweilig vor, namentlich in Begleitung eines Mannes, der das Meisterwerk mit aussichren half. Der Mann von Fach gesteht seinein Werke die Achtung zu, die es ohne Zweifel verdient, bei einem blos Neugierigen aber, wie ich einer bin, wird die Bewunderung unter den kleinlichen Details erstickt, mit denen ich Sie verschone,— ein neuer Beweis von dem, was ich schon an einem andern Orte gesagt habe: der Reisende, welcher in Rußland sich selbst überlassen ist, sieht nichts; ist er protegirt, nicht aus den Augen gelassen, so sieht er zu viel und daö kommt auf eins hinaus. Als ich genau so viel Zeit und Lobeserhebungen als nöthig den Wundern gewidmet zu haben glaubte, die ich mustern mußte, um mich der Gnade würdig zumachen, die man mir zu erzeigen glaubte, wendete ich mich wieber zu dem eigentlichen Zwecke meiner Reise, verhüllte ihn, um ihn auf diese Weise leichter zu erreichen und verlangte die Quelle der Newa zu sehen. Diesem Wunsche, dessen hinterlistige Unschuld die Indiscretion nicht beregen konnte, wich mein Ingenieur anfangs aus, indem er mir antwortete: „sie 262 entspringt unter dem Wasser am Ende des Ladoga-Sees in dem Canale, wacher diesen See uon dcr Infcl trennt, auf dem die Festung liegt." Das wußte ich. „Es ist dies eine Naturmerkwürdigkeit Nußlands/' fuhr ich fort. „Ist es nicht möglich, diese Quelle zu sehen?" „Der Wind weht zu heftig; wir werden das Aufkochen des Wassers nicht sehen; nur bei ruhigem Wetter kann das Auge einen Wasserstrahl erkennen, der in dcr Tiefe emporschießt. Doch will ich thun, was ich vermag, um Ihre Neugierde zu befriedigen." Der Ingenieur lies, cin hübsches Voot mit sechs zierlich gekleideten Ruderern herankommen, und wir fuhren ab, wie es hieß, um die Quelle der Newa zu sehen, eigentlich aber, um uns den Mauern der Festung oder vielmehr des verzauberten Gefängnisses zu nahern, von dem man mich mir der größten Artigkeit zurückhielt. Ader die Schwierigkeiten reizten nnine Neugurde um so mehr; meine Ungeduld hatte nicht größer sein können, wenn ich mein Wort gegeben, irgend einen unglücklichen Gefangenen zu befreien. Die Festung Schlüsselburg ist auf einer flachen Insel, auf einer Art Klippe erbaut, die sich nicht sehr über den Wasserspiegel erhebt. Dieser Felsen theilt den Fluß in zwei Arme und trennt auch den Fluß von dem eigentlich sogenannten See; denn er dient zur Bezeichnung der Linie, wo ble Gewässer sich verbinden. Wir fuhren um die Festung herum, um, wie wir sagten, so nahe als möglich an die Newa-Quelle zu kommen. Das Boot hatte uns bald gerade über diesen Wirbel gebracht. Die Ruderer theilten die Wellen so geschickt, daß wir trotz dem schlechten Wetter und der Kleinheit unsers Fahrzeuges das Schaukeln der Wogen kaum fühlten, ob sie gleich hier wie mitten im Meere schla- 263____ gen. Da wir die Quelle nicht erkennen konnten, deren Strudrl durch die Bewegung der Wellen verdeckt war, die uns forttrugen, so machten wir noch eine Spazierfahrt aus dem großm See, und da der Wind bei unserer Zurücttunft sich etwas gelegt halte, so konnten wir in ziemlicher Tiefe einige Schaumfluchen schm-, das war die Quelle der Newa, auf der wir eben schwammen. Wenn der Westwind den See zurücktreibt, bleibt der Canal, welcher als Abfluß dieses Binnenmeeres dient, fast trocken, und dann erscheint diese schöne Quelle ganz frei. In diesem glücklicher Weise sehr seltenen Augenblicke wissen die Bewohner von Schlüffelburg, daß Petersburg unter Wasser steht, und erwarten von Stunde zu Stunde die Nachricht von dem neuen Unglücke. Sie erhalten dieselbe jedesmal den andern Tag, weil derselbe Westwind, der das Naffer des Ladoga-Sees zurücktreibt und die Newa an ihrer Quelle fast trocken laßt, auch die Flutt-n des sinnischen Meerbusens in die Mündung der Newa hineindrangt; das Abfließen dieses Stromes hört sodann auf, das Waffer, das seinen Weg zum Meere versperrt findet, drängt rückwärts und ergießt sich über die Ufer auf Petersburg und die Umgegend. Nachdem ich die Lage von Schlüssclburg hinlänglich bewundert, diese Naturmerkwürdigkcit gepriesen und mit einem Fernrohre die Lage der Vatlerie betrachtet hatte, welche Peter der Große aufstellen ließ, um die Feste der Schweden zu beschießen, mit einem Worte, nachdem ich Alles gerühmt hatte, was mich wenig oder gar nicht intcrcsstrte, sagte ich so leicht hin als möglich: „nun wollen wir das Innere der Festung besehen-, sie liegt äußerst malerisch," setzte ich etwas minder klug hinzu, denn man darf die Schlauheit am allerwenigsten übertreiben. Der Nüsse sah mich mit einem 264 forschenden Blicke an, dessen Bedeutung ich wohl fühlte. Der Ingenieur war Diplomat geworden und antwortete: „Die Festung enthält durchaus nichts Merkwürdiges für einen Fremden." „In einem so interessanten Lande, wie das Ihrige, ist Alles merkwürdig." „Wenn der Commandant uns nicht erwartet, wird man uns nicht einlassen." „Lassen Sie ihn um die Erlaubniß bitten, einen Fremden in die Festung einzuführen; übrigens erwartet man uns, wie ich glaube." Man ließ uns wirklich aas die erste Anfrage des Ingenieurs ein, woraus ich schloß, daß mein Besuch, wenn nicht angemeldet, doch als wahrscheinlich angezeigt worden war. Wir wurden mit dem militairischen deremomel em-pfangen und unter einer Wölbung durch ein ziemlich schlecht vertheidigtes Thor geführt. Nachdem wir über einen Hof geschritten waren, auf welchem Gras wachst, führte man uns — in das Gefängniß? Keineswegs, sondern in die Wohnung des Commandanten. Er verstand kein Wort französisch, empfing mich aber freundlich, stellte sich/ als hielte er den Besuch für eine ihm persönlich erwiesene Artigkeit und ließ mir durch den Ingenieur seinen Dank aus: drücken, den er nicht selbst aussprechen konnte. Diese schlauen Complimente kamen mir merkwürdiger als befriedigend vor. Ich mußte den Salon-Menschen spielen, mußte thun, als unterhielte ich mich mit der Frau des Commandanten, die ebenfalls nicht französisch sprach, mußte Chocolaoe trinken, kurz alles Andere thun, nur das Gefängniß Iwans durfte ich nicht sehen, diefes Ziel aller Anstrengungen, aller List, aller Artigkeit und aller Langeweile den Weg über. Nie 265 wurde der Eintritt in einen Feenpalast sehnlicher gewünscht, als ich diesen Kerker zu betreten wünschte. Endlich als die Zeit eines anständigen Besuchs abgelaufen zu sein schien, fragte ich meinen Führer, ob es möglich sei, das Innere der Festung zu sehen. Es wurden einige Worte und einige Blicke zwischen dem Commandanten und dem Ingenieur gewechselt, und wir verließen das Zimmer. Ich glaubte am Ziele meiner Bemühungen zu sein. Die Festung Schlüsselburg hat nichts Malerisches; eS sind nicht eben hohe schwedische Mauern, und das Innere gleicht einem Baumgarten, in dem man hier und da einige niedrige Gebäude aufgeführt hat, nämlich eine Kirche, eine Wohnung für den Commandanten, eine Caserne und endlich unsichtbare Kerker. Nichts verratb Gewaltthätigkeit; das Geheimnißvolle liegt hier in den Sachen selbst, nicht in ihrer Erscheinung. Das stets heitere Aussehen dieses Staatsgefängnisses kommt mir entsetzlicher für den Gedanken als für das Auge vor. Die Gitter, die Zugbrücken, die Zinnen, kurz der etwas theatralische Apparat, welcher die furchtbaren Burgen des Mittelalters zierte, finden sich hier nicht. Sobald wir das Zimmer des Gouverneurs verlassen hatten, zeigte man mir zuerst prachtigen Kirchcnschmuck! Die vier Mäntel, die feierlich vor mir ausgebreitet wurden, kosteten 30,000 Rubel, wie mir der Commandant selbst sagte. Ich fragte statt aller andern Antwort nach dem Grabe Iwans Vl., und man zeigte mir eine Bresche in der Mauer, welche durch die Kugeln des Czar Peter gemacht worden war, als er persönlich die schwedische Feste, den Schlüssel zur Ostsee, belagerte. „Wo ist das Grab Iwansi" fragte ich wieder, ohne den Muth zu verlieren. Diesmal führte man mich hinter die Kirche neben einen Rosenstrauch. „Hier ist es," sagte man. 266 Daraus schloß ich, daß die Opf« in Rußland kein Grab haben. „Und das Zimmer Iwans?" fuhr ich mit einer Hartnäckigkeit fort, welche meinen Führern eben so seltsam vorkommen mußte, als mir ihre Bedenklichkeiten und ausweichenden Antworten vorkamen. Der Ingenieur antwortete mir halblaut, das Zimmer Iwans könne man mir nicht zeigen, weil es sich in einem Theile der Festung befinde, den jetzt Staatsgefangene inne hätten. Die Entschuldigung fand ich begründet, aber der Zorn des Commandanten überraschte mich. Er verstand entweder das Französische besser, als er es sprach, oder cr hatte mich täuschen wollen, indem er sich stellte, als verstehe er unsere Sprache nicht, oder er errieth nur den Sinn der Erklärung, die mir gegeben wurde, genug er schalt den Ingenieur tüchtig aus, dem seine Indiscretion, wie er sich ausdrückte, cincs Tages noch verderblich werden würde. Der Ingenieur, durch die Strafpredigt verletzt, theilte mir dies in einem günstigen Augenblicke selbst mit und fügte hinzu, der Gouverneur habe ihn auf eine sehr bedeutsame Weise gewarnt, in Zukunft wieder von Staatsangelegenheiten zu sprechen oder Fremde in ein Staatsgefangniß zu fükren. Der Ingenieur hat alle nöthigen Anlaqen, ein guter Nüsse zu werden, aber er ist noch jung und versteht die Sache noch nicht recht. Ich fühlte, daß ich ablassen mußte; ich war der schwächste Theil, gab mich für überwunden und entsagte dem Wunsche, das Zimmer zu sehen, wo der unglückliche Erbe des russischen Tbroncs blöosinnig gestorben war, weil man es bequemer gefunden hatte, ihn schwachsinnig werden zu lassen, denn Kaiser. Ich konnte mich uicht genug über die Art 267 wundern, wie die russische Regirrung uon ihren Agenten bedient wird. Ich dachte an die Miene des Kriegsministers, als ich ihm das erste Mal den Wunsch auszudrücken wagte, eine Feste zu besuchen, welche durch ein Verbrechen zur Zeit der Kaiserin Elisabeth historisch geworden ist,, und ich verglich mit Bewunderung, aber auch mit Entsetzen, die Ideen-Unordnung bei uns mit dcr gänzlichen Gedankenlosigkeit, mit dem Mangel aller persönlichen Meinung, und mit der blinden Unterwürfigkeit, welche die Verhaltungsregel der Leiter der russischen Verwaltung, wie der Subaltern-Beamten ist. Die Einheit der Handlung dieser Regierung erschreckte mich; ich bewunderte schaudernd die stillschweigende Uebereinstimmung der Obern und der Untern im Kampfe gegen die Ideen und selbst gegen die Thatsachen. Ich fühlte eben so lebhaft den Wunsch fortzukommen, als ich einen Augenblick vorher mich gesehnt hatte, die Festung zu betreten. Nichts vermochte mehr meine Neugierde in einer Feste anzuregen, in welcher man mir nur die Sacristei zeigen wollte. Ich fürchtete ein Bewohner dieses Ortes geheimer Thränen und unbekannter Schmerzen werden zu müssen, und in meiner immer höher steigenden Angst strebte ich nur nach dem physischen Vergnügen des Gehens und Athmens; ich vergaß, daß das Land selbst, daS ich wiedersehen wollte, ein Gefängniß ist, ein Gefängniß um fo furchtbarer, je größer cö ist. Eine russische Festung!! Dics Wort macht auf die Phantasie einen ganz andern Eindruck als den, welchen man fühlt, wenn man die Festen wirtlich civilsitt.r, aufrichtig menschlicher Völker besucht. Die Vorsichtsmaßregeln, die man in Rußland anwendet, um sogenannte Staatsgeheimnisse zu verbergen, befestigen mich mehr, als es offene barbarische Handlungen vermöchten, in dem Gedanken, daß dieses Land nichts als eine heuchlerische Tyrannei ist. Seit ____268___ ich in einem russischen 'Staatsgefangnisse gewesen bin und selbst die Unmöglichkeit empfunden habe, da von dem zu sprechen, was doch jeder Fremde an einem solchen Orte sucht, wiederhole ich mir immer, daß so große Verheimlichung als Maske einer großen Unmenschlichkeit dienen muß, denn das Gute verschleiert man nicht so sorgfaltig. Wenn man, statt die Wahrheit unter falscher Höflichkeit zu verbergen, mich einfach an die Orte geführt hatte, die gezeigt werden dürfen, wenn man auf meine Fragen nach einer vor hundert Jahren geschehenen Thatsache offen geantwortet hätte, würde ich weniger an das gedacht haben, was ich nicht sehen konnte; aber das, was man mir uuf zu gekünstelte Weise verweigerte, bewies mir gerade das Gegentheil von dem, was man mir einreden wollte. Alle diese vergeblichen ausweichenden Bestrebungen sind in den Augen eines erfahrenen Beobachters Enthüllungen. Es cm-pörte mich, daß die Leute, welche sich solcher Ausflüchte gegen mich bedienten, glauben konnten, ich ließe mich durch ihre kindische List täuschen. Man versichert mich, und ich habe das aus guter Quelle, in den unterseeischen Kerkern in Kronstadt befanden sich unter andern Staatsgefangenen auch Unglückliche seit dcr Regierung Alexanders. Diese Unglücklichen werden durch eine Strafe mißhandelt, deren Grausamkeit weder entschuldiget noch begründet werden kann; wenn sie jetzt aus der Erde herauskamen, würden sie sich erheben gleich rächenden Gespenstern. Es laßt sich Alles durch schöne Worte, selbst durch gute Gründe vertheidigen f es fehlt keiner der Meinungen, welche die politische, litera-tische und religiöse Welt theilen, an Argumenten; aber was man auch sagen möge, eine Regierung, die durch solche Mit? tel aufrecht erhalten werden muß, ist eine durch und durch schlechte. ____269 Die Opfer dieser Politik sind keine Menschen mehr. Diese Unglücklichen, welche das gemeine Recht verloren ha: ben, kauern, der Welt fremd, von Allen vergessen, von sich selbst verlassen, in der Nacht ihrer Kerkerhaft, wo der Blödsinn die Frucht und der letzte Trost eitnr endlosen Langeweile wird. Sie haben das Gedächtniß, sogar die Vernunft verloren, jenes Menschenlicht, das in der Seele Eines seiner Gleichen zu verlöschen kein Mansch ein Necht hat. Sie haben selbst ihren Namen vergessen, nach dcm die Wachter sie in rohem stets unbestraften Höhne fragen; denn es herrscht in der Tiefe dieser Abgründe der Ungerechtigkeit eine solche Unordnung, das Dunkel ist da so dicht, daß die Spuren jeder Gerechtigkeit verschwinden. Selbst das Verbrechen mancher Gefangenen kennt man nicht, die man aber doch im Kerker behalt, weil man nicht weiß, wem man sie zurückgeben soll, und weil man es für bequemer hält, die Schandthat fortzusetzen, als sie bekannt werden zu lassen. Man fürchtet den Übeln Eindruck später Gerechtigkeit und verschlimmert das Uebel, um nicht genöthiget zu werden, Ucberschreitungen zu rechtfertigen, — grausame Feigheit, welche sich Achtung vor Schicklichkeit/ Klugheit, Gehorsam, Weisheit, Opfer für das allgemeine Wohl und was weiß ich wie noch nennt! Wenn der Despotismus spricht, ist er sehr vorsichtig; giebt es nicht in der menschlichen Gesellschaft für alle Dinge zwei Namen. So sagt man uns jeden Augenblick, in Rußland bestehe die Todesstrafe nicht. Lebendig begraben heißt nicht todten! Wenn man so viel Unglück auf der einen Seite, so viel Ungerechtigkeit „nd Heuchelei auf der andern Seite bedenkt, findet man keinen Schuldigen mehr im Gefängnisse; nur der Nichter erscheint als Verbrecher, und mein Staunen wird auf das Höchste gesteigert, weil ich weiß, daß dieser 270 ungerechte Nichter oft aus Vergnügen grausam ist. Das kann eine schlechte Regierung aus den Menschen machen, welche ihre Dauer verlangern wollen! Aber Rußland geht seinem Geschicke entgegen, das beantwortet Alles, und ge: wiß, wenn man die Größe des Zweckes nach der Größe der Opfer mißt, muß man dieser Nation die Weltherrschaft voraussagen. Nach der Rückkehr von diesem traurigen Besuche erwartete mich cine neue Frohnarbeit bei dem Ingenieur, — ein Staatsdiner mit Personen aus der Mittelclasse. Der Ingenieur hatte, um mir eine Ehre zu erzeigen, Verwandte seiner Frau und einige Gutsbesitzer aus der Umgegend eingeladen, — eine Gesellschaft, dir ich mit Interesse beobachtet haben würde, wenn ich nicht gleich im Anfange erkannt hatte, daß ich da nichts zu lernen fände. Es giebt wenig Bürger in Nußland; die Classe der l'leincn Veduten und Grundbesitzer, unbekannte, obgleich geadelte Leute, vertritt hier den Bürgerstand anderer Lander. Wenn auch diese Leute, die neidisch auf die Großen sind und von den Kleinen beneidet werden, sich adelig nennen, sie befinden sich doch genau in der Lage, in welcher die Bürger in Frankreich vor der Revolution waren. Gleiche Urfuchen geben überall gleiche Wirkungen. Ich merkte es, daß in dieser Gesellschaft eine schlecht verhehlte Feindseligkeit gegen die wirkliche Größe und gegen die wirkliche Eleganz jedes Landes herrschte. Dieses steife Benehmen, diese unter einem süßlich, n Tone kaum verhüllte bittere Stimmung erinnerte mich nur zu sehr an die Zeit, in welcher wir leben und die ich in Rußland ein wenig ver-gcssm hatte, wo ich nur Leute vom Hofe sehe. Ich war jetzt bei ehrgeizigen Subalternen, die angstlich besorgt sind, 271 was man wohl von ihnen denke, und diese Menschen gleichen einander überall. Die Männer sprachen nicht mit mir und schienen sich wenig um mich zu kümmern; sie verstehen nur so viel Französisch, daß sie es mil Mühe lesen tonnen. Sie oilde-tcn eine Gruppe in einer Ecke des Zimmers und sprachen Russisch. Ein Paar Frauen müßen die französische Con-, versation ganz allein führen. Mit Verwunderung bemerkte ich, daß sie von unserer Literatur Alles kannten, was die russische Polizei in ihr Vaterland hineinlaßt. Der Toilette dieser Frauen, die mit Ausnahme der Frau vom Hause sämmtlich bejahrt waren, schien es an Eleganz zu fehlen, der Anzug der Männer war noch nachlässiger: große braune, fast die Erde berührende Oderröcke ersetzten die Nationaltracht, an die sie doch etwas erinnerten; mehr aber als die nachlassige Kleidung der Personen in dieser Gesellschaft siel mir der beißende widersprechende Ton in ihren Gesprächen auf. Der russische Gedanke, welcher durch den Tact der Leute in der großen Welt verhüllt wird, zeigte sich hier unvecholen Diese offenherzigere Gesellschaft war minder abgeschlissen als die am Hofe, und ich sah deutlich, was ich anderswo nur geahnt hatte, daß im Verkehr der Russen mit den Fremden der Geist der Prüfung, des Spottes und der Bekrittelung vorherrscht; sie hassen uns, wie jeder Nachahmer sein Vorbild haßt; ihre forschenden Blicke suchen immer nach Fehlern mit dem Wunsche, dergleichen zu finden. Als ich diese Neigung erkannt hatte, fühlte ich mich gar nicht mehr zur Nachsicht gestimmt. Aus diesem Kreise, dachte ich, gehen vielleicht die Manner hrruor, welche die Zukunft Nußlands schassen. Die Bürgerclasse ist in Nußland erst im Entstehen begriffen, und sie scheint berufen zu sein, die Welt zu beherrschen. 272^ Ich hatte es für nöthig gehalten, einige entschuldigende Worts wegen meiner Unkenntniß der russischen Sprache an die Person zu richten, die zuerst mit mir sprach, und ich schloß mit den Worten, jeder Reisende solle eigentlich die Sprache des Landes verstehen, das er besucht, wcil es natürlicher sei, daß er sich die Mühe gebe, sich wie die Personen auszudrücken, die er aussucht, als daß cr sie nöthige, in seiner Sprache zu reden. Alis dieses Kompliment antwortete man mir in einem verdrießlichen Tone und sagte, ich würde mir es freilich gefallen laffen müssen, das Französische von den Russen radebrechen zu hören, wenn ich nicht stumm reisin wollte. „Darüber beklage ich mich eben," entgegnete ich; „könnte ich Russisch radebrechen, wie es eigentlich meine Pflicht wäre, so würde ich Sie nicht nöthigen, Ihre Gewohnheit zu ändern, um meine Sprache zu reden." „Sonst sprachen wir nur Französisch." „Das war Unrecht/' „Ihnen kommt es nicht zu, dies uns zum Vorwurfe zu machen." „Ich spreche von Allem, wie ich denke." „Nützt denn in Frankreich die Wahrkeit etwas?" „Das weiß ich nicht; so viel aber weiß ich, daß man die Wahrheit ohne Berechnung lieben muß." „Diese Liebe ist in unserer Zeit ausgestorben." „In Nußland i" „Ueberall, hauptsächlich aber in einem Lande, das durch die Zeitungen regkrt wird." Ich war g^nz der Meinung der Dame, und ich wollte deshalb das Gespräch auf einen andern Punkt lenken, da ich weder gegerr meine Ueberzeugung zu sprechen, noch auch einer Person beizustimmen wünschte, die, selbst wenn sie so 273 dachte wie ich, ihre Ansicht mit solcher Bitterkeit aussprach, daß sie mir die rminigc verleiden tonnte. Ich darf nicht anzuführen vergessen, daß diese feindselige Stimmung, dieser dem französischen Spotte im Voraus entgegengehaltene Schild unter dem Tone einer süßen Stimme und' einer außerordentlich unangenehmen Freundlichkeit versteckt war. Ein Vorfall brach das Gesprach zum Glück ab. Ein Geräusch von Stimmen lockte Alle an das Fenster. Es zankten sich Schisser, die wüthend zu sein schienen; der Streit drohte blutig zu werden, aber da zeigte sich der Ingenieur auf dem Balcon, und der bloße Anblick seiner Uniform bewirkte einen Theatercoup. Die Wuth dieser rohen Menschen besänftigte sich, ohne daß es nölhig war, ein Wort zu ihnen zu sagen; der Hofmann, der vollkommen an Verstellung und Heuchelei gewöhnt ist, könnte stinen Haß nicht besser verbergen. Ich wunderte mich über diese gut gezogenen Leibeigenen. „Wie gut das Volk ist!" rief die Dame aus, welche vorher mit mir gesprochen hatte. „Arme Leute!" dachte ich, wahrend ich mich wieder setzte, denn die Wunder der Furcht werde ich nie bewundern; ich hielt jedoch für gerathen zu schweigen. „So schnell würde sich bei Ihnen die Ordnung nicht wiederherstellen lassen/' fuhr meine unermüdliche Gegnerin fort, die überdies fortwährend lauernde Blicke auf mich richtete. Diese Unartigkeit war mir neu; im Allgemeinen hatte ich bei allen Nüssen im Verhältniß zu ihren übelwollenden Gedanken, die mir doch nicht entgingen, ein fast zu freundliches Wesen gefunden; hier stieZ mir eine noch unangenehmere Uebereinstimmung der Meinung und des Ausdrucks auf. II. 19 „Wir haben die Unannehmlichkeiten der Freiheit, besitzen indeß auch die Annehmlichkeiten derselben," entgegnete ich. „Welche sind diese?" „In Rußland würde man sie nicht verstehen/' „Man entbehrt sie/' „Wie Alles, das man nicht kennt." Mcine Gegnerin war gereizt und suchte mir ihren Verdruß zu verbergen, indem sie plötzlich auf cincn andern Gegenstand übersprang. „Spricht die Frau von Genlis in ihren !>"uv^»ii8 ä« l''!>!icw so weitläufig von Ihrer Familie und in ihren Memoiren von Ihnen selbst?" Ich bejahete dies und äußerte dann meine Verwunderung darüber, daß man diese Bücher in Schlüsselburg kannte. „Halten Sie uns für Lappländer?" entgcgnete die Dame mit der Bitterkeit, die ich ihr nicht nehmen konnte und die endlich auch auf mich überging. „Nein, Madame, aber für Nüssen, die mehr und Besseres zu thun haben, als sich mit dem Geschwätz der französischen Gesellschaft zu belästigen." „Die Frau von Genlis ist keine Schwätzerin." „Diejenigen ihrer Schriften, m welchen sie nur anmu-lhig die kleinen Anecoottn aus der Gesellschaft ihrer Zeit erzählt, könnten und sollten, meiner Meinung nach, nur Franzosen interessiren." „Sie wünschen nicht, daß wir Sie und Ihre Schriftsteller achten." „Achten Sie uns unseres wahren Verdienstes wegen." „Was bleibt Ihnen übrig, wenn man den Einfluß wegnimmt, den sie durch den gesellschaftlichen Geist auf Europa ausgeübt haben?" 275___ Ich fühlte, daß ich cine wohl zu fürchtende Gegnerin vor mir hatte, und entgcgnete: „es bleibt uns der Ruhm unserer Geschichte, selbst der der Geschichte Rußlands; denn dies verdankt seinen neuen Einfluß in Europa nur der Energie, mit welcher es die Eroberung seiner Hauptstadt durch die Franzosen rächte." „Sie haben uns allerdings in diesem Punkte einen großen Dienst erwiesen, freilich ohne es zu wollen." „Haben Sie in diesem jchiccklichen Kriege eine Ihnen theure Person verloren?" „Nein." Ich hoffte, mir durch einen völlig rechtmäßigen Haß die Abneigung gegen Frankreich erklären zu können, welche aus jedem Worte dieser Dame in dem erwähnten Gespräche heraussah, meine Erwartung ging nicht in Erfüllung. Das Gesprach, welches nicht allgemein werden konnte, zog sich bis zur Mahlzeit selbst in diesem auf der einen Seite forschenden und bittern, auf der andern gezwungenen und zurückhaltenden Tone hin. Ich war entschlossen, mich sehr zu maßigen, und es gelang mir, daß ich über dem Unwillen die Klugheit nicht vergaß. Ick suchte die Unterhaltung auf unsere neue literarische Schule zu lenken; man kannte aber nur Balzac, den man außerordentlich bewundert und im Ganzen richtig beurtheilt. Fast alle Bücher unserer neuen Schriftsteller sind in Rußland verboten, was den Einfluß beweiset, welchen man ihnen zuschreibt. Vielleicht kannte man auch noch andere Schriftsteller, denn die Douane laßt ein Abkommen mit sich treffen, aber man hielt es für gerathen, von diesen Schriftstellern nicht zu sprechen. Uebrigens ist dies blos eine Vermuthung, Nach langem Warten setzte man sich endlich an den Tisch. Die Frau vom Hause, die ihrer Statuen-Rolle 18" 276 fortwährend treu blieb, machte an diesem Tage nur eine einzige Bewegung: sie begab sich, ohne die Augen oder die kippen zu bewegen, von ihrem Canap'5 in dem eine« Zimmer auf den Stuhl im Speisezimmer, und nur dadurch erhielt ich den Beweis, daß die Pagode wirklich Beine hatte. Das Essen verging nicht ohne Belästigung, dauerte aber nicht lange und kam nur ziemlich gut vor, mit Ausnahme der Suppe, deren Originalität alle Grenzen überschritt. Di>'se Suppe war kalt und mit Fischstücken gefüllt, welche in einer sehr gewürzten, sehr gezuckerten und sehr starken Essigbrühe schwammen. Bis auf dieses infernalische Gericht und dcn Kwaß, ein Getränk des Landes, aß und tnink ich von Allem mit Appetit. Es gab vortrefflichen Bordeaux-Wein und Champagner, aber ich sah deutlich, daß man sich meinetwegen großen Zwang auferlegte, was mich in Verlegenheit brachte. Der Ingenieur trug keine Schuld daran: er war ganz mit seinen Schleusen beschäftiget und ließ seine Schwiegermutter die Honneurs mit der Anmuth machen, welche Sie nach dem mitgetheilten Ge-spräche beurtheilen mögen. Um sechs Uhr Abends nahmen wir mit gegenseitiger ungeheuchelter Befriedigung Abschied von einander, und ich reistte nach dem Schlosse... ab, wo man mich erwartete. Die Offenheit in diesem bürgerlichen Hause hatte mich mit der Zimperlichkeit und Ziererei gewisser vornehmen Damen fast ausgesöhnt; denn am Ende ist Alles besser als eine auffällige, verletzende Aufrichtigkeit. Die Affectation hofft man beseitigen zu können; das Nalurcl aber ist unbesiegbar. Das war mein Debut in der Mittelclasse und der erste V"such jn der russischen Gastlichkeit, welch? in Europa so sehr gerühmt wird. 277 Es war noch Tag, als ich in ... ankam, das nur sechs bis acht Stunden von Schlüsselburg liegt. Ich verbrachte hier den übrigen Theil des Abends durch einen Spa-ziergang in dem für die Gegend sehr schönm Garten, durch eine Fahrt in einem kleinen Boote auf der Nmxl und in anmuthiger Conversation mit einer Person aus der großen Welt. Ich fühlte das Bedürfniß, die Artigkeit odcr vielmehr die Unartigkcit, welche ich kennen gelernt hatte, zu vergessen. Ich hatte mit einer Frau gesprochen, w.lche das Französisch recht gut zu sprechen glaubte; sie sprach es nicht schlecht, wenn auch mit langen Pausen zwischen jeder Phrase und mit einem Accent auf jedem Worte; sie wollte Frankreich kennen und beurtheilte es ziemlich richtig, obgleich mit Vorurtheil; sie wollte ihr Vaterland lieben und liebte es zu sehr; endlich wollte sie zeigen, daß sie im Stande sei, ohne falsche Demuth in dem Hause ihrer Tochter die Honneurs gegen einen Pariser zu machen, und sie drückte mich durch die Last aller ihrer Vortheile, durch ein unabänderliches Aplomb und durch die mehr ccccmoniösen als artigen gastfreundlichen Redensarten zu Voden. Ich zog mir daraus die Lehre, baß die armen so oft verspotten lächerlichen Menschen doch bisweilen zu etwas gut sind, wäre es auch nur der Umstand, daß sie Andere in eine behagliche Stimmung versetzen. Hier fano ich unangenehme feindselige Menschen. Alle Unannehmlichkeiten in dem Gespräche mit denselben machten sich mir fühlbar; sie waren aber nicht von dcr Art, daß man über sie lachen konnte, wie es unter gleichen Umstanden in Landern geschieht, wo es gutmüthige, völlig natürliche Menschen giebt. Die unausgesetzte Beobachtung, die sie auf sich ftlbst und auf mich wendeten, bewies mir, daß nichts einen neuen Eindruck auf sie zu machcn im Stande sein würde; alle 278 ihre Ideen standen seit zwanzig Jahren fest/ und diese Ueberzeugung machte mir endlich meine abgesonderte Stellung ihnen gegenüber so sehr fühlbar, daß ich mich mich der Gesellschaft von Leuten, die minder schwer anzuregen und zu befriedigen sind, ich möchte fast sagen, nach der Leichtgläubigkeit dummer Menschen sehnte. So weit brachte mich das zu sichtbare Uebelwollen der Nüssen in der Provinz. Was ich in Schlüss^lburg gesehen habe, wird mich nicht anreizen, die Gelegenheit aufzusuchen, solche Verhöre wie in jener Gesellschaft zu bestehen. Solche Gesellschaften gleichen Schlachtfeldern. Die große Welt mit allen ihren Lastern kommt mir weit besser vor als diese kleine Welt mit ihren Tugenden. Ich kam nach Mitternacht wieder in Petersburg an und hatte den Tag ungefähr 36 Stunden auf sandigen schmutzigen Wegen zurückgelegt. Was man dem Vieh hier zumuthet, steht im Verhältniß zu dem, was man von den Menschen verlangt. Die russischen Pferde sind deshalb auch nur acht bis zehn Jahre brauchbar. Freilich ist das Pflaster in Petersburg dem Viehe, den Wagen und selbst den Menschen verderblich; denn sobald man über die Holzbahnen hinaus ist, welche sich nur in wenigen Straßen befinden, zerspringt dem Fahrenden fast der Kopf. Allerdings bringen die Nüssen, welche großen Luxus auf schlecht gemachte Dinge verwenden, auf ihrem abscheulichen Pflaster schöne Felder von großen Steinen an. aber diese Verzierung macht das Uebel nur schlimmer, weil die Straßen dadurch noch Hotperiger werden. Wenn die Wagen über diesen Pflasterputz fahren, welcher einem Par-ketmuster gleicht, erhalt der Wagen mit dem darin Sitzen^ den einm Scoß, als müßte er in Stücken gehen. Was kümmert es aber die Russen, ob das, was sie machen, auch 279 dem Zwecke entspricht, welchen sie erreichen wollten? Sie suchen in Allem einzig und allein ein gewisses Aussehen von Eleganz, den äußern Schein der Pracht, ein Prahlen mit Reichthum und Großartigkeit. Sie haben die Arbeit dcr Civilisation mit dem Ueberflüssigen begonnen, und wenn dies das Mittel ist, weit zu kommen, müßte man ausrufen: „es lebe die Eitelkeit! Nieder mit dem gesunden Verstande!" Sie werden einen andern Weg einschlagen, um das Ziel zu erreichen. Uebermorgen reise ich gewiß nach Moskau ab. E i n n u d z w a n z i g st c r V r i c f. Petersbulg, dm 2. August 1839- Ach habe einen letzten Blick auf diese außerordentliche Stadt geworfen, und Abschied von Petersburg genommen, — Abschied! — cin zauberhaftes Wort, welches den Orten und Personen einen unbekannten Reiz giebt. Warum ist mir Petersburg nie so schön vorgekommen als diesen Abend i— Weil ich es zum letzten Male sehe. Vermag die an Illusionen reiche Seele die Welt umzugestalten, deren Aussehen für uns immer nur der Wiederschein unseres inneren Lebens ist? Vielleicht haben Diejenigen Recht, welche behaupten, es eristire nichts außer uns, ich aber, ein Philosoph wider Willen, ein Metaphysiker, der sich immer gern mit unlöslichen Fragen beschäftiget', thue gewiß Unrecht, wenn ich mir dieses unbegreifliche Wunder zu erklären suche. — Unsere Traume, unsere Visionen verhalten sich zu den scharfbestimmtcn Ideen wie ein Horizont von glanzenden Wolken zu den Bergen, deren Züge sie bisweilen zwischen Himmel und Erde nachahmen. Kein Ausdruck vermag diese flüchtigen Schöpfungen der Phantasie wiederzugeben, welche unter der Feder des Schriftstellers verschwinden, wie die glänzenden Perlen eines klaren Baches dem Netze d.-s Fischers entschlüpfen. Erklären Sie mir, was der wirklichen Schönheit eines Ortes der Gedanke hinzufügen kann, daß man ihn verlassen 281 Müsse. Wenn ich bedenke, daß ich ihn zum letzten Male sehe, ist es mir, als erblickte ich ihn zum ersten Male. Unser Geschick ist im Vergleich mit der Unbeweglichkeit der Gegenstände so beweglich) daß Alles, was uns an die kurze Dauer unsrer Lebenstage erinnert, die Bewunderung verdoppelt. Die Strömung, auf welcher wir hinabgleiten, ist so rasch, daß Alles, was wir am User lassen, vor der Zeit gesichert zu sein scheint. Das Wasser des Wasserfalles muß an die Unsterblichkeit des Baumes glauben, der ihn beschattet, und die Welt erscheint uns ewig, so schnell eilen wir dahin. Vielleicht ist das Leben des Reisenden an Anregungen nur deshalb so reich, wcil der hausige Abschieb, ocn es her-beiführt, eine Wiederholung des Sterbens ist. Und dies ist ohne Zweifel ein Grund, warum man das für schön hält, was man verläßt; doch giebt es auch noch einen andern, den ich hier k^um anzugeben wage. In gewissen Seelen steigert sich das Bedürfniß der Unabhängigkeit bis zur Leidenschaft; aus Besorgniß sich zu binden, schließt man sich nur dem an, was man flieht, weil der Reiz für das, was man hinter sich laßt, keine Verpflichtung auferlegt. Man begeistert sich ohne weitere Folge; man reiset weiter. Ist das Abreis.