WO3*, r/ '^ M U ß l O N d im Jahre 1839. ^ Aus dem Französischen des Marquis von Guftine, von Erster Band. Zweite Auflage. (Mit den Zusätzen der zweiten Auflage des Origlnalö.) Leipzig, Theodor Thomas. 1844. Vorwort. Mußland ist in unsern Tagen für den Beobachter das merkwürdigste Land, weil man in ihm die tiefste Barbarei neben der höchsten Guilisation findet, welche durch die Negierung aus dem Auslande gleichsam wie eine Waare eingeführt wurde. Um zu erkennen, wie aus dem Zusammenstoß so verschiedenartiger Elemente die Ruhe oder doch wenigstens die Unbeweglichkeit hervorgehen kann, muß man dem Reisenden bis in das Innere dieses seltsamen Landes folgen. Mein Verfahren bei der Beschreibung der Oertlichkeiten und der Erklärung der Character« scheint mir, wenn auch nicht das Beste für den Schriftsteller, doch wenigstens das Beruhigendste für den Leser zu sein, den ich nöthige, mir zu folgen und in den Stand setze, selbst über die Ideen zu urtheilen, welche sich dem Reisenden darbieten. Ich betrete ein mir neues Land ohne andere vorgefaßte Meinungen als die, welche Niemand von sich abwehren kann, die nämlich, welche das gewissenhafte Studium der Geschichte jenes Landes giebt. Ich betrachte die Gegenstande, beobachte bie Thatsachen und die Personen und gestatte der taglichen Erfahrung, meine Meinungen zu modisiciren. Wenige ausschließliche Ansichten in der Politik treten mir dabei hindernd und hemmend in den Weg. Man kann mir vielleicht Vor-urtheile z«r Last legen, gewiß aber nicht den Vorwurs machen, daß ich die Wahrheit willentlich entstelle. 4 Ich beschreibe, was ich gesehen hab?, an Ort und Stelle, und erzähle, was ich hörte, noch den Adend desselben Tages. So kann es den Gesprächen mit dcm Kaiser, die ich wörtlich in meinen Briefen mittheile, an einem gewijjen Interesse, dem der Genauigkeit, nicht fehlen. Sie werden hoffentlich dazu beitragen, diesen in Europa so verschieden beurtheilten Fürsten genauer und besser kennen zu lernen. Die Briefe, welche man lesen wird, waren nicht alle für das Publicum bestimmt, mehrere der eisten sind rein vertrauliche. Ich war des Schreibens, aber nicht des Reisens müde und wollte diesmal ohne Methode beobachten, meine Schilderungen nur für meine Freunde bestimmen; die Gründe, welche mich bestimmten, Alles drucken zu lassen, wird man im Verlaufe des Werkes finden. Der Hauptgrund liegt darin, daß meine Ideen durch die Prüfung, welcher ich die mir ganz neue Gejelisch.ift unter-warf, täglich sich modificirten. Ich glaubte, etwas Neues und Kühnes zu thun, wenn ich die Wahrheit über Rußland sagte; bisher hat die Furcht und der Eigennutz übertriebene Lobeserhebungen, der Haß Vcrlaumdungen hervorgerufen; ich fürchte weder die eine noch die andere Klippe. Ich ging nach Rußland, um Gründe gegen die repräsentative Regierung zu suchen und komme als An hang er der Konstitutionen zurück. Die gemischte Regierung begünstiget allerdings das Handeln keineswegs am meisten, aber die Völker haben in ihrem Alter auch weniger das Bedürfniß, Thaten zu verrichten. Diese Regierung unterstüht am meisten die Production, verschafft den Menschen die größte Summe des Wohlstandes und des Reichthums, begünstiget am stärksten die Entwickelung des Gedankens in dem Kreise der practischen Idecn und macht den Bürger unabhängig, nicht durch die Hoheit und Großartigkeit der Ansichten, sondern durch das Wirken der Gesetze. Das sind gewiß große Entschädigungen für große Nachtheile. Je mehr ich die schreckliche und seltsame Regierung kennm lernte, welche durch Peter I. geregelt, um nicht zu sagen gegründet wurde, um so mehr begriff ich die Wichtigkeit dcr Aufgabe, die mir der Zufall gestellt hatte. 5 Die außerordentlich große Nmgierde, in welche meine Arbeiten die Russen versetzten, brachte mich gleich Anfangs auf den Gedanken, daß ich wohl mehr Gewalt besäße, als ich mir selbst zugeschrieben hatte; ich wurde aufmerksam und vorsichtig, denn ich entdeckte bald die Gefahr, der mich meine Aufrichtigkeit aussetzen konnte. Ich wagte es nicht, meine Briefe der Post zur Beförderung zu übergeben, sondern behielt sie alle bei mir, versteckte sie wie verdächtige Papiere. So kam es, daß bei meiner Rückkehr nach Frankreich die Beschreibung meiner Reise fertig und vollständig in meinen Händen war. Dennoch zögerte ich vier Jahre lang mit der Veröffentlichung derselben, — so lange brauchte ich, um in meinem Gewissen das, was ich der Dankbarkeit und das, was ich der Wahrheit schuldig zu sein glaubte, in Uebereinstimmung zu bringen. Die Liebe zur Wahrheit erhielt endlich das Ueber-gewicht, weil ich es für eine Pflicht halte, dem Vaterlande Wichtiges und Nützliches mitzutheilen. Es steht mir gewiß zu, ein Land, in welchem ich Freunde habe, zu beurtheilen, selbst streng zu beurtheilen, wenn es mein Gewissen verlangt, den Character der bekannten Männer zu analysi'rcn, ohne in verletzende Persönlichkeiten einzugehen, die, Worte der Staatsmanner anzuführen, vor Allen die der Höchsten im Staate, ihre Handlungen zu erzählen und die Reflections«, zu welchen mir diese Prüfung Veranlassung geben kann, bis zu den äußersten (5onftquenzen zu verfolgen, wenn ich meinen Meinungen eben nicht mehr Werth beilege, als sie in meinen eigenen Augen haben. Wenn ich nun aber auch der Pflicht nachgekommen bin, so habe ich doch immer, wie ich wenigstens hoffe. Anstand und Schicklichkeir gewahrt. Man kann meiner Meinung nach auch harte Wahrheiten mit Anstand sagen, wenn man na-türlich nur nach seiner Ueberzeugung spricht und den Einflüsterungen der Eitelkeit kein Gehör giebt. Da ich übrigens in Rußland vieles bewundern mußte, so wird Ml,n in meinen Beschreibungen auch oielRühmendessinden. Die Russen freilich werden nicht zufrieden sein; ist es die Eigenliebe jemals^ Dennoch h"t auf Niemanden die Größe ihrer Nation und ihre politische Wichtigkeit einen tiefern Ein- « druck gemacht als auf mich. Das hohe Geschick dieses Volkes, das zuletzt auf der alten Weltbühne erschienen ist, hat meine Gedanken beschäftiget, so lange ich in Rußland war. Die Nüssen im Ganzen kamen mir groß vor, selbst in ihren widerlichsten Lastern; im Einzelnen erschienen sie mir liebenswürdig, und das Volk besitzt gewiß einen interessanten Character. Diese schmeichelhaften Wahrheiten sollten minder angenehmen wohl das Gleichgewicht halten. Leider sind die Russen bisher von den meisten Reisenden wie verhätschelte Kinder behandelt worden. Wenn die Disharmonie, welche ich in ihren gegenwärtigen Zuständen fand, wenn der Geist ihrer Regierung, der meinen Ideen und Gewohnheiten wesentlich widersteht, mir Tadel, gleich einem Schrei des Unwillens, entriß, so wird mein eben so unwillkürliches Lob nur um so mehr Werth, haben. Aber diese Orientalen werden nur noch für den Tadel empfänglich sein, da sie gewohnt sind, die stärksten Lobpreisungen in das Gesicht zu sagen und sich selbst sagen zu lassen, und stets Glauben verlangen, wenn sie sich unter einander loben. Jede Mißbilligung halten sie für einen Verrath; jede hartc Wahrheit nennen sie eine Lüge, und sie werden deßhalb schwerlich erkennen, welche zarte Bewunderung unter meinem scheinbaren Tadel und welches Mitgefühl, in gewisser Hinsicht, unter meinen strengsten Bemerkungen liegt. Wenn sie mich zu ihren Religionen (sie haben mehrere, und ihre politische ist nicht die mindest intolerante) nicht bekehrt haben, wenn sie im Gegentheil meine monarchischen Ideen in einem dem Despotismus entgegengesetzten und der repräsentativen Regierung günstigen Sinne umgewandelt haben, so weiden sie sich schon dadurch beleidiget fühlen, baß ich ihrer Meinung nicht bin. Ich bedauere das, ziehe aber doch das Bedauern der Neue vor. Wenn ich mich auf ihre ungerechte Beurtheilung nicht gefaßt gemacht hätte, würde ich diese Briefe nicht drucken lassen. Uebrigens mögen sie sich in Worten über mich beklagen, im Herzen werben sie mich freisprechen, und dies genügt mir. Jeder ehrliche Russe wird zugestehen, daß ich Rußland im Ganzen so geschildert habe, wie es ist, wenn ich 7 mir auch im Einzelnen vielleicht hier und da Unrichtigkeiten zu Schulden kommen ließ. Sie werben die Schwierigkeiten berücksichtigen, die ich besiegen mußte, und das Glück, die Schnelligkeit nicht verkennen, womit ich die vortheilhaften Züge ihres eigentlichen und ursprünglichen Characters unter der politischen Maske erkannte, die ihn seit so vielen Jahrhunderten entstellt. Die Ereignisse, deren Zeuge ich war, habe ich erzählt, wie sie vor meinen Augen sich zutrugen, die, welche man mir berichtete, so wie ich sie erfuhr; nie versuchte ich den Leser dadurch zu täuschen, daß ich mich in die Personen hineindachte, die ich um Auskunft fragte. Wenn ich diese nicht nur nicht nannte, sondern auch in keiner Art kenntlich machte, so wird man meine Discretion zu würdigen wissen; sie ist eine Bürgschaft mehr für das Vertrauen, welche die aufgeklärten Personen verdienen, an die ich mich wenden zu können glaubte, um Auskunft über gewisse Dinge zu erhalten, die ich durchaus nicht selbst beobachten konnte. Ich brauche nicht hinzuzusetzen, daß ich nur diejenigen erwähnt habe, welche durch den Character und die Stellung der Personen, durch die sie zu meiner Kenntniß gelangten, in meinen Augen einen unbestreitbaren Stempel der Wahrheit erhielten. Nach dieser meiner gewissenhaften Ehrlichkeit wird der Leser den Grad der Autorität selbst beurtheilen können, welchen er diesen secundären Dingen beizulegen hat, die übrigens einen sehr kleinen Raum in meinen Erzählungen einnehmen. Vorwort zur zweiten Auflage. Die vorliegende neue Ausgabe ist mit besonderer Sorgfalt durchgesehen worden; der Verfasser hat sehr vieles berichtiget, einiges weggelassen und viel hinzugesetzt, auch mehrere bisher unbekannte merkwürdige Anec-doten und wir glauben uns schmeicheln zu dürfen, daß das so verbesserte Werk das Interesse des Publicums in noch hühcrm Grade erregen werde, als die erste Ausgabe. Der heftige Angriff, welchen das Werk von Russen und einigen der russischen Politik zugethanen Zeitungen erfahren hat, stellten den Muth und die Aufrichtigkeit des Verfassers erst in ein recht helles Licht; nur die Wahrheit kann so großen Zorn erregen. Wenn auch alle Reisenden der Welt in ihren Büchern schrieben, die Franzosen wären ein geistloses Volk, so würden sie in Paris doch nur Lachen erregen; um verwunden zu können, muß man treffen. Der unabhängige Sinn, der in einer Zeit der Vorsicht und der kindischen Rücksichten feine Gedanken gerade heraussagt mußte den Leser freilich in Erstaunen setzen und das Interesse des Gegenstandes erhöhete das Aufsehen, welches das Buch erregte. Es sei uns erlaubt, hier nur mit wenigen Worten auf den Vorwurf zu antworten, der dem Verfasser am häusigsten gemacht worden ist, auf den der Undankbar! keit und der Indiscretion. Der Verfasser glaubte das Recht zu haben, schonungslos auszusprechen, was er dachte, und diese Rücksichtslosigkeit kann nicht unziemlich genannt werden, da er weder durch Pflichten gegen den Staat, noch durch Verpflichtung gegen Personen und Familien gebunden war; er sah Rußland eben mur als Reisender. Der Kaiser hat ihn mit der ihm natürlichen Freundlichkeit und Leutseligkeit aufgenommen, aber nur in Beisein des ganzen Hofes mit ihm gesprochen. Der Verfasser wurde als Privatmann gleichsam mit öffentlicher Gastfreundschaft aufgenommen, die ihn zu nichts weiter verpflichtete, als zur Bewahrung der Artigkeit, die jedem wohlerzogenen Menschen obliegt; die Schilderung, welche er von den hochgestellten Personen entworfen hat, die ihn mit höchster Artigkeit behandelten, enthalten sicherlich nichts, was sie in den Augen der Welt herabsetzt, im Gegentheil, er schmeichelt sich, sie in der öffentlichen Meinung gchoben zu haben. Seine Art zu schildern war schon lange bekannt; sie besteht einfach barin, daß er alles sagt was er sieht und aus den Thatsachen auch die äußersten Folgerungen zieht, die ihn sein Verstand und selbst seine Phantasie erkennen lassen, weil er eben reiset, um alle seine Geisteskräfte zu üben. Er glaubte bei dieser Gelegenheit seine Manier um so weniger andern zu müssen, als die unerschrockene Offenheit, welche sich in seinem Werke ausspricht, eine Schmeichelei war, — freilich eine vielleicht zu seine Schmeichelei, als daß sie von gewöhnlichen Menschen hätte gewürdiget werden können. Wer dem allmächtigen Beherrscher eines großen Reiches den Schrei der beleidigten Menschheit zu Ohren bringt, wer mit ihm, sozusagen, Herz gegen Herz spricht erklärt dadurch, er halte ihn für würdig und fähig, die ganze Wahrheit zu ertragen, und behandelt ihn fast wie Gott, mit dem der Mensch, wenn er recht unglücklich ist, in seinem Gebete keine Umstände macht. Der Verfasser konnte bei seiner isolirten Stellung jede eitele Vorsicht ablegen; er würde sich weit strengerm und viel besser begründetem Tadel ausgesetzt haben, wenn er, statt den möglichst größten Vortheil aus seiner Unabhängigkeit zu ziehen, allen kleinen modischen Rück» sichten nachgegeben und in seinen abqeblaßten Erzählungen den Dilettanten-Diplomaten gespielt bätte. Dann würden die Leser, selbst die aus den klügsten Salons, die nothwendige Diplomatie genug haben, mit Necht Muth von ihm verlangt und sich nach derUnabhangigkeit und Aufrichtigkeit gesehnt haben, die ihm gewisse Kritiker jetzt zum Vorwürfe machm. Er hat demnach Ursache sich Glück zu wünschen, daß er einzig und allein seinem Gewissen folgte, ohne einen Tadel zu fürchten, der übrigens nur Nebendinge betrifft, welche mit dem Gesichtspunkte, aus welchem das Buch zu betrachten ist und mit der Hauptsache gar nichts zu thun haben. Was sollte auch aus der Geschichte werden, wenn die Zeitgenossen sich vor dem Vorwurfe der Indiscretion fürchten wollten. Es ist vielleicht zweckmäßig, hier zu wiederholen, daß der vorliegende Reisebericht auf eine doppelte Weise entstanden ist; einmal tageweise oder vielmehr nachtweise. Der Reisende schrieb für sich und seine Freunde die Eindrücke, die er empfing und das auf, was ihm auffiel. Das ganze Werk mit den Neflectionen, die es umfänglich machen, war im Keime in dieser Art Tagebuch enthal, ten. Er könnte dies leicht durch Vorlegen der Origi-nalbriefe an die beweisen, welche bezweifeln, daß er in so kurzer Zelt alles, was er beschreibt, gesehen habe. Drei Jahre spater nahm er für das Publicum eine sorgfältige Redaction vor. Die seltsame Verbindung, welche die Folge dieser beiden Arten und dieser doppelten Zeit ist, der Mangel an Zusammenhang, der durch die Vermischung von Eindrücken des Augenblicks und wohl-überlegten Ausdrücken hervorgebracht wird, erklärt sowohl den Tadel als das Lob, welche das Werk erfahren hat. Weit entfernt, die Falben zu dick aufzutragen, den Tadel übertrieben zu haben, hat der Reisende vielmehr eine Menge beglaubigter Thatsachen verschwiegen, die noch viel empörender sind als die mitgetheilten, weit er fürchtete, keinen Glauben für seine Erzählungen zu finden. Die Schilderung der Nüssen und ihrer Regierung ist also ein ähnliches Portrait aber mit gemilderten Zügen. Der Verfasser ging in seiner Bedenklichkeit und Unparteilichkeit sogar so weit, alle Thatsachen und Anecdotcn zu verschweigen, die ihm von Polen mitgetheilt worden waren. Inhalt des ersten Dandcs. Erster Brief. Ankunft bcö Großfürsten Thronfolger ln GmS. — Charakter der russischen Höflinge. — Schilderung des Großfürsten. — Seine Wagen und Dienerschaft. — Der Nhein. Zweiter Brief. Materielle Civilisation ln Deutschland. — Preußen. — Corrrspon-denz meines Vaters in dein Archiv der französischen Gesandtschaft in Berlin. — Indiscretion der Kaiserin Katharina. — Anecdote in Vczug auf den Vertrag von Pillnitz. — Mein Vater. — Meine Mutter. — Ihr Benehmen während des Prozesses deö Generals Vustine, lhreS Schwiegervaters. — Meln Vater veröffentlicht eine Nechtfcrtigungöschrift für den General, seinen Va« ter, und wird verhaftet. - - Meine Mutter sucht ihn aus dem Gefängnisse zu befreien, er abcr weigert sich. — ^rste Erinnerung aus meiner Kindheit. Dritter Brief. Schicksale meiner Mutter während der Schlcckenözelt unb später. Vierter Brief. Meinung dcs Wirths in Lübeck von den Russen. — Reise von Berlin nach Lübeck. — Travemünde. — Nordische Landschaften. — Nordische Nächte. — Schissbruch des Dampfschiffes Nikolaus I. — Charakterzug eines Diplomaten. — Sittenbild. — Zehn Jahre. Fünfter Brief. Einfluß deS Cllma auf den menschlichen Gelst. — Ich lese ohne Licht um Mitternacht, — Die finnischen Küsten. — Melancholie der Nordländer. — ssonurrsation auf den, Dampfschiffe. — Der Fürst K . . — Der Adel. - Dic Herrschaft der Rede. — Vertrauliches Gespräch. — Die Russcn haben nichts Ritterliches. — Dir Autocratic. — Die Leibeigenschaft. - Oräfcnberg und die Nassercur. — Guter Ton. — (5ln französischer Reisender, ehemaliger Lancier. ^- Russische Lieber und Tänze. — Die beiden Americaner. — Falscher Lärm. Sechster Brief. Geschichte dcS Varons Untern v. Sternberg. — Walter Scott und Byron. — Der Vojar Nomodanowski. — Gleichgültigkeit der Russen gegen die Wahrheit. — Die Tyrannei lebt von der Lüge. — Die Leiche eines (5ro'i in der Kirche zu Reval. — Angst der Russen vor d«r Meinung der Ausländer. Siebenter Brief. Die russische Marine. — Ausspruch dcS Lord Durham darüber. — Große Anstrengungen um cm geringfügiges Resultat. — Kronstadt. — Lächerlicher Schiffbruch. - Russische Douane. — Traurige Natur in der Nähe von Petersburg. — Insel Kronstadt. — Batterien der Festung. — Die untern