« nicht eine Handlung, die von Freiheit zeugt? Durch die Abwesenheit Macht man sich von den Fesseln des Gefühls frei; man genießt in aller Sicherheit das Vergnügen, das zu bewundern, was man nie wiedersehen wird; man überlaßt sich seinen Neigungen ohne Scheu und ohne Zwang; man weiß, daß man Flügel hat. Wenn ^ber der Reisende fühlt, daß diese Flügel durch häufiges Entfalten und Zusammenlegen malt werden; wenn er findet, daß die Reise ihn weniger unterrichtet als ermüdet, so ist die Zeit der ' 282 Umkehr und der Ruhe gekommen. Ich meines Theils fühle, daß sie für mich naht. Es war Nacht; das Dunkel hat seinen gcheimnißuollen Reiz wie die Abwesenheit, dmn es nöthigct uns wie diese zum Ruhen. Deshalb überläßt sich auch zu Cnde dcs Tages der Geist dein träumerischen Sinnen, das Her; öffnet sich der Gefühlswelt. Wmn Alles verschwindet, was man sieht, so bleibt nichts übrig, als was man fühlt. Die Ge-genwart stirbt und die Vergangenheit kehrt zurück; der Tod, die Erde geben zurück, was sie genommen hatten, und die schattenreiche Nacht läßt auf die Gegenstande einen Schleier fallen, der ihnen ein größeres, ein ergreifenderes Aussehen giebt. Das Dunkel fesselt wie die Abwesenheit den Gedanken durch die Unsicherheit, ruft das Unbestimmte der Poesie für seine Zauber zu Hilft. Die Nacht, die Abwesenheit und der Tod sind Zauberinnen und die Macht derselben ist eben so gut ein Geheimniß, wie Alles, was auf die Phantasie wirkt. Die Phantasie in ihrem Verhältniß zur Natur und in ihren Wirkungen wird nie genügend erklärt werden, auch nicht von den scharfsinnigsten Geistern. Wenn man die Phantasie beutlich erklären wollte, müßte man zu der Quelle der Leidenschaften zurückgehen. Die Phantasie, die Quelle der Liebe, das Werkzeug des Genies, die furchtbarste Gabe von allen, denn sie macht den Menschen zu ein.'m zweiten Prometheus, ist die Macht des Schöpfers, die dem Geschöpf auf einen Augenblick geliehen wurde; der Mensch empfangt sie, mißt sie aber nicht; sie ist in ihm, gehört ihm aber nicht an. Wissen Sie,, wohin die Töne, wohin die Farben gekommen sind, wenn die Stimme aufhörte zu singen, wenn der Regenbogen verschwand? Können Sie sagen, woher sie tamen? So sind auch, nur noch unberechenbarer, mannich- 283 faltiger, flüchtiger, beunruhigender, die Wunder der Phantasie. Ich habe sie mein ganzes Leben hindurch mit nutzlosem Schreckn gefühlt; ich besitze viel zu viel Phantasie für das, was ich damit thue. Ich sollte mir diese Gabe unterthanig machen, bin aber immer das Spiclwerk und das Opfer derselben geblieben. Die Phantasie, dcr Abgrund von Wünschen und Widersprüchen, treibt mich, die Welt zu durchwandern und fesselt mich an die Orte in dem Augenblicke, in welchem sie mich an andere ruft. Es wa.r über zehn Uhr; ich kam von der Inselpromenade zurück. Es ist dies der Augenblick, in welchem das Aussehen der Stadt einen seltsamen, schwer zu beschreibenden Eindruck macht, denn die Schönheit dieses Bildes besteht nicht in den Linien, weil die Gegend völlig flach ist, sondern in dem Zauber der nebligen nordischen Nächte, jener leuchtenden Nachte, die man sehen muß, wenn man ihre poetische Majestät begreifen will. Nach Abend zu blieb die Stadt dunkel; die zitternde Linie, welche sie am Horizonte beschrieb, glich einem kleinen ausgezackten schwarzen Papiere, das auf einem weißen Grunde aufgeklebt ist. Dieser Grund ist der Abendhim-mcl, wo die Dämmerung noch lange nach dem Verschwinden der Sonne leuchtet, wahrend sie zugleich in der Ferne die Gebäude in dem entgegengesetzten Stadrtheile erhellt, deren zierliche Fanden hell auf einem Theile des Morgen-Himmels hervortreten, der minder durchsichtig und dunkler ist als jener, an welchem der Glanz der untergegangenen Sonne strahlt. Daraus folgt, daß im Westen die Stadt dunkel und der Himmel hell ist, während im Osten alles Hohe auf der Erde hell und weiß von dem dunkeln Him-Mcl absticht. Dieser Kontrast macht auf das Auge eine 284 Wirkung, die sich durch Worte nur unvollkommen wiedergeben läßt. Das allmälige Verschmelzen der Farben der Dämmerung, welche im Kampfe mit dem immer zunehmenden Dunkel den Tag zu verleugnen schmtt, theilt der ganzen Natur eine geheimnißvolle Bewegung mit; der flache Boden der Stadt mit den nicht hohen Gebäuden am Ufer der Newa scheint zwischen dem Himmel und dem Waffer zu zittern und man glaubt, er muffe versinken und verschwinden. Holland könnte, ob es gleich ein besseres Clima und eine schönere Vegetation besitzt, eine Vorstellung von einigen Ansichten in Petersburg geben, aber nur am hellen Tage, denn die Polarnachte sind bewundernswürdige Erscheinungen. Mehrere Thürme der Stadt l>iben, wie ich schon erwähnte, lange Spitzen, welche Schiffsmasten gleichen. In der Nacht schwimmen diese Aigretten der russischen Gebäude, die nach der Nationalsitte vergoldet sind, in der Luft, unter einem Himmel, der weder dunkel noch hell ist, und wenn sie nicht dunkel von demselben abstechen, glänzen sie in tausendfachem Wiederscheine wie der Spiegel der Eidechsenschuppen. Wir stehen im Anfange des Augustmonates, am Ende des Sommers unter dieser Breite, dennoch bleibt ein kleiner Theil des Himmels die ganze Nacht hindurch erleuchtet. Diese perlmutterähnliche Glorie am Horizonte spiegelt sich in der Newa, dir an ruhigen Tagen gar nicht zu fließen scheint. Der so beleuchttte Fluß oder vielmehr See gleicht dann einer unermeßlichen Metallplatte und diese silberne Fläche ist von dem eben so weißen Himmel durch die Silhouette, einer Stadt getrennt. Dieser kleine Theil der Erde, dln man auf dem Waffer zittern sieht wie Schaum, die kleinen schwarzen unregelmäßigen Punkte, die zwischen 2H5____ dem weißen Himmel und dem weißen Flusse kaum bemerk-lich werden, sind die Hauptstadt eines großen Reiche? Oder ist Alles nur Schein, optische Täuschung? Der Hinlergrund des Bildes ist eine Leinwand und die Figuren sind Schatten, welche einen Augenblick durch die Zauberlaterne Leben erhalten. Während sie im Raume still sich bewegen, verlöscht die Lampe, die Stadt versinkt wieder in die Oede und das Schauspiel endigt wie eine Phantasmagoric. Ich sah die Thurmspitze der Kathedralkirche, in welcher die letzten Fürsten Rußlands liegen, schwarz auf dem weißen Himmel hervortreten. Diese Spitze überragt die Feste und die Stadt, ist höher und spitzer als die Pyramide einer (Zypresse und sieht auf dem Perlengrau der Ferne wie ein zu harter, zu kecker Pinftlstrich aus. Ein Srich, welcher das Auge anzieht, verdirbt ein Gemälde, verschönet dagegen die Wirklichkeit. Gott malt nickt wie wir. Es war schön; es herrschte eine feierliche Stille. Alles Geräusch, jede Bewegung des gewöhnlichen Lebens halte aufgehört; die Menschen waren verschwunden und die Erde den über-natürlichen Machten überlassen. Es liegt in diesem Uebelrest von ilicht, in dieser ungleichen und u.rschwimlncnden Helle der nordischen Nächte etwas Gcheimnißuolles, das ich nicht zu schildern vermag, das aber die nordische Mythologie erklärt. Ich begreife jctzt den ganzen Aderglauben der Scandinavier. Gott verhüllt sich in dem Lichte des Pols, wie er sich in der blendenden Helle der tropischen Gegenden offenoart. Alle Oerter, alle Elimate sind schön in den Augen des Weisen, der in der Schöpfung nur den Schöpfer sehen will. In welchen Winkel der Welt die Unruhe meines Her-z«ns mich auch führen wird, ich bewundere stets dieselbe Gottheit und befrage dieselbe Stimme. Ueberall, wo der ___286^ Mensch gläubig den Blick senkt, erkennt cr, daß die Natur der Körper und Gott die Seele ist. Sie erinnern sich der Ballade von Coleridge, in welcher der englische Matrose ein gespenstisches Schiff auf dem Meere hingleiten ficht; daran dachte ich ebcn vor dem ge-spenstigen Bilde einer schlafenden Stadt. Diese nächtlichen Wunder sind für dir Bewohner dieser nordischen Gegenden, was die Fata Morgana am hellen Tage für die Südlander ist; die Farben, die Linien, die Stunden sind verschieden, aber die Illusion ist dieselbe. Wenn ich mit Wehmuth eine Gegend betrachte, wo die Natur sehr arm ist und der Bewunderung nicht würdig erachtet wird, wende ich mich zu dem tröstenden Gedanken: Gott hat jedem Punkte der Welt so viel Schön-heiten gegeben, daß seine Kinder ihn überall an nicht zweifelhaften Zeichen erkennen können und Ursache haben, ihm Dank zu sagen, unter welcher Zone seine Vorsehung sie zum Leben berufen haben mag. Das Antlitz des Schöpfers ist allen Theilen der Eide aufgedrückt und das macht dieselben dem Auge des Menschen heilig. Ich möchte einen Sommer in Petersburg verbringen können, blos um jeden Abend zu thun, was ich heute gethan habe. Wenn ich die schöne Seite einer Gegend oder einer Stadt gefunden habe, wende ich ihr meine ganze Liebe zu und suchc sie alle Tage in der günstigen Zeit auf. Es ist dies zwar ein unablässig wiederholter Refrain, aber er sagt mir doch jedesmal etwas Neues. Die Oerter haben ihre Seele, wie Iocelyn so poetisch sich ausdrückt; ich werde "ncr Ansicht, die mich anspricht, nie überdrüssig, und die Lehre, die ich mir daraus ziehe, genügt zu dem bescheidenen Glücke meines Lebens. Die Reiselust ist bei mir we- 2^7 der eine Move noch ein Mittel, mir Trost zu suchen. Ich bin zum Reiftn geboren, wie man zum Staatsmanne geboren wird; meine Heimath ist überall, wo ich bewundere, wo ich Gott in seinen Werken erkenne. Von allen Werken Gottes versiehe ich aber am leichtesten das Aussehen der Natur und deren Verwandtschaft mit den Schöpfungen der Kunst. Gott enthüllt sich meinem Herzen durch die unbeschreiblichen und unerklärlichen Bezüge zwischen seinem ewigen Worte und dem fluchtigen Gedanken des Menschen, und ich sinde darin einen Geqcnstand tiefen Nachdenkens. Ja, in der zwar melancholischen aber doch köstlichen Abgeschiedenheit, zu welcher mich dieser Pilgerberuf bestimmt, vertritt meine Neugier Ehrgeiz, Macht, Ansehen und Laufbahn. Dieses Träumen und Cinnen ziemt sich, ich weiß es, meinem Alter nicht mehr. Chateaubriand war ein zu großer Dichter, als daß er unS einen alternden Nen«' geschildert hatte. Das Schmachten der Jugend erregt Mitgefühl; die Zukunft vertritt bli ihr die Stelle der Kraft und der Hoffnung; aber die Resignation eines ergrauenden Ren>'> ist tcin Gegenstand für die Vc-redtsamkeit. Dennoch wollte es mein Geschick, daß ich Ihnen zeigte, wie ein Mensch alc wird, der geboren war, jung zu sterben, — ein Gegenstand, der trauriger ist als interessant, eine vor Allem undankbare Aufgabe. Aber ich sage Ihnen Alles ohne Furcht, ohne Bedenklichkeit, weil ich nichts assettire. , Da ich durch meinen Character, der mein Geschick bildet, berufen bin, mehr das Leben Andrer zu betrachten als selbst zu leben, so nehmen Sie mir vor der Zeit, was wir Gott an Existenz zugetheilt hat, wenn Sie mir das Träumen verbieten unter dem Vorwande, ich hatte diesen Rausch der Kinder und der Dichter zu lange genossen. 288 Nur aus Reaction gegen die Lehren des Christenthums preiset man in der Welt, besonders seit einem Jahrhunderte, den Ehrgeiz und nennt ihn das Heilmittel gcgcn die Selbstsucht; als wenn die grausamste, die unbarmherzigste der Leidenschaften, der Neid, der Sohn des Ehrgeizes, nicht zugleich eine Ursache und eine Wirkung der Selbstsucht ware und als wenn sich der Staat jeden Augenblick der Gefahr ausgesetzt sehen könnte, Mangel an stolzen Talenten, an habsüchtigen Herzen, an herrschsüchtigen Geistern zu leiden! Daraus folgt, daß die Lenker der Völker das Privilegium, ungerecht zu sein, zu haben scheinen. Ich meines Theils sehe keinen Unterschied zwischen der ungerechten Begehrlichkeit einer eroberungssüchtigen Nation und dem Diebstahle eines Räubers mit bewaffneter Hand. Der einzige Unterschied zwischen den öffentlichen Verbrechen und den Uebelthatcn Einzelner liegt darin, daß die erstem großen, die andern geringern Schaden anrichten. Was aber, sagen Sie, würde aus der Gesellschaft, wenn alle Menschen so handeln wollten, wie Sie handeln? Seltsame Besorgniß der Diener des Jahrhunderts! Sie glauben immer, ihr Götzenbild könne verlassen werden. Ich will ihnen keine Predigt halten, aber daran muß ich sie erinnern, daß die schlimmste Intoleranz die philosophische ist/ Ich kann nicht leben wie die Andern leben, weil die Interessen, die Zwecke und Mittel derselben in mir jene heilsame Nachciferung nicht wecken, ohne welche ein Mensch in den Kämpfen des Ehrgeizes oder der Tugend, aus denen das Gesellschaftsleben besteht, schon im Voraus überwunden ist. Der Sieg besteht hier in zwei entgegengesetzten Aufgaben: seine Nebenbuhler zu überwinden und seinen Sieg durch seine Nebenbuhler ausrufen zu lassen. Des- 289 halb ist es so schwer, einmal zu siegen, so selten, um nicht zu sagen unmöglich, lange dm Sieg zu bewahren. Ich habe schon vor dem Alter der Entmuthigung entsagt. Da ich einmal eines Tages aufhören muß zu kämpfen, so fange ich lieber gar nicht an; das sagte mir mein Herz, als es mich an den schönen Ausspruch erinnerte: AlleS, was endiget, ist so kurz! Und ich lass? nun neidlos und ohne Verachtung den Zug unserer kühnen Kämpfer vorüberziehen, die da glauben, die Welt gehöre ihnen, wcil sie sich derselben ergeben. Gewahren Sie mir meinen Abschieb und fürchten Sie nicht, daß es jemals in den Kämpfen dieser Welt an Sol-baten fehlen wirb. Lassen Sie mich den möglichsten Nutzen aus meiner Reise und meiner Gleichgültigkeit ziehen; sehen Sie nicht, daß die Unthatigkeit nur scheinbar ist, daß der Verstand die Freiheit benutzt, aufmerksamer zu beobachten und gesammelter nachzudenken? Derjenige, welcher die Gesellschaft von fern sieht, hat ein ungetrübteres Urtheil als der, welcher sich sein ganzes Leben hindurch der Berührung der Staatsmaschine aussetzt. Der Geist erkennt die Gestalt der Maschinen besser, welche man zur Verfertigung der Dinge diefer Welt verwendet, wenn er fern von ihrem Getriebe bleibt. Man überschaut die Formen eines Berges nicht, wenn man an demselben hinauftlimmt. Die handelnden Menschen beobachten nur durch das Gedächtniß und gedenken das, was sie gesehen haben, erst dann zu schildern, wenn sie von der Bühne abtreten; dann sind sie aber meist durch eine Ungnade verstimmt, oder sie fühlen die Nahe ihres Endes, sind ermüdet, ent-,täuschl, oder geben sich einer Hoffnung hin, deren nutzlose Wiederkehr eine unerschöpfliche Quelle von Tauschung II. 19 290 ist, und so behalten sie fast immer den Schatz jhrer Erfahrung für sich. Glauben Sie, daß ich die Rückseite der Dinge so, wie ich sie sehe, und in so kurzer Zeit geahnt, gesehen haben würde, wenn mich Geschäfte nach Petersburg geführt hätten? In der Gesellschaft der Diplomaten würde ich dieses Land von ihrem Gesichtspunkte aus betrachtet haben. Hätte ich mit ihnen zu unterhandeln gehabt, würde ich meine Kräfte für die fragliche Sache haben aufsparen müssen und im Uebrigen ein Interesse gehabt haben, mir ihr Wohlwollen durch leichtes Hingehen über Alles zu erwerben. Dies laßt sich nicht lange treiben, ohne Einfluß auf das Urtheil dessen zu haben, der sich Zwang auferlegt. Ich würde mich endlich überredet haben, daß ich in vielen Punkten dachte wie sie denken, ware es auch nur, um vor mir selbst die Schwachheit zu entschuldigen, daß ich spräche wie sie. Meinungen, die Sie nicht zu widerlegen wagen, wie wenig begründet sie Ihnen anfangs auch vorkommen mögen, ändern zuletzt die Ihrigen um. Geht die Artigkeit bis zur blinden Toleranz, so wirb sie ein Verrath an sich selbst und schadet dem Ueberblick des Beobachters, der die Dinge und Personen zu zeigen hat, nicht wie er sie haben will, sondern wie er sie sieht. Trotz meinem Unabhangigkcitssinne sehe ich mich doch oftmals genöthiget, meiner persönlichen Sicherheit wegen der Eitelkeit dieser argwöhnischen Nation zu schmeicheln. Jedes halbrohe Volk ist mißtrauisch. Glauben Sie nicht, daß meine Urtheile über Rußland und die Russen diejenigen fremden Diplomaten in Verwunderung setzen, welche Muße und Neigung gehabt haben, dieses Reich kennen zu lernen; sie theilen meine Ansichten, werden es aber natürlich nicht laut eingesiehen. Glücklich der Beobachter, der so gestellt 291 ist, dzß Niemand ein Recht hat, ihm einen Mißbrauch des Vertrauens zum Vorwurfe zu machm! Ich verheimliche mir indeß auch die Unannehmlichkeiten meiner Freiheit nicht. Wenn man der Wahrheit dienen will, reicht es nicht hin, sie zu kennen, man muß sie auch Andern erkennbar machen. Einsame Geister haben aber den Fehler, daß sie an ihrer Meinung zu fest hängen, wenn sie auch jeden Augenblick den Gesichtspunkt wechseln; denn die Einsamkeit überliefert den Geist des Menschen der Phantasie, die ihn beweglich macht. Sie für Ihren Theil können und müssen meine schein: baren Widersprüche benutzen, um aus meinen traumhaften und wechselnden Schilderungen die eigentlich wahre Gestalt der Personen und Sachen herauszufinden. Danken Sie mir dafür, denn wenige Schriftsteller sind muthig genug, um dem Leser einen Theil ihrer Aufgabe zu überlassen und sich lieber dem Vorwürfe der Inconsequenz aussetzen, als ihr Gewissen mit einem affcctirten Verdienste zu belasten. Wenn die Erfahrung des Tages meinen Folgerungen vom vorigen widerspricht, so scheue ich mich nicht, dies offen zu gestehen; durch die Aufrichtigkeit, die ich mir zum Gesetz mache, werden meine Reisen Gestandnisse. Die Menschen von bestimmter Partei sind ganz Methode und entgehen dadurch der kleinlichen Kritik; diejenigen aber, welche gleich mir, sagen was sie fühlen, ohne über das, was sie fühlen, verlegen zu werden, muffen immer erwarten, dafür zu büßen, daß sie sich gehen ließen. Diese naive und abergläubische Liebe für die Wahrheit und Genauigkeit ist ohne Zweifel eine Schmeichelei für den Leser, in unserer Zeit aber eine gefährliche. Ich fürchte deshalb auch bisweilen, die Welt, in welcher wir leben, sei des Komplimentes nicht würdig. 19' 292 Ich werde also Alles gewagt haben, um die Wahrheitsliebe, eine Tugend, die Niemand bch'tzt, zu befriedigen, und bei meinem unklugen Eifer, indem ich der Gottheit opfere, die keine Tempel mehr hat, indem ich eine Allegorie für etwas Positives nehme, die Mattyrerkrone verscherzen und für einen Einfaltspinsel gelten! Es muß ja in der Gesellschaft, in welcher die Lüge stets ihren Lohn findet, die Redlichkeit nothwendig gestraft werden. Die Welt hat für jedr, Wahrheit ein Kreuz. Ich blieb, um über dies und vieles Andre nachzudenken, lange Zt-it auf der großen Ncwabrücke stehen; ich wünschte meinem Gedächtnisse die beiden verschiedenen Gemälde recht einzuprägen, die ich vor mir sah, wenn ich mich umdrehte. Im Osten der düstre Himmel, die glanzende Erde; im Westen der helle Himmel und die von Schatten bedeckte Erde, — es lag in diesem Gegensatz der beiden Physiognomien Petersburgs im Westen und Osten ein symbolischer Sinn, den ich zu errathen glaubte! im Westen ist das alte, im Osten das neue Petersburg. So ist es, dachte ich bel mir: die Vergangenheit, die alte Stadt im Dunkel; die Zukunft, die neue Stadt im Licht. Ich würde lange da geblieben sein, wenn es mich nicht getrieben hätte, nach Hause zurückzukehren und Ihncn, bevor es aus meiner Erinnerung geschwunden, einen Theil der träumerischen Bewunderung zu schildern, welche die verschwimmenden Töne dieses beweglichen Bildes in mir erregten. Das Ganze laßt sich besser aus der Erinnerung beschreiben, um aber gewisse Details zu malen, muß man die ersten Eindrücke im Fluge erfassen. Das Schauspiel, das ich Ihnen beschrieben habe, erfüllte mich mit. einem religiösen Schauer, den ich zu ver- 293 lieren fürchtete. Wenn man auch an die Wirklichkeit dessen glaubt, was man lebhaft fühlt, so ist man doch zu dem Alter, in welchem ich stehe, nicht gelangt, ohne zu wissen, daß von allem Vergänglichen nichts so schnell vergeht, als die Gefühle, die so lebhaft sind, daß sie ewig dauern zu müssen scheinen. Petersburg kommt mir minder schön, aber anstaunungs-werther vor als Venedig. Beides sind Niesen, welche die Furcht aufbog i Venedig war das Werk der ganz einfachen Furcht; die letzten Römer ziehen die Flucht dem Tode vor und die Furcht dieser Riesen des Alterthums wird eins der Wunder der neuen Welt. Petersburg ist ebenfalls daS Erzeugniß des Schreckens, aber eines frommen Schreckens, denn die russische Politik hat aus dem Gehorsam ein Dogma zu machen gewußt. Das russische Volk gilt für sehr religiös, ich gebe eS zu; aber wie steht es um die Religion, die nicht gelehrt werden darf? Man prediget nie in den russischen Kirchen. Das Evangelium würde den Sclaven die Freiheit enthüllen. Diese Furcht, einen Theil von bem, was man glauben lassen will, begreifen zu lassen, kommt mir verdachtig vor. Je mehr der Verstand und dir Wissenschaft das Gebiet des Glaubens beschranken, um so starkern Glanz verbreitet dieses in seinem Focus concentrirte Himmelslickt; man glaubt besser, wenn man weniger glaubt. Das Bekreuzigen beweist nichts für die Andacht und es kommt mir daher auch vor, als ob die Russen lrotz ihren Kniebeugungen und allen Aeußerlichkciten der Frömmigkeit in ihren Gebeten mehr an den Kaiser, als an den lieben Gott dachten. Dieses Volk, das seinen Herrn vergöttert, sollte wie das japanische einen zweiten Herrscher haben, einen geistlichen Kaiser, der eS in den Himmel führe. Der weltliche Herrscher knüpft es zu 294____ fest an die Erde. „Weckt mich, wenn ihr bei dem lieben Gotte seid," sagte ein Gesandter, welcher in einer russischen Kirche über der kaiserlichen Liturgie einschlief. Bisweilen fühle ich mich fast geneigt, den Aberglauben dieses Volkes zu theilen. Der Enthusiasmus wird anstck-kend, wenn er allgemein ist oder allgemein zu sein scheint; aber sobald die Ansteckung wirkt, denke ich an Sibirien, an dieses unumgänglich nothwendige Hilfsmittel der russischen Civilisation und sogleich finde ich meine Ruhe und meine Selbstständigkeil wieder. Dcr politische Glaube steht hier fester als der religiöse. Die Einheit der griechischen Kirche ist nur scheinbar; die Secten, welche durch das klug berechnete Schweigen der herrschenden Kirche zum Schweigen gebracht werden, wühlen sich ihren Weg unter der Erde fort; aber die Völker sind nur eine Zeit lang stumm; früher oder spater kommt der Tag der Erörterung; Religion und Politik, Alles spricht und erklart sich zuletzt. Sobald diesem Volke, dem man den Maulkorb angelegt hat, die Sprache wiedergegeben ist, wird man so viele Streitigkeiten hören, daß die erstaunte Welt sich zu dem babylonischen Thurmbaue zurückversetzt halten wird. Durch Neligionsstreit wird einst in Rußland eine sociale Revolution herbeigeführt werden. Wenn ich mich dem Kaiser nähere, seine Schönheit, seine würdevolle Haltung sehe, bewundere ich dieses Wunder; daß man einen Menschen an seinem rechten Platze findet, ist überall eine Seltenheit, auf dem Throne ist ein solcher ein Phönix. Ich freue mich, daß ich in einer Zeit lebe, in welcher dieses Wunder exisiirt, weil ich gern achte, wie Andere gern beleidigen. Ich beobachte und prüft indeß die Gegenstande meiner Achtung mit gewissenhafter Sorgfalt; deshalb glaube ich ____295 auch, wenn ich diesen auf der Erde einzigen Mann in der Nähe betrachte, daß sein Kopf zwei Gesichter hat wie jener des Ianus, und daß die Worte Gewaltthat, Verbannung und Unterdrückung oder, was Alles dies sagt, Sibirien, aus jener Stirn eingeqraben stehcn, die ich nicht sehe. Dieser Gedanke verfolgt mich fortwahrend, selbst wenn ich mit dem Kaiser spreche. Wenn ich mich auch bemühe, nur an das zu denken, was ich ihm sage, so wandert meine Phantasie doch unwillkürlich von Warschau nach Tobolsk und der bloße Name Warschau weckt alles Mißtrauen wieder in mir. Wissen Sie, daß in diesem Augenblicke die Straßen nach Asien nochmals mit Verbannten bedeckt sind, welche man neuerdings ihrer Heimat entriß und die zu Fuße ih-rem Grabe zuwandern, wie die Heerden, die von der Weide zur Schlachtbank gehen? Dieses Wiederaufbrausen des Zor-neS wurde durch eine sogenannte polnische Verschwörung veranlaßt, eine Verschwörung junger Thoren, die Helden sein würden, wenn ihr Plan gelungen ware, obgleich ihre Versuche, so verzweifelt sie auch sein mögen, meiner Meinung nach doch nichtsdestoweniger edel sind. Mein Herz blutet für diese Verbannten, für die Familien, für das Vaterland derselben! Was wird geschehen, wenn die Unterdrücker dieses Winkels der Erde, wo sonst das Ritterthum blühete, die Tatarci mit den Edelsten und Muthigsten unter den Kindern des alten Europa bevölkert haben? Sie werden sich ihres Sieges freuen: Sibirien wird daS Königreich und Polen die Wüste geworden sein. Sollte man nicht schamroth werden, indem man das Wort Liberalismus ausspricht, wenn man bedenkt, daß es >n Europa ein Volk giebt, das unabhängig war und nun k"ne andere Freiheit mehr kennt als die der Apoftasie? Die 296 Ruffcn vergessen, wenn sie die Waffen, welche sie mit Erfolg gegen Asien brauchen, gegen den Westen wenden, daß eine Handlungsweise, die bei den Kalmücken dm Fortschritt fördert, einem langst civilisirtcn Volke gegenüber ein Verbrechen an der Majestät der Menschheit wird. Ich enthalte mich, wie Sie schen, das Wort Tyrannei auszusprechen, ob es gleich vielleicht an seinem Platze wäre; es würde aber Menschen, die unempfindlich hegen die Klagen sind, welche sie unaufhörlich erpressen, Waffen gegen mich in die Hände geben. Diese Menschen sind immer bereit, über „reuolm tionare Declamationen" zu schreien. Sie antworten auf Gründe durch das Schweigen, den Grund des Starkem, auf den Unwillen durch Verachtung, jenes Recht oeS Schwachem, das der Stärkere sich angemaßt, — und da ich ihre Taktik kenne, so will ich ihncn tcine Veranlassung zum Lächeln geben. Aber warum besorgt sein? Noch einige Seiten, und sie werden nicht weiter lesen, mein Buch auf den Index setzen und davon zu sprechen verbieten; das Buch wird für sie und bei ihnen nicht existircn, nie existirt haben; ihre Regierung vertheidigt sich dadurch, daß sie sich stumm stellt, wie ihre Kirche. Diese Politik ist bis jetzt gelungen und muß in einem Lande noch lange gelingen, wo die Entfernungen, die Absonderung, die Sümpfe und der Winter bei den Gebietenden die Stelle des Gewissens, bei den Gehorchenden die der Geduld vertreten. Man kann es nicht oft genug wiederholen, ihre Revolution wirb um so schrecklicher sein, weil sie im Namen der Religion erfolgen wird. Die russische Politik hat die Kirche mit dem Staate verschmolzen, um den Himmel und die Erde zu verschmelzen; ein Mensch, der in seinem Gebieter Gott sieht, hofft auf das Paradies nur durch die Gnade des Kaisers. 297 Die Auftritte an der Wolga dauern sott und man schreibt diese Gräuel den Aufreizungen der polnischen Emissäre zu, eine Beschuldigung welche an die Gerechtigkeit des Wolfes in Lafontaine's Fabel erinnert. Diese Grausamkeiten, diese gegenseitigen Ungerechtigkeiten sind ein Vorspiel der endlichen Erschütterung und deuten uns an, wie dieselbe beschaffen sein wird. Aber in einer. Nation, die so regiert wird wie die russische, kochen die Leidenschaften lange, bevor sie losbrechen; wenn auch die Gefahr von Stunde zu Stunde näher rückt, so zieht sich doch das Uebel in die Lange, verzögert sich doch die Krisis; villleicht sehen unsere Enkel den Ausbruch noch nicht, den wir jedoch schon jetzt als unvermeidlich voraussagen können, wenn wir auch die Zeit nicht genau anzugeben vermögen. Fortgesetzt am 3. August 1839. Ich komme nicht fort, — der liebe Gott selbst mischt sich hinein! Wieder eine Verzögerung! Aber Sie werden mir dieselbe nicht zum Vorwurfe machen. Ich wollte eben in den Wagen stcigen, da besteht ein Freund darauf, mich zu sehen und tritt herein. Er will mir sogleich einen Brief vorlesen. Mein Gott, welcher Brief! Er ist von der Fürstin Trubchkoi, die ihn an eine Person ihrer Familie richtete und derselben auftrug, ihn dem Kaiser zu zeigen. Ich wünschte ihn abzuschreiben, um ihn wörtlich drucken zu lassen, aber das wurde mir nicht erlaubt. ,,Er würde die Reise um die ganze Erde machen," sagte mein Freund, erschrocken über den Eindruck, den er auf mich hervorgebracht hatte. „Ein Grund mehr, ihn bekannt zu machen," entgeg« nete ich. 298 „Unmöglich. Es hängt das Leben mehrerer Personen davon ab, und übrigens hat man ihn mir nur geliehen, damit ich Ihnen denselben zeige, und unter der Bedingung, oaß ich ihn nach einer halben Stunde zurückgebe." Unglückliches Land, wo jeder Fremde in den Augen einer Schaar von Unterdrückten als Retter erscheint, weil er die Wahrheit, die Oessentlichkcit, die Freiheit bei einem Volke vertritt, das alle diese Güter entbehrt. Ehe ich Ihnen s^e, was dieser Brief enthalt, muß ich Ihnen mit wenigen Worten die traurige Geschichte erzählen. Die Hauptsache kennen Sie schon, wenn auch ungenau wie Alles, was man von einem fernen Lande weiß, an dem man nur ein kaltes Neugier-Interesse nimmt; dieses Ungenaue macht Sie grausam und gleichgültig, wie ich es war, ehe ich nach Rußland kam; lesen Sie und erröthen Sie, ja erröthen Sie; denn wer nicht aus allen Kräften gegen die Politik eines Landes protestirt hat, in welchem solche Dinge möglich sind und wo man sie für nothwendig zu erklären wagt, ist bis zu einem gewissen Punkte mitschuldig und verantwortlich. Ich schicke durch meinen Feldjäger die Pferde unter dem Verwände plötzlichen Unwohlseins zurück und lasse aus der Post ansagen, daß ich erst den nächsten Tag abreisen würde. Nachdem ich jenen Spion entfernt, fange ich an, Ihnen zu schreiben. Der Fürst Trubetzkoi wurde vor vierzehn Jahren zu Zwangsarbeit verurtheilt; er war damals noch jung und hatte an dem Aufstande vom 14. December schr thätigen Antheil genommen. Die Soldaten follten über die Rechtmäßigkeit des Kaisers Nicolaus getauscht werden, und die Führer der Verschworenen hoffcen d:n Irrthum der Truppen zu benutzen, ^ 299 um durch eine Casernenemeute eine politische Revolution zu bewirken, deren Bedürfniß sie bis dahin, zum Glück oder Unglück für Rußland, allein gefühlt hatten. Die Zahl dieser Reformatoren war zu unbeträchtlich, als daß die von ihnen angeregten Unruhen das Resultat bewirken konnten, welches sie erwarteten. Die Verschwörung wurde durch die Geistesgegenwart des Kaisers oder vielmehr durch die Unerschrockenheit seines Auges vereitelt"). Dieser Regent schöpfte glrich am ersten Tage seiner Herrschaft die ganze Kraft seiner Regierung aus seiner energischen Haltung. Nachdem die Revolution unterdrückt war, mußten die Schuldigen bestraft werden. Der Fürst Trubetzkoi, der mit am meisten compromittirt war, konnte sich nicht rechtfertigen, und man schickte ihn als Sträfling auf vierzehn bis fünfzehn Jahre in die Bergwerke am Ural und für sein übriges Leben nach Sibirien in eine jener fernen Colonien, welche die Uebelthater bevölkern sollen. Der Fürst hatte eine Frau, deren Familie zu den angesehensten im Lande gehört, und die man nichi davon abzubringen vermochte, ihrem Gatten in das Grab zu folgen. „Es ist meine Pflicht," sagte sie, „und ich werde sie erfüllen; keine menschliche Macht hat das Recht, eine Frau von ihrem Manne zu trennen: ich will das Schicksal des meinigen theilen." Die edle Frau erhielt die Gnade, mit ihrem Gatten sich lebendig begraben zu lassen. Seit ich in Rußland bin und den Geist, welcher diese Regierung leitet, einigermaßen erkenne, wundere ich mich, daß man in Folge eines Uebermaßes von Scham diese Handlung der Aufopferung vierzehn Jahre lang achten zu müssen glaubte. Daß ') S. im !3. Briefe das Gespräch mit dem Kaiser. 