Veamten. — Verhör vor den Polizei- und Zollbeamten. — Der Oberzolldlrector. — Neues Verhör. — Ueberraschung. Achter Brief. Ankunft in Petersburg auf der Newa. - Architectur. — Nachahmung der griechischen Bauwerke. - Die Natur in der Gegend von Petersburg. - Zoll- und Polizciplackereicn. — Aussehen der Straßen. — Statue Peters des Größen. — Der Winterpalast. ^ Der Despotismus zeigt ssch bei dem ersten Schritte den man in diesem Lande thut. — Karamsin. -— Die Eitelkeit der Russen. — Der Nationalgeist stimmt mit der Politik der Autocratie übcrein. Neunter Brief. Die Droschken. — Trachten. — Russische« Gespann. — Holzpflaster. — Petersburg früh. — Gleicht einer Caserne. — Couriere. — Tyrannei und Despotismus. — Tschinn. — Eigenthümlicher Charakter der russischen Regierung, — Das Gasthaus. — Spa-zlergang. — Palast Michael. — Erinnerung an Paul I. — Die Newa 5 die Brücken und Kais. — Das Häuschen Peters I. — Die Citadelle. — Das Kloster und Grab des heiligen Alexander Newski. — Russische Veteranen. — Glauben der Russen an bic Zukunft. — DaS Innere der Festung, — Unterirdisches Gefängniß. — Grab der kaiserlichen Familie. — Unglück der Russen. — Die katholische Kirche. — Grab deS letzten KönlgS von Po? len und Morcaus. Zehnter Vrief. Insel-Promenade mit den Villen, Gärten. — Reflexionen. — Gleichheit unter dem Despotismus. — Eharacterislische Zügc aus der russischen Gesellschaft. — Unglück eines allmächtigen Herrschers. — Ungeziefer in den Gasthäusern und in dein kaiserlichen Palaste. — Schönheit der Männer. — Natlonalkopfpuh der Frauen. — Russische Aaucrn. — Sie geben das Geld, um sich kaufen zu lassen. — Man verhüllt den Fremden die Wahrheit. -- Religiöse Usurpation PetcrS I. — Die russische Aristocratic. ^- Die Median in Nußland. — Erlaubniß, der Trauung der Großfürstin Marie beizuwohnen. Elfter Brief. Einnahme dcr Vastille an, 14. Juli 17^9, Vermählung des GnkclS Beauharnais am 14. Juli 1839. — Hofkapelle. — Das Gesicht , des Kaisers. — Die Kaiserin. — Die Selaverel Aller. — Mein lächerlicher Unfall. — Graf v. Pahlcn hält die Krone über dem Haupte des Herzogs von Leuchtender.;. — Reflection. — Der Herzog von Leuchtcnberg. - Musik in der kaiserlichen Kapelle. — Der Grzbischof. — Der Kaiser küßt ihm die Hand. — Dle Alcrandersäule. — Admiralität. - Isaakslirche. — Triumphwagen. — Entweihung der alten Kunst. — Dcr Kaiser. — Sein bewegtes Leben — Die Kaiserin unterliegt demselben. — Ich werde vorgestellt. — Fest iu dem nenerbautcn Wintcrpalastc. — Tan^c daselbst. — Das Suuper. — Der Kirgisen-Kahn. — Dle Königin uon Georgien. — Russische Huftiacht. — Der Genfer an der kaiserlichen Tafel. — Die untergehende Sonne. — Neues Wunder dcr nordischen Nächte. — Dcr Hof des Palastes. — Pliilosophie dcö Despotismus. Zwölfter Brief. Der Kaisei. — Die Kaiscrln. — Vergleich zwischen Paris und Petersburg. Die Artigkeit. - Fest im Palast Michael. — Die Großfürstin Helene. — Prachtvolle Au^schmückling eines Vallsaalcs. — Konversation mit dem Kaiser. — Englische Artigkeit. — Dcr französische Gesandte v, Varank. — Dcr Obcr-kammerherr. -» Strenger Tadel deö Kaisers. — Schwierigkeit, in Nußland etwas zu sehen. Erster Brief. Cms, den 5. Juni 1839. gestern habe ich meine russische Reise bereits begonnen' der Großfürst Thronfolger kam nämlich mit zehn oder zwölf Wagen und einem zahlreichen Gefolge in Ems an. Das Erste, was mir auffiel, als ich die russischen Hof-leute im Dienst sah, war die außerordentliche Unterthänig-keit, mit welcher sie ihr Handwerk als große Herren betreiben; sie sind eine Art höherer Sclaven. SobalD aber der Prinz sich entfernt hat, nehmen sie einen ungezwungenen Ton, ein entschiedenes Benehmen und eine Miene an, die gar nicht angenehm von der ganzlichen Selbstverleugnung abstechen, welche sie im Augenblicke vorher zur Schau trugen. Es machte sich mit einem Worte in dem ganzen Gefolge des kaiserlichen Thronerben eine Vedientenhaftigkeit bemcrklich, von welcher die Herren eben so wenig frei waren als die eigentlichen Diener. Es war nicht bloß Etikette gleich der, welche an den andern Höfen herrscht, wo die ofsicielle Ehrfurcht, die höhere Bedeutung dcs Amtes als der Person, kurz die Nolle, die man spielen muß, Langeweile und bisweilen Lächerlichkeiten bewirken; es war mehr, es war unwillkürlicher Knechtssinn, der aber die Arroganz nicht ausschloß. Es tam mir vor, als Hirte ich sie sagen: „da es einmal nicht anders ist, 10 so befinde ich mich wohl dabei." Diese Mischung von Stolz und Selbsterniedrigung mißfiel mir und nahm mich keineswegs für das Land ein, das ich besuchen wollte. Ich befand mich unter den Neugierigen neben dem Großfürsten, bis er aus dem Wagen stieg. Ehe er in das Haus hineinging, blieb er lange an der Thür stehen, um öffentlich mit einer russischen Dame, der Gräfin ..., zu sprechen; ich konnte ihn deshalb mit Muße betrachten. Er ist zwanzig Jahre alt, und für so alt würde man ihn auch halten; er ist hochgewachsen, für einen so jungen Mann aber etwas zu dick. Wäre sein Gesicht nicht zu voll, so würden seine Züge schön sein; sein rundes Gesicht ist mehr deutsch als russisch und erinnert an das Aussehen, das der Kaiser Alexander in dem gleichen Alter gehabt haben muß, keineswegs an die kalmückische Gesichtsbilbung. Das Gch'cht wird noch viele Veränderungen erleiden, bevor es den feststehenden Character erhält; jetzt verrath es eine milde und wohlwollende Gcmüthsstimmung, doch liegt zwischen dem jugendlichen Lächeln der Augm und dem fortwährenden Zusammendrücken des Mundes eine Disharmonie, welche auf Mangel an Offenheit, vielleicht auf ein Gemüthsleiden schließen laßt. Der Kummer der Jugend, jenes Alters, in welchem der Mensch einen Anspruch auf das Glück hat, ist ein Geheimniß, das um so besser bewahrt ist, als es dem, der es in sich tragt, selbst unerklärlich bleibt. Der Ausdruck des Blickes dieses jungen Prinzen ist die Güte selbst, sein Gang und seine Haltung anmuthig, leicht und edel; kurz er ist wahrhaft ein Prinz. Dabei sieht er bescheiden aus, ohne schüchtern zu sein, was man ihm Dank weiß; denn die Verlegenheit bei den Großen ist für Jedermann so drückend, daß ihre Ungezwungenheit uns als Freundlichkeit erscheint. Sie ist es auch. Wenn sie sich für Pagoden halten, werden sie II durch die Meinung gefesselt, die sie von sich selbst haben, ohne doch hoffen zu dürfen, sie von Andern getheilt zu fehen. Von dieser albernen Unruhe ist der Großfürst frei, der vor Allem den Eindruck eines Mannes von guter Erziehung macht. Kommt er einmal zur Regierung, so wirb er sich durch den Zauber der Anmuth Gehorsam erwerben, nicht durch Furcht, es müßten denn die nothwendigen Erfordernisse, die von der Stellung eines Kaisers von Rußland unzertrennlich sind, seinen Character mit seiner Stellung ändern. Den 6. Juni Abends. Ich habe den Großfürsten Thronfolger wieder gesehen und noch länger, ganz in der Nahe, beobachtet. Er hatte die ihn beengende Uniform abgelegt; die gewöhnliche Kleidung steht ihm meiner Ansicht nach besser. Er besitzt eine ansprechende, edle Haltung ohne alle militairische Steifheit, und die Anmuth, die ihn auszeichnet, erinnert an den Reiz, welcher den Slawen eigenthümlich ist. Es ist nicht die leidenschaftliche Lebendigkeit der warmen Länder, aber auch nicht die kalte Gleichgiltigkcit der nordischen Menschen, sondern eine Mischung der südlichen Leichtigkeit und Natürlichkeit mit der scandinavischen Melancholie. Die Slawen sind blonde Araber. Der Großfürst ist mehr als zur Hälfte deutsch, aber in Mecklenburg, wie in einigen Theilen von Holstein und Rußland, giebt es slawische Deutsche. Das Gesicht dieses Prinzen hat trotz seiner Jugend nicht eben so Gefalliges als sein Wuchs; die Farbe ist nicht mehr frisch "); man sieht es ihm an, daß er sich unwohl fühlt; das Augenlid senkt sich über den äußeren °) Der Großfürst Thronfolger war einige Zelt vor seiner An« lunft in Gms krank gewesen. 