30«^ man den patriotischen Heroismus begünstigt, lst gan; einfach,— man benutzt ihn; daß man aber eine erhabene Tugend duldet, die mit den politischen Ansichten des Herrschers nicht übereinstimmt, ist ein Vergessen, das man sich gewiß zum Vorwurf gemacht hat. Man wird wohl die Freunde Trubetzkoi's gefürchtet haben-, eine Aristocratic behält immer, wie entnervt sie auch sein mag, einen Schatten von Unabhängigkeit, und der Despotismus fürchtet sich schon vor diesem Schatten. Der hiesige Staat ist rcich an Kontrasten; viele Manner sprechen hier unter einander so frei, als ob sie in Frankreich lebten, und diese geheime Freiheit tröstet sie über dir öffentliche Sclavcrei, die Schmach und das Unglück ihres Vaterlandes. Aus Besorgniß also, mächtige Familien zu erbittern, wird man einer gewissen Klugheit oder einem gewissen Erbarmen nachgegeben haben; die Fürstin reisele mit ihrem Manne, dem Sträflinge, ab, und sie kam an Ort und Stelle an, was noch wunderbarer ist; denn diese unermeßliche Reise war an sich eine entsetzliche Prüfung. Sie wis, sen, daß dirse Reisen in der Telega, einem kleinen offenen Wagen ohne Federn, gemacht werden, und daß man Hunderte, Tausende von Stunden auf Holzknütteln hinrollt, welche die Wagen und die Knochen der Reisenden zerbrechen. Die unglückliche Frau ertrug diese Mühseligkeit und dann noch viele andere; ich kann mir ihre Leiden und Entbeh: rungen denken, vermag sie Ihnen aber m'cht zu beschreiben, da mir die Einzelnhciten abgehen und ich nicht erfinden mag. Die Wahrheit in dieser Geschichte st heilig. Die Anstrengung wird Ihnen noch heldenmüthigcr er« scheinen, wenn Sie erfahren, daß die beiden Gatten bis zu dem Augenblicke der Katastrophe ziemlich kalt mit einander gtlebt haben. Vertritt aber eine leidenschaftliche Aufopferung 301 die Liebe nicht? ist sie nicht selbst die Liebe. Die Liebe hat Mehrere Quellen und die Aufopferung ist die ergiebigste. In Petersburg harten sie keine Kinder gehabt; in Sibirien bekamen sie fünf. Jener Mann, den der Eoelmuth seiner Frau glorreich machte, ist in den Augen Aller, die sich ihm nähern, ein heiliges Wesen geworden. Wer würde auch den Gegenstand einer so heiligen Freundschaft nicht verehren! Wie schuldig der Fürst Trubetzkoi auch war, die Begnadigung, welche der Kaiser wahrscheinlich bis zu Ende verweigert, denn er glaubt sich und seinem Volke unwandelbare Strenge schuldig zu sein, ist ihm von dem Könige der Könige schon längst gewährt. Die fast übernatürlichen Tugenden einer Gattin können den Zorn eines Gottes besänfti: gen, die menschliche Gerechtigkeit vermögen sie nicht zu entwaffnen, — weil eine göttliche Allmacht eine Wirklichkeit, die des Kaisers von Rußland aber nur eine Fiction ist. Ware er so groß, wie er zu sein scheint, so hätte er langst verziehen, aber die Milde erscheint ihm als eine Schwache, durch die er seiner Würde etwas vergäbe. Da er gewohnt ist, seine Gewalt nach der Furcht zu messen, die er einstößt, so würde er dem Gesetze seiner politischen Moral untreu zu werben fürchten, wcnn er Erbarmen übte. Ich beurtheile die Macht eines Menschen über die Anderen nur nach der, welche ich ihn über sich selbst ausüben sehe, und halte seine Herrschaft erst dann für gesichert, wenn er zu verzeihen gelernt haben wird. Der Kaiser Nicolaus hat nur gestraft. Er versteht sich auf die Schmeichelei, da ihm sein ganzes Leben hindurch sechszig Millionen Menschen schmeicheln, die ihm einzureden sich bestreben, daß er über den Menschen stehe, und glaubt nun seinerseits dem Volke, 302 von dem er angebetet wird, einig« Körner Weihrauch streuen zu müssen. Die Verzeihung würde eine gefahrliche Lehre bei einem Volke sein, das im Grunde der Seele noch so roh ist, wie das russische. Der Fürst steigt zu seinen rohen Unterthanen herab; er verhärtet sich mit ihnen und scheut sich nicht, sie zu verthiercn, um sie an sich zu fesseln; Volk und Fürst wetteifern unter einander in Tauschungen, Beurtheilen und Umnenschlichkeit. Beklagenswerthe Verbindung von Varbarei und Schwache, Austausch von Rohheit, Circulation der Lüge, welche das Leben eines Ungethüms oil: den, eines leichenhaften Körpers, dessen Blut Gift ist, — das ist der Despotismus. Die beiden Gatten haben vierzehn Jahre a n den Bergwerken des Urals gelebt, denn die Arme eines Arbeiters wie der Fürst fördern dir materielle Arbeit wenig; er ist nur da, um da zu sein; er heißt Sträfling, und das genügt. Sie werden sogleich sehen, was dieser Stand für einen Mann — und seine Kinder bewirkt. Es fehlt in Petersburg nicht an guten Russen; ich habe einige kennen gelernt, welche das Lebm der Verurtheil-ten in den Bergwerken für recht ertraglich halten und sich darüber beklagen, daß die modernen Phrasenmacher die Leiden der Verschwörer im Ural übertreiben. Sie gestehen allerdings zu, daß man ihnen kein Geld senden kann; aber Lebensmittcl dürfen ihnen die Verwandten zukommen lassen. Zwar können wenige Lebensmittel so fabelhaft weit in einem solchen Clima transportirt werden, ohne zu verderben; wie groß aber auch die Leioen und Entbehrungen der Verurtheilten sein mögen, die achten Patrioten billigen d"s politische Bagno russischer Erfindung ohne Einschränkung, ja diese Höftinge sinden die Strafe noch zu mild für das Verbrechen. 303 Am 18. Fructkbor bedienten sich die französischen Republikaner desselben Mittels: einer der fünf Director?«, Varth^lemy, wurde nach Cayenne deportirt, sowie eine beträchtliche Anzahl von Personen, die angeklagt und überführt waren, die philanthropischen Ideen der Partei der Majorität mit zu großem Eifer angenommen zuhaben; die Unglücklichen wurden aber doch nur verbannt, nicht degra: dirt; man behandelte sie al? Bürger, wenn auch als überwundene Feinde. Die Republik sandte sie weg, damit sie in Ländern stürben, wo die Lust die Europäer vergiftet; aber sie machte sie nicht zu Parias, wenn sie dicftlben auch tödtete, um sie los zu werden. Wie es nun auch um die Annehmlichkeiten Sibiriens stehen mag, die Gesundheit der Fürstin Trudetzkoi wurde durch ihren Aufenthalt in den Bergwerken zerrüttet. Man vermag es taum zu begreifen, wie eine Frau, die an den Luxus der großen Welt in einem üppigen Lande gewohnt war, die Entbehrungen aller Art, denen sie sich freiwillig unterwarf, so lange ertragen konnte. Sie wollte leben und sie lebte, sie wurde schwanger, gebar und erzog ihre Kinder unter einem Himmelsstriche, dessen lange kalte Winter wir für lebensgefährlich halten. Der Thermometer fallt da jcdes Jahr auf 3« bis 4l>Grad; diese Temperatur allein könnte das Menschengeschlecht vertilgen, aber die heilige Frau hat andere Sorgen. Als sie nach einem siebenjährigen Eril ihre Kinder heranwachsen sah, glaubte sie an eine Perfon ihrer Familie schreiben zu muffen, um sich zu bemühen, daß man den Kaiser demüthig bitte, er möge erlauben, daß sie nach Petersburg oder in irgend eine andere große Stadt geschickt würden, um eine passende Erziehung zu erhalten. 304 Die Bitte wurde vor den Füßen des Czars niedergelegt, und der Nachfolger der Iwan und Peters I. antwortete, die Kinder eines Sträflings, die selbst Sträflinge, wären immer unterrichtet genug. Auf diefe Antwort schwieg die Familie, — die Mutter, der Verurteilte wieder sieben Jahre lang. Nur die Menschlichkeit, Ehre, christliche Liebe und Religion protestirten für sie, aber ganz lcist. Nicht eine Stimme erhob sich gegen eine solche Gerechtigkeit. Eine Verdoppelung des Elends hat jetzt einen letzten Schrei aus der Tiefe dicsts Abgrundes Herauforingen lassen. Der Fürst hat feine Strafzeit überstanden, und nun müssen die sogenannten „freigelassenen" Verbannten mit ihren Kindern eine Ansiedelung in einem der entlegensten Winkel der Einöde anlegen. Ihr neuer Aufenthaltsort, den der Kaiser selbst absichtlich wählte, ist so rauh und wild, baß sich der Name desselben noch nicht einmal auf den Karten des russischen Generalstabes, den treuesten und ausführlichsten, die man kennt, verzeichnet findet. Sie sehen ein, daß der Zustand der Fürstin (ich nenne nur sie) wcit schlimmer ist, seit man ihr erlaubt hat, diese Einöde zu bewohnen (bemerken Sie wohl, daß >n dieser Sprache die Erlaubniß eine Verpflichtung ist). In den Bergwerken wärmte sie sich unter der Erde; die Familie hatte wenigstens Unglücksgefährten, stumme Tröster, Zeugen ihres Hcldenmuthes; sie begegnete menschlichen Blicken, die ihr rühm loses Martyrerthum, welches durch diese Ruhmlosigkeit nur noch erhabener wurde, sahen und ehrfurchtsvoll beklagten; es schlugen die Herzen bei ihrem Anblicke, sie fühlte sich in Gesellschaft, auch wenn sie nicht das Bedürft niß zu sprechen hatte; denn was auch die Regierungen ^ 305 thun mögen, das Mitleid bricht sich überall Bahn, wo es Menschen giebt. Wie aber Baren rühren, undurchdringliche Walder durchbrechen, ewiges Eis schmelzen, einen grenzenlosen Sumpf überschreiten, sich in einer Hütte vor der tödtlichen Kälte schützen? Wie sollte die Frau allein mit ihrem Manne und ihren fünf Kindern hundert, vielleicht noch mehr Stunden Von jeder menschlichen Wohnung, der des Aussehers der Ansiedler vielleicht ausgenommen, existiren? denn das heißt man in Sibirien: sich ansiedeln. Eben so sehr als die Resignation der Fürstin bewundere ich die Veredtsamkeit und die erfinderische Zärtlichkeit, die sie in ihrem Herzen finden mußte, um das Niderstreben ihres Mannes zu überwinden und ihn zu überreden, daß sie weniger zu beklagen, wenn sie bei ihm bleibe und mit ihm leide, als wenn sie in Petersburg von allen Bequemlichkeiten des Lebens umgeben, aber von ihm getrennt sei. Wenn ich bedenke, was sie gab und was sie aufbot, um die Annahme desselben zu bewirken, so kann ich nur stumm bewundern; diestn Triumph der durch den Erfolg belohnten Aufopferung, weil sie von dem Gegenstande so großer Liebe angenommen wurde, hatte ich für ein Wunder von Zart« gefühl und Kraft; es ist edel und selten, sich selbst zu opfern, die Annahme eines solchen Opfers zu bewirken, ist erhaben. Jetzt wissen dieser Vater und diese Mutter, die, von aller Hülfe entblößt, ohne körperliche Kraft gegen so großes Unglück, durch die trügerischen Hoffnungen der Vergangenheit und durch die Vesorgniß vor der Zukunft erschöpft, in der Einsamkeit verloren, in dem Stolze ihres Unglücks ohne Zeugen gebrochen, in ihren Kindern gestraft sind, deren Unschuld die Pein ihrer Aelttrn nur erhöhet, jetzt wissen diese N. 2U 306 Märtyrer einer schrecklichen Politik nicht mehr, wie sie mit ihrcr Familie leben sollen. Die Kinder, die durch Geburt Sträflinge sind, diese kaiserlichen Parias haben zwar nur Nummern, keinen Namen, aber wenn sie auch kein Vaterland, keinen Platz in dem Staate mehr besitzen, so hat ihnen die Natur doch Körpcr gegeben, die genährt und bekleidet werden müssen; wirb eine Mutter, welche Seelen« Hoheit sie auch besitzen mag, die Frucht ihres Leibes umkommen sehen, ohne um Gnade zu stehen? Nein, sie demüthiget sich, — nicht aus christlicher Tugend; die starke Frau wird durch die verzweifelnde Mutter besiegt; das Gebet zu Gott genügt nur für ihr ewiges Heil, und sie betet zu den Menschen um Brod — Gott verzeihe es ihr! Sie sicht ihre Kinder erkranken, ohne ihnen helfen, ohne durch ein Heilmittel ihnen Linderung geben, ihnen vielleicht das Leben retten zu können. In den Bergwerken konnte man sie doch noch pflegen und arztlich behandeln lassen; in dem neuen Eril gebricht es ihnen an Allem. Der Vater, durch so großes Unglück gebeugt, laßt seine edle Gattin handeln, wie ihr gut dünkt; sie vergißt mit heroischem Edelmuthe die Grausamkeit einer ersten abschlägigen Antwort und schreibt aus ihrer Hütte einen zweiten Brief, der an ihre Familie gerichtet, aber für den Kaiser bestimmt ist. Sie warf sich so unter die Füße ihres Feindes, sie vergaß, was man sich s.lbst schuldig ist, aber wer wollte der Unglücklichen einen Vorwurf machen? Gatt beruft seine Auserwahl-ten zu allen Arten von Opfern, selbst zur Aufopferung des gerechtesten Stolzes; aber Gott ist auch gütig, und seine Schatze sind unerschöpflich. Ach, der Mensch, welcher das Leben ohne Jenseits begreifen kann, hat von den Dingen, dieser Welt nur die schöne Seite gesehen, von und unter Tauschungen gelebt, wie ich hier in Rußland reisen soll. 307 Der Brief der Fürstin ist an seine Bestimmung gelangt, der Kaiser hat ihn gelesen, und um mir diesen Brief mitzutheilen, verhinderte man meine Abreise. Ich bedauere diese Verzögerung nicht; nie habe ich etwas Einfacheres und Rührenderes gelesen. Handlungen wie die der Fürstin Trubetzkoi bedürfen keiner Worte; sie benutzt ihr Vorrecht als Heldin, sie ist lakonisch, selbst indem sie um das Leben ihrer Kinder bittet. In wenigen Zeilen setzt sie ihre Lage auseinander, ohne leere Declamationen, ohne Klagen. Sie stellt sich über jede Beredtsamkeit; die Thatsachen allein sprechen für sie; zuletzt bittet sie um die einzige Gunst, wenigstens im Bereiche einer Apotheke wohnen zu dürfen, damit sie ihren Kindern, wenn sie krank sind, Arzenei geben könne ... Die Umgegend von Tobolsk, von Irkutsk, von Orenburg würde ihr ein Paradies sein. In den letzten Worten des Briefes wendet sie sich nicht mehr an den Kaiser, sie vergißt Alles, nur ihren Mann nicht, — sie antwortet auf den Gedanken ihres Herzens mit einem Zartgefühle und einer Würde, welche verdiente, das fluchwürdigste Verbrechen vttgcssen zu lassen, — und sie ist unschuldig! — und der Gebieter, an den sie sich wendet, ist allmächtig und nur Gott für seine Handlungen Rechenschaft schuldig! ... „Ich bin sehr unglücklich;" schreibt sie, „ich würde aber, wenn es noch einmal gethan werden müßte, noch einmal thun, was ich gethan habe." Es fand sich in der Familie dieser Frau eine Person, die Muth genug besaß — und wer Rußland kennt, wird diese Handlung des Mitleids zu würdigen wissen -—, es fand sich eine Person, die Muth genug besaß, um diesen Brief dem Kaiser zu übergeben und das Gesuch einer in Ungnade gefallenen Verwandten selbst mit einer demüthigen Bitte zu unterstützen. Man spricht mit dem Herrn von ihr nur mit 20« 308 Schrecken/ wie von einer Verbrecherin und dennoch würde man sich vor jedem andern Menschen als dem Kaiser von Nußland laut rühmen, mit diesem edeln Opfer der ehelichen Pflicht verwandt zu sein, — der ehelichen Pflicht? nein, daS ist mchr als Pflicht eines Weibes, das ist der Enthusiasmus eines Engels. Doch muß man so vielHeldmmuth für nichts achten, man muß zittern und um Gnade flehen für eine Tugend, welche die Pforten des Himmels sprengt! Wahrend alle Manner, alle Söhne, alle Frauen, alle Menschen ein Denkmal zu Ehren dieses Musters aller Frauen errichten, wahrend alle auf ihre Kniee fallen und ihr Lob singen, sie vor den Heiligen preisen sollten, wagt man es nicht, sie vor dem Kaiser zu nennen!! Warum regiert man, wenn nicht jedem Verdienste sein Necht widerfahren soll? Ich würde, wenn sie zurückkehrte, hinwandern, um sie vorüberkommen zu sehen und, könnte ich mich ihr nicht nahern, nicht mit ihr sprechen, mich begnügen, sie zu beklagen, sie zu beneiden und ihr von weitem zu folgen, wie man hinter einem heiligen Banner schreitet. Nun, nach vierzehn Jahren ist die nie unterbrochene Rache noch nicht gestillt. Ich muß meinem Unwillen Luft machen; man begeht einen Verrath an einer heiligen Sache, wenn man bei der Erzählung solcher Dinge nicht die rechten Ausdrücke gebraucht. Mögen die Nüssen reclamiren, wenn sie es wagen; ich will lieber der Achtung für den DespotiS« mus, als dem Unglücke zu nahe treten. Sie werden mich zermalmen, wenn sie es im Stande sind, aber Europa soll es erfahren, daß ein Mann, dem sechszig Millionen Men« jchm unaufhörlich sagen, er sei allmachtig, — sich rächt! Ja, eine solche Justiz nenne ich Rache. Nach vierzehn Jahren erhält diese durch so großen heroischen Muth geadelte 309 Frau von dem Kaiser Nlcolaus statt aller Antwort die Worte, die Sie lesen werden und die ich aus dem Munde einer Person habe, welcher der muthige Verwandte des Opfers sie mittheilte: „ich bin erstaunt, daß man noch immer wagt., (zweimal in fünfzehn Jahren!..), cine Familie vor mir ;u erwahncn, deren Haupt gegen mich conspirirle!" — Zweifeln Sie an dieser Antwort, ich zweifle selbst an ihr, habe aber den Beweis, daß sie wahr ist. Die Person, die sie mir mitgetheilt hat, verdient volles Vertrauen und übrigens sprechen die Thatsachen: d?r Brief hat in dem Schicksale der Verbannten nichts geändert. Und Nußland rühmt sich der Abschaffung der Todesstrafe!!") Mäßigt Euern Eifer, schasst zuerst die Lüge ab, °) Wozu nützen die Institutionen in einem Lande, in welchem die Regierung über den Gesetzen stcht und das Volk unter dem Drucke schmachtet nebcn der Gerechtigkeit, die ihm von Weitem gezeigt wird, wie man einen Leckerbissen einem Hunde zeigt, den man prügelt, wenn er herankommt, wie eine Curiosität, die mit der Bedingung dasteht, daß sie Niemand anrühre. Man glaubt zu träumen, wenn man unter einer so grausam willkürlichen Regierung in der Broschüre des Herrn I. Tolstoi: (ü<,li>> ll'oeil »ur l2 I6ßi8!»t»re r»85e, welcher ein leichter Abriß der Verwaltung bcigcgcben ist, die höhnischen Worte liesct: „Sie (die Kaiserin „Elisabeth) dccrttittc die Abschaffung der Todesstrafe. Diese so „schwer zu lösende Frage, welche die aufgeklärtesten Publizisten, „die Criminalisten und Juristen unserer Zeit unter allen Gesichts-„punkten untersucht, behandelt und beschrieben haben, ohne daß „sie die Losung fanden, lösete Elisabeth vor ungefähr hundert „Jahren in cincm Lande, das man stets als ein barbarisches „schildert." DieseS mit so bedächtiger Miene angestimmte Triumphlied giebt uns ein Probchen von der Art, wie die Russen die Civilisation verstehen. In Bezug auf politische und legislative Fortschritte hat sich Rußland bis jetzt mit dem Worte begnügt; bei der Art, wie die Gesetze in diesem Lande gehanbhabt werben, 310 die überall herrscht, Alles verunstaltet und Alles vergiftet bei Euch und Ihr werdet für das Wohl der Menschheit schon viel gethan haben. wagt man nichts, wenn man sie mild macht. Nach einem entgegengesetzten Systeme machte man sie in dem westlichen Europa des Mittelalters streng und mit eben so wenig Erfolg! Man sollte zu den Russen sagen: decrctirt vor allen Dingen die Erlaubniß zu leben, dann mögt Ihr Eure Strafgesetze wieder verschärfen. Im I. I836 war die Schwester eines Herrn Pawloff, der bei irgend einer Verwaltungsbehörde angestellt war, von einem jungen Manne verführt worden, welcher sich trotz den Aufforderungen des Bruders weigerte, sie zu heirathen. Als dieser erfuhr, baß der Verführer eine Andere hcirathen wolle, lauerte er dem Bräu^ tigam an d^r Thüre srincs Hauses in dem Augenblicke auf, als der Zug aus der Kirche zurückkam, und erstach ihn. Am Tage darauf wurde Pawloff dcgraoirt und sollte die gesetzliche Strafe des Exils antreten, als der besser unterrichtete Kaiser das U-rtel des minder gut unterrichteten Kaisers cassirte ... Am zweiten Tage war der Mörder in seine Stelle wieder eingesetzt. Bei Gelegenheit des Attentates Alibauds ereiferte sich ein Russe, der kein Bauer, sondern der Ncsfe eines der geistreichsten Großen Rußlands ist, gegen die französische Regierung; „welches Land!" rnf er aus; „einem solchen Ungeheuer den Proceß zu machen! warum richtet man ihn nicht den Tag nach dem Attentate hin?!" Eine solche Vorstellung haben die Russen von der Achtung, welche man der Gerechtigkeit und der Justiz schuldig ist. Die kleine Broschüre des Herrn I. Tolstoi ist eine Hymne in Prosa zu Ehren des Despotismus, welchen er unaufhörlich, absichtlich oder nicht, mit der gemäßigten Monarchie verwechselt. Die Schrift ist werthooll wegen der Geständnisse, die sich unter der Gestalt von Lobeserhebungen darin finden, und hat übrigens einen ossmellen Character wie Alles, was die Russen drucken lassen, die weiter in ihrem Vaterlande leben wollen. Hier einige Beispiele von der unschuldigen Schmeichelei, die man an andern 31 l Die Verwandten der Verbannten, die Trubehkois, eine machtige Familie, leben in Petersburg und — gehen an den Hof!! Dus ist der Geist, die Würde, die Unabhängigkeit der russischen Anstocratie. In diesem Lande der Gewaltthat rechtfertiget die Furcht Alles, ja mehr noch, sie ist einer Ve- Orten Beleidigung nennen würde. Der Verf. rühmt den Kaiser Nicolaus wegen der Reformen, die er in den russischen Gesetzen vorgenommen; in Folge dieser Verbesserungen, sagt er, „kann von nun an kein Edelmann in Kelten geschlagen werden, wie auch das Urtheil gegen ihn ausfalle." Hält man dies mit den Handlungen des Kaisers, namentlich mit dcn Thatsachen zusammen, die man oben gelesen hat, so findet man einen Maßstab <ür das Vertrauen, welches den Gesehen dieses Landes und denen zu schenken ist, welche bald die Milde derselben, bald die Wirksamkeit rühmen. An andern Stellen setzt derselbe Hofmann, Schriftsteller wollte ich sagen, seine Lobeserhebungen fort und rühmt uns mit folgenden Worten das, was er die Constitution seines unglücklichen Vaterlandes nennt: „In Ruß-„land erlangt das Gesetz, das direct von dem Herrscher ausgeht, ,,mehr Kraft, als dir Gesttze, welche aus berathenden Versammlungen hervorgehen, weil Alles, was aus diesem Urquell kommt, „mit einem gewissen religiösen Gefühle betrachtet wird, da „der Kaiser das geborene Oberhaupt der Landesreligion ist, und „das von den gottesmörderischen Lehren noch nicht ange-„ steckte Volk Alles für heilig halt, was aus dieser Quelle strömt." Die Sicherheit, mit welcher diese Schmeichelei ausgesprochen wird, macht jede Bemerkung überflüssig, da nach solchen Lobsprüchen feine Satyre treffender wirken kann. Die Wahl des Gesichtspunktes, welche der Schriftsteller, ein Mann aus den vornehmen Kreisen, ein Mann von Geist, ein Geschäftsmann, getrof« fen hat, sagt über die Gesetzgebung seines Vaterlandes, oder vielmehr über die religiöse, politische und juristische Verwirrung, welche man in Nußland die gesellschaftliche Ordnung nennt, über das bürgerliche Leben, über den Geist, die Meinungen und die Sitten der Russen mehr, als ich in Banden voll Reflections entwickeln konnte. 312 lohnung gewiß. Die Furcht, der man den schönern Namen Klugheit und Mäßigung giebt, ist das einzige Verdienst, das nie vergessen wird. Es giebt Leute hier, welche die Fürstin von Trubetzkoi wahnsinnig nennen. „Kann sie nicht allein nach Petersburg zurückkommen?" sagt man. Man fliehe ein Land, wo man allerdings nach den Gesetzen nicht tödtet, wo man aber im Namen eines politischen Fanatismus, der Alles entschuldiget, Familien von Verurcheittcn macht. ' Ich zögere, ich schwanke nicht langer; in mir steht oas Urtheil über den Kaiser Nicolaus endlich fest. Er ist ein Mann von Character und Willen, und das muß er sein als absoluter Herrscher eincs Dritttheiles der Erde, aber es fehlt ihm Großmuth—; der Gebrauch, den er von seiner Gewalt gemachthat, beweist es nur zu gut. Gott verzeihe es ihm; ich werde ihn glücklicher Weise nicht wieder sehen. Ich würde ihm sagen, was ich von dieser Geschichte denke, und das ware der höchste Grad von Insolenz. Uebrigens würde ich auch durch diese wohlfeile Kühnheit den Unglücklichen, deren Vertheidigung ich ohne Auftrag übernommen, den Todesstoß geben und mich selbst in das Verberben stürzen.") Welches Herz blutete nicht bei dem Gedanken an die freiwillige Strafe dieser unglücklichen Mutter? Gott! wenn das das Schicksal der erhabensten Tugend auf der Erde ist, so zeige ihr Deinen Himmel und öffne ihn für sie noch vor der Stunde des Todes! Kann man sich vorstellen, was diese Frau empfinden muß, wenn sie ihre Kinder anblickt, wenn ') Dies fürchte ich nicht durch die Veröffentlichung in meinem Buche, denn da ich über Alles meine Meinung frei ausgesprochen habe, kann man nicht annehmen, daß ich hier auf die Bitte einer Familie oder einer Person spreche. 313 sie mit ihrem Gatten ihnen den Unterricht zu geben versucht, der ihnen mangelt? Unterricht! Bildung! Sie sind Gift für diese numerirten Mcnschenthiere! Können es aber Leute aus der vornehmen Welt, Personen, die wie wir erzogen wurden, über sich gewinnen, ihre Kinder nur das zu lehren, was sie zu wissen brauchen, um in der sibirischen Kolonie glücklich zu sein? Können sie allen ihren Erinnerungen, allen ihren Gewohnheiten entsagen, um den unschuldigen Opfern ihrer Liebe das Unglück ihrer Lage zu verheimlichen? Muß nicht die angeborne Eleganz der Eltern den jungen Wilden Ideen geben, die sie nie verwirklichen können? Welche Gefahr, welche Qual für sie alle Augenblicke und welcher tödtliche Zwang für ihre Mutter! Diese moralische Tortur neben so vielen und großen körperlichen Leiden ist für mich ein grauen-, hafter Traum, aus dem ich nicht erwachen kann; seit gestern früh verfolgt mich dieser Alp jeden Augenblick; ich überrasche mich über der Frage: Was macht jetzt die Fürstin Trubetzkoi? Was sagt sie zu ihren Kinoern? Mit welchen Augen sieht sie dieselben an? Welches Gebet richtet sie an Gott für diese Geschöpft, welche durch die Vorsehung der Russen schon vor ihrer Geburt uerurtheilt waren? Ach diese .Straft, welche eine unschuldige Generation trifft, entehrt eine ganze Nation! Ich schließe mit der nur zu wohl verdienten Anwendung jener Verse Dantes. Als ich sie auswendig lernte,, ahnte ich den Gebrauch nicht, den ich hier vnn ihnen machen würde: Ahi Pisa! vitnperio delle genti Del l>el paese la dove 'I si sona; Poi cli* i vicini a te piinir son lenti, Muova si la Capraia e la Gorgona; E faccian sie^e ad Arno in su la foce, Si ch' egli annieghi in te ogni persona: 314 Clie se T conte Ugolino aveva voce U'aver tradita te de Ie castella; Non dovei tu i iigluioi porre a tal croce. Innocenti i iacea l'eta novella, Novella Tebe, Uguiccion , e 'I Rrigata E gli altri due, elf el canto suso appella. (O Pisa, Schmach der Völker dieses schönen Landes, wo das Ja ertönt; da die Nachbarn zögern, dich zu strafen, so mögen die Capraia und Gorgona sich bewegen und den Arno eindämmen an seiner Mündung, damit er alle deine Bewohner ersaufe. Wenn auch der Graf Ugolino deine Burgen verrätherisch übergeben haben sollte, so dürftest du doch seine Kinder nicht zu solcher Qual verurtheilcn. Unschuldig machte sie ihr jugendliches Alter, neues Thebm, Uguiccion und Biigata und die Andern, die ich oben besungen habe.) Ich werde meine Reise beendigen, aber ohne nach Borodino zu gehen, ohne dem Einzüge des Hofes in den Kreml beizuwohnen, ohne weiter von dem Kaiser zu sprechen, denn was könnt« ich Ihnen noch von dem Fürsten sagen, den Sie nun so gut kennen als ich? Bedenken Sie, um eine rich-lige Vorstellung von den Menschen und Sachen hier zu erhalten, daß in diesem Lande noch viele andere Geschichten der Art, wie ich Ihnen eine erzählte, vorkommen; aber sie sind unbekannt und werden es bleiben; nur durch ein Zusammentreffen von Umständen, in denen ich den Finger Gottes sehe, konnte ich die Thatsachen und Einzelnheiten erfahren, zu deren Mittheilung mich mein Gewissen nöthigte.") ") Seit die erste Ausgabe dieses Werkes erschienen ist, hat mir ein Mann, der zur Zeit des Todes Alexanders der französischen Gesandtschaft zugehorte, folgenden Vorfall erzählt, dessen Augenzeuge er war. 315 Ich werbe alle Briefe, die ich seit meiner Ankunft hier für Sie geschrieben habe, die Sie aber nicht erhielten, weil ich sie aus Vorsicht aufbewahrte, zusammen nehmen, den vorliegenden hinzufügen, sie gut einsiegeln und sichern Handen übergeben, die man freilich in Petersburg nicht leicht findet. Nach dcm Aufstande bei seiner Thronbesteigung ließ der Kaiser Nicolaus die fünf Hauptleiter der Verschwörung zum Tobe vcrur-theilen und man beschloß, sie um zwci Uhr ftüh auf dem Glacio der Citadclle am Rande eines fünfundzwanzig Fuß tiefen Grabens aufknüpfen zu lassen. Die Veruvthcillen wurden unter dem Gal-gen auf eine Bank gestellt. Nach Beendigung aller Vorbereitungen begann der Graf Tschernitscheff, j?ht Kriegsminister, dem sein Gebieter die Leitung der Hinrichtung übertragen hatte, sein Amt, indem er das verabredete Zeichen gab. Die Trommeln wirbelten und die Bank wurde linier den Füßen der Nerurthnlten hinweg: gezogen; aber in dicstm Augenblicke rissen drei Stricke: zwei der so befreiten Opfer stürzten in den Graben hinunter, der drille blieb am Nande liegen.. Die Personen, welche Zeugen dieses schauerlichen Vorfalles waren, fühlttn eine freudige Bewegung, und ihre Herzen klopften, denn sie glaubten, der Kaiser habe absichtlich dieses Mittel gewählt, die Menschlichkeit mit den Pflichten der Politik in Uebereinstimmung zu bringen. Aber der Graf Tschernitscheff ließ die Trommeln noch ferner wirbeln; die Henker stiegen in dm Graben hinunter, hoben die beiden Unglücklichen auf, von denen der Eine beide Beine gebrochen und der Andre die Kinnlade zerschmettert hatte, halfen ihnen heraus, stellten sie von neuem unter dcn Galgen und legten ihnen zum zweiten Male den Strick um den Hals. Der dritte Verurtbeilte, der durch den Fall nicht beschädigt worden war, mußte sich derselben Operation unter-werftn, er raffte aber alle seine Kräfte zusammen und schrie laut, mit heroischer Wuth, so daß man es trotz dem Trommelwirbeln hönn konnte: „Unglüclliches Land, in dem man nicht einmal das Henken versteht!" Er war die Seele der Verschwörung gewesen, und hieß PcM. In dieser Energie des Besiegten, in dieser Bar» barei der triumphirendcn Gewalt erkennt man Rußland. 316 Dann werde ich meine Reise vollenden und Ihnen cinen andern offiziellen Brief schreiben, der Morgen mit der Post abgehen soll; ich werde darin Alle und Alles, was ich hier sehe, übermaßig loben. Sie werden daraus sehen, daß ich dies Land ohne Einschränkung bewundere mit Allem, was darin ist und geschieht. Spaßhaft ist dabei, daß die russische Polizei und Sie selbst durch meine Begeisterung und meine unbeschrankten Lobeserhebungen sich tauschen lassen werden.") Wenn Sie von niir nichts mehr hören, so glauben Sie, man habe mich nach Sibirien gebracht. Nur diese Neise könnte die beabsichtigte nach Moskau stören, welche ich nicht langer ausschieben werde, denn mein Feldjäger kommt eben, um mir zu melden, daß die Postpferde unfehlbar morgen früh vor meiner Wohnung sein würden. °) Ich glaubte, nicht ohne Grund, daß diese Schmeicheleien, welche die Polizei sicherlich las, mir während meiner übrigen Reise Ruhe verschaffe» würden. I w c i il n d z w a n z i g st e r Brief. Pomerania, Posthauß. Iß Stunden von Petersburg, den I. August i«H». 3^tan thut wohl, einen englischen Wagen mit nach Petersburg zu nehmen, wäre es auch blos, um das Vergnügen zu haben, auf wirklich elastischen Federn (die der russischen Magen heißen blos so) die berühmte Straße von Petersburg nach Moskau zu befahren, welche, wie die Nüssen und, glaube ich, auch die Fremden sagen, die schönste Chaussee in Europa sein soll. Sie ist allerdings sorgfältig unterhalten, aber hart in Folge des Materials, das obwohl zerklopft, und auch ziemlich klcin zerklopft, kleine unbewegliche Unebenheiten auf der Straße bildet, welche die Bolzen so erschüttern, daß auf jeder Post ein Paar abspringen. Man verliert deshalb auf den Stationen die Zeit wieder, welche man auf der Straße gewinnt, wo man in dem Staube mit der betäubenden Schnelligkeit des Sturmwindes hinrollt, welcher die Wolken vor sich herjagt. Für die ersten Stationen ist der englische Wagen recht angenehm, mit der Zeit fühlt man aber das Bedürfniß einer russischen Equipage, denn nur diese vermag dem tollen Jagen und der Härte der Straße zu widerstehen. Die Lehnen der Brücken sind schöne eiserne Geländer mit dcm kaiserlichen Wappen und werden von Granitstücken getragen. Aber Alles dies fliegt an dem Reisenden vorüber wie Bilder eines Traumes. 318^ Die Chaussee ist breiter als die Straßen in England, eben so glatt, aber minder weich, und die Pferde, welche den Neisewagen ziehen, sind klein, voll Kraft und Feuer. Mein Feldjäger hat Ideen, eine Haltung, ein Gesicht, die mir es unmöglich machm, den Geist zu vergessen, welcher dieses Land regiert. Als wir bei der zweiten Station ankamen, stürzte eines der vier neben einander gespannten Pferde und kam unter das Rad. Zum Glück konnte der Postillon die andern sogleich anhalten. Trotz der bereits vorgerückten Jahreszeit, ist Mittags die Hitze glühend und der Staub macht die Luft erstickend. Ich meinte, das Pferd werde sterben, wenn man ihm nicht sofort zur Ader lasse, rief meinen Feldjäger, nahm aus der Tasche cin Etui mit dem nöthigen Instrumente, bot es ihm an und forderte ihn auf, sofort Gebrauch davon zumachen, wenn das arme Thier gerettet werden solle. Er antwortete mir mit malitiösem Phlegma, ohne das Instrument zu nehmen, das ich ihm hinreichte, ohne das Thier anzusehen: „es ist nicht nöthig; wir sind an der Station." Statt dem unglücklichen Postillon behilflich zu sein, das Thier frei zu machen, trat er in einen Stall in der Nahe, um für ein anderes Gespann zu sorgen. Die Russen sind noch nicht so weit wie andere Nationen, bei denen die Thiere gegen die Mißhandlungen durch den Menschen durch Gesetze geschützt werden; im Gegentheil, bei ihnen könnten die Menschen wünschen, daß man sich für sie so verwende, wie man an andern Orten sich für Hunde und Pferde verwendet. Mein Feldjäger würde aber die Existenz eines solchen Gesetzes nicht glauben. Dieser Mann, ein Lieflandcr von Geburt, spricht glücklicherweise deutsch. Trotz seinem ofstziel-artigen Benehmen und seinen, gefalligen Reden lese ich in seinen Gebanken 319 Insolenz und Eigensinn. Er ist schmächtig und seine flachsblonden Haare geben seinem Gesichte etwas Kindliches, dem aber der harte Ausdruck seiner Züge und namentlich seiner Augen widerspricht, deren Blick falsch und grausam ist; sie sind grau und haben fast weiße Wimpern; seine Stirne ist gewölbt, aber niedrig; seine dicken Augenbrauen sind blond; seine Haut würde weiß stin, sie ist aber durch die fortwährende Einwirkung der Luft gebräunt; sein immer ganz ge: schlossener Mund hat so dünne Lippen, daß man sie nur bemerkt, wenn er spricht. Seine russischgrüne Uniform, die reinlich gehalten, gut geschnitten und durch einen vorn zusammengeschnallten Ledergürtel zusammengehalten wird, giebr ihm ein znmlich elegantes Aussehen. Eein Gang ist leicht, sein Geist aber um so schwerfalliger. Trotz der Disciplin, die ihn dressirt hat, merkt man es ihm doch an, daß er kein geborncr Nüsse ist; das halb schwedische, halb deutsche Volk, welches die Südt'üste des sinnischen Meerbusens bewohnt, unterscheidet sich sehr von den Slawen und Finnen, welche in dem Gouvernement Petersburg vorherrschen. Die ächten Russen übertreffen ursprünglich die Bastarduölker, welche die Zugänge des Reiches gegenwartig vertheidigen. Dieser Feldjäger stößt mir nicht eben Vertrauen ein; er nennt sich zwar meinen Beschützer, meinen Führer, ich sehe aber> einen verkleideten Spion in ihm und stelle mir vor, er könnte jeden Augenblick den Befehl erhalten, mein Kerkermeister zu werden. .. Solche Gedanken stören das Neiseuergnügen, ich habe Ihnen aber schon gesagt, daß sie Mir nur einfallen, wenn ich schreibe. Unterwegs zerstreut mich die schnelle Bewegung, die mich fortreißt und die rasche Aufeinanderfolge von Gegenstanden. Ich habe Ihnen auch bereits erzählt, daß die Russen 320 einander bald mit der größten Artigkeit, bald mit, eben so großer Nohheit behandeln; sie grüßen und prügeln einander um die Wette; hier unter lausenden ein neues Beispiel von dieser gegenseitigen Vecomplimentirung und Mißhandlung. Der Postillon, der mich in das PostHaus brachte, in dem ich Ihnen diese Zeilen schreibe, hatte bei der Abfahrt, ich weiß nicht durch welches Verschen, eine Strafe verdient, die er vielleicht öfterer erlitten hat, als ich sie einem Menschen dem andern zutheilen gesehen. Er war noch fthr iung, ein Kind könnte man sagen und wurde, ehe er sich auffetzte, durch den Schirrmeister mit Füßen getreten und mit der Faust geschlagen. Die Schlage waren stark, denn ich hörte sie aus der Ferne auf seiner Brust auffallen. Als der Zuchtmeister müde war, stand der Geprügelte auf, ohne ein Wort zu sagen, strich keuchend und zittcmd sein Haar wieder in Ordnung, verbeugte sich vor seinem Vorgesetzten, stieg, aufgemuntert durch die Behandlung, die ihm geworden, leicht: füßig auf den Vock meines Wagens, um mich im Galopp binnen einer Stunde vier und eine halbe bis fünf Stunden zu fahren. Der Kaiser hat schon drei und eine halbe Meile in der Stunde zurückgelegt. Die Wagen auf der Eisenbahn würden Mühe haben, seinem Reisewagen zu folgen. Wie viele Menschen müssen geprügelt werden, wie viele Thiere stürzen, um eine so staunenswerthe Schnelligkeit möglich zu machen und zwar in einer Ausdehnung von !)tt Meilen hintereinander! Man behauptet, die unglaubliche Schnelligkeit dieser Reisen in offenem Wagen sei der Gesundheit nachtheilig und allerdings würde es nicht jede Vrust aushalten, so schnell die Luft zu theilen. Die Constitution des Kaisers ist von der Art, daß er Alles erträgt, sein minder kräftiger Sohn aber fühlt das, was man seinem Körper unter dem Vor-wanbe, ihn zu stärken, zumuthrt. Bei dem Charakter, wel- 321 chen man ihw nach seinem Benehmen, seinen Gesichtszügen und seiner Sprache beilegen muß, lcidet dieser Prinz in seinem Lande offenbar sowohl geistig als körperlich. Es laßt sich recht wohl die Bemerkung tZhampforts anwenden' „in dem Leben des Menschen tritt unvermeidlich eine Zeit ein, in welcher das Herz vecharttn oder brechen muß." Das russische Volk kommt mir vor wie jene Menschen von anmuthigem Talente, die blos für die Kraft geboren zu sein wähnen; es besitzt neben dem Sichgehenlasscn der Orientalen eine Vorliebe für die Künste und das hcißt offenbar, die Natur hat ihm das Bedürfniß der Freiheit gegeben; aber seine Gebieter machen Unterdrückungsmaschincn aus ihm. Ein Mensch, der sich nur um eine Linie über die Menge erhebt, erlangt sogleich das Recht, ja unterliegt der Verpflichtung, andere Menschen zu mißhandeln, an die er die Schlage weiter giebt, wtlche er selbst von Höhern erhalten hat, um so in den Schmerzen, die er veranlaßt, Trost für die zu suchen, welche er selbst erleidet. So steigt der Geist dcr Ungerechtigkeit von Stufe zu Stufe bis zu dem untersten Grunde dieses unglücklichen Staates herab, der nur durch Gewaltthätigkeit besteht, durch eine Gewaltthätigkeit, welche den Sclaven zwingt, sich selbst zu verleugnen und seinem Tyrannen zu danken. Aus so vielen willkürlichen'Handlungen, aus denen jedes Menschenleben besteht, geht hier die sogenannte öffentliche Ordnung, d. h. eine dumpfe Ruhe, eine grauenvolle Stille hervor, welche dem Frieden im Grabe gleicht. Auf diese Ruhe sind die Russen stolz. Freilich, so lange ein Mensch nicht so weit gekommen ist, daß er auf allen Vieren kriecht, muß er wohl auf irgend etwas stolz sein, wäre es auch nur, um sein Recht auf den Namen eines menschlichen Wesens zu behaupten .... ^cnn man mir die Nothwendigkeit der Ungerechtigkeit und ll. ' 21 322 der Gewaltthätigkeit zur Erreichung großer politischer Resultate darthun könnte, so würde ich daraus folgern, der Patriotismus sei keineswegs eine Bürgertugend, wie man ihn bisher genannt hat, sondern ein Verbrechen an der Majestät des Menschen. Die Russen entschuldigen sich vor sich selbst mit dem Gedanken, die Regierung, unter welcher sie stehen, sei ihren ehrgeizigen Hoffnungen günstig; aber der Zweck ist ein schlechter, der nur durch solche Mittel erreicht werden kann. Das Volk ist interessant-, ich finde bei den Personen aus den untersten Classen etwas Geistreiches in den Pantomimen, Gewandtheit und Geschick in den Bewegungen, Schlauheit, Melancholie und Anmuth in der Gesichtsdildung, welche Menschen von trefflichem Schlage verrath, und man hat Lastthiere aus ihnen gemacht. Will man mich bereden, dcr Boden müsse Jahrhunderte lang mit den Ueberresten dieses Menschenviehes gedüngt werden, bevor er Generationen hervorzubringen vermöge, die würdig sind, den Ruhm zu empfangen, welchen die Vorsehung den Slawen verheißen hat? Die Vorsehung verbietet Böses zu thun, selbst wenn dadurch der größte Vortheil erlangt werden könnte. Es soll damit nicht gesagt werden, man müsse oder könne jetzt Rußland so regieren, wie die andern Lander Europas regiert werden; aber ich behaupte, d^ß man viele Uebel vermeiden könnte, wenn man von oben herab mit dem Beispiele der Sittenmildcrung voranginge. Was läßt sich von einem Volke von Schmeichlern hoffen, dem der Herrscher selbst schmeichelt? Statt sie zu stä) empor zu heben, bemüht er sich, zu ihnen herabzusteigm. Wenn die Artigkeit des Höfts auf das Benehmen der Menschm in den niedrigsten Classen Einfluß l^t, so darf man wohl auch annehmen, daß das ganze Volk menschlicher 323 werden würde, wcnn der unumschränkte Herrscher mild und sanft wäre. Man bauche Strenge gegen die, welche sich überheben, man verfahre mild gegen die, welche dulden und leiden und bald wird die Menschenheerde in ein Volk umgewandelt sein. Diese Aufgabe ist ohne Zweifel schwer zu lösen; der Mensch aber, welcher die Stelle Gottes auf Erden einnimmt, darf nichts für unmöglich halten als das Schlechte. Er muß der Vorsehung gleichen, um die Macht zu rechtfertigen, die er sich beilegt. Ist die unumschränkte Gewalt nichts als eine Fiction, welche der Eitelkeit eines einzigen Menschen auf Kosten der Würde eines Volkes schmeichelt, so muß sie abgeschafft werden; ist sie aber eine Wirklichkeit, so wird sie zu theuer bezahlt, wenn sie nichts nützt. Ihr wollt die Erde regieren wie die alten Staaten, durch die Eroberung; Ihr gedenkt Euch durch Waffengewalt der Lander zu bemächtigen, die Euch gefallen und von da aus die übrige Welt durch Schrecken zu unterdrücken. Die Ausdehnung der Macht, von der Ihr träumt, ist weder klug noch moralisch, und wenn Gott sie Euch gewahrt, ist es ein Unglück für die Welt. Ich weiß es wohl, die Erde ist der Ort nicht, wo die unbedingte Gerechtigkeit siegt; der Grundsah aber bleibt unerschütterlich, daß das Schlechte an sich schlecht ist, ohne Rücksicht auf seine Wirkungen; es mag zum Verderben, oder zur Vergrößerung eines Volkes, zum Glücke oder zur Schande eines Menschen dienen, es wiegt immer gleich in der ewigen Waage. Weder die Schlechtigkeit eines Menschen, noch die Verbrechen einer Regierung liegen oder lagen jemals in dem Plane der Vorsehung. Wenn Gott aber auch nie verbrecherische Handlungen wollte, so stimmt doch 21" 324 ^ das Resultat der Ereignisse stets mit den Absichten seiner Gerechtigkeit zusammen, denn diese Gerechtigkeit will alle Folgen des Verbrechens, das sie nicht wollte. Gott leitet die Erziehung des Menschengeschlechtes und jede Erziehung ijt eine Reihe von Prüfungen. Die Eroberungen des römischen Reiches haben den christlichen Glauben nicht erschüttert; die Unterdrückungsmacht Rußlands wird das Bestehen dieses Glaubens in dem Herzen der Gerechten eben so wenig verhindern. Der Glaube wird auf der Erde so lange dauern als das Unerklärliche und Unbegreifliche. In einer Welt, wo Alles Geheimniß ist, von der Größe und dem Versalle der Nationen bis zur Wiedererzeugung und zum Verschwinden eines Grashalmes, wo das Mikrofcop uns eben so viel lehrt von der Macht Gottes in der Natur als das Telescop am Himmel, als der Ruhm in der Geschichte, kräftiget sich der Glaube durch die tägliche Erfahrung, denn sie allein ist daS Licht, das für die Bedürfnisse eines Wesens paßt, welches von Dunkel umhüllt ist, nach Gewißheit strebt und seiner Natur nach nur bis zum Zweifel kommt. Wenn wir bestimmt sein sollten, die Schmach einer neuen Invasion zu ertragen, so würde in mnnm Augen der Triumph der Sieger nur ein Zeugniß von den Fehlern der Besiegten sein. Dem Denkenden beweiset der Erfolg weiter nichts, als daß das Leben auf der Erde weder die erste noch die letzte Art des menschlichen Lebens ist. Ueberlassen wir den Juden ihren selbstsüchtigen Glauben und gedenken wir des Aus, spruches Christi: „mein Reich ist nicht von dieftr Welt." Diesen Ausspruch, der für den sinnlichen Menschen so verletzend tlmgt, muß man in Rußland b.>i jedem Schritte 325 thun. Bei dem Anblicke so vieler unvermeidlichen Leiden, so vieler nochwendigen Grausamkeiten, so vieler Thränen, die nicht abgetrocknet werden, so vieler freiwilligen und unfreiwilligen Ungerechtigkeiten, — denn die Ungerechtigkeit liegt kier in der Luft —, bei dem Anblicke dieses Unglücks, das nicht blos eine Familie, nicht blos eine Stadt, sondern ein Volk bctusst, welches das Diittheil der Erde inne hat, sieht die Seele sich gezwungen, von der Erde sich abzuwenden und auszurufen: „ja, es ist wahr, mein Gott, dein Reich ist nicht von dicftr Welt." Ach, warum vermögen meine Worte so wenig? Warum kommt ihre Kraft dem übergroßen Unglücke nicht gleich, das nur durch eben so großes Mitleiden zu trösten ist? Der Anblick dieses Staates, dessen Triebfedern sämmtlich gespannt sind wie der Hahn eines Gewehres, das man abschießen will, erschreckt mich, daß mich schwindelt. Seit ich in diesem Lande lebe und das Herz des Mannes kenne, dcr es regiert, habe ich baö Fieber und ich rühme mich dessen, dmn wenn die Luft der Tyrannei mich erstickt, wenn die Lüge mich empört, muß ich doch zu etwas Besserm geboren scin, und die Bedürfnisse meiner Natur, dic zu edel sind, als daß sie in einem Staate gleich dem befriediget werden könnten, in welchem ich mich jetzt befinde, weissagen mir ein reineres Glück. Gott hat uns keine Fähigkeiten gegeben, die nicht gebraucht werben sollen. Scin Gedanke weiset uns unsern Platz für alle Ewigkeit an und uns kommt es zu, des Ruhmes, den er uns vorbehält und des Postens nicht unwürdig zu werden, den er für uns bestimmt. Das Beste in uns hat sein Ziel in ihm. Wissen Sie, was Sie nöthigt, diese Reflectionen zu lesen? Ein Unfall, der meinen Wagen betrossen hat und mir Muße giebt. Ihnen Alles zu schildern, was in meinen Gedanken aufsteigt. Zwei Stunden von hier begegnete ich einem Bekannten, einem Nüssen, der eines seiner Güter besucht hatte und nach Petersburg zurückkehrte. Wir hielten an, um einen Augenblick zu plaudern. Der Russe sah meinen Wagen an, lachte und wies auf mehrere Stücke desselben. „Sehen Sie diese Stücke, die ich Ihnen nenne?" fragte er; „sie werden nicht ganz in Moskau ankommen. Die Fremden, wclche durchaus sich ihrer eigenen Wagen bei uns bedienen wollen, reisen wie Sie ab und kommen mit der Post zurück." „Selbst wenn sie nach Moskau reisen?" „Selbst wenn sie nach Moskau reisen." „Die Russen sagten mir, dies sei die schönste Straße in Europa, und ich glaubte ihnen aufs Wort." „Es fehlen hier und da Brücken, manche Strecken der Straße muffen neu gebaut werden; man fahrt jeden Augenblick von der (Chaussee ab, um über provisorische Brücken von holperigen Vretern zu fahren und in Folge der Unachtsamkeit unserer Postillone zerbrechen an diesen bösen Stellen regelmäßig die Wagen der Fremden." „Mein Wagen ist ein englischer und durch lange Reisen erprobt." „Sie fahren nirgends so rasch als bei uns und die so gewaltsam fortgerissenen Wagen werden wie Schiffe auf einem stürmischen Meere gerüttelt. Wenn sie diesem Schaukeln auf einem zwar glatten, aber schr harten Wege wie dieser hier widerstehen sollen, müssen sie, ich wiederhole es, hier zu Lande gebaut sein," „Sie haben noch das alte Vorurcheil für schwere massive Wagen, die aber keineswegs die dauerhaftesten sind." 327 „Glückliche Reise! Melden Sie es mir, wie der Ihrige nach Moskau kommt." Kaum hatte ich diesen Unglücksvogel verlassen, als ein Rungstock brach. Es war in der Nahe einer Station und da liege ich nun fest. Bemerken Sie wohl, daß ich von den hundert und achtzig Stunden erst achtzehn zurückgelegt habe. Ich werde dem Vergnügen entsagen, schnell zu fahren und lerne ein russisches Wort, um zu sagen: langsam!— gerade das Gegentheil, was die andern Reisenden sagen. Ein russischer Postillon in seinem Kaftan von grobem Tuche oder, wenn es, wie heute, warm ist, blos in dem bunten Hemd, das eine Tunica bildet, sieht auf den ersten Anblick wie ein Orientale aus; man braucht blos zu scher», wle er sich auf den Vock setzt, um die asiatische Anmutk zu crkenncn. Die Russen fahren nur vom Bocke, es müßte denn ein sehr schwerer Wagen ein Gespann von sechs bis acht Pferden erfordern und selbst in diesem Falle fahrt der erste Postillon uom Bocke. Dieser Postillon oder Kutscher hält einen ganzen Sack von Leinen in dcr Hand, die acht Zügel des Viergespannes, zwei von jedem oer neben einander gespannten Pferde. Die Anmuth, die Leichtigkeit, die Gewandtheit und Sicherheit, womit er dieses malerische Gespann leitet, die Lebhaftigkeit auch der geringsten Bewegungen, die Leichtigkeit seines Ganges, wenn er absteigt, sein schlanker Wuchs, die Art, wie er seine Kleidung trägt, kurz seine ganze Person erinnern an die Völker, welche von Natur zierlich sind und, besonders an die spanischen Gitanos. Die Russen sind blonde Gitanos (Zigeuner). Ich habe bereits einige Bäuerinnen gesehen, die minder häßlich waren als die in Petersburg. Dem Wüchse fehlt zwar noch immer die Zierlichkeit, aber die Gesichtsfarbe ist 328 frisch. In der jetzigen Jahreszeit besteht ihr Kopsputz in einem baumwollenen Tuche, das um den Kopf gebunden wird und dessen Zipfel hinten mit einer Anmuth hinabfallen, welche diesem Volke natürlich zu sein scheint. Bisweilen tragen sie einen kurzen bis an die Knie reichenden Rock, der durch einen Gürtel zusammengehalten und unter den Hüften geschlitzt ist, so daß er zwei Schößen bildet, welche vom auseinander schlagen und den Unterrock sehen lassen. Die Form dieses Anzugs hat etwas Elegantes, aber durch die Fußbekleidung werocn diese Frauen entstellt; sie besteht nämlich in großen Lederstieftln mit dicken Sohlen. Die Füße dieser Stiefeln sind breit und die Schäfte so faltig, daß sie die Form des Beines ganz verstecken. Sie sehen aus als hatten sie die Stiefeln ihrer Manner angezogen. Die Hauser gleichen denen, welche ich Ihnen auf dem Rückwege von Schlüssclburg beschrieben habe, sie sind aber nicht alle so zierlich. Die Dörfer sehen einförmig aus; ein Dorf besteht immer aus zwei mchr oder minder langen Reihen hölzerner Hauschen, die regelmäßig in gewisser Entfernung »on dcr Straße stehen, denn im Allgemeinen ist die Straße des Dorfes, deren Mitte die Chausfte bildtt, breiter als diese. Jedes Haus, das aus ziemlich plumpen Holz-siücken gebaut ist, kehrt den Giebel der Straße zu. Alle sehen einander ahnlich, aber trotz der unvermeidlichen Langweiligkeit, welche die Folge von einer solchen Gleichförmigkeit ist, schien in den Dörfern ein gewisser Wohlstand zu herrschen. Sie sind landlich ohne malerisch zu ftin; man si»det da die Stille des Hiitenlebens, dessen man sich doppelt erfreut, wenn man von Petersburg kommt. Die Dorfbewohner sehen nicht heiter aus, haben aber auch das unglückliche Aussehen der Soldaten und der Regierungsbeamren 329 . nicht. Es sind von allen Russen Diejenigen, welche den Mangel der Freiheit am wenigsten vermissen; sie sind am meisten Sclaven, aber am unbesorgtesten. Die landwirthschaftlichen Arbeiten sind allerdings geeignet, den Menschen mit dem geselligen Leben wieder auszusöhnen, wie hoch es auch zu stehen kommen mag; sie geben ihm durch unschuldige Freuden Geduld und lehren ihn Alles ertragen, wenn man ihm nur erlaubt, sich ungestört Beschäftigungen hinzugeben, die sämmtlich seiner Natur angemessen sind. Was ich bis jetzt von dcm Lande gesehen habe, ist ein schlechter sumpfiger Wald, wo man, so weit das Auge reicht, nichts als kleine verkrüppelte Birken und armliche Fichten sieht, die dünn in einer unfruchtbaren Ebene stehen. Man erblickt weder bcbauetes Feld, noch buschiges kräftiges Holz; das Auge ruht nur auf mageren Landstcecken und verwüsteten Waldern aus. Das Vieh bringt das Meiste ein, aber es ist klein und von schlechter Art. Das Clima drückt hier das Vieh, wie der Despotismus den Menschen tyrannisirt, gleich als wenn die Natur und der Staat wetteiferten, das Leben mühselig und beschwerlich zu machen. Wenn man bedenkt, womit man hier anfangen mußte, um einen Staat zu organisiren, so darf man sich über nichts mehr wundern, als darüber, daß die materielle Civilisation bei einem von der Natur so wenig begünstigten Volke so weit vorgeschritten, als sie es ist. Sollte es wahr sein, daß. in der Einheit der Ideen und w dem unwandelbaren Bestände der Dinge eine Entschädigung selbst für die empörendste Bedrückung liege? Ich glaube «s nicht; wcnn man mir aber bewiese, daß diese Negierungs-wcise die einzige war, unter welcher das russische Reich gegründet und erhalten werden konnte, so würde ich durch eine 330 einfache Frage antworten: war es für die Geschicke des Menschengeschlechtes wesentlich, daß die Sümpfe Finnlands bevölkert wurden, daß Menschen, die zu ihrem Unglück zusammenkamen, hier eine Stadt bauten, die schon aussieht, im Grunde aber doch nur eine Nachaffung des westlichen Europa ist? Die civilisirte Welt hat durch die Vergrößerung der Moskowiter nichts als die Furcht vor einer neuen Invasion und das Muster eines Despotismus ohne Erbarmen gewonnen, der nur in der alten Geschichte seines Gleichen findet. Und wenn das Molk nur wenigstens glücklich ware! Aber es ist das erste Opfer des Ehrgeizes, mit dem sich der Stolz ftincr Gebieter nährt. Das Haus, in welchem ich jetzt an Sie schreibe, besitzt eine Eleganz, welche grell von der kahlen Umgegend absticht. ES ist zugleich Post- und Wirthshaus und ich finde es ziemlich reinlich. Man könnte es für das Landhaus eines wohlhabenden Privatmannes halten. Stationen dieser Art, wenn auch nicht so nett wie die zu Pomerania, sind auf Kosten der Negierung an dieser Straße in gewissen Ent» fernungcn gebaut worden und werden durch sie unterhalten. Die Wände und die Decken in dem hiesigen sind nach ita, lienischer Art bemalt und das Erdgeschoß, das aus mehrern geräumigen Zimmern besteht, gleicht so ziemlich einer Restauration in einer französischen Provinzialstadt. Die Mcubeln sind mit Leder bezogen und die Stühle von Rohr. Ueberall sieht man große Canapes, welche die Stelle der Betten vertreten können, aber ich habe. bereits zu viel Erfahrung als daß ich darauf zu schlafen wagte; ich wage es nicht einmal, mich darauf zu setzen. In den russischen Gasthausern, auch die elegantesten nicht ausgenommen, sind die hölzernen Meu-bels mit ausgestopften Kiffen Zuchtstättcn, in denen es von Ungeziefer wimmelt. 331 Ich habe mein Bett, ein Meisterstück russischer Industrie, bei mir. Zerbreche ich den Nagen zwischen hier und MoS-kau noch einmal, so werde ich Gelegenheit haben, dieses Geräthe zu benutzen und mir wegen meiner Vorsorge Glück zu wünschen. Wenn kein Unfall eintritt, braucht man zwischen Petersburg und Moskau nicht zu rasten. Die Straße ist schön und es giebt nichts zu seken; man kann also nur gezwungen den Wagen verlassen und die Reise unterbrechen. Fortgesetzt in Vedrowa zwischen Groß-Nowogorod und Walda'l am 4. August 1839. In Nußland giebt es keine Entfernungen, sagen die Russen und die Reisenden sprechen es nach. Ich glaubte es auch, aber die unbequeme Erfahrung nöthiget mich, gerade das Gegentheil zu behaupten. In Nußland ist Alles Entfernung; es giebt in diesen unabsehbaren öden Ebenen nichts weiter; zwei oder drei interessante Punkte sind durch uner; meßliche Nälime von einander getrennt. Diese Zwischenräume sind Einöden ohne malerische Schönheiten; die Post-straße vernichtet die Poesie der Steppe und es bleibt nichts übrig als die Ausdehnung des Raumes, die Langeweile und die'Unfruchtbarkeit. Alles ist kahl und arm, keineswegs imposant wie ein durch seine Bewohner berühmt gewordener Boden, wie Griechenland und Iudäa, di« durch die Geschichre verwüstet und das poetische Grab der Nationen wurden; eben so wenig ist es grandios wie eine Urnatur, sondern häßlich, eine bald dürre, bald sumpfige Ebene. Nur diese beiden Arten von Unfruchtbarkeit bilden die Verschiedenar-tigteit der Landschaften. Einige Dörfer, die immer weniger reinlich und netter werden, je weiter man sich von Pe- 332 tersburg entfernt, machen die Gegend eher traurig als heiter und lebendig. Die Häuser sind nichts nls auf einander gehäufte ziemlich gut zusammengefügte Baumstämme, welche Breterdächer tragen, denen man für den Winter bisweilen eine zweite Decke von Stroh hinzufügt. Diese Wohnungen muffen warm sein, aber sie sehen traurig aus; sie gleichen den Hütten eines Lagers, nur sind sie schmutziger als das Innere der provisorischen Baracken der Soldaten. Die Stuben in diesen Hütten sind stinkend und schwarz und es gebricht ihnen an Luft. Betten giebt es darin nicht; im Sommer schläft man auf Bänken, die sich an den Wanden hinziehen und im Winter auf dem Ofen; ein russischer Bauer führt also fortwährend ein Lagerleben. Unter dem Worte „wohnen" versteht man ein bequemes Leben, das diesem Volke unbekannt ist. Bei der Reise durch Groß-Nowogorob sah ich keines der alten Gebäude dieser Stadt, die lange eine Republik war und die Wiege des russischen Reiches wurde; ich schlief, während ich durchfuhr. Wenn ich über Wilna und Warschau nach Deutschland zurückkehre, werde ich weder den Wolkof gesehen haben, jenen Fluß, der das Grab so vieler Bürger war, denn die unruhige Republik schonte das Leben ihrer Kinder nicht, noch die heilige Sophienkirche, an welche sich die Erinnerung der glorreichsten Ereignisse der russischen Geschichte vor der Zerstörung und definitiven Unterjochung Nowogorods durch Iwan IV., dieses Muster aller modernen Tyrannen, knüpft. Man hatte mir viel von den Vergen Walda,s erzählt, "elche die Russen pomphafterweise die moskowitische Schweiz nennen. Ich nähere mich dieser Stadt und seit fünfzehn Meilen bemerke ich, daß der Boden uneben wird, ohne daß 333 ich sagen könnte, er sei bergig; es sind kleine Thäler, in denen die Straße so angelegt ist, daß man im Galopp hinauf und hinunter fahrt. Man wirb fortwahrend gut gefahren, büßt aber auf jeder Station viel Zeit ein, denn ' die russischen Postillone bringen mit dem Anspannen sehr lange zu. Die Landleute in dieser Gegend tragen eine platte, oben breite Mütze, die dicht um den Kopf anliegt; sie gleicht einem Pilz und ist bisweilen mit einer Pfauenfeder geschmückt, welche um dieselbe herumgelegt wird. Trägt der Mann einen Hut, so ist derselbe Putz als Band darum gelegt. Die Fußbekleidung besteht meist in einem Binsen-gestecht, das die Bauern selbst machen und mit Bindfaden wie Sticfelchen an die Beine binden. Das sieht an Sculpture« schöner aus als im wirklichen Leben. Einige antike Statuen zeugen von dem Alter dieser Fußbekleidung. Bäuerinnen sieht man selten; man trifft zehn Manner, ehe man einer Frau begegnet. Diejenigen, welche ich erblickte, erschienen in einer Kleidung, welche einen, ganzlichen Mangel an Gefallsucht verrath, nämlich in einer Art sehr weiten Ueberrockes, der am Halse zusam-mengehäkelt wird und bis auf den Boden reicht. Dieser Ueberwurf, welcher die Taille nicht markirt, ist vorn durch eine Knopfreihe geschloffen-, und eine große gleich lange Schürze, die auf dem Rücken durch zwei ohne Anmuth gekreuzte kurze Tragbänder befestiget wird, vervollständiget diesen ländlichen Anzug. Sie gehen fast allr barfuß und die Reichsten haben als Fußbekleidung immer die beschriebenen großen Stiefeln. Den Kopf verhüllen sie sich mit baumwollenen Tüchern. Der ' achte nationale Kopfputz der Russinnen wird nur an Festtagen getragen; er ist auch heute noch der der Hofdamen und 334 besteht in einer Art oben offenen Tzschakos ober vielmehr außerordentlich hohen Diadems, das um den Kopf herum geht. Bei den Damen ist es mit Edelsteinen, bei den Bäuerinnen mit Blumen von Gold- oder Silberfäden bedeckt. Diese Krone hat etwas Eoeles und gleicht keinem andern Kopfputz, als etwa dem Thurm der Cybcle. Die Bäuerinnen sind indeß nicht die einzigen Frauen, welche keine Sorgfalt auf den Anzug wenden. Ich habe russische Damen gesehen, welche auf der Reise im tiefsten Neglig»' erschienen. Noch diesen Morgen traf ich in einem PostHause, wo ich anhielt, um zu frühstücken, eine ganze Familie, die ich in Petersburg verlassen hatte, wo sie einen jener eleganten Paläste bewohnt, welche die Russen mit Stolz dem Fremden zeigen. Dort waren diese Damen prachtvoll nach der neuesten Panser Mode gekleidet; in dem Wirthshause dagegen, wo sie mich einholten, da an meinem Wagen schon wieder etwas zerbrochen war, erschienen sie als ganz andre Personen. Ich fand sie so seltsam umgewandelt, daß ich sie kaum wieder zu erkennen vermochte. Die Feen waren Hexen geworden. Denken Sie sich junge Madchen, die man nur in Gesellschaft gesehen hat und die nun plötzlich als Aschenbrödel und noch schlimmer wieber vor Ihnen erscheinen, mit sogenannter alter weißer Leinwand um den Kopf, ohne Hut oder Häubchen, in schmutzigen Kleibern, zerrissenen Vusentüchern, die wie Servietten aussehen, und in alten abgetragenen, übergetretenen Schuhen an den Füßen! Das Schlimmste war, daß die Reisenden ein bedeutendes Gefolge begleitete. Dieses Heer von Dienern und Dienerinnen, die in alten noch ekelhafteren Anzügen als ihre Gebieterinnen hin- und herliefen und einen Höllenlärm machten, vervollständigte die Illusion, die mich in 335 einen Hexensabbat versetzte. Alles schrie und lief hin und her; man trank und aß oder verschlang vielmehr die Lebensmittel mit einer Gier, welche einem Halbverhungerten den Appetit hatte nehmen können. Dennoch vergaßen diese Damen nicht, sich mit Affectation gegen mich über die Un-reinlichkeit des PostHauses zu beklagen, als wenn sie eln Recht gehabt halten, irgend wie.Nachlässigkeit zu bemerken. Ich glaubte mitten in ein Zigeunerlager gekommen zu sei«; nur waren die Zigeunerinnen äußerst pretensiös. Ich bilde mir ein, auf der Reise mich sehr leicht befriedigen zu lassen und über Manches hinweg zu schen und finde die Posthauser, welche an dieser Straße durch die Negierung, d. h. durch den Kaiser angelegt worden sind, recht erträglich; ich habe da beinahe gut gegessen; man könnte selbst da schlafen, wenn man kein Bett verlangte, denn dieses Nomadenvolk kennt nur den persischen Teppich oder das Schaffell oder eine Matte und zwar unter einem Zelte von Leinwand, Holz oder Stein. Es bleibt immer die Erinnerung an das Lagerleben; die Völker von slawischem Stamme kennen das Vttt noch nicht als unentbehrliches Geräthe; das europäische Vett hört an der Oder auf. Bisweilen bemerkt man an dem Ufer der kleinen Seen, mit denen der ungeheure Sumpf bedeckt ist, welchen man Rußland nennt, von fern «ine Stadt, d. h. einen Haufen kleiner Häuser von grauen Vretern, die sich in dem Wasser spiegeln und ziemlich malerisch aussehen. Ich bin durch zwei oder drei solcher Menschen-Bienenkörbe hindurch gekommen, habe ab«r nur die Stadt Zimagoy bemerkt. Es ist dies eine Straße von Häusern ganz von Holz. Diese ziemlich bergige Straße ist eine Stunde lang «nd man vergißt sie nicht, weil man in einiger Entfernung an der andern Seite einen Busen des gleichnamigen 336 kleinen Sees und ein romantisches Kloster erblickt, dessen weiße Thürme malerisch über einem Föhrcnwaloe vortreten, der höher und dichter zu sein schien als irgend einer von denen, welche ich bis jetzt in Rußland gesehen habe. Wenn man bedenkt, wie viel Holz die Russen verbrauchen, theils zum Baue ihrer Hauser, theils zum Erwärmen derselben, so muß man sich wundern, daß sie in ihrem Lande noch Walder haben. Alle Walder, durch die ich bis jetzt gekommen bin, sind aber auch sehr gelichtet, so daß es eigentlich keine Walder mehr sind, sondern sumpfige Flachen, auf denen hier und da eine Fichte oder eine verkrüppelte Birke steht. Fortgesetzt in Torschok, den 5. August 1839. In diesen Ebenen sieht man nicht weit, weilAlleS die Aussicht hemmt; ein Busch, ein Haus verdeckt den Boden mit dem Horizonte Stunden weit. Uebrigens pragl sich hier keine Landschaft dem Gedächtnisse ein, keine zieht die Blicke an. Die Natur ist in diesem Theile von Rußland geradezu für nichts zu rechnen. Was man die Berge von Waldcü' nennt, ist eine Reihe von Hügeln, die sich so gleichförmig hinziehen, wie die torsigen Ebenen von Nowogorod. Die Stadt Torschok ist ihrer Lederfabriken wegen berühmt. Man fertigt hier jene schönen verzierten Stiefeln, jene mit Gold- und Silberfäben gestickten Schuhe, die von allen Elegants in Europa geliebt werden, namentlich von denen, die alles Seltsame lieben, weil es weit herkommt. Die Reisenden, welche durch Torschok kommen, bezahlen das in dieser Stadt verfertigte Leder weit theuerer, als es in Petersburg oder Moskau verkauft wird. 337 Das schöne Marokin, das wohlriechende russische Leder, wirb in Kasan gemacht, und man kann es, wie man sagt, namentlich auf der Messe zu Nischnei wohlfeil kaufen, wo man eine große Auswahl hat. Torschok besitzt auch noch eine andre Eigenthümlichkeit, nämlich Hühnercoteletten. Der Kaiser, der eines Tages in Torschok in einem kleinen Gasthause anhielt, aß da gefüllte Hühnercoteletten und fand sie zu feinem großen Erstaunen vortrefflich. Sogleich wurden die Coteletten' von Torschok in ganz Rußland berühmt"). Ihre Entstehung ist folgende. Ein unglücklicher Franzose war in diesem Orte von der Wirthin gut aufgenommen und behandelt worden. Vor dem Abschiede sagte er zu ihr: „ich kann Sie nicht bezahlen, aber ich will Ihr Glück machen," und er sagte ihr, wie Hühnercoteletten gemacht werden müßten. Das Glück wollte, daß das Recept zum ersten Male für den Kaiser versucht wurde, und daß es gelang. Die Gastwirthin von Torschok ist gestorben, aber ihre Kinder haben ihren Ruhm geerbt und beuten ihn aus. Wenn Torschok mit einem Male vor den Augen des Reisenden erscheint, der von Petersburg kommt, sieht es aus wie ein Lager mitten in einem Getreidefelde. Die weißen Hauser, die Thürme und Pavillons der Stadt erinnern auch an die Minarets der Moscheen im Oriente. Man bemerkt die vergoldeten Spitzen der Kuppeln, man sieht runde und viereckige Thürme, von denen einige mehrere Stockwerke hoch, andre niedrig, alle aber grün oder blau angestrichen ') Der Kaiser von Rußland kann in seinem Lande Alles in die Mode bringen, während z. B. in Mailand ein Künstler, dm der Vicekomg protegirt, um seincn ganzen Ruf kommt und unbarmherzig ausgepfiffen wird. II. 22 33S sind. Mit einem Worte die Stadt kündiget Moskau an. Das Land umher ist gut angebaut, eine kahle Ebene, mit Roggen geschmückt, aber ich ziehe diesen Anblick doch dem der ärmlichen Walder vor, die meine Augen seit zwei Tagen belästigt haben. Das bearbeitete Feld ist wenigstens fruchtbar; man verzeiht einer Gegend ihren Mangel an pittoresken Schönheiten, wenn sie ergiebig ist; aber ein unfruchtbares Land, das dennoch die Majestät der Wüste nicht hat, ist das Langweiligste, was ich kenne. Etwas Seltsames, was mir im Anfange der Reise aufsiel, habe ich zu erwähnen vergessen. Zwischen Petersburg und Nowogorod bemerkte ich, mehrere Stationen hinter einander, eine zweite Straße parallel neben der Hauptchaussee, der sie ununterbrochen in geringer Entfernung folgte. Diese Nebenstraße hatte Barrieren, Lehnen, hölzerne Brücken, kurz es war nichts versäumt worden, um sie fahrbar zu machen, wenn sie auch minder schön und holperiger war als die Hauptstraße. Auf einer Station ließ ich endlich den Postmeister über diese Seltsamkeit befragen; mein Feldjäger überbrachte mir die folgende Erklärung: diese Straße ist für die Fuhrleute, für das Vieh und die Reisenden bestimmt, wenn der Kaiser oder Personen von der kaiserlichen Familie sich nach Moskau begeben. Man vermeidet durch diese Sonderung den Staub und die Hindernisse, welche die erhabenen Reisenden belästigen und aufhalten würden, wenn die Hauptstraße in dem Augenblicke ihrer Vorbeifahrt der allgemeinen Benutzung frei bliebe. Ich weiß nicht, ob sich der Postmeister einen Scherz mit mir erlaubt hat; er sprach aber sehr ernst und hielt es, wie mir schien, für sehr einfach und natürlich, daß der Herrscher in einem Lande, wo der Herrscher Alles ist, eine ganze Straße für sich Mein in An« 339 spruch nehme. Der König, welcher sagte: Frankreich bin ich! hielt an, um eine Schafheerde vorüber zu lassen, und unter seiner Regierung sagten die Fußgänger und die Fuhrleute, die auf der Straße den Prinzen begegneten: die Straße ist für Jedermann. Die Gesetze werden recht eigent« lich durch die Art gemacht, wie man sie anwendet. In Frankreich haben zu jeder Zeit die Sitten und Gebräuche die politischen Institutionen berichtiget und gemildert; in Rußland übertreiben sie dieselben in der Anwendung, weshalb die Folgen schlimmer sind als die Grundsatze. Uebrigcns muß ich erwähnen, daß diese Doppelstraße, w Nowogorod aufhört; man glaubte ohne Zweifel, das Gedränge würde in der Nade der Hauptstadt am größten sein, oder man gab es aus einem andern Grunde auf, diese Nebenstraße weiter zu bauen. Man muß gestehen, daß bei der Schnelligkeit, mit welcher man in Rußland fährt, die Ochsenheerden, welchen man alle Augenblicke auf der Straße begegnet, so wie die langen Reihen von Karren, die ein einziger Fuhrmann lenkt, bedeutende und häufige Unfälle veranlassen können. Die Vorsorge der Doppelstraße ist hier also vielleicht nothwendiger als anderswo, aber ich möchte nicht, daß man warte, um die Gefahr zu beseitigen, welche das Leben des Kaisers oder die Glieder seiner Familie bedrohete; das liegt nicht im Sinne Peters des Großen, der von den Kaufleuten in Petersburg das Geld für die Miethdroschken lieh, in denen er sich fahren ließ und der, wenn man einen seiner Parks dem Publicum verschließen wollte, ausrief: „meint Ihr denn, ich hatte fo viel Geld für mich allein ausgegeben?" Leben Sie wohl! Wenn ich meine Reise ohne Unfall fortfetze, wird mein nächster Brief aus Moskau datirt 22« 340___ sein. Jeder Brief, den ich an Sie schreibe, wird zusammengebrochen, — und ohne Adresse so viel als möglich versteckt. Aber alle meine Vorsichtsmaßregeln würden doch nutzlos sein, wenn man mich anhielte und meinen Wagen durchsuchte. D r e i u n d z w a n z i g jl e r Brief. An die Frau Gräfin O'Donnell.") Klin (eine kleine Etadt einige Stunden von Moskau), den 6. August lh^9. 