12 Augenwinkel mit einer Melancholie herab, welche bereits die Sorgen eines höheren Alters verräch; sein anmuthiger Mund ist nicht ohne Sanftmuth; sein griechisches Profil erinnert an die antiken Münzen oder an die Portraits der Kaiserin Katharina; aber durch dieses gutmüthige Aussehen hindurch, das die Schönheit, die Jugend und namentlich das deutsche Blut fast immer geben, bemerkt man hier eine Kraft der Verstellung, die an einem so jungen Manne erschreckt. Dieser Zug ist ohne Zweifel der Stempel des Geschickes; er leitet mich zu dem Glauben, daß der, Prinz berufen sei, den Thron zu besteigen. Seine Stimme hat einen melodischen Klang, — eine Seltenheit in seiner Familie und, wie man sagt, ein Erbe von seiner Mutter. Er glänzt unter den jungen Leuten seiner Gesellschaft, ohne daß man weiß, worin der Unterschied liegt, den man unter ihnen bemerkt, wenn es nicht die vollendete Anmuth seiner Persönlichkeit ist. Die Anmuth verrath immer eine liebenswürdige Gemüthsstimmung; es liegt ja so viel Seele in dem Gange, so viel Ausdruck in der Gesichtsbildung und der Haltung eines Menschen! Der Großfürst ist zugleich imponirend und gefallig. Die*russischen Reisenden haben mir seine Schönheit als etwas Außerordentliches geschildert, und ohne diese Uebertreibung würde sie mir aufgefallen sein; übrigens erinnerte ich mich noch des romanhaften Aussehens und des Erzengclgchchts seines Vaters und des Großfürsten Michael !815, als sie nach Paris kamen, wo man sie die Nordlichter nannte, und ich bin strenger geworben, weil ich Mich getäuscht sah. So viel aber kann ich erklären, daß ich den Großfürsten Thronfolger von Rußland für eines der schönsten Musterbilder einesFürsten halte, die ich jemals gesehen. Dagegen siel mir die geringe Eleganz seiner Wagen, die Unordnung in dem Gepäck und das vernachlässigte Aussehen des ihn begleitenden Dienstpersonals auf. Wcnn man diese kaiserliche Cortege mit der prachtvollen Einfachheit der englichen Neisewagen und der eigenthümlichen Nettigkeit und Sauberkeit der englischen Dienerschaft vergleicht, so erkennt man recht deutlich, daß es nicht hinreicht, seine Wagen aus London zu beziehen, um die materielle Vollkommenheit zu erreichen, welche in einem positiven Zeitalter, wie dem un-srigen, das Uebergewicht Englands sichert. Gestern sah ich den Sonnenuntergang auf dem Nheine; ein großartiges Schauspiel! Das Schönste in dieser vielleicht zu sehr gepriesenen Gegend sind nicht die Ufer dcs Flusses mit ihren einförmigen Nuinen und ihren dürren Weinbergen, welche für die Augenweide einen zu großen Naum in der Landschaft einnehmen; ich habe imposantere, mannichfaltigere, lachendere Ufer, schönere Walder, eine kraftigere Vegetation, malerischere, staunenswerthere Gegenden gesehen, — das Bewundernswürdige hier ist der Fluß selbst. Dicser unermeßliche Spiegel, der immer in gleicher Bewegung durch das Land hindurchgleitet, das er erhalt, abspiegelt und belebt, enthüllt mir eine Schöpfungsmacht, die mein Verstand nicht zu fassen vermag. Betrachte ich diese Bewegung, so vergleiche ich mich mit dem Arzte, der den Puls eines Menschen zu Rathe zieht, um die Kraft desselben zu beurtheilen; die Flüsse sind die Schlagadern unseres Planeten, und vor dieser Kundgebung des allgemeinen Lebens bleibe ich bewundernd stehen; ich fühle, daß ich vor meinem Herrn und Meister stehe; ich sehe die Ewigkeit, ich berühre die Unendlichkeit; was ich in der Natur nicht begreife, bewundere ich, und meine Unwissenheit rettet sich in die Anbetung. Deshalb ist mir auch das Wis-sm minder nothwendig, als den unzufricdenen Geistern. Die Hitze bringt uns buchstäblich um. Seit vielen Jahren hat die stets erstickende Luft dcs Emsthales diese 14 Temperatur nicht erreicht. In voriger Nacht, als ich von dem Rheinufer zurückkam, sah ich in den Waldungen einen Regen von Leuchtstiegen, meine lieben Luccioli Italiens, die ich nm in den warmen Ländern gefunden hatte. Nach zwei Tagen reise ich nach Berlin und Petersburg ad. Zweiter V r i e f. Berlin, den 22. Juni 18^9. Zur Schande des Menschen muß man es aussprechen: es giebt für die Völker eine ganz materielle Glückseligkeit, die, welche jetzt Deutschland und insbesondere Preußen genießt. Dieses Land, die Wiege des Protestantismus, kommt uns jetzt durch seine trefflich unterhaltenen Straßen, sein Zollsystem und seine ausgezeichnete Verwaltung auf dem Wege der physischen Civilisation voraus; es ist dies eine Art sinnlicher Religion, welche aus der Menschheit ihre Gottheit gemacht hat. Es ist nur zu wahr, daß die neuern Regierungen diesen rafsinirten Materialismus, die letzte Folge der kirchlichen Reformation des 1«. Jahrhunderts, begünstigen. Sie beschranken sich darauf, das irdische Glück auszubeuten, und scheinen den alleinigen Zweck zu haben, der Welt zu beweisen, daß die göttliche Idee nicht nothwendig zu dem Wohlbefinden einer Nation gehöre. Sie gleichen alten Leuten, die zufrieden sind, wenn sie nur leben "). Nichtsdestoweniger sind die Weisheit, Sparsamkeit und Ordnung in der Verwaltung dieses Landes ein Gegenstand gerechten Stolzes für die Preußen. Ihre Dorfschulen werden gewissenhaft geleitet und streng beaufsichtiget. In jedem ") Die drei Jahre, welche seitdem vergangen find, und der eingetretene Regierungswechsel haben dieser Bemerkung bereits vie von ihrer Richtigkeit genommen. 16 Dorfe verwendet man die Musik als Mittel der Civilisation (? der Uebers.), wie als Vergnügen für das Volk; jede Kirche besitzt eine Orgel und der Schulmeister in jedem Dorfe ist musikalisch. Sonntags giebt er den Bauern Unterricht im Gesänge und spiclt dabei die Orgel-, so kann das geringste Dorf die Meisterwerke der alten italienischen und deutschen Kicchenmusikschule aufführen hören. Jedes alte ernste Gesangstück ist nur vierstimmig geschrieben, und welcher Schulmeister fände nicht in seiner Nähe einen Baß, einen Tenor und zwei Kinder, um diese Stücke singen zu lassen? Jeder Schulmeister in Preußen ist ein Dorf-Cho-ron, ein Dorf-Wilhelm"). Dieses Dotfconcert nährt die Vorliebe für die Musik, schwächt den Reiz des Wirthshaus-besuches und macht die Phantasie des Volkes empfänglich für die Aufnahme deS Religionsunterrichtes °°). Dieser ist bei den Protestanten in eine Vorlesung über praktische Moral ausgeartet, aber die Religion wird gewiß bald ihre Rechte wieder einnehmen; das mit Unsterblichkeit begabte menschliche Wesen wird sich nicht innmr «mit der Herrschast über die Erde begnügen, und die Völker, welche die Kunstgenüsse am meisten zu schätzen wissen, werden auch die neuen Ve-wcise der Offenbarungen des Himmels am meisten erkennen. Man muß gerecht sein und zugestehen, daß die preußische Negierung ihre Unterthanen würdig vorbereitet, in der sich entwickelnden religiösen Umgestaltung, die sich in der Welt durch unverkennbare Zeichen ankündiget, eine Rolle zu spielen. Preußen wird sehr bald erkennen, wie wenig seine Philosophien genügen, um den Seelenfrieden zu geben. Vis zu °) Berühmte Gesanglehrer in Paris. Der Uebers. «°) Wir enthalten uns jeder berichtigenden Bemerkung über diese Stelle; die Leser werden sie sich wohl selbst machen. Der Ucbers. 17 dieser glorreichen Zukunft gehört jetzt die Stadt Berlin, dem mindest philosophischen Lande in der Welt, Rußland, an und doch wenden die deutschen Völker, verlockt durch eine geschickte Verwaltung, ihre Blicke nach Preußen. Sie glauben, von dieser Seite her die liberalen Institutionen zu erhalten, welche viele Leute noch immer mit den Eroberungen der Industrie verwechseln, als wenn Luxus und Freiheit, Reichthum und Unabhängigkeit gleichbedeutend waren! Der Hauptfehler des deutschen Volkes, das in Luther personificirt erscheint, ist die Hinneigung zu sinnlichen Genüssen (? d. Uebers.); in unserer Zeit wird diese Hinneigung durch Nichts bekämpft, vielmehr durch Alles begünstiget. So versäumt die deutsche Nation, indem sie ihre Freiheit und Unabhängigkeit der dürren Hoffnung auf ganz materielles Behagen opfert, sich durch eine Politik der Sinnlichkeit und eine Verstandes-Religion fesseln laßt, ihre Pflichten gegen sich selbst und gegen die Welt. Jedes Volk hat, wie jedes Individuum, seinen Beruf; wenn Deutschland den seinigen vergißt, so liegt die Schuld hauptsächlich an Preußen, welches der alte Herd dieser inkonsequenten Philosophie ist, die man aus Artigkeit eine Religion nennt. Frankreich wird jetzt in Preußen durch einen Gesandten reprasentirt, der vollkommen Allem genügt, was man in un-.serer Zeit von einem so gestellten Manne verlangt. NichtS Geheimnißvolles, kein assectirtes Schweigen, keine nutzlose Zurückhaltung verrathen die Meinung, die er von seiner Wichtigkeit hat. Man wird an den Posten, den er einnimmt, nur durch das Anerkenntniß des Verdienstes erinnert, das zur Erfüllung seiner Pflichten nöthig ist. Er errath mit sehr feinem Tacte die Bedürfnisse und Tendenzen der modernen Staaten und geht ruhig der Zukunft entgegen, ohne die Lehren der Vergangenheit zu verschmähen, kurz er gehört zu der I. 2 18 klelnen Zahl jener Männer von Sonst, die jetzt nothwendig sind. Er stammt aus derselben Provinz wie ich und hat mir zuerst über meine Familie interessante Nachrichten gegeben, die mir unbekannt waren; ja ich verdankte ihm eine große Herzensfreude, ich gestehe es offen, denn die Bewunderung für den Heldenmuth unserer Vater kann man doch nicht dem Stolze zuschreiben. Ich will Ihnen genau Alles aufschreiben, was ich bei dieser Gelegenheit empfand, aber erlauben Sie mir, daß ich Sie erst darauf vorbereite, wie ich selbst vorbereitet wurde. Ich wußte, daß in dem Archiv der französischen Gesandtschaft in Berlin Briefe und diplomatische Noten lagen, die für Jedermann, namentlich aber für mich, von großem Interesse sind, Briefe und Noten von meinem Vater. Im Jahre 1792, als er zwei und zwanzig Jahre alt war, trugen ihm die Minister Ludwigs XVI., der seit einem Jahre constitutioneller König war, eine wichtige und schwierige Sendung an den Herzog von Braunsckweia auf. Der Herzog sollte vermocht werden, den Oberbefehl über die coa-lisirte Armee gegen Frankreich abzulehnen. Man hoffte mit Recht, die Crisen unserer Revolution würden für das Land und für den König minder gefahrlich werden, wenn die Fremden sich nicht bemüheten, dem Verlauf derselben gewaltsam in den Weg zu treten. Mein Vater kam zu spat in Braunschweig an; der Her--zog hatte bereits sein Wort gegeben. Indessen hatte man in Frankreich ein so großes Vertrauen auf den Character und die Gewandtheit des jungen Custine, daß man ihn nicht wieder nach Paris zurückberief, sondern ihn an den preußischen Hof sandte, damit er von Neuem versuche, den König Wil- 19 helm II. von der Coalition zu trennen, deren Armem zu befehlen der Herzog von Braunschweig bereits zugesagt hatte. Kurz vor der Ankunft meines Vaters in Berlin war der Herr von Segur, der damalige französische Gesandte in Preußen, in dieser schwierigen Unterhandlung gescheitert. Mein Vater sollte an seine Seite treten. Der König Wilhelm hatte den Herrn von Segur schlecht behandelt, so schlecht, daß er eines Tages ganz aufgebracht nach Hause kam und sich durch einen Messerstich zu todten versuchte, weil er glaubte, sein Ruf als geschickter Mann sei auf immer gefährdet. Die Klinge drang indeß nicht tief ein, Herr von Segur verließ aber Preußen. An diesem Ereignisse scheiterte der Scharfsinn aller politischen Köpfe Europas; nichts konnte damals die außerordentliche Abneigung des Königs gegen einen durch Geburt und Geist gleich ausgezeichneten Mann erklären. Ich habe sehr frühzeitig eine Anekdote erfahren, welche einiges Licht über diese noch immer nicht aufgeklarte Thatsache verbreitet. Herr von Segur hatte, als er bei der Kaiserin Katharina in großer Gunst stand, den Neffen des großen Friedrichs, der spater als Friedrich Wilhelm U. König wurde, lacherlich gemacht, über die Liebschaften, ja über die Persönlichkeit desselben gespottet und, nach der damaligen Sitte, satyrische Portraits von diesem Fürsten und den Vertrauten desselben entworfen, die er in einem Morgenbriefchen an die Kaiserin sandte. Als nach dem Tode des großen Friedrich die politischen Verhältnisse sich plötzlich umgestalteten, suchte die Kaiserin die Allianz mit Preußen, und um den neuen König schneller zu bestimmen, sich mit ihr gegen Frankreich zu vereinigen, schickte sie ihm ganz einfach das Briefchen des Herrn von Segur, den Ludwig XVl. zum Gesandten in Berlin ernannt hatte. 2« 20 Ein anderer, ebenfalls merkwürdiger Umstand, war der Ankunft meines Vaters an dem Hose zu Berlin vorausgegangen; es wird Ihnen ein Beweis sein, welche Sympathien damals die französische Revolution in der civilisirtcn Welt fand. Der Vertrag von Pillnitz war entworfen worden, aber dic verbündeten Mächte legten einen großen Werth darauf, Frankreich so lange als möglich in Unkenntniß über die Bedingungen dieser Verbindung zu lassen. Das Concept des Vertrags befand sich bereits in den Handen des Königs von Preußen und noch wußte keiner der französischen Agenten in Europa etwas davon. Eines Abends ziemlich spat, als Herr von Segur zu Fuße nach Hause zurückkehrte, glaubte er zu bemerken, daß ihm ein Fremder in einem Mantel folge; er ging schneller, der Fremde ebenfalls; er schritt über die Straße hinüber, der Fremde that dasselbe; er blieb stehen und der Fremde stand einige Schritte hinter ihm ebenfalls still. Herr von Segur war nicht bewaffnet und da ihn diese Verfolgung wegen des persönlichen Uebelwollens, dessen Gegenstand er war, wegen der ernsten politischen Lage doppelt beunruhigte, so eilte er mit schnellen Schritten seinem Hause zu. Dennoch konnte cr es nicht verhindern, daß der Fremde gleichzeitig mit ihm an der Thüre ankam, in dem Augenblicke, als diese geöffnet wurde, eine ziemlich dicke Papierrolle fallen ließ und verschwand. Bevor Herr von Segur die Schrift aufhob, schickte er dem Unbekannten mehrere seiner Leute nach, aber Niemand fand ihn. Die Papierrolle enthielt den Entwurf des Pillnitzer Vertrags, der Wort für Wort in dem Cabinet des Königs von Preußen selbst copirt worden war und so erhielt Frankreich durch Personen, die im Stillen seiner neuen 21 Lehre anhingen, die erste Mittheilung dieser Actenstücke, die bald in der ganzen Welt berühmt wurden. Umstände, die stärker waren als das Talent und der Wille des Menschen, sollten die neuen Versuche meines Vaters bei dem Cabinet von Berlin nutzlos machen; trotz der geringen Erfolge seiner Unterhandlung erwarb er sich aber doch die Achtung und selbst die Freundschaft aller Personen, mit denen er in Berührung kam, den König selbst und die Minister nicht ausgenommen, die ihn persönlich für den geringen Erfolg seiner politischen Sendung entschädigten. Die Erinnerung an den volkommcnen Tact, mit wcl-chem sich mein Vater aus den Schwierigkeiten herauszog, die ihn in Berlin erwarteten, ist noch nicht vergessen. Er fand bei seiner Ankunft als Minister der französischen Regie: rung bei dem preußischen Hofe dort seine Schwiegermutter, die Frau von Sabran, welche sich an denselben Hof geflüchtet hatte, um jener Regierung zu entgehen. Der Meinungszwiespalt zeigte sich in jedem Hause, und die Zwietracht, welche die Völker bedrohtte, kündigte sich durch die Unruhe und den Widerspruch in den Familien an. Als mein Vater nach Frankreich zurückkehren wollte, um über seine Unterhandlungen Rechenschaft abzulegen, vereinigte sich seine Schwiegermutter mit allen seinen Freunden in Berlin, um ihn von diesem Plane abzubringen. Ein Herr von Kalkreuth, der Neffe des berühmten Waffengefährten des Prinzen Heinrich von Preußen, siel ihm fast zu Füßen, um ihn in Berlin zurückzuhalten und ihn aufzufordern, wenigstens in Sicherheit im Auslande die Zeit abzukarten, in welcher er seinem Vaterlande wieder würde dienen können. Er sagte ihm voraus, was ihm bei seiner Rückkehr nach Frankreich geschah. Die Scenen des 10. August hatten Europa erschreckt. 22 Ludwig XVI. war gefangen; die Unordnung griff um sich; jeden Tag wandelten neue Reden auf der Tribune die Lage der Dinge um; die Anarchie entband im Innern Frankreichs Wie im Auslande, die von der französischen Regierung verwendeten Staatsmanner ihrer Pflicht. Diese Regierung, sagtc man ihm, habe keine Gewalt über das Volk, keine Achtung gegen sich selbst und kein Ansehen im Auslande; mit einem Worte, man versäumte Nichts, um meinem Vater bcmerklich zu machen, daß seine Treue gegen die Manner, welche momentan die Angelegenheiten Frankreichs leiteten, ein mehr tadelns- als bcwundernswerther Heldenmuth sei. "^ Mein Vater ließ sich von dem, was er für seine Pflicht hielt, nicht abwenden und handelte so, daß er die alte Devise seiner Familie rechtfertigte: t'.nlz l^ ^u« llnv». »dvirßn« sjiie zxiusll». „Ich bin," antwortete er seinen Freunden, „von dieser Regierung abgesandt worden; es ist meine Pflicht, zurückzukehren, um denen Rechenschaft über meine Sendung abzulegen, die sie mir übertrugen, und ich werde meine Pflicht erfüllen." Mein Vater, ein unbekannter Regulus eines Landes, in welchem dcr Heldenmuth von gestern durch den Ruhm von heute und den Ehrgeiz von morgen verdunkelt wird, reisete ruhig nach Frankreich ab, wo ihn das Schaffet erwartete. Er fand die Angelegenheiten dort sogleich in einer sol-chen Verwirrung, daß er der Politik entsagte und sich alsbald zu der Rheinarmee unter seinem Vater, dem General Custine, begab. Hier machte er ehrenvoll zwei Feldzüge als Freiwilli: ger mit, und als der General, der unsern Armeen den Weg zur Eroberung gebahnt hatte, nach Paris zurückkehrte, um da zu sterben, folgte er ihm, um ihn zu vertheidigen. Beide fielen auf gleiche Weise; aber mein Vatcr überlebte seinen 23 Vater einige Zeit; er wurde erst mit den Girondisten ver» urtheilt, unter denen sich seine besten Freunde befanden. Er starb ergeben in alle Tugenden des Martyrerthums, selbst die verkannte Tugend. So empfing diese aufgeklarte Vaterlandsliebe des Vaters und des Sohnes und ihre fromme Hingebung an die Sache der Freiheit, gleichen Lohn. Gestern nun ließ mich unser Gesandter in Berlin die diplomatische Correspond««; meines Vaters zu der Zeit seiner interessanten Sendung an den Berliner Hof lesen. Nichts kann edler und einfacher sein als diese Briefe; sie sind Musier des diplomatischen Styls, Meisterwerke der Darlegung und des Näsonnemcnts, aber auch würdige