3?och ein Aufenthalt und immer aus derselben Ursache. Wir zerbrechen regelmäßig alle zwanzig Stunden etwas. Der russische Officier in Pomcrania war gewiß ein ^ttawre. In manchen Augenblicken fahren die Postillone trotz meinen Reclamationen und dem wiederholten Ruft li^ckn«! (lanqsam) so schnell, daß mir dcr Athem vergcht; dann schweige ich, von der Nutzlosigkeit meiner Bitten überzeugt, und drücke die Augen zu, um nicht schwindelig zu werden. Uebrigens habe ich unter so vielen Postillonen nicht einen einzigen ungeschickten gefunden, mehrere zeichneten sich sogar durch eine stauncnswerthe Gewandtheit aus. Die Neapolitaner und die Russen sind die ersten Kutscher in der Welt; die geschicktesten waren die ganz alten und die ganz jungen; die letztern besonders haben mich in Erstaunen gesetzt. Als ich meinen Wagen und mein Leben das erste Mal einem Knaben von zehn Jahren anvertraut sah, protestirte ich ge- °) Die äußerst liebenswürdige Gräsin O'Donnel ist seitdem gestorben; sie war eine Tochter dcr Mad. Sophie Gay und also die Schwester der Delphine v. Girardin. 342 gen eine solche Unvorsichtigkeit; mein Feldjäger versichert« aber, es sei dies gebrauchlick, und da er stlbst eben so gefährdet war als ich, so glaubte ich, was er sagte, und fort ging es im Galopp unserer vier Pferde, deren Wildheit nicht eben zu meiner Beruhigung beitrug. Der erfahrene Knabe hütete sich wohl, sie anhalten zu wollen, er trieb sie vielmehr noch immer an, und der Wagen folgte wie er konnte. Dieses Verfahren, das mehr mit dem Temperamente der Pferde als mit dem meinigen zusammentraf, wurde auf der ganzen Strecke bis zur nächsten Station fortgesetzt, nur waren nach einem Werst die Rollen umgetauscht; der Kutscher war ungeduldiger als die Pferde und trieb die schnaufenden Thiere. Kaum schienen sie langsamer gehen zu wol, len, so peitschte er auf sie, bis sie sich wieder in Galopp setzten. Uekrigens wetteiferten die vier raschen Pferde, die neben einander gingen, an Schnelligkeit und eines suchte das andere zu überholen. Als ich den Character dieser Pferderace näher kennen lernte und sah, welchen Nutzen die Menschen davon ziehen, erkannte ich bald, daß das Wort, welches ich mit so vieler Müde hatte aussprechen lernen, das Wort li«c!im', auf dieser Neise mir nichts nützen würde, und baß ich mich sogar Unfällen aussetzte, wenn ich hartnackig darauf bestände, daß man langsamer fahre. Die Russen haben die Gabe und das Talent des Gleichgewichtes; Menschen und Pferde würden es im kurzen Trabe verlieren, und in einem Wagen, der bauerhafter wäre als der meinige, gewahrte mir ihr Verhalten sicherlich großes Vergnügen; aber jeden Augenblick glaubte ich, mein Wagen müßte m Stücke gehen, und es zerbrach auch allerdings so oft "was, daß meine Vesorgniß nur zu wohl begründet war. Ohne meinen italienischen Diener, der Schlosser- und Stell-macherbienste verrichtet, wären wir unterwegs liegen geblie- 343 ben. Bewundern muß ich übrigens die Nonchalance, mit welcher unsere Kutscher Platz auf ihrem Bocke nehmen. Sie setzen sich mit einer nicht erlernten Grazie, welche der stu-dirten Eleganz der civilisirtesten Kutscher weit vorzuziehen ist, von der Seite. Geht es bergab, so stehen sie auf und fahren stehend, den Körper leicht gebogen, die Arme mit den acht Zügeln ausgestreckt. In dieser Stellung könnte man sie für Kutscher im Circus hatten. Man schießt durch die Lust, und Wolken von Staub, gleich dem Schaume der Wellen unter einem Schisse, bezeichnen die Stelle, über welche die Pferde dahinjagten, fast ohne die Erde zu berühren. Dann versehn die englischen Federn den Wagen in ein Schaukeln, das dem eines Bootes gleicht, welches von einem ungestümen Winde getrieben, von entgegengesetzten Strömungen aber aufgehalten wird. In diesem Zusammenstoß der Elemente scheint das Fuhrwerk in Trümmer fallen zu muffen, aber immer geht es im Galopp dahin; man glaubt Pindar zu lesen oder zu träumen, und es bil. det sich ein gewisser Rapport zwischen dem Willen des Menschen und dem Verstande der Thiere. Es handelt sich bei Allen um das Leben; das Fuhrwerk wird nicht blos durch «inen mechanischen Impuls geleitet; man erkennt, daß hier ein Austausch von Gedanken und Gefühlen thacig ist; es ist thierische Magie, ächter Magnetismus. Der Kutscher, der auf so wunderbare Weise Gehorsam findet, steigert das Staunen des Reisenden dadurch, daß er die vier Pferde, die neben einander gehen, nach seinem Willen anhält, rechts oder links lenkt. Bald drangt er sie so zusammen, daß sie nicht mehr Raum einnehmen als ein Zweigespann, bald laßt er sie so weit auseinander, daß sie allein die Hälfte der breiten Chaussee ausfüllen. Es ist dies ein Spiel, ein Kampf, welche den Geist und die Sinne fortwährend in 344 Athem erhalten. In Hinsicht auf Civilisation ist in Rußland Alles unvollständig, weil Alles modern ist-, auf der schönsten Straße in der Welt zeigt sich immer irgend eine unterbrochene Arbeit. Jeden Augenblick trifft man auf fliegende oder provisorische Brücken, über welche man fahren muß, um die Hauptchaussee zu verlassen, an welcher irgend eine Ausbesserung vorgenommen wird. Der Postillon laßt aber sein Viergespann nicht langsamer gehen. Bleibt man auch auf der Straße, so geht es nie geradeaus, sondern bald aus die eine, bald auf die andere Seite, immer in derselben wüthenden Schnelligkeit zwischen einer Menge kleiner Karren mit einem Pferde, die ordnungslos auf der Chaussee verstreut sind, weil ein Fuhrmann wenigstens zehn dieser Wagen beaufsichtigt und der einzige Mensch eine so große Anzahl von Wagen unmöglich in einer Linie halten kann, zumal alle diese Pferde eigensinnig sind. Die Unabhängig? keit hat sich in Rußland unter das Vieh geflüchtet. Die Straße ist deshalb nothwendig durch alle diese Karren gleichsam versperrt, und ohne die Geschicklichkeit der russischen Postillone, durch dieses bewegliche Labyrinth hindurch «inen Ausgang zu finden, müßte die Post wie die Fuhrleute, d. h. im Schritte fahren. Diese Frachtwagen gleichen der Lange nach in der Mitte durchgeschnittenen Tonnen, die man offen auf ein Wagengestelle gelegt hat, oder Nußschalen. Darauf schafft man alles das von Lebensmitteln fort, was nicht zu Wasser transportirt wird. Der Wagen wird von einem ziemlich kleinen Pferde gezogen, dessen Kraft aber der Last, die es zieht, angemessen ist. Das muthige Thier zieht wenig, hält aber lange aus, geht bls zum Tode und fallt eher um, als es stehen bleibt. Auch ist sein Leben meist kurz. In Nußland ist ein zwölfjähriges Pftrd eine Seltenheit. 345 Nichts ist origineller, von Allem, was ich bis jetzt gesehen, verschiedener, als das Aussehen der Wagen, der Menschen und der Thiere, welchen man auf den Straßen in diesem Lande begegnet. Das russische Volk hat eine natürliche Zierlichkeit und eine Anmuth erhalten, nach welcher Alles, was es thut, berührt ober tragt, ihm unbewußt und unwillkürlich ein malerisches Aussehen erhält. Man verur-theile ein anderes Volk, die Häuser, die Kleidungsstücke und die Geräthe der Russen zu benutzen, und diese Gegenstande werden nur haßlich aussehen, wahrend ich sie jetzt zwar für seltsam, aber auch für bedeutsam und des Malens würdig halte. Man nöthige die Russen, die Kleidung der Arbeiter in Paris zu tragen, und sie werden etwas dem Auge Angenehmes daraus machen,, abcr eine so geschmacklose Kleidung würde der Russe nie erfinden. Das Leben dieses Volkes ist unterhaltend, wenn nicht für tas Volk selbst, so doch für den Fremden; der Geist dcs Menschen hat übcr das Clima und die Hindernisse aller Art zu siegen gewußt, welche die Natur dem geselligen ^'eben in einer Einöde ohne Poesie entgegensetzte. Der Contrast zwischen dcr blinden politischen Unterchanigkttt eines an die Scholle gefesselten Volkes, und zwischen dem energischen, fortdauernden Kampfe desselben Volkes gegen die Tyrannei eines lebensfeindlichen Clima's, und seine rauhe Unabhängigkeit der Natur gegenüber blickt jeden Augenblick unler dem Joche des Despotismus hervor und ist eine unerschöpfliche Quelle pikanter Bilder und ernster Gedanken. Um eine vollständige Neisebeschrei-bung von Rußland zu erhalten, müßte sich ein Horace Ver-Net mit einem Montesquieu verbinden. Auf keiner meiner Reisen habe ich es so wie hier bedauert, so wenig Fertigkeit im Zeichnen zu habcn. Rußland ist weniger bekannt als Indien, weniger oft beschrieben und 346 abgebildet, und doch ist cs wenigstens eben so merkwürdig als Asien, selbst in Hinsicht auf die Kunst, die Poesie und besonders die Geschichte. Jeder, der sich ernst mit den Gedanken beschäftiget, die in der politischen Welt fähren, kann nur gewinnen, wenn er in der Nahe diesen Staat beobachtet, der, dem Principe nach, wie die ältesten Staaten in der Welt regiert wirb, aber bereits ganz von den Idcen durchdrungen ist, welche in den revolutionärsten modernen Nationen gähren. Die patriarchalische Tyrannei der Regierungen Asiens in Berührung mit den Theorien der modernen Philanthropie; die Character? der Völker des Ostens und des Westens, die ihrer Natur nach unverträglich sind, aber dennoch mit Gewalt in einem halb barbarischen Staate an einander gekettet werden, den die Furcht regiert, — das ist ein Schauspiel, welches man nur in Rußland findet, und kein Denkender wird die Mühe beklagen, die es ihn kostete, hierher zu kommen, um jenes Schauspiel in der Nähe zu be« trachten. Der sociale, intellektuelle und politische Zustand des gegenwärtigen Nußlands ist das Resultat, so zu sagen das Resum«! der Regierungen Iwans IV., den Rußland selbst den Schrecklichen nannte, Peters I., den Menschen, die sich rühmen, Europa nachzuäffen, den Großen getauft haben, und Katharina's ll., die von einem Volke vergöttert wird, welches von der Eroberung der Welt träumt und uns schmeichelt, bis es uns verschlingen kann. Das ist das furchtbare Erbe, über welches der Kaiser Nicolaus verfügt, -^ Gott weiß, zu welchem Zwecke! Unsere Enkel werdm «s erfahren. Ich begegnete noch immer hier und da recht hübschen Bäuerinnen, aber fortwährend entsetzt mich der ungraziöse Schnitt ihrer Kleidung. Nach diesem Anzüge darf man den Sinn für das Malerische nicht beurtheilen, den ich den Russen zuschreibe. Die Tracht dieser Frauen müßte auch die vollendetste Schönheit entstellen. Denken Sie sich eine Art Ueberwurf oder Hülle ohne Leibchen, ohne Form, einen Sack mit einem Worte, welcher die Stelle des Kleides vertritt, und den sie dicht unter den Achseln in Falten ziehen. Es sind dies, glaube ich, die einzigen Frauen in der Welt, welche den sonderbaren Einfall haben, sich eine Taille über, nicht unter dem Busen zu machen, also ganz gegen die Natur und das Verfahren aller andern Frauen; es ist dies eine Uebertreibung der französchen Mode unler dem Direc-torium. Ich will damit nicht sagen, baß die Russinnen die Französinnen nachgeahmt hätten, die durch David und dessen Schüler nach griechischer Art gekleidet wurden; sie sind aber, ohne es zu wissen, die Carricatur der antiken Statuen, welche Paris nach der Schreckenszeit auf den Boulevards umherwandeln sah. Diese russischen Bäuerinnen machen sich eine Taille, die keine ist, weil sie, wie erwähnt, so kurz ist, daß sie über dem Busen schon aufhört. Die Folge davon ist, daß die ganze Person wie ein Ballen aussieht, in welchem alle Theile des Körpers ohne Anmuth und ohne Freiheit verschmelzen. Aber diese Tracht hat auch noch andere schwer zu beschreibende Unannehmlichkeiten; eine der ernstesten Folgen ist die, daß eine russische Bäuerin ihrem Kinde die Brust über die Achsel reichen könnte, wie die Hottentottinnen so groß ist die unvermeidliche Verunstaltung durch eine Mode, welche die Körperform aufhebt. Die Cir-cassierinnen, welche von der Schönheit des Weibes und der Art, dieselbe zu erhalten, einen richtigern Begriff haben, tragen von früher Jugend an um die Hüften einen Gürtel, den sie nie ablegen. 348^ In Torschok bemerkte ich eine Variante in der Frauen-tracht, die, meiner Ansicht nach, erwähnt zu werden verdient. Die Bürgerinnen dieser Stadt haben einen kurzen Mantel, eine Art gefältelter Pelerine, die ich nur bei ihnen gesehen habe; denn dieser Kragen hat das Eigenthümliche, daß er vorn ganz zu, hinten ein wenig ausgeschnitten ist, den Hals und einen Theil des Rückens setien läßt und über den Hüften, zwischen den Schuttern sich öffnet, also gerade umgekehrt wie bei den gewöhnlichen Kragen, die vorn offen sind. Denken Sie sich eine große, acht bis zehn Zoll breite Falbel von Sammet, Seide oder schwarzem Tuche, die unter dem Schulterblatte festgemacht ist, vorn rund um die Person herumgeht, wie ein Vischofscamail, und auf der entgegengesetzten Schulter zusammengehakelt, ohne daß die beiden Enden dieses Vorhanges hinten zusammenstoßen oder über einander gehen. Es ist dies seltsamer als hübsch und bequem; aber das Außerordentliche reicht zur Unterhaltung eines Reisenden hin. Wir suchen ja auf der Reise das, was uns den Beweis giebt, daß wir fern von der Heimat sind; das wollen aber die Russen nicht ein» sehen. Das Talent der Nachäfferei ist ihnen so natürlich, daß sie sich ernstlich verletzt fühlen, wenn man ihnen sagt, ihr Vaterland gleiche keinem andern. Die Originalität, die wir für etwas Verdienstliches halten, erscheint ihnen als ein Ueberrest der Barbarei. Sie bilden sich ein, wir müßten, nachdem wir uns die Mühe gegeben, so weit her zu kommen, uns sehr glücklich schätzen, tausend Stunden von unserer Heimat eine schlechte Parodie dessen wiederzufinden, was wir aus Liebe zur Veränderung verlassen haben. Dle Schaukel ist das größte Vergnügen der russischen Bauern, und diese Uebung entwickelt in ihnen die Gabe des Gleichgewichtes, welche den Menschen dieses Landes angebo- 349____ r«n ist. Dazu kommt, daß es ein stilles Vergnügen ist, und daß ruhige Vergnügungen für ein Volk passen, welches aus Furcht vorsichtig geworden ist. Bei allen Fcsien in den russischen Dörfern herrscht die Stille. Die Leute trinken viel, sprechen wenig und schreien noch weniger; sie schweigen ober sie singen im Ehor im näselnden Tone melancholische langgedehnte Töne. Die Nationalgesänge der Nüssen haben einen traurigen Ausdruck, aber es siel mir auf, daß es fast Men diesen Melodien an Einfachheit gebricht. Wenn ich Sonntags durch volkreiche Dörfer kam, sah ich Reihen von vier bis acht jungen Madchen kaum bemerklich auf Vretern sich schaukeln, die an Stricken hingen, wahrend einige Schritte weiterhin eine gleiche Anzahl junger Bursche, den Madchen gegenüber, sich eben so beschäftigte. Ihr stummcs Spiel dauert lange fort; ich h^be nie die Geduld gehabt, das Ende abzuwarten. Dieses sanfte Schaukeln ist nur eine Art Zwischenspiel, welches zum Ausruhen zwischen dem lebhaften Vergnügen dcr wirklichen Schaukel dient. Dies ist sehr lebhaft und erschreckt den Zuschauer sogar. Ein hoher Galgen, von dem vier Stricke herabhangen, tragt, ctwa zwei Fuß von dem Boden, ein Bret, auf dessen Enden sich zwei Personen stellen. Dieses Bret und die vier Pfahle, welche dasselbe tragen, sind so eingerichtet, daß das Schaukeln beliebig der Lange oder dcr Quer nach geschehen kann. Ich habe in den ernsten Augenblicken nie mehr als zwei Personen auf einmal auf dem Vccte gesehen. Diese beiden Personen sind bald ein Mann und eine Frau, bald zwei Manner oder zwei Frauen. Sie stehen stets aufrecht an den beiden Enden des Vretcs, wo sie das Gleichgewicht dadurch erhalten, daß sie sich stark an die Stricke anklam- 350 mern, welche die Maschine in Bewegung setzen. In dieser Stellung werben sie bis zu einer entsetzlichen Höhe in die Luft geschleudert, denn bei jeder Erhebung droht die Maschine überzuschlagen und die Schaukelnden aus einer Höhe von dreißig bis vierzig Fuß herunter zu schleudern; ich habe Pfähle gesehm, die zwanzig Fuß hoch sein mußten. Die Russen aber, deren Körper schlank und schmiegsam ist, sin-den leicht einen festen Halt, der uns in Erstaunen setzt. Sie zeigen bei dieser Leibesübung viel Gewandtheit, Anmuth und Kühnheit. Ich hielt in mehreren Dörfern an, um in dieser Weise junge Mädchen mit jungen Burschen kämpfen zu sehen, und fand endlich einige vollkommen schöne Madchengesichter. Sie haben einm zartweißen Teint; die Farben liegen bei ihnen gewissermaßen unter der durchsichtigen und ungemein feinen Haut. Ihre Zähne sind blendendweiß und — eine Seltenheit! — ihr Mund hat eine vollkommen reine antike Form. Ihre gewöhnlich blauen Augen sind dagegm orientalisch geschnitten, stehen mit dem Kopfe in gleicher Höhe und hab.'N jenen schlauen unruhigen Ausdruck, welcher den Slawen eigenthümlich ist, die im Allgemeinen von der Seite und nach hinten sehen, ohne den Kopf umzudrehen. Dies Ganze besitzt einen gewissen Reiz, aber diese Vorzüge finden sich, nach ciner Laune der Natur oder in Folge der Kleidung, weit seltener bei den Frauen vereiniget als bei den Männern. Unter hundert Landmädchm sieht man nicht eine hübsche, während sehr viele Männer sich durch die Form des Kopfes und die Reinheit der Züge auszeichnen. Es giebt Greise mit rothen Wangen, kakler Stirn und Silberhaar, deren gleichfalls weißer und seidenweicher Bart bis auf die breite Brust herabfällt. Wenn man diese schönen Gesichter sieht, könnte man sagen: die Zeit giebt ihnen an 351 Würde, was sie ihnen an Jugend nimmt; cS sind schönere Köpft als Alles, was ich von Rubens oder Titian gesehen habe; dagegen habe ich keinen einzigen alten Frauenkopf gesehen, der zu malen sein würde. Bisweilen vereiniget sich ein regelmäßig griechisches Profil mit so außerordentlich feinen Zügen, daß der Ausdruck des Gesichtes an der Vollkommenheit der Gcsichtslinien nichts verliert; bann bleibt man bewundernd stehen. Vorherrschend ist jedoch in der Gesichtsbildung der Manner- und der Frauen der Kalmücken: Typus: die vorspringenden Backenknochen und die eingedrückte Nase. Die Frauen sind häuslicher als in dem Westen Europa's; sie leben fast eingeschlafen in den Hausern; man hat wenig Gelegenheit sie zu sehen, außer Sonntags ober aus den Messen, und auch an diesen Tagen gehen sie weniger aus als ihre Manner. Die russischen Bauernhäuser sind besser geschloffen als die unserigen; auch wird der Reisende, der in eine Bauerwirthschaft hineinzutreten wagt, durch den Gestank und das Dunkel darin sicherlich bald wieder vertrieben. In der Zeit, in welcher die Bauern ausruheten, bin ich in mehrere dieser Hauser eingetreten, welche der Luft den Eintritt erschweren. Betten sind nicht zu sehen; Manner und Frauen liegen bunt unter einander auf hölzernen Banken, welche sich an den Wanden hinziehen, aber die Unreinlichkeit in diesen Bivouacs trieb mich immer wieder zurück, wenn auch nie so geschwind, daß ich auf meinen Kleidern Nicht ein lebendiges Andenken zur Strafe für meine Neugierde mitgenommen hatte. Zum Schutze gegen die kurze, aber starke Hitze des Sommers giebt es vor einigen dieser Hauser eine Bank im Freien, einen großen, zwar bedeckten, aber durchbrochenen Valcon. Diese Art Terrasse zieht sich rund um das Haus herum und dient der Familie, die sich 352 bisweilen auch auf die nackte Erde legt, als Bett. Die Erinnerungen an den Orient verfolgen uns hier überall. Vci allen Postkausern, in denen ich Abends einkehrte, fand ich eine Reihe schwarzer Schaffelle, die auf der Straße an den Hausern hin lagen. Diese Felle, welche ich für Sacke hielt, die man aus Versehen habe liegen lassen, waren Menschen, die der Kühle wegen unter freiem Himmel schliefen. Wir haben diesen Sommer eine Hitze, wie sie Rußland seit Menschengedenken nicht gehabt hat. Selbst die Sonne neigt sich diesem Lande zu. Die zu kurzen Röcken geschnittenen Schaffelle dienen den russischen Bauern nicht blos als Kleidungsstücke, sondern auch als Bett, als Teppich und als Zelt. Die Arbeitsleute, welche während der großen Hitze am Tage mitten auf dem Felde ausruhen, ziehen ihre Hülle aus und machen daraus ein malerisches Zelt, um sich uor den Sonnenstrahlen zu schützen; sie stecken, mit der sinnreichen Gewandtheit, die sie uor den Menschen im westlichen Europa auszeichnet, die Gabel ihres Karren in die beiden Aermel ihres Pelzes, drchen sodann dieses bewegliche Dach gegen die Sonne, und schlafen ruhig im Schatten. Dieses sehr warme Kleidungsstück hat eine zierliche Form und würde hübsch sein, wenn es nicht immer alt und schmutzig wäre. Ein armer Vauer kann freilich nicht oft ein Kleidungsstück sich anschaffen, das ihm so hoch zu stehen kommt; er tragt es deshalb so lange als möglich. Der russische Bauer ist industries und weiß sich in jedem Falle aus der Verlegenheit zu ziehen. Er geht nie ohne sein Beil aus, das in den Handen eines geschickten Mannes in einem Lande, wo es nicht an Holz fehlt, zu Allem zu gebrauchen ist. Hat man sich in einem Walde verirrt und ist von «inem russischen Diener begleitet, so wird 353 man in wenigen Stunden ein Haus haben, in welchem man die Nacht vielleicht bequemer und jedenfalls reinlicher verbringen kann, als in einem alten Dorfe. Besitzt man aber Gegenstande von Leder, so sind sie nirgends sicher; die Russen stehlen mit der Geschicklichkeit, die sie bei Allem anwenden, die Riemen, die Lcder, die Gurte der Koffer und der Wagen. Trotzdem sind sie äußerst fromm. Ich habe nie eine Station zurückgelegt, ohne daß mein Postillon wenigstens zwanzigmal sich bekreuziget hätte vor eben so vielen kleinen Kapellen. Mit derselben Pünktlichkeit erfüllte jeder die Pflichten der Höflichkeit und grüßte alle Fuhrleute, denen er begegnete, und Gott weiß, wie groß die Anzahl derselben war. Waren diese Förmlichkeiten erfüllt und wir kamen an dem PostHause an, so hatte beim Ab-oder Anspannen der gewandte, fromme, höfliche Spitzbube stets irgend etwas gestohlen, und ware es ein Kerzenstumpf aus der Wagcnlatrrne, ein Nagel, eine Schwube gewesen; kurz er kam nie mit leeren Händen zurück. Die Leute sind außerordentlich geldgierig, sie wagen aber nicht sich zu beklagen, wenn man sie schlecht bezahlt. Dies geschah in den letzten Tagen denen oft, welche mich fuhren, weil mein Feldjäger von dem Gelde für die Post, *daS ich ihm in Petersburg auf dcn ganzen Weg vorausgegeben hatte, immer für sich etwas zurückbehielt. Da ich wahrend der Reise diese Betrügerei bemerkte, so legte ich aus meiner Tasche für den armen Postillon etwas zu. Der Spitzbube von Feldjäger bemerkte aber seinerseits meine Freigebigkeit (wie er sich ausdrückte), er beklagte sich frech darüber und sagte, er könne nicht länger für mich bürgen, wenn ich ihn in der rechtmäßigen Ausübung seiner Pflicht hindere. Darf man sich übrigens wundern, Leute aus dem gemeinen Volke ohne Zartgefühl zu finden, wo die Großen ll. 23 354 glauben, die einfachsten Regeln der Rechtlichkeit waren nur für den Bürger, nicht aber für Leute von ihrem Range? Glauben Sie nicht, daß ich übertreibe; ich sage Ihnen, was ich sehe-, in den meisten überwiegenden Familien in Rußland herrscht ein aristocratischer, ausgearteter Stolz, welcher der wahren Ehre widerstreitet. Letzthin machte eine vornehme Dame, ohne es zu ahnen, ein naives Geständniß. Ihre Rede siel mir so sehr auf, daß ich die Ueberzeugung habe, sie Ihnen Wort für Wort wiedergeben zu können. Solche Ansichten sind indeß, obwohl bci den Mannern hier häufig, unter den Frauen selten, welche besser als ihrc Manner oder Brüder wahlhaft adelige Ideen behalten haben. Deshalb überraschte mich diese Sprache doppelt in dem Munde der Person, welche sie führte. „Wir können uns," sagte sie, „keine richtige Vorsieh lung von einem gesellschaftlichen Zustande machen, wie der Ihrige ist; man versichert mich, daß in Frankreich jetzt der vornehmste Herr wegen einer Schuld von zweihundert Francs in das Gefängniß gebracht werden könnte; das ist empörend. In ganz Rußland dagegen würde kein Lieferant, kein Kaufmann wagen, uns auf eine unbeschränkte Zeit Credit zu verweigern. Mit Ihren aristocratischm Ideen," setzte sie hinzu, „müssen Sie sich also bei uns wohl befinden. Es besteht zwischen den Franzosen vom alten Regime und uns eine größere Aehnlichkeit, als mit irgend einer andern Nation in Europa." Ich habe allerdings mehrere alte Russen kennen gelernt, welche in dem Rufe stehen, recht hübsche kleine Liebchen aus dem Stegreife zu dichten. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich an mich halten mußte, um nicht plötzlich und laut gegen die Aehnlichkeit und Verwandtschaft zu prolestiren, deren diese Dame 355 sich rühmte. Trotz der nothwendigen Klugheit konnte ich aber nicht umhin, ihr bemerklich zu machen, daß ein Mann, der heutiges Tages bei uns für einen Ultra-Aristocraten gälte, in Petersburg vielleicht unter die Ultra-Liberalen gerechnet werden würde, und fügte zum Schlüsse hinzu: „Wenn Sie mir die Versicherung geben, daß man es in Ihren Familien nicht für nöthig halt, seine Schulden zu bezahlen, so glaube ich Ihren Worten nicht." „Daran thun Sie Unrecht. Mehrere von uns besitzen ein ungeheures Vermögen, würden aber ganz verarmen, wenn sie bezahlen wollten, was sie schuldig sind." Anfangs hielt ich diese Sprache für eine geschmacklose Prahlerei oder selbst für eine Schlinge, die man meiner Leichtgläubigkeit stellte; die Erkundigungen aber, die ich spater einzog, bewiesen mir, baß es voller Ernst war. Um mir begreiflich zu machen, daß die Personen der vornehmen Welt in Rußland wirklich acht französischen Geist besaßen, erzählte mir dieselbe Dame, Einer ihrer Verwandten, bei welchem man eines Tages Vaudevilles aufgeführt, habe auf die Verse, die man zu Ehren des Hausherrn gesungen, durch improvisirte Verse nach derselben Melodie geantwortet. „Sie sehen daraus, wie sehr wir Franzosen sind," setzte sie mit einem Stolze hinzu, üb«r den ich innerlich lachen mußte. „Ja, selbst mehr als wir," antwortete ick und wir sprachen von etwas Anderem. Ich kann mir das Erstaunen dieser französischen Russin denken, wenn sie in Paris die Salons der Madame ... besuchte und unser jetziges Frankreich fmgte, was aus dem Frankreich der Zeit Ludwigs XV. geworden sei. Unter der Kaiserin Katharina glich die Conuersation in dem Palaste und bei einigen Personen vom Hofe jener der Salons von Paris; jetzt sind wir in Worten ernster oder 23» wenigstens kühner, als irgend ein Volk in Europa, und in dieser Hinsicht gleichen unsre modernen Franzosen den Russen gar nicht, denn wir sprechen von Allem und die Russen sprechen von gar nichts. Die Regierung Katharina's hat m der Erinnerung einiger russischen Damen tiefe Spuren zurückgelassen. Diese Damen streben nach dem Titel Staatsfrauen und be, sitzen einen Geist der Politik^ da überdies mehrere von ihnen mit dieser Anlage Sitten verbinden, welche denen des 18. Jahrhunderts vollkommen gleichen, so sind sie eben so viele reisende Kaiserinnen, welche Europa mit ihrer Schamlosigkeit erfüllen, unter diesem cynischen Betragen aber einen tiefen Geist der Negierung und der Beobachtung verbergen. In Folge dieses Intriguengenies der nordischen Aspasien hat fast jede Hauptstadt Europas zwei oder drei russische Gesandte, einen öffentlichen, beglaubigten, anerkannten und mit allen Zeichen seines Amtes bekleideten, und andere geheime, unverantwortliche, welche in Häubchen und Unterrock die Doppel-Rolle eines unabhängigen Gesandten, und eines Beobachters des offiziellen Gesandten spielen. Es sind zu allen Zeiten Frauen mit Glück zu politischen Unterhandlungen gebraucht worden; mehrere moderne Revolutionäre bedienten sich der Frauen, um geschickter, sicherer und geheimer zu conspiriren; Spanien hat solche Unglückliche gesehen, die durch den Muth, mit welchem sie die Strafe für ihre liebevolle Hingebung ertrugen, Heldinnen wurden, denn bei dem Muthe einer Spanierin spielt die Galanterie immer eine große Rolle. Bei den Russinnen dagegen ist die Liebe Nebensache. Rußland besitzt eine völlig organisirte weibliche Diplomatie und Europa achtet vielleicht nicht hintanglich auf dieses Mittel, Einfluß zu gewinnen. Durch sein Heer amphibischer Agenten und politischer Ama- 357 zoncn mit schlauem männlichem Geiste und weiblicher Sprache, erlangt der russische Hof Nachrichten, empfängt erBe-richtc und Rathschläge, die, wenn sie bekannt wären, viele Geheimnisse erklären, den Schlüssel zu vielen Widersprüchen geben und manche Kleinlichkeiten enthüllen würben. Weil die meisten russischen Frauen sich mit der Politik beschäftigen, wird ihre Unterhaltung trocken, wahrend sie sehr interessant sein könnte. Dieses Unglück widerfahrt namentlich den ausgezeichnetsten Frauen, welche natürlich am meisten zerstreut sind, wenn das Grspräch nicht ernste Gegenstände betrifft; es liegt ja zwischen ihren Gedanken und Reden eine ganze Welt. Die Worte, welche sie sprechen, täuschen, denn ihr Geist ist anderswo; sie denken immer an etwas Anderes als an das, von dem sie reden, und aus diesem Zwlespalte geht ein Mangel an Einklang und Natürlichkeit, mit cinem Worte die Doppelzüngigkeit hervor, die im gewöhnlichen Verkehr des gesellschaftlichen Lebens lästig lst. Die Politik ist an sich schon nicht eben unterhaltend; man ertragt die Langweiligkeit nur aus Pflichtgefühl und es schlagen bisweilen Lichtstrahlen aus ihr auf, welche die Conversation der Staatsmanner beleben, aber die betrüg-liche Politik, die Politik der Dilettanten ist eine wahre Geißel der Conversation. Der Geist, der sich aus eigner Wahl dieser Beschäftigung hingiebt, erniedriget sich und verliert seinen Glanz, ohne Entschuldigung, ohne Entschädigung zu finden. Man versichert mich, daß das moralische Gefühl unter den russischen Bauern fast gar nicht entwickelt sei; die Fa-milienpfiichten ahnen sie kaum und meine tägliche Erfahrung bestätiget die Erzählungen, die mir die unterrichtetsten Personen machcn. Ein vornehmer Herr erzählte mir, ein ihm angehöriger 358 Mensch, der sich, ich weiß nicht in welchem Handwerke ausgezeichnet, sei mit Erlaubniß nach Petersburg gegangen, um da sein Talent zu üben. Nach zwei Jahren habe man ihm Urlaub auf einige Wochen gegeben, die er in feinem Dorfe, bei seiner Frau, zuzubringen gewünscht. An dem bestimmten Tage sei cr nach Petersburg zurückgekommen. „Bist Du nun zufrieden, da Du Deine Familie gesehen?" fragte ihn sein Herr. „Sehr zufrieden," antwortete der Mann. „Meine Frau hatte mir in meiner Abwesenheit zwei Kinder geschenkt, worüber ich mich sehr freue." Diese armen Menschen können nichts ihr eigen nennen, weder ihre Hütte, noch ihre Frauen, noch ihre Kinder, noch selbst ihr Herz. Sie sind nicht eifersüchtig; worauf sollten sie es auch sein? auf einen Zufall? — mehr ist bei ihnen die Liebe nicht. Und so leben die glücklichsten Menschen in Rußland: die Leibeigenen! Ich hörte ihr Schicksal oft von den Großen beneiden und vielleicht mit vollem Rechte. „Sie haben keine Sorgen," sagte man; „sie und ihre Familien liegen uns zur Last." (Gott weiß, wie man für sie sorgt, wenn sie alt und unbrauchbar geworden sind.) „Da ihnen und ihren Nachkommen gesichert ist, was sie brauchen, so sind sie hundertmal weniger zu beklagen als die freien Bauern bei Ihnen." Ich schwieg bei dieser Lobrede auf die Leibeigenschaft, aber ich dachte: wenn sie keine Sorgen haben, so haben sie nuch keine Familie, folglich auch keine Liebe, kein Glück, kein moralisches Gefühl, keine Entschädigung für die materiellen Leiden des Lebens; sie besitzen nichts, und das Eigenthum macht den Gesellschaftsmenschen, weil nur das Eigenthum bi« Familie bildet. 