Beispiele von Klugheit und Muth, Man sieht darin Europa und Frankreich, die gegen einander getrieben werden, aufeinander stoßen, einander verkennen; man sieht die Unordnung zunehmen trotz dcn Abhilfmitteln, die durch einige weise Männer vorgeschlagen wurden, welche nutzlos, als Opfer ihrer muthigen Mäßigung, sterben sollten. Die Geistesreife, die milde Kraft des Characters, die solide Bildung, der richtige Blick, die Ideenklarheit und die Seelenstärke, die sie voraussetzen lassen, überraschen, wenn man an das Alter dessen denkt, der sie schrieb, und sich erinnert, daß damals die Kindheit noch nicht emancipirt war, das Talent vielmehr noch dem reifen Alter, der Erfahrung angehörte. Herr von Noailles, damals französischer Gesandter in Wien, der dem unglücklichen Ludwig XVI. sein Entlaffungs-gesuch einsandte, schrieb an meinen Vater, um «hn von diesem Schritte zu benachrichtigen. Seine Briefe, die wie die andern in dem französischen Archiv in Berlin aufbewahrt werden, enthalten die schmeichelhaftesten Lobsprüche für den neuen 24 Diplomaten, dem er eine glänzende Laufbahn vorhersagte. Er ahnte nicht, wie kurz sie sein sollte. Mcin Vater war nicht eitel, aber seine Bescheidenheit mußte ihn eine große Ermuthigung in der Zustimmung eines erfahrenen Mannes sinden lassen, der um so unparteiischer war, als er ebcn cin ganz anderes Verhalten beginnen wollte als das, welches der junge französische Minister in Berlin wählte. Dcr Tod, den mein Vater aus Pflichtgefühl in Paris suchte, war gewiß ein cdelrr. Ein dem Publicum unbekannt gebliebener Umstand hat ihn meiner Meinung nach erhaben gemacht. Derselbe verdient wohl ausführlich erzählt zu wer-den; da indessen meine Mutter eine wichtige Nolle dabei spielt, so will ich eine andere Erzählung vorausschicken, aus welcher Sie diese Frau kennen lernen werden. Meine Reisen sind meine Memoiren und deshalb mache ich mir auch kein Bedenken daraus, diese ruffische Reise durch eine Geschichte zu beginnen, welche mich persönlich mehr intercssirt als alle Notizen, die ich in der Ferne sammeln will. Der General Austine war nach Paris berufen worden, wo cr unter den Anklagen seiner Mörder erlag. Er hatte den Tod des Königs bei der Armee erfahren und die Lecture der Zeitungen versetzte ihn in einen großen Unwillen, dessen Aeußerung er in Gegenwart der Eonvents-commiffare nicht mäßigte. Diese hatten ihn sagen hören: „ich diente meinem Vaterlande, um dasselbe vor dem Einfalle der Ausländer zu vertheidigen; wer aber kann sich für die Menschen schlagen, die jetzt uns regieren i" Diese Worte, welche Robespierre durch Merlin oe Thionville und den andern Commissar hinttrbracht wurden, entschieden den Tod des Generals. 25 Meine Mutter, die mich gestillt hatte, lebte zurückgezogen in einem Dorfe der Normandie, wo sie sich mit mir verbarg, dcr ich noch ein ganz kleines Kind war. Sobald sie die Rückkehr des Generals Custine nach Paris erfuhr, hielt es die edle junge Frau für ihre Pflicht, ihr Asyl, ihr Kind, Alles zu verlassen, um ihrem Schwiegervater zu Hilfe zu eilen, mit welchem ihre Familie seit meftrern Jahren wegen der politischen Meinung gespannt war, die er gleich im Beginn der Revolution kundgegeben hatte. Es wurde ihr schwer, sich von mir zu trennen, denn sie war wahrhaft Mutter; aber das Unglück hatte stets das erste, nächste Recht auf . ihr großes Herz. >^ Sie vertraute mich einer Wärterin an, die bei uns kn^ Lothringen geboren und deren erbliche Treue geprüft war. Sie sollte mich nach Paris bringen. Hätte der General Custine gerettet werden können, so würbe cs durch die Aufopferung und durch den Muth seiner Schwiegertochter geschehen sein. Ihr erstes Zusammentreffen war rührend, namentlich durch die Ueberraschung des Gefangenen. Kaum hatte der alte Soldat meine Mutter gesehen, so hielt er sich für gerettet. Ihre Jugend, ihre Schönheit, ihre Schüchternheit, die sie aber nicht hinderte, im Nothfalle einen Löwenmuth zu bethätigen, flößten auch wirtlich dem unparteiischen Publikum, den Journalisten, dem Volke und selbst den Nichtern beim Rcvolutionstribunale ein so großes Interesse cin, daß die Manner, welche das Verderben des Generals beschlossen hatten, den beredtesten seiner Vertheidiger, seine Schwiegertochter, erschrecken wollten. Die damalige Regierung hatte dcn Grad der Unverschämtheit noch nicht erlangt, den sie spater erreichte. Man wagte meine Mutter erst nach dem Tode ihres Schwieger- 26 vaters und ihres Gatten zu verhaften; aber die Männer, die sich scheuten, sie in den Kerker abführen zu lassen, scheuten sich nicht, Mörder zu dingen, die sie beseitigen sollten. Septcmbriseurs, wie man damals die besoldeten Mörder nannte, standen mehrere Tage auf den Stufen des Gerichtspalastes, und man zeigte meiner Mutter die Gefahr, der sie sich jedesmal aussetze, wenn sie sich in das Gericht begebe. Nichts hielt sie ab; man sah sie alle Tage bei dem Verhöre zu den Füßen ihres Schwiegervaters sitzen, und ihre muthige Gegenwart rührte selbst die Henker. Zwischen jedem Verhöre verwendete sie die Abende und Morgcn, die Mitglieder des Neuolutionstribunals mit Bitten anzugehen. Was sie bei diesen Besuchen ertragen mußte, ferner, wie einige der einflußreichsten Männer jener Zeit sie empfingen, kann hier nicht ausführlich erzahlt werden, weil die Einzelnheiten mir selbst unbekannt sind. Meine Mutter sprach nicht gern von diesem so glorreichen, aber auch so schmerzlichen Theile ihres Lebens. Sie ließ sich bei diesen Wanderungen durch einen Freund meines Vaters in Volkskleidung, der damaligen Hoftracht, begleiten. Dieser Freund mit der Carmagnole, ohne Halstuch, mit kurz abgeschnittenem ungepudertem Haar, wartete auf sie gewöhnlich auf der Treppe oder in dem Vorzimmer, wenn ein Vorzimmer da war. Bei einem der letzten Verhöre vor dem Tribunal zwang meine Mutter mit einem Blicke die Frauen auf der Galerie zu Thränen, und man weiß es, daß diese Megären nicht eben weiche Herzen hatten. Man nannte sie Guillotine-Furien, und Robespicrres Strickerinnen. Die Zeichen der Theilnahme, welche diese Wüthigen der Schwiegertochter Custine's gaben, brachten Fouquier Tionville dermaßen auf, daß wahrend der Sitzung die Männer auf den Stufen draußen 27 durch den öffentlichen Ankläger, das Leben meiner Mutter bedrohende Befehle erhielten. Der Angeklagte war in sein Gefängniß zurückgebracht worden, und seine Schwiegertochter wollte die Stufen vor dem Palaste hinabgehen, um allein zu Fuße zu dem Fiacre zu gelangen, der sie in einer Seitenstraße erwartete. Nie-manb wagte sie zu begleiten, wenigstens auffallig, um die Gefahr nicht zu steigern. Schüchtern und fcheu wie ein Neh, hatte sie sich ihr ganzes Leben hindurch auffallend vor der Menge gefürchtet. Sie kennen die Vortreppe an dem Iu-stizpalaste; denken Sie sich diefe lange Reihe ziemlich steiler Stufen dicht gebrängt voll von gemeinem, zornigen, blutdürstigen Volke, das schon zu viel Erfahrung hatte, schon zu geübt war, um vor einem Morde mehr zurückzuweichen. Meine Mutter blieb zitternd oben auf den Stufen stehen und blickte nach der Stelle hin, wo die Prinzessin von Lamballe einige Monate vorher ermordet worden war. Ein Freund meines Vaters hatte in dem Gerichtssaal ein Billet zu ihr gebracht, in dem er sie aufforderte, doppelt vorsichtig zu sein; aber diese Warnung erhöhete die Gefahr, statt sie zu entfernen. Meine Mutter hatte in ihrer gesteigerten Angst weniger Geistesgegenwart; sie hielt sich für verloren, und dieser Gedanke konnte sie in's Verderben stürzen. „Wenn ich wanke, wenn ich falle, wie die Prinzessin von Lamballe, so ist es um mich geschehen," dachte sie, und die wüthende Menge wurde immer dichter um sie her. „Es ist die lZustine, die Schwiegertochter des Verrathcrs!" schrie man von allen Seiten. Jedes Wort war mit Flüchen und Verwünschungen gewürzt. Wie sollte sie hinunter, wie durch diese Teufelsbande hindurch kommen i Einige stellten sich mit entblößten Säbeln vor sie hin; Andere, ohne Jacke, mit aufgestreiften Hemdsärmeln, schoben bereits ihre Frauen bei Seite, — das w.n 28 das gewöhnliche Signal zur Metzelei; die Gefahr wu s. Meine Mutter sagte sich, daß man sie bei dem geringsten Zeichen von Schwäche niederwerfen und daß ihr Fall das Signal zu ihrem Tode sein würde. Sie hat mir erzahlt, daß sie sich die Hände und die Zunge blutig gebissen, um wegen des Schmerzes nicht zu erbleichen. Endlich, als sie sich umsah, erblickte sie eines der häßlichsten Fischweiber, das durch die Menge durchdrängte. Die Frau hatte ein ganz kleines Kind auf den Armen. Angeregt durch den Gott der Mütter, trat die Tochter des Verrathers zu dieser Mutter (eine Mutter ist mehr als ein Weib) und sagte zu ihr: „welch' hübsches Kind Sie da haben!" — „Nehmen Sie es," antwortete die Mutter, eine ungebildete Frau, die mit einem Worte und einem Blicke Alles errieth, „unten an den Stufen geben Sie mir es wieder." Die Mutter-Electricitat hatte auf die beiden Herzen gewirkt, und sie machte sich auch der Menge fühlbar. Meine Mutter nahm das Kind, küßte es und bediente sich desselben als Schild gegen den erstaunten Pöbel. Der Naturmensch forderte stin Necht von dem durch sociale Krankheit verwilderten Menschen zurück; die sogenannten civilisirten Barbaren wurden durch zwei Mütter entwaffnet. Sobald die meinige befreit war, eilte sie in den Hos des Iustizpalastes, über denselben und nach dem Platze zu, ohne verletzt, ja beschimpft zu werden. Sie kam an das Gitter, gab das Kind der zurück, wclche ihr dasselbe geliehen hatte, und beide entfernten sich sofort, ohne kin Wort mit einander zu sprechen; der Ort eignete sich weder zu einer Danksagung, noch zu einer Erklärung; sie vertrauten einander ihr Geheimniß nicht an und sahen einander auch nie wieder. Die beiden Mutterseelen sollten einander anderswo wiederfinden. 29 Aber die so wunderbar gerettete junge Frau konnte ihren Schwiegervater nicht retten. Er starb. Um sein Leben zu krönen, hatte der alte Soldat den Muth, als Christ zu sterben; ein Vlies von ihm an seinen Sohn zeugt von diesem Demuthsopfer, dem schwierigsten in einer Zeit von philcso-phischen Verbrechen und Tugenden. Er schrieb mit der Aufrichtigkeit eines Heiligen am Tage vor seinem Tode an met: nen Vater: „ich weiß nicht, wie ich mich im letzten Augenblicke benehmen wcrde; man muß denselben erreicht haben, ehe man für sich bürgcn kann." Und diese erhabene Bescheidenheit haben die verblende? ten Schöngeister jener Zeit Schwachheit genannt! Was hinderte ihn, sich im Voraus zu rühmen, auf die Gefahr hin, seinem Vorsatze untreu zu werden, wenn die Natur seinen Stolz verrieth? Es hinderte ihn nichts als die Liebe zur Wahrheit, die bis zum Vergessen der Selbstliebe ging und freilich von den kleinen Seelen nicht begriffen wird. Der General Custine küßte auf dem Wege zu dem Schassote das Crucisir, das er erst ablegte, als er den schrecklichen Karren bestieg. Dieser fromme Muth adelte seinen Tod eben so, wie der militairische Muth sein Leben geadelt hatte, aber er war ein Aergerniß für die Pariser Brutusse. In seinem Briefe bat er auch meinen Vater, sein An» denken von dem Flecken zu reinigen. Erhabene naive Ehrlichkeit eines Soldaten, welcher glaubt, das Schassot Nobes-pierres könne einen guten Namen beflecken! Kann es etwas Rührenderes geben, als dieses Ansehen, welches das Opfer dem Henker beimißt? Am Tage vor seinem Tode sah mein Großvater seine Schwiegertochter zum letzten Male. Meine Mutter wunderte sich, alö sie zu ihm kam, ihn nicht mehr in seinem Kerker, sondern in einem hübsch eingerichteten Zimmer zu finden. 30 ,,Man hat mich diese Nacht ausziehen lassen," sagte cr, „um der Königin Platz zu machen, da mein erster Aufmt< Haltsort der schlechteste in dem ganzen Gefängnisse ist." Wenige Jahre vorher hatte er in einem Winter bei dem Spiel der Königin in Versailles 3WM0 Francs verloren. Damals würde Marie Antoinette, die Glanzende, Beneidete, den für einen Traumer gehalten haben, der sie auf die Conciergerie hingewiesen und ihr gesagt hätte, das würde ihr lehtcs Asyl sein. Mein Großvater, der sie, wie der ganze Hof, hochverehrt hatte, konnte nicht ohne Rührung an das Schicksal dieser Tochter der Maria Theresia denken; er vergaß sich selbst, als er den Glückwechsel dieser Frau sah, die gegen die Großen an ihrem Hofe so stolz, gegen die Niedern so freundlich gewesen war, und er konnte sich über ihr Zusammentreffen am Fuße dcsSchaffots nicht genug verwundern. Wahrend des Prozesses des Generals Custine hatte mein Vater eine gemäßigte, aber freimüthige Vertheidigung des politischen und militairischen Verhaltens seines Vaters ge-schrieben und drucken lassm. Diese Vertheidigung, dle man an den Mauern von Paris anschlagen ließ, war nutzlos, und zog ihm nur den Haß Robespicrres und der Bergpartei zu, die schon wegen seiner Verbindungen mit allen edlen und verständigen Mannern jener Zeit gegen ihn aufgebracht war. Von da an war sein Verderben gewiß, und kurze Zeit nach dem Tode seines Vaters wurde er gesanglich eingezogen. Um diese Zeit machte die Schreckensherrschaft schnelle Fortschritte in Frankreich; eine Verhaftung war so gut als cin Todesurtheil; man wurde nur der Form wegen gerichtet. Meine Mutter, die noch s>i war, obgleich ihr Benehmen wahrend des Prozesses ihres Schwiegervaters die allgemeine Aufmerksamkeit auf sie gezogen hatte, erhielt die Er-aubniß, ihren Gatten alle Tage in La Force zu besuchen. 31 Als sie erfuhr, daß der baldige Tod meines Vaters beschlossen sei, bot sie Alles auf, um ihm die Mittel zur Flucht zu verschaffen. Da sie schön, ja mehr als schön, reizend war, so gewann sie die Theilnahme der Tochter des Schließers für den jungen Gefangenen; aber erst durch vicl Geld und Versprechungen vermochte sie dieselbe zu bestimmen, einen Plan der Flucht ausführen zu helfen, den sie nach aufmerksamer Prüfung der Oertlichkeiten entworfen hatte. Mein Vater war nicht sehr groß, zierlich gewachsen, noch so jung, mit einem so hübschen Gesichte, daß er wohl Frauen-kleider anlegen konnte, ohne die Blicke auf sich zu ziehen. So oft meine Mutter auS dem Gefängnisse fortging, nahm sie, nur mit ihrem Plane beschäftiget, die Tochter des Schließers bis auf die Straße mit. Beide gingen an den Schildwachen, den Hauptwachen und den diensthabenden Munizipal-garbisten vorbei. Diese Leute, welche daran gewöhnt waren, die Tochter des Schließers alle Fremden, welche das Gesang« niß besuchten, so begleiten zu sehen, überließen ihr die Sorge, die Treppenthüre nach dem Fortgehen der Verwandten und Freunde jedes Gefangenen zu schließen. Meine Mutter trauerte seit dem Tod ilnes Schwiegervaters tief und trug immer einen schwarzen Hut mit Schleier, obgleich dieser Anzug auf den Straßen gefährlich war, da man in jener Zeit den Schmerz nicht ungestraft zur Schau tragen durfte. Man kam über-ein, daß an dem bestimmten Tage mein Vater in dem Gefängniß den Anzug seiner Frau anlege, meine Mutter aber sich wie die Tochter des Schließers kleide und wahrend diese auf einer andern Treppe auf die Straße hinabgehe, dcr Gefangene und die falsche Louise durch die gewöhnliche Thüre hinausgehen sollten, wie es die beiden Frauenzimmer schon oft gethan hatten. Man wollte kurz vor dem Anzünden der Lampen fortgchm und die Dunkelheit benutzen. Es war 32 Anfang Januars. Die wirkliche Lou ise, die Tochter des Schließers, war hübsch und fast so blond und frisch wie meine Mutter, deren Kummer bei ihren zwei und zwanzig Jahren weder die Schönheit noch die Gesundheit zu ändern vermocht hatte. Das junge Madchen sollte aus nur ihr bekannten Umwegen ihrerseits gleichzeitig mit dem Gefangenen auf der Straße ankommen und von diesem, bevor er in den Fiacre steige, 30,000 Francs in Gold erhalten, die ein Freund meiner Mutter dahin bringen wollte. Man scyte ihr überdies eine lebenslängliche Rente von 2W0Fr. aus und sie sollte gleichzeitig den darauf bezüglichen unterzeichneten Contract erhalten. Alles war geuau berechnet und combinirt und man bestimmte nun einen Tag zur Ausführung. Louise selbst wählte diesen Tag nach der Stimmung und dem Caracter der Munizipalgardisten, die sie alle kannte und von denen ihr einige minder furchtbar vorkamen als andere. Es war der zweite Tag vor dem, an welchem mein Vater in die Conciergerie und von da vor das Gericht, d. h. in den Tob geführt werben sollte. Am Tage vorher glaubte man in dem Zimmer meines Vaters eine Probe anstellen zu müssen und die Anzüge der drei Personen, welche am andern Tage eine Rolle spielen sollten, wurden sorgfaltig geprüft und anversucht. Meine Mutter ging voll Hoffnung nach Hause. Sie sollte in das Gefängniß erst am nächsten Tage gegen Abend, nur eine Stunde vor der verabredeten Flucht, mit meinem Vater zurückkehren. Die politischen Schändlichkeiten vervielfachten sich; am Tage vor dem zur Flucht angesetzten, oecretirte der Convent Todesstrafe gegen den, welcher die Flucht eines politischen Gefangenen begünstigen würde. Das Gesetz bestimmte, daß der Mitschuldige und Hehler mit gleicher Strenge verfolgt werden 33 solle, kurz es verurtheille zu derselben Strafe wie die Schul: digen auch alle die, welche sie n t angezeigt haben würden. Das Journal, in welchem dieses monströse Gesetz veröffentlicht wurde, gehörte nicht zu denen, welche man den Gefangenen verheimlichte. Der Kerkermeister von La Force, der Vater Louisens, legte es absichtlich meinem Vater uor und zwar am Morgen des zur Flucht bestimmten Tages. Nachmittags, etwas vor der angesetzten Stunde, erschien meine Mutter