359 Die Thatsachen, welche ich Ihnen anführe, scheinen den poetischen Gefühlen zu widersprechen, welche der Verfasser „der Geschichte Thelenefs" aussprach. Ich habe nicht den Auftrag, die Widersprüche auszugleichen-, ich habe nur die Contraste zu schildern; erkläre sie wcr kann. Uedrigens besitzen die russischen Dichter das Monopol der Lüge wie alle andern Dichter; diese Bevorzugten des Gedankens erfinden, um wahrer zu sein als die Geschichtschreiber. Nur die moralische Wahrheit verdient unsere Verehrung, und alle Bestrebungen des menschlichen Geistes, in welcher Sphäre er auch arbeiten mag, haben den Zweck, sie zu entdecken. Ich verwende auf meinen Reisen eine besondere Sorgfalt darauf, die Welt so zu schildern wie sie ist, weil ich in allen Herzen, namentlich aber in dem mcinigen, das Bedauern darüber wecken will, daß sie nicht so ist, wie sie ftin sollte, weil ich in allen Gemüthern das Gefühl der Unsterblichkeit zu erregen suche, indem ich uns bei jeder Ungerechtigkeit, bei jedem Mißbrauche, die von dem Irdischen unzutcennlich sind, an den Ausspruch Jesus erinnere: „mein Reich ist nicht von dieser Wett." Ich habe nie so oft Gelegenheit gehabt, diesen Ausspruch anzuwenden, als seit ich mich in Rußland befinde; er fallt mir jeden Augenblick ein. Unter dem Despotismus sind alle Gesetze darauf berechnet, den Druck zu begünstigen, oder mit andern Worten darauf, daß der Unterdrückte, je mehr Ursachen er zur Klage hat, um so wenige ein Recht oder den Muth dazu finde. Man muß indeß gestehen, daß die schlechte Handlung eines freien Staatsbürgers vor Gott verbrecherischer ist als dieselbe schlechte Handlung eines Leibeigenen und selbst die Ungerechtigkeit des Herrn eines Leib- 360 eigenen, denn in einem solchen Lande liegt die Barbarei in der Luft. Der Allsehende hält die Unempfindlichkeit des Gewissens dem Menschen zu Gute, welcher durch das Schauspiel der immer triumphirenden Ungerechtigkeit abgestumpft wurde. Das Schlechte ist überall schlecht, wird man sagen, und der Mensch, der in Moskau stiehlt, ist ein Dieb wie der Spitzbube in Paris. Das aber leugne ich. Von der allgemeinen Bildung, die ein Volk erhalt, hangt zum großen Theile die Moralität eines jeden Individuums ab und daraus folgt, daß die Vorsehung eine furchtbare und geheimnißuolle solidarische Verantwortlichkeit für das Unrecht und das Verdienst zwischen den Regierungen und den Unterthanen begründet hat, und daß in der Geschichte der Gesellschaften ein Augenblick eintritt, wo der Staat wie ein einzelner Mensch gerichtet, verurtheilt und bestraft wird. Es muß immer wiederholt werden: die Tugenden, die Laster und Verbrechen der Sclaven haben nickt dieselbe Bedeutung wie die der freien Menschen, und wenn ich das russische Volk beobachte, kann ich als eine Thatsache, welche nicht denselben Tadel verdient, den sie bei uns verdienen würde, anführen, daß es ihm im Allgemeinen an Stol;, an Zartgefühl und an Edelsinn fehlt, daß es dafür aber Geduld und Schlauheit besitzt. Ich spreche dies aus, denn ich habe als Beobachter das Recht dazu; ich erzähle nicht blos, was ich sehe, ich urtheile auch, verdamme und lobe. Die Gleichgültigkeit ist eine Tugend, welche wohl dem Leser leicht wird, dagegen für den Schriftsteller immer schwer, wenn nicht gar unmöglich ist. „Das russische Volk ist sanft," sagt man, und ich antwortete darauf: „daß weiß ich ihm nicht Dank, denn es ist die Gewohnheit des Gehorsams." Andre sagen: „das russische 36! Volk ist nur sanft, weil es nicht wagt, das merken zu lassen, was ihm im Herzen liegt; die Grundlage aller seiner Gefühle und Ideen ist der Aberglaube und die Rohheit." Darauf antworte ichi „armes Volk! es erhält einen sehr schlechten oder gar keinen Unterricht." Die russischen Bauern erregen mein Mitleiden im hohen Grade, ob sie gleich die glücklichsten Menschen, d. h. die am wenigstens zu beklagenden in Rußland sind. Die Russen werben sich verletzt fühlen und mit Recht gegen meine Uebertreibungen protestiren, denn alle Uebel werden durch die Gewohnheit und durch die Unkenntniß der gegenüber-stehenden Güter gemildert; aber ich bin auch in meinem Nechte und der Standpunkt, von dem aus ich die Gegenstande betrachte, gestattet mir, wenn auch nur im Vorbeikommen, Dinge zu bemerken, welche den blasirten Augen der Eingebornen entgehen. Aus allem dem, was ich in dieser Welt und namentlich hier in Rußland sehe, geht hervor, daß das Glück nicht der wahre Zweck des Lebens des Menschen hinieden ist. Der Zweck ist ein religiöser, die moralische Vervollkommnung, Kampf und Sieg. Seit dem Umsichgreifen der weltlichen Macht hat aber die christliche Religion in Rußland ihre Tugend verloren; sie ist stationär, ein Triebwerk des Despotismus und weiter nichts. In diesem Lande, wo nichts klar und döut-lich bestimmt ist, hat man natürlich Mühe, die gegenwärtigen Verhaltnisse zwischen der Kirche und dem Staatsoberhaupte zu begreifen, das sich auch zum Schiedsrichter in Glaubenssachen gemacht hat, ohne dieses Vorrecht positiv auszusprechen; es hat es sich angeeignet und übt es aus, aber es wagt es nicht als Recht in Anspruch zu nehmen und hat eine Synode beibehalten, die letzte Huldigung. 362___ welche die Tyrannei dem Könige der Könige und der gestürzten Kirche desselben erzeigt. Levesque, dessen Schrift ich eben las, erzählt diese kirchliche Revolution in folgender Weise. Ich war an dem PostHause aus dem Wagen gestiegen und wahrend man einen Schmied herbeizuschaffen suchte, UM an meinem Wagen wieder etwas auszubessern, durchlief ich die Il!8t<,!r» 6« Il,!58>'', aus welcher ich folgende Stelle Wort für Wort hier mittheile. „1721. Seit dem Tode Adrians") schien Peter") die „Wahl eines neuen Patriarchen immer zu verschieben. In „den zwanzig Jahren, die so vergingen, war die religiöse „Verehrung des Volkes für das Haupt der Kirche allmälig ,,erkaltet. „Der Kaiser glaubte endlich erklären zu können, baß „diese Würde für immer abgeschafft sei. Er theilte die Kir-„chengewall, welche früher ganz in der Person eines Ober-„pricsters vereiniget gewesen war, und wies alle religiösen „Angelegenheiten einem neuen Gerichtshöfe zu, welchen man „die heilige Synode nennt. „Er erklärte sich nicht für das Haupt der Kirche, aber „er wurde es wirklich durch den Eid, den ihm die Mit-„glieder des neuen geistlichen Collegiums leisteten und der „also lautet: „ich schwöre, ein treuer und gehorsamer Diener „und Unterthan meines natürlichen und wirklichen Souverains „zu sein. Ich erkenne ihn an als den höchsten „Richter dieses geistlichen Collegiums." „Die Synode besteht aus einem Präsidenten, zwei Vice-„präsidenten, vier Rathen und vier Assessoren. Die absetz- ") Der letzte Patriarch von Moskau. °°) Der Kaiser. 363 „baren Richter in kirchlichen Angelegenheiten haben zusammen „aber bei weitem die Macht nicht, wclche der Patriarch „allein besaß. Sie werden nicht in den Rath berufen-, ihr „Name erscheint nicht bei den Handlungen der Souveraini-„tät; sie haben selbst bei den Gegenständen, welche man „ihnen vorlegt, nur eine jener des Souoerains untergeordnete Gewalt. Da sie auch kein äußeres Zeichen vor den „andern Prälaten auszeichnet und ihre Autorität aufHort, „sobald sie nicht mehr in ,ihrem Gerichtshöfe- sitzen, da end-„lich dieser Gerichtshof selbst nichcs sehr Imposantes hat, so „flößen sie auch dem Volke keine besondere Ehrfurcht ein." (Ilistuire fle Russie et lies principalug nation de 1'Empire russe, par Pierre Charles LtWesque, II, edit., publüie par Malte-lJrun ei Dcpmng, vol. 5.) Ich tröste mich über das Unglück, das meinem Wagen wiederfahrr, weil diese Verzogerungen meinen Arbeiten förderlich sind. Das russische Volk ist in unsern Tagen das gläubigste unter den christlichen Volkern; die Hauptursache der geringen Wirksamkeit seines Glaub^"« <^t lu I<'il>lil,ttlv, i»iii' iVI. 1. II. 8clmit/.l<,-. l>Ä>i» 1865. p. 37.) 376 ist verschieden; ihre Spitze gleicht oft spitzen Mützen auf einem Kopfe; man kann auch den großen Thurm mancher Kirchen, der äußerlich bunt angestrichen und vergoldet ist, mit einer Bischofsmütze, mit einer Tiara, welche mit Edelsteinen besetzt ist, mit einem chinesischen Pavillon, mit einem Minaret, mit einer Bonzenmütze vergleichen; hausig ist es auch ganz einfach eine kleine kugelförmige Kuppel, die in einer Spitze cnoiget; über alle diese mehr oder minder seltsamen Gestalten ragen aber große, durchbrochen gearbeitete kupferne, vergoldete Kreuze hinweg, deren complicate Muster einigermaßen an Filigranarbeiten erinnern. Die Zahl und die Stcllung dieser Thürme hat einen religiösen Sinn; sie bedeuten die Grade der geistlichen Rangordnung. Es ist der Patriarch, umgeben von seinen Priestern, seinen Diaconen und Subdiaconen, wie, er zwischen Erde und Himmel sein strahlendes Haupt erhebt. In der Form dieser mehr oder minder verzierten Dächer zeigt sich eine phantasievolle Mannichfaltigkeit, aber die ursprüngliche Bedeutung, die theologische Idee wird dabei immer gewissenhaft beobachtet. Glänzende vergoldete oder versilberte Metallketten verbinden die Kreuze auf den untern Thürmen mit dem Kreuze auf dem Hauptthurme, und dieses metallische Gesiecht, das über eine ganze Stadt ausgespannt ist, macht einen, selbst auf einem Bilde, noch mehr in einer Beschreibung schwer wiederzugebenden Effect; die Worte bleiben hinter den Farben fast eben so wcit zurück als hinter den Tönen. Denken Sie sich also, wenn Sie es vermögen, den Effect dieser heiligen Schaar von Thürmen, die, ohne gerade menschliche Formen zu haben, in grotesker Weise eine Gesellschaft von Personen oben auf jeder Kirche wie auf den kleinsten Kapellen darstellen; es ist eine Phalanx von Phantomen, die über einer Stadt schweben. 377___ Noch habe ich Ihnen aber noch nicht gesagt, was das Seltsamste an dem Auoschcn der russischen Kirchen ist: ihre geheimnißvollen Kuppeln sind gleichsam mit einem Panzer versehen, so vortrefflich ist die Arbeit ihrer Umhüllung. Man könnte sie eine damascirte Rüstung nennen, und man bleibt stumm vor Erstaunen stehen, wenn man diese Menge guillo-chirtcr, schuppiger, emaillirter, beflirterter, sireisiger, immer in sehr hellen glänzenden Farben angestrichener Dächer in der Sonne blitzen sieht. Denken Sie sich reiche Tcppiche von oben bis unten an den am meisten in die Augen fallenden Gebäuden einer Stadt, deren Massen auf dem wassergrüncn Grunde der öden Landschaft vortreten. Die Einöde wird durch dieses zauberische Gesiecht von Karfunkeln gleichsam beleuchtet. Das Spiel des Lichtes, das sich aus dieser luftigen Stadt spiegelt, bringt am hellen Tage eine Art Phantasmagoric hervor, die an den Glanz der Lampen erinnert, welche in dem Gewölbe eines Juweliers sich spieln, und diese schillernden Lichter geben Moskau ein Aussehen, das von dem jeder andern großen Stadt in Europa verschieden ist. Sie können sich den Effect des Himmels, aus der Mitte einer solchen Stadt gesehen, vorstellen; es ist eine Glorie gleich der auf alten Gemälden, wo man nichts als Gold sieht. Ich darf nicht versäumen. Sie an die große Zahl der Kirchen zu erinnern, welche diese Stadt enthält. Schnitzler berichtet S. 52, daß im Jahre 1730 Weber in Moskau 1500 Kirchen gezahlt habe, und daß die Einwohner sie oa-mals auf 160« angaben, was jedoch eine Uebertreibung sti, wie er hinzusetzt. Core nimmt im Jahre 1778 die Zahl 484 an. Lavau widerspricht auch dieser Zahl. Ich für meine Person begnüge mich, Ihnen das Aussehen der Dinge zu schildern; ich bewundere, ohne zu zahlen, und verweise 378 die Liebhaber von Verzeichnissen auf die Bücher, die blos aus Zahlen bestehen. Ich habe hoffentlich genug gesagt, um Ihnen meine Ueberraschung bei dem ersten Anblicke Moskaus begreiflich zu machen; das ist mein einziges Bestreben. Sie werden meine Verwunderung theilen und noch mehr staunen, wenn Sie sich an das erinnern, was Sie überall gelesen haben, daß nämlich diese Stadt ein ganzes Land ist, und daß die Felder, die Seen und Wälder in ihrem Umkreise bedeutende Entfernungen zwischen die verschiedenen Gebäude bringen, mit denen sie geschmückt ist. Diese Zerstreuung bringt eine neue Illusion hervor; die ganze Ebene ist mit Silbergaze bedeckt; drei- bis vierhundert so getrennte Kirchen bilden vor dem Blicke einen unermeßlichen Halbkreis, und wcnn man sick der Stadt zum ersten Male zur Zeit des Sonnenunterganges, bei einem Gewitterhimmel nähert, glaubt man eincn feurigen Regenbogen über den Kirchen Moskaus schweben zu sehen, — das ist der Heiligenschein der heiligen Stadt. Dreiviertel Stunden ungefähr von dem Thore schwindet der Wunderglanz, und man hält vor dem wirklichen Schlosse Petrowski, dem plumpen Palaste von Ziegelsteinen, der von Katharina ll^ in seltsamem Geschmacke nach einer modernen, mit Verzierung überladenen Zeichnung gebaut wurde. Diese Verzierungen treten weiß von den rothen Mauern hervor. Dieser Schmuck, der, wie es scheint, von Gips, nicht von Stein ist, hat etwas Gothisches, aber nichts von dem geschmackvollen Gothischen; es ist blos ungewöhnlich. Das Gebäude ist vierseitig wie ein Würfel; eine Regelmäßigkeit, welche das allgemeine Aussehen nicht imposan« ter macht. Hier hält der Herrscher an, wenn er einen feierlichen Einzug in Moskau zu machen hat. Ich werde wieder 379 daher kommen, denn man hat da ein Sommercheater eingerichtet, einen Garten angelegt, einen Ballsaal gebaut, eine Art öffentliches Kaffeehaus, wo sich die Müßiggänger der Stadt in der schönen Jahreszeit versammeln. Ueber Petrowski hinaus geht die Entzauberung immer rascher von Statten, so daß man bei der Einfahrt in Moskau nicht mehr an das glaubt, was man von Weitem gesehen hat; man träumte und bei dem Erwachen findet man das Allerprosaischste und Langweiligste von der Welt wieder, eine große Stadt ohne großartige Gebäude, d. h. ohne einen einzigen Kunsta/genstand, der ernstliche Bewunderung verdient. Vor jener plumpen und ungeschickten Copie Europa's fragt man sich, was aus Asien geworden ist, das man einen Augenblick vor sich sah. Moskau, von Außen und im Ganzen gesehen, ist cine Sylphenschöpfung, eine Welt von Chimären; in der Nähe und im Einzelnen aber eine große, ungleiche, staubige, schlecht gepflasterte, schlecht gebaute, nicht volkreiche Handelsstadt, welche allerdings von dem Werke einer mächtigen Hand, aber auch von dem Gedanken eines Kopfes zeugt, dem die Idee des Schönen abging und der allein kein Meisterwerk hervorbringen konnte. Das russische Volk besitzt Körperkraft, die Macht der Phantasie geht ihm ab. Ohne Sinn für Architectur, ohne Talent, ohne Geschmack für die Sculptur kann man wohl Steine auf einander Haufen und Großes — der Ausdehnung nach — vollbringen, aber nichts Harmonisches, d. h. nichts wahrhaft Großes ausführen. Glückliches Vorrecht der Kunst! Die Meisterwerke überleben sich selbst; sie bchchcn fort in dem Andenken der Menschen noch Jahrhunderte, nachdem die Zeit sie zerstört hat; sie haben durch die Inspiration, welche sich selbst in ihren letzten Trümmern zeigt, Antheil an der 380 Unsterblichkeit des Gedankens, der sie geschaffen hat, während unförmige Massen, welche Dauer man ihnen auch giebt, vergessen werden, noch bevor die Zeit ihncn ihr Recht hat widerfahren lassen. Die Kunst, in der Vollkommenheit, giebt den Steinen Seele. Das lernt man in Griechenland, wo i/des Sculpttirstück zur Wirkung des allgemeinen Planes jedes Gebäudes beitragt. In der Architects, wie in den andern Künsten, geht aus der Vortrefflichkeit der kleinsten Details und aus ihren klug mit dem allgemeinen Plane combinirten Verhältnissen das Gefühl des Schönen hervor. Diesen Eindruck macht in ganz Rußland nichts. Nichtsdestoweniger fesseln in diesem Chaos von Gips, gebrannten Steinen und Vretern, das man Moskau nennt, zwei Punkte die Blicke fortwährend.' die St. Vasüskirche, die ich Ihnen sogleich beschreiben werde, und der Kreml, der Kreml, von dem selbst Napoleon nur einige Steine absprengen konnte. Dieser wunderbare Bau mit seinen weißen, ungleichen, zerrissenen Mauern und seinen Zinnen übereinander ist für sich allein so groß wie eine Stadt. Er soll eine Stunde im Umfange haben. Gegen Abend, zu der Zeit, als ich in Moskau ankam, traten die seltsamen Massen der Palaste und Kirchen in dieser Citadelle hell auf dem duftigen Hintergrunde der Landschaft vor, die einfach in Linien, groß an Leere, kalt in Farbcntönen ist, obgleich wir in der Hitze fast verbrennen, im Staube ersticken, von Mücken aufgezehrt werden. Nur die lange Dauer der warmen Jahreszeit färbt die südlichen Landschaften; im Norden fühlt man die Wirkungen des Sommers, aber man sieht sie nicht; die Luft n>>rd zwar auf Augenblicke erwärmt, aber die Erde bleibt immer farblos.' 381 Ich werde nie den Schauder des Entsetzens vergessen, den ich bei dem ersten Anblicke dcr Wiege des modernen russischen Reichs empfand. Der Kreml allein ist eine Reise nach Moskau werth. Am Thore dieser Festung, aber außerhalb ihrer Mauer, wie mein Feldjäger sagte, denn ich konnte noch nicht dahin gelangen, steht die St. Basilkirche, V.,'. Auch unter dem Namen der Kathedrale unter dem Schutze der heiligen Jungfrau ist sie bekannt. In dem griechischen Ritus ist man mit der Benennung Kathedrale sehr freigebig; jeder Stadttheil, jedes Kloster hat eine, jede Stadt besitzt mehrere; die Nassilj-Kathedrale ist aber sicher das seltsamste, wenn nicht das schönste Gebäude in Rußland. Ich habe sie nur von Weitem gesehen, und der Ein-druck, dcn sie da machte, war bewundernswürdig. Denken Eie sich eine Mcnge kleiner ungleicher Thürme, die zusammen einen Busch, einen Blumenstrauß bilden, oder denken Sie sich vielmehr eine unregelmäßige Frucht, die von Auswüchsen starrt, cine dergleichen Melone z. V. oder noch besser eine tausendfarbige Crystallisation mit spiegelnden Me-tallsiächen, die in der Ferne in den Sonnenstrahlen wie böhmisches oder venetianisches Glas oder chinesisches Email glühen; es sind goldene Fischschuppen und Schlangenhäute, die man über einen Haufen unförmiger Steine gespannt hat, Drachentöpfe, Eidrchsenpanzer mit schillernden Farben, Altarverzierungen, Priestergewander, und über Alles hinwegragende Spitzen, deren Farben moirirten Seidenzcugen gleichen. In dm schmalen Zwischenraumen zwischen diesen Thürmchcn, die verziert sind, wie man Personen herausputzt, sieht man Dacher glänzen in Taubenhalsfarben, in Rosa, in Himmelblau, und dieses Blitzen und Flimmern blcndet das Auge, wie es die Phantasie anregt. „Gewiß, 382 das Land, in welchem ein solches Gebäude ein Gotteshaus heißt, ist nicht Europa, sondern Indien, Persien, China, und die Menschen, welche in dieser Consiturenschachtel Gott anbeten, können keine Christen sein," — so rief ich unwillkürlich aus, als ich die Wassilj-Kirche zum ersten Male erblickte. Seit ich in Moskau bin, habe ich keinen andern Wunsch, als dieses Meisterwerk seltsamer Einfälle in der Nähe zu betrachten. Das Gebäude muß einen ganz außerordentlichen Styl haben, da es mich von dem Kreml in dem Augenblicke abziehen konnte, als dieses furchtbare Kastell mir zum ersten Male erschien. Bald aber nahmen meine Gedanken eine andere Richtung; meine Aufmerksamkeit wendete sich ab von dem, was meine Augen sab/n, um sich die Ereignisse vorzustellen, welche hier geschehen sind. Welcher Franzose könnte sich eines Gefühls von Ehrfurcht und Stolz erwehren (das Unglück hat auch seinen Stolz, und er ist der begründetste), wenn er in die einzige Stadt eintritt, in welcher zu unserer Zeit ein biblisches Ereigniß, eine Begebenheit geschehen, die so imposant ist, wie die großartigsten der alten Geschichte. Das Mittel, welches die asiatische Stadt ergriff, um ihren Feind zurückzutreiben, ist eine Handlung erhabener Verzweiflung, und der Name Moskau ist von nun an für immer mit dem des größten Feldherrn der neuern Zeit verbunden ; der heilige Vogel der Griechen verbrannte sich, um den Klauen des Adlers zu entgehen, und die mystische Taube erhob sich, gleich dem Phönix, aus seiner Asche. In diesem Riesenkricge, in welchem Alles Glanz war, ist der Ruhm unabhängig von dem Siege. Feuer unter dem Eise, die Waffen der Dämonen Dante's, warm die Kriegsmaschinen, welche Gott den Nüssen in die Hände gab, um uns zurückzutreiben und zu vernichten. Eine 383 Armee von Tapfern kann sich rühmen, bis hierher gekom-nnn zu sein, wäre es auch, um da zu sterben. Wer aber kann den Führer entschuldigen, dessen Unvorsichtigkeit sie einem solchen Kampfe aussetzte? In Smolensk dictirte oder verweigerte Vonaparte den Frieden, den Man ihm in Moskau nicht einmal anbot. Er hoffte aber doch auf denselben und hoffte vergebens. So beschrankte die Sammel>vuth den Verstand des großen Staatsmannes; er opferte stin Heer der kindischen Eitelkeit, ,eine Hauptstadt mehr zu besitzen. Er wies den Rath der Weisen zurück und that seinem eigenen Verstande Gewalt an, um in die Feste der Czaren zu gelangen, wie er in dem Palaste fast aller Potentaten Europa's geschlafen hatte, und wegen dieses eiteln Triumphs des abenteuerlichm Heerführers verlor der Kaiser das Wcltscepter. Die Sucht, Hauptstädte zu besitzen, verursachte die Vernichtung der schönsten Armee Frankreichs und der Welt und zwei Jahre spater den Sturz des Kaiserreichs. Hier eine Thatsache, die bei uns nicht bekannt ist, dc« ren Richtigkeit ich aber verbürge. Sie unterstützt meine Ansicht von dem unverzeihlichen Fehler, den Napoleon beging, als er gegen Moskau rückte. Diese Ansicht hat übrigens nichtS Eigenthümliches, weil sie jetzt die der aufgeklartesten und unparteiischsten Manner aller Länder ist. Smolensk wurde von den Russen für das Bollwerk ihres Landes gehalten; sie hofften, unser Heer würde sich begnügen, Polen und Lithauen zu besetzen, ohne sich weiter zu wagen; als man die Einnahme der Stadt, des Schlüssels des Reiches, erfuhr, erhob sich auf allen Punkten ein Schrei des Entsetzens. Hof und Land waren bestürzt, und Rußland glaubte, in der Gewalt des Siegers zu sein. Der Kaiser Alexander erhielt diese Unglücksnachricht in Petersburg. ____384___ Sein Kriegsminister theilte die allgemeine Meinung, packte, um dem Feinde das zu entziehen, was er für das Kostbarste hielt, eine bedeutende Menge Gold, Papiere, Juwelen, Diamanten in eine kleine Kiste und ließ dieselbe durch einen treuen Diener, den Einzigen, welchem er «inen solchen Gegenstand anvertrauen zu können glaubte, nach Ladoga bringen. Dort sollte derselbe auf weitern Befehl warten, doch deutete er ihm schon im Voraus an, er würde wahrscheinlich die Weisung erhalten, sich mit dem Kisichen nach Archangel und von da nach England zu begeben. Man wartete mit ängstlicher Spannung auf weitere Nachrichten; es vergingen einige Tage, ohne daß ein Courier kam, und endlich erhielt der Minister die offizielle Anzeige, von dem Marsche unserer Armee gegen Moskau. Ohne einen Augenblick zu zögern, ln-ß er seinen Secretair und sein Kistchen von Ladoga zurückkommen und begab sich trium-phirend zum Kaiser. Alexander wußte schon, was er ihm sagen wollte. „Sire," sprach der Minister, „Ew. Majestät hat Gott zu danken; wenn Sie bei dem beschlosscnm Plane verharren, ist Rußland gerettet; es ist «ine Expedition » I.t Karl Xll. „Aber Moskau!" siel der Kaiser ein. „Das muß aufgegeben werden, Sire. Durch Kampf überließe man dem Zufalle etwas; ziehen wir uns zurück, hungern wir das Land aus, so vernichten wir den Feind, ohne etwas zu wagen. Die Zerstörung und der Mangel an Lcbensmitteln werden sein Unglück beginnen, der Winter und das Feuer dasselbe vollständig machen. Verbrennen wir Moskau, um die Welt zu retten." Der Kaiser Alexander modisicirte den Plan in der Ausführung. Er verlangte, daß ein letzter Versuch gemacht werde, um seine Hauptstadt zu retten. 385 Man weiß, mit welchem Mutke die Russen an der Moskwa fochten. Diese Schlacht, welche von ihrem Gebieter den Namen die Schlacht von Borodino erhielt, war glorreich für sie und für uns, weil sie trotz ihren Anstrengungen unsern Einzug in Moskau nicht hindern konnten. Gott »rollte den Zeitungsschreibern des Jahrhunderts, das unter allen, die die Welt gesehen hat, prosaisch ist, eine epische Erzählung liefern. Moskau wurde freiwillig geopfert, und die Flamme dieses Brandes war das Signal des Aufstandes in Deutschland und der Befreiung Europa's. Die Völker fühlten endlich, daß sie Ruhe haben würden, wenn sie jenen unermüdlichen Eroberer vernichteten, der den Frieden durch einen fortwährenden Krieg erlangen wollte. Das sind die Erinnerungen, welche mich bei dem ersten Anblicke des Kremls beherrschten. Der Kaiser von Nußland hatte, um Moskau würdig zu belohnen, seine Residenz in dieser doppelt heiligen Stadt wieder aufschlagen sollen. Der Kreml ist kein Palast wie ein anderer, sondern eine ganze Stadt, und diese Stadt ist der Stamm von Moskau, die Grenze zwischen zwei Theilen, der Welt, zwischen Abend- und Morgenland. Die alte und die neue Welt stehen hier einander gegenüber. Unter den Nachfolgern Dschingis Khans halte sich Asien zum letzten Male auf Europa gestürzt; als es sich zurückzog, stampfte es mit dem Fuße auf dic Erde, und hervor trat der Kreml. Die Fürsten, welche heut zu Tage dieses heilige Asyl des orientalischen Despotismus besitzen, nennen sich Europäer, weil sie die Kalmücken, ihre Brüder, ihre Tyrannen und Lehrer, aus Rußland verjagt haben; aber, mögen sie es nicht übel nehmen, es glich den Khans von Sara, Niemand mehr als die Gegner und Nachfolger derselben, die Czaren von II. 25 Moskau, die sogar ihren Titel von ihnen entliehen. Die Russen nannten die Khane der Tataren Ezarc. Karamsin sagt darüber Bd. 7. S. 43^.- „Dieses Wort ist nicht aus dem lateinischen c^ünr „zusammengezogen, wie es viele Gelehrte ohne Grund glau-„ben. Es ist vielmehr ein altes orientalisches Wort, das „wir aus der slavonischen Uebersetzung der Bibel kennen. „Wir nannten so zuerst die orientalischen Kaiser, dann die „Khane der Tataren; es bedeutet im Persischen Thron, „höchste Gewalt und zeigt sich in der Endung der Namen „d?r Könige von Assyrien und Babylon, wie Phalassar, Ne-„bucabnezar ic." In einer Note setzt er hinzu: „S l!»v«r, „Olix. n>5». In unserer Uebersehung der heiligen Schrift hat „man Kessar statt Cäsar geschrieben, aber Tzar oder Czar „ist ein gan; andres Wort." Als ich in Moskau selbst war, fuhr ich üder cinen Wall, dann ging es einen ziemlich sanften Hang hinab und untrn an demselben gelangte ich in einen eleganten Stadttheile mit steinernen Hausern und nach der Schnur gezogenen Straßen; endlich brachte man mich in die Dmi-lrisko'>', die StraHe, wo mich cin schönes und gutes Zimmer erwartete, das für mich in einem vortrefflichen englischen Gasthause bestellt worden war. Ich war schon in Petersburg an Mad. Howard empfohlen worden, die mich ohne diese Vorsorge nicht bei sich aufgenommen haben würbe. Ich mache ihr wegen ihrer Aengstlichlcit keine Vorwürfe, denn wegen dieser ihrer Klugheit kann man in ihrem Hause ruhig schlafen. Wollen Sie wissen, um welchen Preis sie eine Reinlichkeit erkauft, die überall schwer zu erhallen ist, in Rußland aber ein wahres Wunder wird«! Sie baute in ihrem Hofe ein abgesondertes Gebäude, in welchem sie die russische Die» ^ 387 nerschaft schlafen läßt. Die Dienstleute kommen in das Hauptgebäude nur in Diensten ihrer Herren. I«, Mad. Howard geht in ihrer Vorsicht noch weiter. Sie nimmt fast keinen Russen auf; deshalb war auch ihr Haus weder meinem Feldjäger, noch meinem Postillon bekannt. Wir hatten einige Mühe es zu finden < obgleich dies Haus — freilich hat es kein Schild — das beste Wirthshaus in Moskau und in gan; Rußland ist. Sobald ich Besitz von meinem Zimmer genommen hatte, schrieb ich Ihnen, um auszuruhen. Die Nacht ist nahe, der Mond scheint; ich höre auf, um in der Stadt umher zu gehen; nach der Rückkehr werde ich Ihnen meine Promenade beschreiben. Fortgesetzt den 8. Aug. I83N um I Uhr in der Nacht. Ich ging um etwa zehn Uhr, ohne Führer, allein aus, auf Gcradewohl, wie es meine Gewohnheit ist, und wanderte in langen breiten bergigen Straßen umher, die schlecht gepflastert aber regelmäßig gelegt sind. Die gerade Linie ftbll bei den Baulen in diesem Lande nie, doch haben die Schnur und das Winkelmaaß Moskau weniger entstellt a!s Petersburg. Die thörichten Tyrannen der modernen Städte fanden zwar einen leeren Raum, hatten hier aber mir den Unebenheiten des Bodens und den alten Nationalgebäuben zu kämpfen, und in Folge dirser unüberwindlichen Hindernisse der Geschichte und der Natur ist das Aussehen Moskaus das einer alten Stadt geblieben. Sie ist die malerischste von allen im Reiche, das sie noch immer als seine Hauptstadt anerkennt, trotz den fast übernatürlichen Anstrengungen Peters dcs Großen und seiner Nachfolger; so stark ist das Gchtz der Dinge gegen den Willen der Menschen, selbst der mächtigsten. 388 Seiner kirchlichen Ehren entkleidet, seines Patriarchen beraubt, von seinen Fürsten und seinen alten Bojaren, die dem Hofe am meisten anhangen, verlassen, ohne einen andern Glanz als den einer heldenmüthigen That, die aber zu neu ist, als daß sie von den Zeitgenossen gerecht gewürdigct werden könnte, ist Moskau, weil es nichts Besseres thun konnte, eine Stadt des Handels und der Industrie geworden. Man rühmt ihre Seidenfabriken! Ader die Geschichte und die Architectur erhalten ihr ihre unverjahrten Rechte auf die politische Oberherrschaft. Die russische Regierung begünstigt die Fabriken; da sie den Strom des Jahrhunderts nicht ganz aufzuhalten vermag, so will sie ihr Volk noch lieber reich als frei werden lassen. Diesen Abend gegen zehn Uhr wurde es dunkel und der Mond stieg glanzend durch den Staub empor. Die Thurmspitzen der Klöster und Kapellen, die Thürme, die Walle, die Paläste und alle unregelmäßigen und imposanten Massen des Kremls erhielten Lichter, die wie goldne Fransen blitzten, wahrend die Masse der Stadt im Dunkrl lag und allmalia, die leuchtenden Restexe der untergehenden Sonne verlor, die, matter werdend, von einem gemalten Ziegel zum andern, von einer kupfernen Kugel zur andern sank und in leuchtenden Funken über die goldnen Ketten und die Metalldacher lief, welche das Firmament Moskaus sind. Alle diese Gebäude, deren Malereien reichm Teppichen gleichen, strahlen festlich auf dem bläulichen Hintergrunde des Himmels. Es war als wollte die Sonne beim Abschiede die Stadt noch einmal grüßen, die sie verlassen sollte, und dieser Abschied des Tages von den Feenpalasten der alten Hauptstadt Rußlands war prachtvoll. Wolken von Mücken summten vor meinen Ohren, während der Straßenstaub, der unaufhörlich von den Füßen der Pferde aufgerührt wurde, welche taufende von 359 Wagen nach allen Richtungen hin im Galopp ziehen, meine Augen brannte. Die zahlreichsten und malerischesten dichr Wagen sind die Droschken. Dieses wahrhaft nationale Fuhrwerk ist das kleinste von allen, — der Schlitten für den Sommer. Da die Droschken bequem nur eine Person auf einmal befördern können, so müssen sie sich in's Unendliche vervielfältigen, um dem Bedürfnisse einer chatigen, zahlreichen Bevölkerung zu genügen, die in einer unermeßlichen Stadt ist und unaufhörlich von allen Endpunkten nach der Mitte zusammenströmt. Der Staub ist in Moskau außerordentlich lästig, fein wie leichte Asche, wie die Schwärme kleiner Insekten, mit denen er sich in dieser Jahreszeit vermischt, und er verdunkelt das Gesicht, wie er das Athmen erschwert. Wir haben den ganzen Tag eine glühende Temperatur und die Nachte sind noch zu kurz, als daß die verderbliche Frische des Thaues die dürre Warme des Morgens maßigen könnte. Der Glanz dieses verzehrenden Tages endiget erst sehr spat in der Nacht. Uebrigens wundern sich die Russen über die Größe der Warme dieses Sommers, wie über die lange Dauer. Sollte das Slawenreich, diese aufgehende Sonne der politischen Welt, nach welcher die ganze Erde ihre Blicke wendet, auch die Sonne Gottes für sich haben? Die Lan-desbewohncr versichern fortwahrend, das Clima Rußlands werde milder. Scaunenswerthe Macht der menschlichen Civilisation, deren Fortschritte selbst die Temperatur der Erde verandern konnten! Mit den Wintern Moskaus und Petersburgs mag es sein wie es will, ich kenne kein unangenehmeres Clima, als das der beiden Städte im Sommer. Die schone Jahreszeit ist in den nordischen Ländern di« schlechteste. 390___ Das erste, was mir in den Straßen Moskaus auffiel, sind die Einwohner, welche mir lebhafter im Gange, und offener in ihrer Heiterkeit vorkamen, als die von Petersburg. Man athmet hier eine Luft der Freiheit, die man in dem ganzen übrigen Reiche nicht kennt, — und dies erklart mir die geheime Abneigung der Herrscher gegen diese Stadt, der sie schmeicheln, die sie fürchten und fliehen. Der Kaiser Nicolaus, der ein guter Nüsse ist, liebt sic sehr, wie «er sagt; nichtsdestoweniger halt er sich nicht öfterer und länger dort auf, als seine Vorgänger, die sie haßten. Man hatte diesen Abend einige Straßen erleuchtet, aber sehr armlich und mit sehr wenigen Lampen, von denen einige sogar am Boden standen. Man kann sich die Vorliebe der Russen für die Illumination kaum erklären, wenn man bedenkt, daß es in der kurzen Zeit des Jahres, in welcher man diesen Schmuck in Anwendung bringen kann, unter der Breite Moskaus, namentlich aber Petersburgs, eigentlich gar keine Nacht giebt. Nach meiner Zurückkunft in das Gasthaus fragte ich, was man mit diesen bescheidenen Freudendemonstrationen feiere und man antwortete mir, man illumimre zur Feier des Jahrestages der Geburt oder Taufe aller Personen der kaiserlichen Familie; es sind permanente Freudenälißerungen. Es giebt jedes Jahr so viele derartige Feste in Rußland, daß sie fast unbemerkt vorübergehen. Diese Gleichgültigkeit jst mir ein Beweis, daß auch die Furcht ihre Unvorsichtigkeit hat und daß sie nicht immer so gut zu schmeicheln versteht, als sie es wohl möchte. Es giebt keine geschicktere Schmeichlerin als die Liebe, weil ihr Lob, wie übertrieben es auch sein mag, immer aufrichtig ist. Das ist eine Wahrheit, welche das Gewissen den Despoten ^ nutzlos sagt. 391 Die Nutzlosigkeit des Gewissens in dm menschlichen An: gelegcnheitt'N, in d<'N größten wie in den kleinsten, ist in meinen Äugen das staunen>?wertheste Gebeimnis; dieser Wclt, denn es beweist das Dasein einer andern. Gott thut nichts ohne Zweck; da er nun allen Menschen das Gewissen gege-ben hat und dieses innere Licht auf dieser Welt zu nichts dient, so muß es seine Bestimmung doch irgendwo haben. Die Ungerechtigkeiten dieser Welt finden ihre Entschuldigung in unsern Leidenschaften; die unbeugsame Gerechtigkeit der andern wird durch unser Gewissen vertheidiget werden. Ich folgte langsam den müßigen Spaziergängern und nachdem ich hinter einem Slrome derselben, die ich unwillkürlich zu meinen Führern nahm, mehrere Anhöhen hinauf-und hinabgestiegen war, gelangte ich in die Mitte der Stadt, auf einen Platz, wo eine Garten-Allee beginnt. Diese Promenade kam mir sehr glänzend vor; man hörte in der Ferne Musik, man sah zahlreiche Lichter blitzen-, mehrere offene Kaffeehäuser erinnerten an Europa; aber ich konnte kein Interesse an diesen Vergnügungen finden, denn ich stand unter den Mauern des Kremls, des riesenhaften Gebirges, das durch die Arme der Sclaven für die Tyrannei aufgethürmt worden ist. Man hat für die neue Stadt eine öffentliche Promenade, eine Art englischen Gartens, um die Mauern dieser alten Feste Moskaus herum ^'legt. Wissen Sie, was die Mauern des Kremls sind? Das Wort „Mauern" giebt Ihnen die Vorstellung von etwas zu Gewöhnlichem, zu Kleinlichem; es tauscht sie; die Mauern des Kreml sind eine Kette von Bergen. Diese an den Grenzen Asiens und Europas erbaute Erhelle verhält sich zu den gewöhnlichen Wallen, wie sich die Alpen ;u unsern Hügeln verhalten; der Kreml ist der Montblanc unter den Festungen. Wenn der Niese, den man das russische Reich nennt, ein ^392___ Herz hätte, würde ich sagen, der Kreml sei das Herz dieses Ungethüms, er ist dcr Kopf desselben. Ich möchte Ihnen eine Vorstellung von dieser Steinmasse geben können, die sich stufenförmig am Himmel abzeichnete. Seltsamer Widerspruch! Dieses Asyl des Despotismus wurde im Namen der Freiheit errichtet, denn der Kreml war ein Wall, den die Russen den Kalmücken entgegensetzten; seine Mauern haben die Unabhängigkeit des Staates begünstigt und der Tyrannei des Herrschers gedient. Sie folgen kühn den tiefen Einschnitten des Terrains; wird der Abhang des Hügels zu steil, so steigt die Mauer in Treppenabsätzen hinunter. Diese Stufen, welche zwischen dem Himmel und der Erde liegen, sind ungeheuer groß; sie sind eine Leiter für die Riesen, welche die Götter bekriegen wollen. Die Linie dieses ersten Gürtels von Bauten wird durch phantastische Thürme unterbrochen, die so hoch, so stark und von so seltsamer Gestalt sind, daß sie wie Felsen von verschiedener Form und wie tausendfarbige Gletscher aussehen. Das Dunkel trug ohne Zweifel dazu bei, die Gegenstände größer erscheinen zu lassen und ihnen ungewöhnliche Formen und Farben zu geben, ja Farben, denn die Nacht hat ihr Colorit wie der Kupferstich. Ich weiß nicht, woher der Wunderglanz kam, dessen Einfluß ich fühlte, so viel aber weiß ich, daß ich mich eines geheimen Grauens nicht erwehren konnte. Sieht man dabei Herren und Damen in der neuesten Pariser Tracht am Fuße dieses fabelhaften Palastes umherwandeln, so muß man glauben, man träume. — Ich träumte. Was würde Iwan III., der Wiederherstelle, man kann wohl sagen der Gründer des Kremls, gesagt haben, wenn er seine alten Moskowiter am Fuße der heiligen Feste rasirt, frisirt, in Fracks, weißen Pantalons und 393 gelben Handschuhen bei Musik nachlässig hätte dasitzen und süßes Eis vor einem glänzend erleuchteten Kaffeehause schlürfen sehen? Er würde wie ich gesagt haben: es ist unmöglich! Und doch ist das, was ich sehe, jetzt alle Sommerabende in Moskau so. Ich durchwanderte also die öffentlichen Garten, die man auf dm Glacis der alten Citadelle der Czaren angelegt hat; ich sah Thürme, wieder Thürme, Stockwerke und wieder Stockwerke von Mauern, und meine Blicke schwebten über die verzauberte Stadt hin. Man sagt zu wenig, wenn man von Feenpracht spricht; es gehört die Veredtsamkeit der Jugend dazu, die durch Alles in Erstaunen und Verwunderung gesetzt wird, um entsprechende Worte für diese wunderbaren Gegenstande zu finden. Ueber einem langen Gewölbe, durch das ich hindurchschritt, bemerkte ich eincn schwebenden Weg, auf welchem Fußganger und Wagen in die heilige Stadt gelangten. Dieses Schauspiel war mir unbegreiflich; nichts als Thürme, Thore, Terrassen übereinander; nichts als steile Rampen, Vogenwölbungen, welche die Straßen tragen, auf denen man aus dem jetzigen, gemeinen Moskau in den Kreml, in das Moskau der Geschichte, das wunderbare Moskau gelangt. Diese Wasserleitungen ohne Wasser tragen wieder andere phantastischere Gebäude; so sah ich einen runden niedrigen Thurm, der von Lanzenspitzen starrte, auf einem solchen schwebenden Baue ruhen; die glänzende Weiße dieser seltsamen Verzierung tritt aus einer blutrothcn Mauer hervor, -- ein schreiender Contrast, den ich in dem immer etwas durchscheinenden Dunkel der nordischen Nächte recht wohl erkennen konnte. Dieser Thurm war ein Riese, der mit seiner ganzen Kopflange über die Feste hinausragte, deren Hüter er zu sein schien. Als ich mich endlich an dem Vergnügen gesättiget hatte, wachend zu trampn, suchte ich ____394____ meinen Rückweg zu finden und zu Hause setzte ich mich hin, um Ihnen zu schreiben, was freilich nicht eben geeignet ist, meine Phantasie zu beruhigen. Aber ich bin zu ermüdet, — ich kann nicht ruhen; es gehört auch eine gewisse Kraft zum Schlafen. Was ficht man nicht in der Nacht im Mondenscheine, wenn man unten am Kreml herumgeht! Alles ist da übernatürlich; man glaubt unwillkürlich an Gespenster. Wcr könnte sich ohne eine innere Scheu diesem heiligen Bollwerke nahm, von dem ein durch Bonaparte abgesprengter Stein bis nach St. Helena siog, um den Triumphaler mitten im Ozeane zu zerschmettern! Verzeihen Sie, ich bin in dem Phrastnjahrhundcrte geboren. Die neueste der neuen Schulen verbannt die Phrasen vollends und vereinfacht die Sprache nach dem Gesetze, daß die phanlasiearmsten Völker sich am sorgsamsten vor den Ausschweifungen einex Fähigkeit schützen, die sie nicht besitzen. Ich kann den puritanischen Styl bewundern, wenn er durch überlegene Talente angewendet wird, welche im Stande sind, für die Eintönigkeit zu entschädigen; nachahmen mag ich ihn nicht. Nach dem, was ich diesen Abend gesehen habe, würde ich wohlthun, geradezu in die Heimath zurückzukehren; die Reiscaufregung ist nun erschöpft. F tt li fll n d j w a ll z l g st e r Brief. Moskau, den ß. August 1838. (Ane Augenentzündung, die mich zwischen Petersburg und Moskau befallen hat, beunruhiget mich und verursacht mir Schmerz. Trotz dem wollte ich heute meine Prommade uon gestern Abend fortsetzen, um den Kreml am Tage mit dem phantastischen Kreml der Nacht zu vergleichen. Die Dunkelheit vergrößert und verzerrt alle Gegenstande, die Sonne giebt ihnen ihre Formen und Verhältnisse wieder. Auch bei dieser zweiten Musterung hat mich die Feste der Czaren überrascht. Der Mondenschein vergrößerte gewisse Steinmassen und ließ sie mehr hervortreten, er verbarg mir aber auch andere, und wenn ich auch einige Irrthümer berichtigte, w>'- bestieg als Kind den Thron 1533, wurde in seinem siebcnzehnten Jahre, den 1«. Januar 154li, gekrönt, starb in seinem Bett im Kreml nach einer Negierung von 5l Jahren am 18- Januar 1584 in einem Alter von l'4 Jahren und wurde von seinem ganzen Volte beweint, selbst von den Kindern seiner Opfer. Ob die russischen Mütter geweint haben, weiß man nicht, man darf aber daran zweifeln, weil die Geschichtschreiber darüber schweigen. Die Frauen entarten unter den schlechten Regierungen minder vollständig als die Männer; da diese allein Theil an den Handlungen der Regierung nehmen, so ist es natürlich, daß die socialen Meinungen und Vorurtheile, welche in jedem Jahrhunderte und in jedem Lande im Umlaufe sind, mehr auf die Manner als auf die Frauen einwirken. Sei dem nun wie ihm wolle, diese monströse Regierung hat Rußland dermaßen bezaubert, daß es selbst in der Macht der Fürsten, die es regieren, einen Gegenstand der Bewunderung findet. Der politische Gehorsam ist für die Russen ein Cultus, eine Religion geworden "). Nur in diesem "1 Herr von Tolstoi, den ich schon erwähnt habe, seht die Lehre der Staatsmänner seines Vaterlandes in folgender Weise auseinander: „Man sage nicht, daß ein einziger Mann fehlen kann, daß seine Verirrungcn schreckliche Katastrophen herbeiführen können, um so mehr, da seine Handlungen durch keine Verantwortlichkeit controlirt werden. „Kann man die Möglichkeit annehmen, daß cs eincm Men-schen, der durch die Vorsehung berufen wurde, seines Gleichm zu beherrschen, an patriotischen Gefühlen gebreche? Gin solcher Fürst wäre eine monströse Ausnahme. „Die Verantwortlichkeit rxistirt in dem Fluche der Völker') und in den Tafeln der Geschichte, die ohne Erbarmen die Missethaten der Großen dieser Erbe aufzeichnet. Wo wäre der Kaiser von Rußland, wenn Peter der Große in der Ausübung seiner Macht beschränkt gewesen wäre? Nie würde es mit den Russen stehen, wenn jedes Jahr Abgeordnete zusammenkämen, um sechs *) Dieser Fluch eristiit in einem Lande nicht. ,vo man selbst die Tyrannei in ihren äußersten Ausschweifung«« segnet. (Anm, des Reisenden.) ^ 4U0 Lande, wenigstens glaube ich es, hat man die Märtyrer ihre Henker fast anbeten sehen. Sant nicht Rom vor Tiberius und Nero nieder, um sie zu bitten, die unumschränkte Macht nicht niederzulegen, sondern ruhig fort zu sengen, zu rauben, in seinem Blute sich zu baden und seine Kinder zu entehrend Das thaten, wie Sie sehen werden, die Russen unter der Regierung und wahrend der ärgsten Tyrannei Iwans IV. Er wollte sich zurückziehen, aber die Russen, an List mit ihrem Gebieter wetteifernd, baten ihn, sie ferner nach seiner Laune zu regieren, und der so gerechtfertigte, mit Bürgschaften unterstützte Tyrann begann seine Hinrichtungen von Neuem. Bei ihm hieß regieren morden; er mordete aus Furcht und aus Pflicht, und diese nur zu einfache Constitution wurde durch die Zustimmung des ganzen Nußlands bestätiget, sowie durch das Bedauern und die Thränen der Nation bei dem Tode des Tyrannen. Als Iwan sich wie Nero entschloß, das Joch des Nuhmcs und der Tugend abzuwerfen, um einzig durch den Schrecken zu Herr- Monate über Maßregeln zu berathen, von denen die meisten nichts verstehen, kn'ne Idee habend Die Regierungswissenschaft wird nicht angeboren, und was würde aus uns werden, wenn nicht an der Spitze Rußlands ein Monarch stände, dessen al ler C ontrole lediger, weiser und energischer Gedanke nur den einzigen Zweck hat: das Glück Rußtands')?" (coup ll'oeil 8»r Ia l«3'^ lation ru8»e, p. 143.) ") Dies beweiset, meiner Meinung nach, vollkommen, daß die politischen Ideen auch der aufgeklärtesten Russen unserer Zeit von denen der Unterthanen Iwans IV. nicht sehr verschieden sind, und daß sie in ihrer monarchischen Götzendieners! noch fortwährend den unumschränkten Despotismus mit «in« gemäßigten Regierung verwechseln. (Anm. des Reisenden.) ' 410 schen, beschränkte er sich nicht auf vor und nach ihm unbekannte Grausamkeiten, er überhäufte auch die unglücklichen Gegenstände seiner Wuth mit Schmähungen; er war sinnreich und komisch in seiner Grausamkeit; das Gräßliche und Burleske ergötzte seinen satyrischen und unbarmherzigen Sinn. Er durchbohrte die Herzen mit sarkastischen Worten, während er den Körper zerfleischte, und bei dem teuflischen We'.'ke, das er gegen scines Gleichen vollbrachte, welche er in unruhigem Stolze für eben so viele Feinde hielt, übertrafen seine rafsinirten Reden noch die Rohheit seiner Handlungen. Damit soll nicht gesagt sein, baß er in Qualen nicht alle uor ihm erfundenen Arten, den Körper zu martern und den Schmerz zu verlangern, Übertrossen habe; seine Negierung ist die Herrschaft der Folter. Die Phantasie sträubt sich, an die Dauer einer solchen moralischen und politiscyen Erscheinung zu glauben. Ich habe es eben ausgesprochen und muß es wieberholen: Iwan lV. begann wie der Sohn Agrippina's mit der Tugend und mit dem, was die Liebe einer ehrgeizigen und citcln Nation vielleicht noch leichter gewinnt, mit Eroberungen. Er unterdrückte in dieser Epoche seines Lebens seine rohen Gelüste und die brutale Furcht, die er von Kindheit an gezeigt hatte, und unterwarf sich der Leitung weiser und strenger Freunde. Fromme Rathe und kl^:ge Lenker machten den Anfang dieser Regierung zu einer der glänzendsten und glücklichsten Epochen in der russischen Geschichte; aber dieser Anfang war im Verhältniß zu dem Uebrigen und zu der plötzlichen, schrecklichen und völligen Umwandlung von kurzer Dauer. Kasan, dieses furchtbare Vollwerk des Islams in Asien, fällt 1552, nach einer denkwürdigen Belagerung, unter den Streichen des jungen Czars. Die Energie, welche dieser 411 Fürst entfaltet, erscheint selbst in den Augen halb barbarischer Menschen überraschend. Er vertheidiget seine Feldzugs: Pläne mit einem ausdauernden Muthe und cinem Scharfsinne, welcher die ältesten Feldherren zum Schweigen bringt und sie endlich zur Bewunderung nöthiget. Im Anfange seiner kriegerischen Laufbahn würde jeder kluge Muth im Vergleich mit der Kühnheit seiner Unternehmungen als Feigheit erschienen sein, aber bald zeigt er sich so kleinmüthig. so kriechend, als er früher tollkühn war; er wird feig und grausam zu gleicher Zeit, weil bei ihm, wie bei allen Unmenschen, die Grausamkeit hauptsächlich in der Furcht wur-Me. Er gedenkt sein ganzes Leben lang an das, was er in seiner Kindheit gelitten; der Despotismus der Bojaren und ihre Zwlstigkeiten hatten sein Leben bedroht, als cr die Kraft noch nicht besaß, dasselbe zu vertheidigen. Das männliche Alter brachte ihm, wie es scheint, keinen andern Wunsch, als den, sich für die Schwache seiner Kindheit zu rächen. Dagegen liegt auch etwas tief Moralisches in !>er Geschichte des schrecklichen Lebens dieses Mannes, der Umstand nämlich, daß er mit der Tugend zugleich die Kühnheit verliert. Sollte es wahr sein, daß Golt zu dem Menschen sagte, als er das Herz desselben schuf, du wirst nur Muth besitzen, so lange du menschlich bist? Wenn es so wäre, und wenn nicht zn zahlreiche und zu berüchtigte Beispiele dieser wünschenswerthen Regel widersprächen, würde der Glaube uns zu leicht werden, würden wir Gott selbst in dem Geschicke seiner begabtesten Geschöpfe sehen, wie wir ihn unverhüllt in dein Leben Iwans lV. sehen. Dieser Fürst, dessen Geschichte mid Character auffallend von den anderen Character?« sich unterscheiden, ist 412 muthig wie ein Löwe, so lange er cdclfmnig bleibt, rr wird abcr feig wie ein Sclave, sobald ihn das Mitleid verlaßt. Diese Lehre hatte ich für kostbar und tröstlich, wenn sie auch eine Ausnahme in den Annalen des Menschengeschlech-tes bildet, und ich schätze mich glücklich, sie in dieser grauenvollen Geschichte gefunden zu haben. In Folge der Ausdauer des jungen Helden, die von seinem ganzen Rathe getadelt wurde, erleidet Astrachan dasselbe Schicksal wie Kasan. Rußland, nun von der Nahe seiner ehemaligen Herren, der Tataren, befreit, jubelt laut auf, aber dieses Volk von Subalternen, das sich einem Joche nur zu entziehen weiß, um ein anderes aufzunehmen, vergöttert seinen jungen Fürsten mit dem Stolze und der Schüchternheit eines freigelassenen Sclaven. In diesem Alter entsprach die Schönheit Iwans der Energie seiner Seele; er war der Gott der Nüssen. Aber plötzlich ruht der ermüdete Czar inmitten seines Ruhmes aus; seine gepriesenen Tugenden langweilen ihn; er erliegt unter der Last der Lorbeeren und Palmen und giebt es für immer auf, in seiner herrlichen Laufbahn weiter zu schreiten. Er will lieber Allen mißtrauen und seine Freunde für die Furcht strafen, die fie ihm einflößen, als ihrem weisen Rathe gehorchen. Seine Thorheit liegt indeß nur in seinem Herzen und ergreift nicht auch den Kopf, denn selbst bei seinen gräßlichsten, sinnlosesten Handlungen zeugen seine Reden von Verstand, seine Briefe von logischem Zusammenhange; ihr einschneidender Styl schildert die Schlechtigkeit seines Herzens, gereicht aber der Klarheit und dem Scharfsinne seines Geistes zur Ehre. Seine alten Nathe sind das erste Ziel seiner Streiche; er hält sie für Verrather oder, was in seinen Augen dasselbe ist, für Herrscher und verurtheilt diese Männer, die 413 sich eines Verbrechens gegm die Autocratic schuldig machten und sich lange für weiser hielten als ihren Herren, zur Verbannung und zum Tode, und die Nation findet das Urtcl gerecht und biUig. Er verdankte seinen Ruhm dem Rathe dieser unbestechlichen Manner, und kann die Last des DankeS nicht ertragen, den er ihnen schuldet, und um nicht undankbar zu erscheinen, nimmt er ihnen das Leben. Es erwacht in ihm eine wilde Wuth, und die ihn nie verlassende Erinnerung an die Strciligkeiten und Gewaltthätigkeiten der Großen, die sich um die Bewachung seiner Wiege stritten, läßt ihn überall Verrather und Verschwörer sehen. Die in allen ihren Consequenzen auf die Regierung des Staates angewendete Selbstvergötterung ist das Rechts-und Gesetzbuch des Czars, und eö wird durch die Zusiim: mung des gefammtcn Rußlands bestätiget. Trotz seiner Schandthaten ist Iwan lV. in Moskau der Liebling des Volkes; an andern Orten würde man ihn für ein Unge? heuer gehalten haben, daS die Hölle ausgespieen. Als er der Lüge überdrüssig ist, treibt er den Cynismus der Tyrannei so weit, daß er auch die Verstellung, die Vorsicht der gemeinen Tyrannen, ablegt. Er erscheint ganz einfach wild, und damit er über die Tugenden der Andem nicht zu erröthen braucht, übergiebt er die lchten seiner sittenstrenge Freunde der Rache nachsichtigerer Günstlinge. Nun entsteht zwischen dem Czar und dessen Satelliten ein Wetteifer in Verbrechen, bei dem man schaudert, und (auch hier offenbart sich Gott in dieser fast übernatürlichen Geschichte) wie sein geistiges Leben in zwei Epochen zerfallt, so ändert sich auch ft'in körperliches Aussehen vor der Zeit; er war schön in seiner Jugend und wird haßlich, sobalo er verbrecherisch geworden. ^l4__ Er verliert eine vortreffliche Gemahlin und nimmt eine andere, die ihn an Blutdurst noch übertrifft; auch sie stirbt. Er verheirathet sich wieder zum großen Aergerniß der griechischen Kirche, welche drei Hcirathen nicht erlaubt; so ver-heirathct er sich fünf, sechs, sieden Male! Man weiß nicht gewiß, wie oft. Er verstößt, ermordet und vergiftet seine Frauen; keine widersteht lange seinen Liebkosungen und seiner Wuth, und trotz seiner scheinbaren Gleichgültigkeit gegen die Gegenstände seiner frühern Ln'be, rächt er ihren Tod mit gewissenhaftem Zorne, der bei jeder Verwittwung des Herrschers das Reich mit Entsetzen erfüllt. Gleichwohl war der Tod, der dcn Vorwand zu so vielen Hinrichtungen abgeben mußte, meist durch den Czar selbst veranlaßt oder befohlen worden. Seine Trauer ist für ihn nur eine Gelegenheit, Blut zu vergießen und Andern Thränen auszupressen. Ueberall laßt er aussprengen, die fromme Czarin, die schone Ezarin, die unglückliche lZzarin sei durch die Minister, durch die Rathe des Czaren oder durch die Bojaren vergiftet, deren er sich entledigen wollte. Vergebens wollte er die Maske abwerfen, er lügt aus Gewohnheit, wenn nicht aus Nothwendigkeit; so sehr, so unzertrennlich ist die Lüge mit der Tyrannei verbunden. Sie ist die Nahrung der Seele, die verdorben, und der Regierungen, deren Princip man übertreibt, wie die Wahrheit die Speise der Seelen ist, die sich bessern, und der vollständig organisirten Staaten. Die Verläumdungen Iwans IV. sind immer schon im Voraus bewiesen; wer von dem Gifte seiner Rede getroffen wird, unterliegt, und die Leichen thürmcn sich um ihn her auf, aber der Tod ist das geringste Uebel, mit dem er stine Opfer belastet. Seine Grausamkeit hat die Kunst entdeckt, welche den letzten Streich lange herbeisehnen laßt. Erfahren 4l5 in den Qualen, weidet er sich an den Schmerzen seiner Opfer und verlängert sie mit teuflischer Geschicklichkcir. Er liebt ihre Leiden und fürchtet ihr Ende eben so sehr, wie sie selbst es herbeiwünschen. Der Tod ist die einzige Wohlthat, die er ihnrn erzeigt. Ich muß Ihnen ein- für allemal einige Beispiele der rafsinirten Grausamkeit beschreiben, welche er gegen die so-genannten Schuldigen erfand, die er strafen will"); er läßt sie stückweise kochen, während man den übrigen Theil des Körpers mit eiskaltem Wasser begießt; er läßt sie in seinem Beisein lebendig schinden, dann das zuckende bloßgelegte Fleisch in langen Streifen abreißen. Seine Augen weiden sich an ihrem Blute, an ihren Zuckungen, seine Ohren an ihrem Jammern; bisweilen giebt er ihnen selbst mit seinem Dolche den Gnadenstoß, am häufigsten aber, da er sich diese Handlung der Milde als Schwache zum Vorwurf macht, schont er den Kopf und das Herz so lange als möglich, um il)re Qual langwieriger zu machen; er befiehlt die Glieder zu zerstückeln, aber mit Kunst und ohne den Rumpf zu verletzen; dann laßt er eines dieser lebenden Stücke nach dem andern hungrigen gärigen Thieren vorwerfen, die vor den Augen der verstümmelten Opfer das Fleisch davon abreißen. Man hält diese zitternden Rümpfe sorgfältig,- mit grausamer Kunst und Wissenschaft aufrecht, um sie zu zwingen, länger diesem Schauspiele zuzusehen, bei welchem der Czar den Tiger an Wildheit übertrifft. Er ermüdet die Henker; die Priester genügen nicht zu den Beerdigungen. Groß;Nowogorod soll auscrwahtt wer- ') Karamsin, aus brm di«ß genommen ist,, führt die Qucl-lrn an. 41« ^ dcn, um als Beispiel des Zornes des Unmenschen zu dienen. Die ganze Stadt, die des Verraths zu Gunsten der Polen angeklagt wird, aber besonders die Schuld tragt, lange unabhängig gewesen zu sein, wird absichtlich durch die Menge der willkürlichen Hinrichtungen verpestet, die in ihren blutbefleckten Mauern stattfinden; das Wasser des Wolkoss verdirbt unter den unbegrabenen Leichen um die Mauern der verurtheillen Stadt hin und als wenn der Tod durch Hinrichtung für den Willen des Tyrannen nicht schnell gcnug sei, wetteifert eine gemachte Epidemie mit den Schassotten, um die Einwohner schneller zu decimiren und die Wutli des Vaters zu stillen, welchen zärtlichen Namen oder vielmehr Titel die Russen maschinenmäßig ihren allmächtigen und vielgeliebten.Herrschern geben, wie dieselben auch sein mögen. Kein Mensch verfolgt unter dieser wahnsinnigen Regierung den natürlichen Laus seines Lebens, keiner erreicht das wahrscheinliche Ziel seines Seins; die menschliche Frechheit greift in das Vorrecht Gottes em; selbst der Tod, der zum Henkersknecht erniedrigt wird, verliert im Verhältniß, wie das Leben im Preise fällt, an Majestät. Der Tyrann hat den Engcl entthront und die in Blut und Thränen gebadete Erde sieht ergeben den Diener der Gerechtigkeit Gottes gelehrig hinter den Mördern oes Fürsten schreiten. Unter dem (5zar wird der Tod der Sclave eines Menschen. Dieser allmächtige Wahnsinnige hat die Pest disciplinirt, die mit der Unterwürfigkeit eines Corporals ganze Lander entvölkert, welche durch die Laune eines Fürsten der Verwüstung anheimfallen. Die Freude dieses Menschen ist die Verzweiflung Anderer, seine Macht die Vernichtung, stin Leben der ruhmlose Krieg, der Krieg mitten im Frieden, der Krieg gegen schutzlose, nackte, willenlose Geschöpft, die Gott unter seinen Schutz gestellt hatte; sein Gesetz ist der ___4t7 Haß gegen das Menschengeschlecht, seine Leidenschaft die Furcht, die doppelte Furcht, die, welche er selbst fühlt, und die, NßelHe cr Andern einflößt. ,.^ ^Wcnn er sich rächt, verfolgter den Lauf seiner G erech-t i'g^t ei t bis zum letzten Grade der Verwandtschaft und vernichtet ganze Familien, junge Madchen, Greise, schwangere Frauen und kleine Kinder; cr beschrankt sich nicht daraus, wie die gemeinen Tyrannen, blos einige Familien, einige verdächtige Individuen zu treffen, er äfft den Gott der Juden nach und mordet ganze Provinzen, ohne eine Person zu verschonen; Alles, was Leben hat, verschwindet, Alles, selbst die Thiere, selbst die Fische, die er in den Seen und Flüssen vergiftet. Er zwingt die Söhne — werden Sie es glauben? — das Amt des Henkers an ihren Vätern zu verrichten und er findet Gehorsam!! Der Mensch kann also die Liebe zum Leben so weit treiben, daß er aus Furcht, dasselbe zu verlieren, das Wesen mordet, dem er es verdankt? Iwan bedient sich des menschlichen Körpers als Uhr, er erfindet Gifte, die auf die Stunde wirken und es gelingt ihm, mit hinreichender Regelmäßigkeit die geringsten Abtheilungen seiner Zeit durch den Tod seiner Unterthanen zu bezeichnen, die kunstvoll von Minute zu Minute auf dem Wege zum Grabe aufgestellt sind, das er für sie immer offen halt, und bei diesem teuflischen Spiele herrscht die pünktlichste Ordnung. Ist teuflisch nicht das rechte Wort? Würde der Mensch allein solche Wollust erdenken? Würde cr wagen, den heiligen Namen der Gerechtigkeit zu entweihen, indem er ihn auf dieses gottlose Spiel anwendet? Wer könnte an der Hölle zweifeln, wenn cr eine solche Geschichte lie'et? Der Unmensch wohnt ftlbst allen Strafen und Hinrichtungen bei, die er befiehlt; der Vlutdunst berauscht ihn, ohne ihn zu sättigen, und er ist nie heiterer, als wenn er viele II. 27 418 Unglückliche leiden und sterben gesehen. Er macht sich ein Vergnügen, was sage ich? cin Pflicht daraus, ihr Marty-rerthum zu verhöhnen und die Schneide seines spottenden Wortes ist scharfer als der Stahl seiner Dolche. Und vor diesem Schauspiele bleibt Rußland stumm!! Nein — bald wird man es sich regen sehen; es wird pro-testircn, aber nicht zu Gunsten der gemißhandelten Menschheit, sondern gegen das Unglück, einen Fürsten zu verlieren, der es auf die Art regiert, wie Sie eben gesehen haben. Das Ungeheuer sollte, nachdem es so viele Beweise seiner Wildheit gegeben, seinem Volke bekannt sein, und es war bekannt. Mit einem Male, entweder um zur Unterhaltung zu sehen, wie weit die Langmut!) der Russen gehe, oder aus christlicher Reue — (er assectirte Achtung für das Heilige; die Heuchelei selbst konnte sich in wahre Frömmigkeit verwandeln in gewissen Augenblicken eines ganz unmenschlichen Lebens, denn die Gnade, dieses Manna der Geister, dringt bisweilen auch in das Herz der größten Verbrecher) -— oder aus Furcht, aus Laune, aus Ueberdruß, aus List, legt er sein Scepter, b. h. sein Beil nieder und wirft die Krone hin. Da und nur da im ganzen Verlaufe dieser langen Regierung rührt sich das Reich; die mit der Erlösung - bedrohete Nation erwacht gleichsam; die Russen, bis dahin seine Zuschauer, Werkzeuge aller dieser Grauet, finden die Stimme wieder und diese Volksstimmc, welches die Stimme Gottes scin will, erhebt sich plötzlich, um den Verlust eines solchen Tyrannen zu beklagen? Vielleicht zweifelte man an seiner Aufrichtigkeit und fürchtete mit Recht seine Rache, wenn man seine verstellte Abdankung angenommen hatte; wer weiß, ob nicht diese Liebe für den Fürsten ihre Wurzel in dem Schrecken hatte, den die Tyrannei einflößte; die Russen rafsi-nittcn die Furcht, indem sie ihr die Liebe als Maske gaben. 4l9 Moskau ist mit einer Invasion bedroht (— der Büßende hatte seine Zeit gut gewählt —); man fürchtet die Anarchie oder mit andern Worten, die Russen sehen den Augenblick kommen, in welchem sie sich nicht langer vor Der Freiheit schützen können, wo sie selbst denken und wollen, sich als Menschen, ja, was noch schlimmer ist, als Bürger zeigen müssen. Was ein andres Volk beglücken würde, stürzt dieses in Trauer. Kurz das aufs Aeußerste getriebene, durch lange Gleichgiltigkeit entnervte Rußland fallt vor den Füßen Iwans nieder, den es weniger fürchtet als sich selbst; es fleht diesen unentbehrlichen Herrn an, hebt die blutige Krone, das blutige Scepter auf, giebt sie ihm zurück und erbittet sich als einzige Gunst die Erlaubniß, das eiserne Joch wieder aufnehmen zu dürfen, dcss^n es nie müde werden wird. Wenn dies Demuth ist, so geht sie zu weit, selbst für Christen; ist es Feigheit, so ist sie unverzeihlich; ist es Patriotismus, so ist er gottlos. Beugt der Mensch seinen Stolz, so thut er wohl daran; liebt er aber die Sklaverei, so sündiget er; die Religion macht demüthig, die Sclaverei entwürdiget; es ist zwischen beiden ein Unterschied, wie zwischen Heiligkeit und Brutalität. Sei dem nun, wie ihm wolle, die Nüssen ersticken den Schrei ihres Gewissens, glauben mehr an den Fürsten, denn an Gott, und machen eine Tugend daraus, dem Wohle des Reichs Alles zu opfern. Ein schmachvolles Reich, dessen Existenz nur mit Aufopferung dcr Menschenwürde erhalten w.erben kann! Die Russen, sowohl die unserer Zeit als jene aus dem Jahrhunderte Iwans, die durch ihre monarchische Götzendienerri geblendet sind und vor dem politischen Götzen, den sie sich selbst gemacht haben, auf den Knieen liegen, vergessen, daß die Achtung vor der Gerechtigkeit und der CultuS der Wahrheit sür alle Menschen, die Sclaven ein- 27' 420 geschlossen, von größerer Wichtigkeit sind, als das Geschick Rußlands. Hier zeigt sich mir noch einmal in diesem Drama mit antiken Formen daß Eingreifen einer höhern Macht. Man fragt sich schaudernd, welche Zukunft die Vorsehung einem Staate bestimmt haben mag, der die Verlängerung seiner Dauer mit einem solchen Preise erkauft. Ich habe nur zu oft Gelegenheit, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß in Nußland unter der Asche des griechischen Reiches ein neues römisches Reich liegt. Die Furcht allein giebt nicht so viel Geduld. Nein, glauben Sie meinem Gefühle, es giebt eine Leidenschaft, welche die Russen verstehen, wie sie kein Volk ftit den Römern verstanden hati den Ehrgeiz. Aus Ehrgeiz opfern sie Alles, Alles, wie Bonaparte, der Nothwendigkeit dcs Seins. Dieses höchste Gesetz unterwirft cine Nation 'einem Iwan IV.; lieber einen Tiger zum Gott als die Vernichtung des Reiches! Das war die russichc Politik unter jener Regierung, die Rußland geschaffen hat, und die mich mchr noch durch die Langmuth der ^Dpfer, als durch den Wahnsinn des Tyrannen erschreckt, — eine Politik des Instinctes oder der Berechnung, darauf kommt wenig an. Die Hauptsache ist für mich und ich sehe das mit Schrecken, daß sie fortdauert, wenn sie auch nach den Umstanden mooisicirt wird, und daß sie heute noch unter einer ähnlichen Regierung dieselben Wirkungen haben würde, wenn es der Erde bcschicden sein sollte, zweimal einen Iwan lV. zu tragen. Bewundern Sie also dieses in der Geschichte der Wclt einzige Bild: die Russen weinen, mit dem Muthe und der niedrigen Gesinnung von Menschen, welche die Erde besitzen wollen, zu den Füßen Iwans, um ihn zu vermögen, sie noch langer zu regieren, Sie wissen wie, und ihnen das zu 42l erhalten, was jedem Volke, das nicht durch die fanatische Ahnung seines zukünftigen Ruhmes berauscht ist, den Staat verhaßt machen würde. Alle schwören, die Großen, die Kleinen, die Bojaren, die Kaufleute, die Casten und Individuen, mit einem Worte, die ganze Nation schwört mit Thränen, mit Liebe, sich Allem zu unterwerfen, wenn er sie nur nicht sich stlbst überlasse; dieses Unglück ist das einzige, das die Russen, in ihrem une^eln Patriotismus, nicht mit kaltem Blute betrachten können, weil die unvermeidliche Unordnung, welche die Folqe davon sein würde, ihr Sclavenreich vernichten müßte. Die so weit getriebene Schmach hat fast etwas Erhabenes, wird fast Tugend; sie verlängert die Dauer des Staates, — aber, großer Gott! welches Staates? Das Mittel schändet den Zweck. Das wilde Thier wird erweicht, erbarmt sich der Geschöpfe, unter denen es so lange gewüthet hat, und verspricht der Heerde, von Neuem unter ihr zu würgen; es unternimmt die Gewalt von Neuem ohne Concessionen, im Gegentheil unter absurden Bedingungen, die alle zum Vortheile für seinen Stolz und seine Wulh sind und die das Volk, welches für den Gehorsam so begeistert ist, wie andre fanatisch die Freiheit lieben, das Volk, das mit seinem eignen Blute getränkt wird, das. zur Unterhaltung seines Herrn gemordet sein will, als Gunstbezeugungen annimmt. Dieses Volk wird angstlich und zittert, sobald es in Frieden athmet. Von diesem Augenblicke an wird eine methodische und doch so gewaltthatige Tyrannei organisirt, daß die Annalen des Menschengeschlechts nichts Gleiches darbieten, weil eben so großer Wahnsinn dazu gehört, sie auszuüben, als sie zu ertragen. Der Fürst und das Volk, das ganze Reich wird toll, — aber die Folgen davon dauern noch fort. 422 Der furchtbare Kreml mit seinen eisernen Thoren, seinen fabelhaften unterirdischen Gewölben, seinen unzugänglichen himmelhohen Wallcn, seinen Fallthüren, seinen Zinnen, erscheint einem wahnsinnigen Monarchen, der die Hälfte seines Volkes ausrotten will, um die andre in Nuhe beherrschen zu können, als zu schwach vertheidigtes Asyl. In diesem Her« zen, das sich durch Angst und Grausamkeit selbst verdirbt, in dem das Unglück und der Schrecken, die es erzeugt, jeden Tag neue Verwüstungen anrichten, verbindet sich ein unerklärliches — weil grundloses oder doch nicht fest begründetes — Mißtrauen mit einer zwecklosen Grausamkeit, und so spricht die schmachvollste Feigheit für die verblendetste Wildheit. Der König wird, ein zweiter Nebucadnezar, in einen Tiger verwandelt. Zuerst zieht er sich in einen Palast bei dem Kreml zurück, den er wie eine Citadelle befestigen laßt, dann in eine Einöde, — Elobod Alexandrowski. Dieser Ort wird seine gewöhnliche Residenz. Hier wählt er unter den Ausschweifendsten, Verdorbensten seiner Sclaven als Wache eine Elite-schaar von tausend Mann aus, die er die Auserwählten, — l'pnlzclinina — nennt. Dieser Höllenschaar überlaßt er sieben Jahre lang das Vermögen und das Leben des russischen Volkes, ich hatte auch gesagt die Ehre, wenn dieses Wort bei Menschen, die man knebeln müßte, wenn man sie nach ihrem Wunsche regieren wollte, einen Sinn haben könnte. Karamsin (Bd. i).) schildert Iwan im Jahre l56ä, neunzehn Jahre nach der Krönung in folgender Weise: „Dieser große, wohlgebauete Fürst hatte hohe Schultern, „kräftige Arme, eine breite Brust, schönes Haar, einen lan-„gen Schnurrbart, eine Adlernase, kleine graue aber glänzende Augen voll Feuer, mit einem Worte ein Gesicht, „das sonst angenehm war. Um diese Zeit war es aber so 423____ „verändert, daß man es kaum wiedererkannte. Eine grauenvolle Wildheit malte sich in den entstellten Zügen. Das „Auge war erloschen, dcr Kopf fast kahl; auch in dem Barte „waren nur einige Haare zurückgeblieben. Unerklärliche Wir-„kung der Wuth, die stine Seele verzehrte! Nach einer „neuen Aufzahlung der von den Bojaren begangenen Vergehen wiederholte er seine Einwilligung, die Krone zu lx-„halten, verbreitete sich weitlausig über die Pflicht bcr Für-„sten, die Nuhe in ihrem Staate zu erhalten und zu diesem „Zwecke alle Maßregeln zu ergreifen, die ihnen förderlich „schienen, über die Nichtigkeit des menschlichen „Lebens und die Nothwendigkeit über das Grab hinaus „zu blicken, und endlich Ichlug er die Einrichtung der "!">' ,,l8cl>nm» vor, ein bis dahin unbekannter Name. Die Re: „sultate dieser Einrichtung setzten Rußland von Neuem in „Schrecken. Der Ezar kündigte an, daß er tausend Satelliten unter den Fürsten, den Edelleuten und Vojarenkin-„dern") wählen und daß er ihnen in ihren Bezirken Lehen „geben würde, deren jetzige Inhaber an andre Orte versetzt „werden sollten. „Er bemächtigte sich in Moskau selbst mehrerer Strain, aus denen die Edelleute und Beamten vertrieben wer-„den mußten, die sich nicht unter dem Tausend des (5zac „befanden.-----------------------Als waren ihm die hohen Er- „innerungm des Kremls und der Graber seiner Vorsah-„ren verhaßt, wollte er den prachtigen Palast Iwans lll. „nicht bewohnen; er ließ außerhalb der Mauern des „Kremls einen neuen mit hohen Wällen, so wie eine Feste ' °) Die Bojarenkinder sind eine Corporation von 3U0MN Mann, Pächtern der Krone, die Iwan III., der Vorfahr Iwans IV. als Secundär-Adel eingesetzt hatte. 424___ „bauen. Dieser Theil Nußlands und Moskaus, dieses „Tausend des dzars, dieser neue Hof bildete zusammen „ein Priuateigenthum Iwans IV., das untcr ihm unmittelbar stand und '>i!ril!,clllnnH genannt wurde." Weiterhin sieht man die Hinrichtungen der Bojaren, d. h. die Regierung Iwans IV. von Neuem beginnen. „Am 4. Februar sah Moskau die Bedingungen, welche „der Czar der Geistlichkeit und den Bojaren angekündiget „hatte, in Alerandrowski erfüllen. Man begann mit der „Hinrichtung der angeblichen Verrather, welche angeklagt „waren, mit Kurbsky gegen das Leben des Czaren, der „Czarin Anastasia und ihrer Kinder sich verschworen zu ha-„ben. Das erste Opfer war der berühmte Woywode Fürst „Alexander Gorbati-Schuisky, ein Nachkomme des heiligen „Wladimir, Wsewolod des Großen und der alten Fürsten von „Suzdal. Dieser Mann uon hohem Geiste, ein kluger „Krieger, von gleichem Eifer für die Religion wie für das „Vaterland belebt, der viel zur Unterwerfung des Königrei-„ches Kasan beigetragen hatte, wurde zum Tode verurtheilt, „wie sein Sohn Peter, ein junger Mann von siebzehn Iah-„ren. Sie begaben sich beide mit Ruhe und Würde, ohne „Furcht, einander an der Hand haltend, auf den Richtplatz; „um nicht Zeuge des Todes des Urhebers seines Lebens zu „sein, reichte der junge Peter sein Haupt zuerst dem Schwerdte „dar, aber sein Vater ließ ihn zurücktreten und sagte ge-„rührt; „Nein, mein Sohn, laß mich dich nicht sterben „sehen." Der Jüngling ließ ihm also den Vortritt und als-„bald war das Haupt des Fürsten von dem Rumpfe getrennt; der Sohn nahm es in seine Hände, küßte es, „erhob die Augen gen Himmel und übergab sich getrosten „Muthes den Händen des Henkers. Der Schwager Gor- 425 „batis, der Fürst Khowrin, ein Grieche; der Großofsicier „Golownin, der Fürst Sukho,' Kaschin, Obcrmundschenk; „der Fürst Peter Gorensky wurden an demselben Tage enthauptet. Der Fürst Schewircf wurde gepfählt. Man er-„ zahlt, dieser Unglückliche habe einen ganzen Tag lang seine „schrecklichen Leiden ertragen, durch den Glauben gestärkt, „sie vergessen und das Lob des Herrn gesungen. Die bei-„den Bojaren, die Fürsten Kurakin und NemoV, wurden „genöthiget, in ein Kloster zu gehen; eine große Anzahl „Edelleute und Vojarenkinder mußten ihre Güter einziehen „sehen, andere wurden verbannt." Noch weiterhin beschreibt Karamsi'n die Art, wie der Czar seine neue Leibwache bildete, die nicht lange auf die ursprünglich angekündigte Zahl Tausend beschrankt blieb, auch Nlcht aus den höhern Classen der Gesellschaft gewählt wurde. „Man brachte," sagt er, „junge Leute herbei, bci dencn „man nicht nach Verdienst, sondern nach einer gewissen Keck-„heit suchte, die durch Ausschweifungen bekannt und geneigt „waren, Alles zu unternehmen. Iwan legte ihnen Fragen „vor über ihre Geburt, ihre Freunde, ihre Gönner. Hauptsächlich sah man darauf, daß sie keine Verbindung mit den „großen Bojaren hatten; eine unbekannte, ja niedrige Herkunft war cin Anspruch auf Zulassung. Der Czar ver-„ mehrte ihre Anzahl bis auf sechstausend und sie schwuren, „ihm gegen Alle und Jeden zu- dienen, die Verrather anzuzeigen, keinen Verkehr mit den Bürgern der Gemeinde, „d. h. mit allem dem zu haben, was nicht in der Logion „der Auserwahlten eingetragen war"), und weder Verwandt- °) Die Gemeinde war also ganz Rußland mit Ausnahme der sechstausend Banditen dls Czars. 426 „schaft noch Familie zu kennen, wenn cs sich um den Herr-„scher handele. Dafür überließ ihnen der Czar nicht blos „die Landereien, sondern auch die Häuser und die beweglichen „Güter von zwölftausend Eigenthümern, die mit leeren .hän-„den die der Legion angewiesenen Oertcr verlassen mußten, „so daß viele unter ihnen, ausgezeichnet durch ihre Dienste, „die sie geleistet, bedeckt mit ehrenvollen Wunden, sich in „der schmerzlichen Nothwendigkeit befanden, zu Fuße im „Winter mit ihren Frauen und Kindern nach andern ent-„fernten und öden Besitzungen aufzubrechen tt. :c." Man muß auch bei Karamsin die Resultate dieser teuflischen Einrichtung nachlesen. Als diese Horde einmal gegen das Land losgelassen ist, sieht man überall nichts als Raub und Mord. Städte werden durch die neuen Priyilegirten der Tyrannei geplündert und stets ungestraft. Die Kaufleute, die Bojaren mit ihren Bauern, die Bürger, kurz Alles, was nicht zu den Auserwahlten gehört, gehört diesen an. Diese schreckliche Leibwache steht da wie ein Mensch, dessen Seele der Czar ist. Es werden in der Nacht in Moskau und der Umgegend Umzüge gehalten zu Gunsten der Plünderer; das Verdienst, die Geburt, das Vermögen, die Schönheit, jeder Vorzug wird den Besitzern zum Verderben; die Frauen und Madchen, die schön sind oder für tugendhast gelten, werden entführt, um als, Werkzeuge der rohen Lust der Lieblinge des Czars zu dienen. Dieser Fürst hält die Unglücklichen in seiner Residenz zurück und wcnn er sie nicht mehr sehen mag, schickt er ihren Gatten und ihrer Familie diejenigen wieder zurück, die nicht durch eigene für sie erfundene Qualen ermordet worden sind. Diese unglücklichen Frauen, die den Klauen der Tiger entgangen, kehren 427 in ihre entehrten Wohnungen zurück, um da vor Scham zu sterben. Das ist wenig-, der Anstifter so vieler Schändlichkeiten, der Czar, verlangt, daß seine eigenen Söhne an den Orgien des Verbrechens Theil nehmen und durch diese rafsimrte Tyrannei raubt er seinen dummen Unterthanen selbst die Zukunft. Auf cine bessere Regierung zu hoffen, ist Verschwörung gegen einen solchen Herrscher. Vielleicht konnte er auch in cinem minder unreimn, minder entarteten Sohne einen Tad-ler finden! Iwan fand cine Art Wollust darin, die Seelen zu verderben; es ist dies ja auch eine Art Tod. Durch das Morden der Seele ruht er von der Anstrengung aus, die ihm die Tödtung der Körper kostet, er vernichtet aber doch noch immer. Das war seine Erholung. In der Leitung der Regierungsangelegenheiten ist das Leben dieses Ungeheuers eine unerklärliche Mischung von Energie und Feigheit. Er schont seine Feinde, so lange er sich für den Stärkern hält; ist er besiegt, so weint und bittet er, kriecht er, entehrt er sich, sein Land und sein Volk und immer ohne Widerstand zu finden, ohne daß sich «ine einzige Stimme gegen diese Schändlichkeit erhebt!! Die Schande, diese letzte Straft der Nationen, die nicht thun, was sie sich selbst schuldig sind, öffnet den Russen die Augen nicht. Der Khan der Krimm verbrennt Moskau und der Czar flieht; als seine Hauptstadt ein Aschcnhaufen ist, kommt er zurück; seine Anwesenheit erregt unter dem Ueberreste der Bewohner großem Schrecken, als die des Feindes. Dennoch erinnert kein Murren den Monarchen daran, daß er ein Mensch ist und daß er sich verging, als er seinen Königsposten verließ. 428 ^ Die Polen und die Schweden lmu'N abwechselnd seine Anmaßung und seine Feigheit kennen; in den Unterhandlungen mit dem Khan der Krimm erniedrigt er M) so weit, daß er den Tataren Kasan und Astrachan anbietet, die er ihnen vorher so ruhmvoll entrissen hatte. Er spielt mit dem Ruhme wie mit Allem. Spater wird man sehen, wie er dem Stephan Bathory Liestand, diesen Preis des Blutes, dieses Ziel der Anstrengungen seiner Nation mehrere Jahrhunderte hindurch, überliefert; aber trotz dem wiederholten Verrathe seines Oberhauptes wird Rußland, das in der Knechtschaft unermüdlich ist, auch nicht einen Augenblick des so lästigen als erniedrigenden Gehorsams überdrüssig; der Heldcnmuth würde diescr gegen sich selbst erbitterten Nation nicht mehr gekostet haben. Noch in unsern Tagen glaubt Karamsin den Unwillen, der das entehrende Verhalten des Fürsten allen Russen einflößen sollte, in den nachstehenden Worten mildern zu müssen: ,, Wir haben bereits die Militaircinrichtungen dieser „Negierung erwähnt; Iwan, dessen Feigheit auf dem „Schlachtfelde die Fahnen des Vaterlandes mit Schmach „bedeckte, hinterließ ihm jedoch eine weit besser discipli-„ nirte zahlreichere Armee, als bisher bestanden hatte." Das ist eine Thatsache, aber warum kein Wort als Protestation für die Menschlichkeit und den Nationalruhm? Unter dieser Regierung wurde auch Sibirien gleichsam entdeckt und durch den Heldenmut!) russischer Abenteurer erobert. Das Geschick wollte es, daß Iwan lV. biests Mittel der Tyrannei seinen Nachfolgern hinterlassen sollte. Iwan fühlte für Elisabeth von England eine Sympathie, die gleichsam Instinct zu sein scheint; die beiden Tiger errathen, erkennen einander von fern; die Verwandtschaft ihrer N.tturen wirkt trotz der Verschiedenheit der La- 429___ gen, welche die der Handlungen erklärt. Iwan IV. jst ein freier Tiger, Elisabeth ein Tiger im Käsig. Der russische Tyrann schreibt, geplagt von eingebildeter Furcht, an die grausame Tochter Heinrichs VIII., an die triumphirmbe Nebenbuhlerin der Maria Stuart, um sie um ein Asvl in ihren Staaten für den Fall der Noth zu bitten. Sie antwortet ihm in einem ausführlichen Briefe voll Zärtlichkeit. Karamsin führt nur Theile dieses Briefes wörtlich an und ich übersetze die englischen Stellen,, die er mittheilt, buchstäblich-, das Original ist noch, wie er sagt, in dem russischen Archive erhallen. „An den lieben und sehr großen, sehr mächtigen Für-„sten, Unsern Bruder, den Kaiser und Großfürst Iwan „Wassilj, Herrscher aller Reußen. „Wenn Sie sich durch irgend einen zufälligen Umstand, „oder eine geheime Verschwörung, oder einen frrmden femd-„lichen Einfall genöthiget sehen, Ihr Reich zu verlassen und „Sie wünschen in Unser Rcich zu kommen, so wie die edele „Kaiserin, Ihre Gemahlin und Ihre geliebten Kinder, so „werden Wir Sie mit aller Ehre und Freundlichkeit auf-„nehmen und Ew. Hoheit und Ihr Gefolge bchandeln, wie „es einem so großen Fürsten zukommt, Sie auch mit allen ,, denen, die Sie in Ihrem Gefolge mitbringen werden, ein „freies und ruhiges Leben führen lassen. E« wird Ihnen „frei stehen, Ihren christlichen Glauben nach der Art aus-„zuüben, wie sie Ihnen am meisten gefallt, denn Wir ha-„ben nicht die Absicht, etwas zu unternehmen, was Ew. „Majestät oder Einen Ihrer Unterthanen verletzen könnte, „noch Uns in irgend einer Art mit dem Gewissen und dem „Glauben Ew. Hoheit zu befassen oder Ihnen Ihren Glau-„ben durch Gewalt zu entreißen. Wir werden einen Ort in „Unserem Reiche bezeichnen, wo Sie auf Ihre Kosten 430 „so lange wohnen können, als es Ihnen beliebt, bei Uns zu „bleiben. Wir versprechen dies durch Unser Schreiben und „durch das Wort einer christlichen Königin. Zu Beglaubi-„gung dessen unterzeichnen Wir, die Königin Elisabeth, die-„ses Schreiben mit Unserer eigenen Hand V dcr fünfzig Jahre regierte. "°°) Ein wahrhaft russischer Vergleich, der beweibt, wi? nuhlos das Studium ter Geschickte ist, wenn man erzwungene Folgerung«'!! aus ihr zieht. Nichtst>'i1llwen!g?r musi wiederholt w^den, laß Karams», ein ausgezeichneter Geist ist! freilich wurde er in Rußland geboren und lebte, da. 5) Und einen solchen Sclavensinn wagt man Märtyrerthum zn nennen. ll. 29 ___450___ „Tugendheld und in seinem reifen Alter wie zu Ende seines Le-„bens tin blutdürstiger Tyrann war, ein Räthsel fur daS „menschliche Herz, und wir würden die authentische-„sten Berichte über sein Leben in Zweifel gezogen „haben, wenn nicht die Annalen der andern Volker „eben so staunenswerthe Beispiele darböten." Karamsin setzt seine Vertheidigung durch eine für Iwan IV. viel zu schmeichelhafte Parallele mit Caligula, Nero und Ludwig X!. fort, dann fügt der Geschichtschrcioer hinzu: „Dicse enthärteten Wesen, die allen Gesetzen der Natur widersprechen, er-,,scheinen im Verlaufe von Jahrhunderten wie entsetzliche Meteore, „um uns den Abgrund der Verdorbenheit zu zeigen, in welchen „d^r Mensch versinken kann ... Das Leben eines Tyrannen ist ,,eine Galamität für das Menschengeschlecht, aber seine Geschichte „bietet den Fürsten und Nationen auch immer nützliche Lehren ,,dar. Wird nicht die Liebe zum (Aulen in allen Herzen der Men-„schen durch die Erregung von Abscheu vor dem Vösen verbreitet? „Ruhm sei der Zeit, in welcher der Geschichtschreiber, mit der „Fackel der Wahrheit in der Hand, unter einer autocratischen „Regierung die Despoten zu ewiger Schmach verdammen kann, „um die Zukunft vor dem Unglücke zu wahren, andere zu sehen! „Wenn auch jenseits des Grabes Unempfindlichkcit herrscht, so „fürchten doch wenigstens die Lebenden den allgemeinen Fluch und „die Nrandmartung durch oie Geschichte. Diese reicht nicht hin, „die Bösen zu bessern, aber sie verhindert bisweilen Verbrechen, „die immer möglich sind, weil die Leidenschaften auch in den „Jahrhunderten der Civilisation ihre Macht behalten. Sehr oft , zwingt ihr Ungestüm den Verstand zu schweigen oder mit scla-„vischec Stimme die Ausschweifungen zu rechtfertigen, welche die , Folgen davon find." Nun folgt eine Lobpreisung des Ruhmes des Ungeheuers. Die-scs moralische Drehen und Wenden, alle dl'cse oratorischen Vor-sichtsmaßregeln ändern sich unschuldig in eine blutige Satyre um; nne solche Schüchternheit ist so gut als Kühnheit, denn sie ist eine Enthüllung, und eine um so frappantere, da sie unwillkürlich ist. Nichtsdestoweniger sind die Russen, durch die Billigung des Beherrschers ermächtiget, stolz auf dieses Talent, das sie, auf Befehl, bewundern, während sie das Buch aus ihren Bibliotheken veiban- 451 nen, eine andere Ausgabe veranstalten, die erste für apokryph erklären oder vielmehr ihre Eristenz laugncn und behaupten sollten, sie sei nie erschienen und die Veröffentlichung habe erst bei der zweiten begonnen, welche die erste würde. Verfahren sie nicht gegen jede lästige Wahrheit auf diese Weise? In St. Petersburg erstickt man die gefährlichen Menschen und unterdrückt die unbequemen Thatsachen. So kann man thun, was man will. Wenn die Russen dieses Mittel nicht ergreifen, um die Streiche abzuwehren, wclcke das Buch Karamsins dem Despotismus verseht, so wirb die Rache der Geschichte fast gewiß scm, denn die Wahrheit ist wenigstens zum Theil' enthüllt. In Europa dagegen muß man das Andenken Karamsins lhrcn; welcher Ausländer würde die Erlaubniß erhalten haben, die Quellen aufzusuchen, aus denen er schöpfte, um das wenige Licht zu erhalten, das er über die dunkelste der neuern Geschichten oer-breittt? Muß nickt die despotische Regierung schon deshalb verdammt weiden, weil sie solcke Folgen immer möglich macht? Eine solche Regierung kann nur im Duntcl und im Schweigen bestehen. Es scheint Gottes Wille zu sein, daß sie in diesem seltsamen Lande fortdauere; denn wenn sie den Geist des Volkes, die Schriftsteller und die Großm mit Blindheit schlagt, lehrt sie die absolute Gewalt, das mus, ich gestehen, die Glut des Feuers in dem Ofen zu mäßigen; die Tyrannei ist minder drückend geworden, aber ihr Princip besteht noch und bringt nur nock zu oft die extremsten Resultate hervor, — Sibirien weiß es, die unterirdischen Kerker in der Feste Ptters des Großen, zu Petersburg, die Gefängnisse in Moekau, in Schlüsselburg, und so viele andere stumme mir unbekannte Kerker wissen es, — Polen weiß es. Die Absichten Gottes sind unerforschlick, die Erde erträgt semc Lcscklüsse, ohne sie zu begreifen; abcr trotz seiner Blindheit behält der Mensck das ewige Bedürfniß der Gerechtigkeit und Wahrheit; dieses Bedürfnis», das nichts in dem Herzen ersticken kann, ist eine Verheißung der Unsterblichkeit, denn hieniedcn wild es nickt befriediget. Es liegt in uns, aber es ist nicht von dieser Erde und fuhrt uns über dieselbe hinaus. Der Spiritualismus, der in unsern Tagen den Christen von Menschen zum Vorwürfe gemacht wird, die das Evangelium in 2!)° 452^ einem ihrer Politik günstigen Sinnc erklären und eine auf die Entsagung gegründete Religion auf den (Amuß stützen wollen, die-fer Spiritualismus, den man uns als frommen Nctrug unserer Priester vorstellt, ist doch das einzige Mittel, das Golt den Menschen gegen die unvermeidlichen Uebel des Lebens, wie er es ihnen gemacht hat und wie sie es sich selbst machen, gegeben hat. ' Das russische Volk ist von allen cioilisirten Völkern dasienige, bei welchem das Rechtsgefühl am schwächsten und unklarsten ist, und es hat dadurch, daß es Iwan !V. den Schrecklichen nannte, wie vorher sein Grohvaicr Iwan lll. in rühmlichem Sinne genannt wurde, weder dem glorreichen Monarchen noch dem Tyrannen Gerechtigkeit widerfahren lassen; es schmeichelte diesem nach dem Tode, und auch dieser Zug ist charcictcristisch. Ist es wahr, baß in Ruhland die Tyrannei nicht stirbt 7 Man lese weiterhin im 9. Bande Karamsins: „Es ist zu bemerken," sagt er, „daß im Andenken dcs Vol-„kcs der glänzende Ruhm Iwans die Erinnerung an seine schlcch-„tcn Eigenschaften überlebt hat. Die Wehklagen hatten aufge-„hört, die Opfer waren Staub geworden, man vergaß über den ,,neuen Ereignissen die Gerüchte aus frühern Zeiten, und der „Name dieses Fürsten erschien an der Spitze der Gesetzsammlung; „er erinnerte an die Eroberung drei mongolischer Reiche. Die Be-„wcise seiner grausamen Handlungen waren in den Archiven be-„graben, während im Verlaufe der Jahrhunderte Kasan, Astra-„chan und Sibirien in den Augen des Volkes unvergängliche „Denkmäler seines Ruhmes blieben. Die Russen, welche in ihm „den berühmten Urheber ihrer Macht, ihrer Civilisation verehrten, „hatten den Beinamen: der Tyrann, den ihm die Zeitgenossen „gegeben, verworfen oder vergessen. Nach einigen verworrenen „Erinnerungen an seine Grausamkeit nennen sie ihn in unsern „Tagen nur noch Iwan den Schrecklichen, aber ohne ihn von sei-„ncm Großvater zu unterscheiden, dem das alte Rußland denselben „Namen gegeben hatte, mehr zum Ruhme als zum Vorwürfe. „Die Geschichte verzeiht den schlechten Fürsten nicht so leicht als „die Völker." Sie sehen, der große Fürst und der Unmensch werben mit emem und demselben Beinamen: der Schreckliche bezeichnet, und dies durch die Nachwelt Das ist russische Gerechtigkeit; 453 selbst die Zeit ist hier eine Mitschuldiqe der Ungerechtigkeit. Le< leinte Lava» in seinem „Führer in Moskau" schämt sich nicht, bei der Beschreibung des Palastes des Czaren im Kreml den Schatten Iwans >V. herauf zu beschworen, den er mit David, welcher die Fehler seiner Jugend beweint, zu vergleichen wagt. Sein Buch ist für Russen geschrieben. Ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, Ihnen noch eine Stelle aus Karamsins Geschichte mitzutheilen, das Nesumu des Characters eines Fürsten, dessen Rußland sick rühmt. Nur ein Russe konnte von Iwan Hl. sprechen, wie Karamsin von ihm spricht, und glauben, er rühme ihn. Nur ein Russe kennte die Regierung Iwans ^l!il «ninw <1e 8^»,', 2. ,'!» Tod semes Opfers, das einige Stunden nachher unter schrecklichen Zuckungen verschieb, der Angst zu, die es über das Todes-„urthcil empfunden! Er verhüllt diesen ganzen Greuel vor den „Augen der Semigen nur mit der plumpen Luge, die er für ge-„nügend hält. Uebrigens empfiehlt er dcn Seinigcn Schweigen, „und man gehorchte ihm so gut, baß ohne die Denkwürdigkeiten „eines fremden Zeugen (Bruce), der selbst in diesem schrecklichen „Drama mithandelnd auftrat, die Geschichte die schrecklichen letzten „Details nicht erfahren haben würde." (Iiistuil-« «l« linszi« «t a« I'l^rre-Io^ranll, par N. l« z^uural comt« «l« 8öj;ur.) Gndc des zweiten Bandes. Druck von Hirsch f«ld in Leipzig. Inhalt des zweiten Dandes. Dreizehnter Vrief. Hofdamen. — Die Finnen. — Das Theater. — Die Thronbe: steigung des Kaisers. - Gespräch mit ihm. — Krankheit der Kaiserin.— Ansicht des Kaisers von den drei Regierungsformen. — Ball. — Luxus mit exotischen Blumen. — Die Freundin der Kaistrin. — Die Volksmenge in Rußland. — Die Aristo-cratie als Stütze der Freiheit. — Die Großen unter dem Despotismus. — Autocratic und Democratic. — Die Künstler in Petersburg. Vierzehnter Brief. Bevölkerung von Petersburg. — Viergespann. — Säulenmenge. — Architektur. — Ncwski - Perspective. — Holzpflaster.— Das Innere der Häuser. — Das russische Bett. — Besuch bei dem Fürsten "° — Grünes Cabinet in den Zimmern. — Das Volk. — Die russischen Kutscher. — Der Wagen. — Der Feldjäger. — Slawischer Character. — Die Kirchen. — Petersburg im Allgemeinen. — Die Newa. — Dir Dämmerung. — Aehnlich-kcit zwischen den Russen und Spaniern. — Holzvorrath für den Winter. — Heuböte auf der Newa. — Der russische Tüncher. — Häßlichkeit und Schmutz der Frauen aus dem Volke, — Schönheit der Männer. Fünfzehnter Brief. Fest in Pctcrhof. — Das Volk im Palaste seines Hcrrn. — Der Kaiser. — Falsche Civilisation. — Russische Gastlichkeit. — Heuchelei. — Die Popularität der russischen Kaiser. — Secun« därer Adel. — Todesstrafe. — Sibirien. — Gefahr des Frem- den in Rußland. — Ehrlichkeit dcr russischm Bauern. — Das Journal des Völiat» und dcr Kaiser von Nußland. — Politik des Kaisers. — Petcrhof. - Park--Illumination. — Dcr Ball. — Orkan. — Werth des Lebens unter dem Despotismus. — Das Leben der Kaiserin. — Aufbruch dcr Menge nach dem Feste. — Musterung l>cs Cadettcncorps durch den Kaiser. — Tscherkessen. Techszehnter Brief. Die Cottage in Ptterhof. — Die Kaiserin, — Dcr Großfürst Thronfolger. — Das Innere dcr Cottage. — Schüchtenchnt. — Das Arbeitszimmer des Kaisers. — Schloß vo» Oranien-baum. — Kleines Schloß Peters III. — Pavillons. — Park, — Erinnerungen an Katharina II. — Rückkehr nach Petersburg. Siebzehnter Brief. Politischer Aberglaube. — Verantwortlichkeit des Kaisers. — Die Schissbrüchigen. — Was Rußland fehlt. Ruisische Polizei. — Höflichkeit dcr Leute aus dem Volke. — Grausamkeit eines Feldjägers. — Zank auf eincm Holzbootc und die Polizei, — Die Religion. — Rußland. — Reform der Sprache. — Die Isaakstirchc. — Die griechische und die katholische Kirche. — Gespräch mit einem Franzosen. — Aufstand in Folge eines Ausspruches des Kaisers. — Blutige Auftritte an der Wolga. — Geschichte des Dichters Puschkin. — Das Benehmen des Kaisers. — Mißbrauch ausländischer Sprachen. Achtzehnter Brief. Dramatische Seite der Rcise. — Rohheit in der französischen Revolution in Vergleich mit dcr Grausamkeit der Russen. — Eigenthümlicher Character der Aufstände in Nußland. ^- Achtung der Russen vor dcr Behörde. ^ Warum die Russen uns in der Diplomatie überlegen sind, — Geschichte Thelcnefs. Neunzehnter Brief. Petersburg in Abwesenheit des Kaisers. — Seltenheit dcr Frauen auf den SUaßen. - Die Höflinge. - Der russische Ehrgeiz. — — Das Tschinn. -^ Verachtung dcs Adels. — Vorherrschender Gedanke dcs russischen Volkes. — Verschiedene Meinungen über die Zukunft Rußlands. — Gastlichkeit und Formalitäten. — Die Lüge. — Vorurtheile der Russen gtgen die Fremden. — Allgemeines Mißtrauen. — Geist der russischen Regierung. " Unsinnige Architektur verschiedener Kirchen und Paläste. — Die Eremitage und die Gemälde darin. — Dl« Kaiserin Katharina. Zwanzigster Brief. Der Kriegsminister. — Sibirien. — Reise nach Schlüsselburg. --Ein russisches Bauerhaus. — Der Thee der Bauern. — Character des Volkes und Kleidung. — Schlechte Wege. — Ladoga-Canal. — Das Haus und die Frau des Ingenieurs. — Die Schleusen von Scklüssclburg. — Die Quelle der Newa. — Die Festung Schlüsselburg, ihr Gouverneur, die Kirche, das Grab Iwans und die Staatsgefangenen. — Gefängnisse in Rußland. — Diner bei dem Ingenieur. — Die Mittelclassc in Nußland. — Littrarische Conversation. — Rückkehr nach Petersburg, Ginundzwanzigster Brief Abschied von Petersburg und Beschreibung der Stadt in der Dämmerung. — Die Newa in der Nacht. — Reflexionen. — In Rußland wirb nicht geprediget. — Polnische Verschwörungen. ^- Die Geschichte des Fürsten und der Fürstin von Tru-betzkoi und das Benehmen dcs Kaisers. — Meine Meinung über ihn. — Die Todesstrafe. Zweiundzwanzigster Brief. Straße von Petersburg nach Moekau. — Schnelligkeit der Reise. — Sklaverei der Russen. — Der russische Postillon. — Frauen und ihre Kleidung. — Auesehen des Landes. — Posthäusrr. — — Walda'i-Berge. — Russische Damen in Neisekleidern. — Wälder. — Torschok. — Hühnercotelcttcn. — Doppelte Straße. Dreiundzwauzigster Brief.» Kinder als Postillone. — Wunderdare Geschicklichkeit. — Fuhrleute. — Kleidung der Frauen. - Die Schaukel. — Schönheit. — Nussift Bauerhäuscr. — Vorliebe für das Stehlen. — Diplomatj- > n. — Glück der russischen Leibeigenen. — Wirkung des Despo 5?, us. — Die Kirche und das Staatsoberhaupt. — — Anblick dec Wolga und Erinnerungen aus der Geschichte. — Der Thau im Norden. 5Uicrundzwanzigster Brief. Der erste Anblick von Moskau. — Die griechische Kirche. — P«-trowöti. — Ginfahrt in Moskau. - Anblick des Kreml. — Die Kirche des heiligen Basil. — Die Franzosen in Moskau und eine unbekannte Anecdote. — Die Schlacht an der Moskwa. — Das Wort Ezar. — Das Innere von Moskau. — Das Wirthshaus der Madame Howard. — Nächtliche Promenade. — Außsthen der Stadt in dcr Nacht. — Staub. — Droschken. — Bevölkerung. — Bonaparlc im Krcml. Fünfundzwanzigster Brief. Der Kreml am Tage. — Character seiner Bauart. — Iwan IV., seine Unterthanen und die jetzigen Russen. — Bvoichüre des Fürsten Wiasembki. ^ Karamsin. Sechöundzwanzigstcr Brief. Geschichte Iwans IV. Anhang. Auszüge aus Karamsins Geschichte Rußlands. — Begleichung Peters I. mit Iwan l V. und Auszüge aus S^gurs Wert: Geschichte Rußlands und Pclers des Großen.