in dem Gefängnisse. An der Treppe traf sie Louisen in Thränen. „Was ist Dir, mein Kind?" fragte sie meine Mutter. „Ach, Madame," antwortete Louise, welche in diesem Augenblicke das nothwendige Du vergaß, „ach, Madame, kommen Sie, reden Sie ihm zu; Sie allein können ihm jetzt das Leben retten. Seit diesem Morgen beschwöre ich ihn vergebens; er will nichts mehr von unserm Plane hören." Meine Mutter fürchtete belauscht zu werden, ging, ohne zu antworten, die Treppe hinauf und Louise folgte ihr. Oben auf der Treppe hielt das gute Madchen meine Mutter noch einmal an und sagte leise zu ihr: „er hat das Journal gelesen." Das Uebrige errieth meine Mutter. Sie kannte das unbeugsame Zartgefühl ihres Gatten und blieb vor der Thüre stehen, ehe sie dieselbe öffnete; ihre Knie brachen unter ihr zusammen, sie wankte, als sehe sie ihn bereits das Blutgerüst besteigen. „Komm mit mir, Louise," sagte sie, „Du wirst mehr über ihn vermögen als ich, da er sein Leben opfern will, um das Deinige nicht zu gefährden." Louise trat zu meinem Vater hinein, die Thüre wurde geschlossen und es begann nun mit leiser Stimme eine Scene, die Sie sich besser vorstellen werden, als ich sie zu schildern vermag. Uebri-gens vermochte meine Mutter nur einmal, sie mir zu erzählen, vor langer Zeit und nicht ausführlich. I. 3 34 „Du willst Dich nicht retten?" sagte meine Mutter im Eintreten z „Dein Sohn soll also verwaiset bleiben, denn auch ich werde sterben." „Ich vermag es nicht, das Leben dieses Mädchen zu opfern, um das meinige zu erhalten. „Du wirst cs nicht opfern; sie verbirgt sich und sticht mit uns." „In Frankreich kann man sich nicht mehr verbergen, wie aus dem unglücklichen Lande nicht hinauskommen. Du verlangst von Louiftn mehr als Pflicht." „Herr, retten Sie sich," sagte Louise, „das andere ist meine Sache." „Kennst Du das gestern erlassene Gesetz nicht?" Er fing es an vorzulesen; Louise unterbrach ihn mit den Worten: „Ich weiß das Alles, und noch einmal, Herr, retten Sie sich, ich beschwöre Sie, ich bitte Sie auf meinen Knieen darum (sie warf sich wirklich vor meinen Vater auf die Kniee nieder); retten Sie sich; ich habe mein Glück, mein Leben, meine Ehre an unsern Plan gesetzt. Sie haben mir versprochen, mein Glück zu machen und werden vielleicht nicht im Stande sein, Ihr Wort zu halten. Ich rette Sie umsonst. Die 3N,000 Fr. in Gold, die uns unten auf der Straße erwarten, werden uns dreien nützen. Wir verbergen uns, wir wandern aus und ich arbeite für Sie; ich verlange nichts, aber lassen Sie mich handeln." „Man wird uns ergreifen und Du mußt sterben." „Ich weiß cs, ich verharre aber dabei, was können Sie dagegen sagen i Ich verlasse um Ihretwillen mein Vaterland, meinen Vater, meinen Bräutigam; er sollte mich heirathen, aber ich liebe ihn nicht. Gelingt unser Unternehmen, so mache ich ihn überdies glücklich mit dem, was Sie mir versprochen 35 haben. Gelingt es nicht, so sterbe ich mit Ihnen, und wcrs können Sie dagegm haben, wenn es mein Wille ist?" „Du weißt nicht, was Du mir anträgst, Louise; Du wirst es bereuen." „Vielleicht, aber Sie werden doch gerettet." „Nie." „Wie!" siel meine Mutter ein; „Du denkst an sie, an die edle Louise mehr als an Deine Frau. mehr als an Dein Kind? Weißt Du nicht, daß man mir morgen verbieten wird hierher zu kommen, daß Du übermorgen in die Conciergnie (die Conciergerie war der Tod) gebracht wirst? Wie soll ich dann leben? Du hast hier mehr zu retten als nur das Leben Louisens." Der stoische Entschluß des jungen Gefangenen war durch nichtS zu erschüttern; die beiden Frauen knieten vor ihm; die bittende Gattin, die erzürnte Mutter, die allfopfernde Fremde, nichts vermochte etwas über ihn. Der Märtyrer verschloß sein Herz dem Egoismus wie der Empfindlichkeit; das Gefühl der Ehre und der Pflicht sprach lauter in seiner Seele als die Liebe zum Leben, als die Liebe zu einer durch alle Körperrcize, durch Muth, Zärtlichkeit, Kraft und Schwäche schönen Frau, lauter als die Vaterliebe. Alle diese Beweggründe waren fast auch Pflichten, nichtsdestoweniger blieb mein Vater unerbittlich; so große Jugend, ein so zarter Körper, so feine Züge und ein so zartes Herz, — es mußte ein schönes Schauspiel für den Himmel sein. Die Zeit, die meiner Mutter gestattet war^ verging in vergeblichen Bitten; man mußte sie aus dem Zimmer heraustragen; sie wollte das Gefängniß nicht verlassen. Louise, die fast ebenso verzweifelt war, begleitete sie aus die Straße, wo sie mit tiner Angst, die Sie sich denken können, von Herr 3* 36 Guy deChaumontQuitry, unserm Freunde, mit den 3WW Fr. in Golde erwartet wurden. „Alles verloren!" sagte meine Mutter zu ihm; „er will nicht mehr fliehen." „Das wußte ich," antwortete Herr von Quitry. Diese des Freundes eines solchm Mannes würdige Antwort ist mir immer eben so schön erschienen als das Benehmen meines Vaters. Und Alles dies ist unbekannt geblieben; diese übermenschliche Tugend blieb unbemerkt in einer Zeit, in welcher die Kinder Frankreichs Heloenmuth verschwendeten, wie sie fünfzig Jahre früher verschwenderisch Geist aufgewendet haben. Meine Mutter sah meinen Vater nur noch einmal, Abends um neun Uhr, zwei Tage nach jenem Auftritte; sie hatte durch Gold sich die Erlaubniß erwirkt, dem Verur-theilten ein letztes Lebewohl zu sagen. Dieser feierliche Abschied wurde durch einen Umstand gestört, der so seltsam ist, daß ich lange zögerte, Ihnen denselben zu erzählen. Er sieht aus wie uon dem tragikomischen Geiste Shakespeares erfunden, ist aber wahr. Die Nirk-lichkeit geht in allen Artm weiter als die Erfindung; stört sie dieselbe in Ihrer Rührung, so ist es nicht meine Schuld. Ist nicht Alles in der Natur Widerspruch? Ich habe erwähnt, daß mein Vater verurtheilt war und daß am nächsten Tage das Urtheil an ihm vollzogen werden sollte; er stand in seinem vier und zwanzigsten Jahre. Seine Frau, Delphine von Sabran, war eine der reizendsten Frauen jener Zeit. Die Aufopferung, welche sie einige Monate vorher für den Gmeral, ihren Schwiegervater, gezeigt hatte, sicherte ihr einm ruhmreichen Platz in den 'Annalen einer Revolution, in welcher der Heldcnmuth der Frauen oft das Ent- 37 setzen vergessen ließ, welches mit vollem Rechte der Fanatismus und die Rohheit dcr Männer erregten. Meine Mutter trat ruhig zu meinem Vater, küßte ihn zärtlich und saß drei Stunden lang neben ihm; kein Vorwurf kam über ihre Lippen. Das vielleicht zu cdele Gefühl, welches die Katastrophe herbeigeführt hatte, war verziehen; der Unglückliche bedürfte alle seine Kräfte, um sein Opfer würdig zu Ende zu führen. Es wurden wenige Worte gewechselt zwischen dem Verurtheilten und seiner Frau; nur einen Namen sprachen sie mehrmals aus und dieser Name brach ihnen das Herz. Mein Vater bat um Gnade... und meine Mutter erwähnte mich nicht mehr. In jenen heroischen Zeiten war der Tod ein Schauspiel, bei dem die Opfer eine Ehre darin suchten, vor den Henkern nicht zu zittern; meine arme Mutter achtete das Bedürfniß in dem Herzen meines so jungen, so schönen, so seelen- und geistvollen und sonst so glücklichen Vaters, seinen ganzen Muth für den andern Tag zu bewahren; diese letzte Prüfung eines cdeln Charakters war jetzt die erste Pflicht selbst in den Augen einer von Natur schüchternen Frau geworden. Keine Frau war wahrer als meine Mutter und deshalb zeigte auch Niemand unter wichtigen Umständen mehr Energie. Die Mitternachtsstunde nahete; meine Mutter wollte aufstehen und sich entfernen. Der Verurlhcilte hatte sie in einem Saale empfangen, der zu mehreren Gefangnißzimmern führte. Dieser gemein-schaftliche Saal war ziemlich groß, niedrig und dunkel; Beide saßen neben einander an einem Tische, auf welchem ein Licht brannte. Die eine Seite des Saales hatte Fenster und hinter diesen sah man die Wächter. Mit einem Male hörte man eine kleine bis dahin unbemerkt gebliebene Thüre öffnen; es trat ein Mann mit einer 38 Blendlaterne in der Hand heraus. Der seltsam gekleidete Mann war ein Gefangener, der einen andern besuchen wollte. Sein Anzug bestand in einem kurzen Schlafrocke ober vielmehr in einer Art langen Camisols, der mit Schwan besetzt und dessen Name schon lacherlich war; weiße kurze Beinkleider, Strümpfe und cine große baumwollene Zipfelmütze mit einer 'großen feuerfarbigen Bandschleife vervollständigten den Anzug. Er trat mit langsamen kleinen Schritten, leise wie die Höflinge Ludwigs XV. herein, die, ohne die Füße aufzuheben, über die Gallerte zu Versailles schlüpften. Als die Gestalt dicht an die beiden Gatten herangekommen war, sah sie dieselben einen Augenblick an, ohne ein Wort zu sagen; dann ging sie weiter. Sie aber bemerkten, daß der Alte sich geschminkt hatte. Diese Erscheinung, welche die jungen Leute schweigend betrachteten, überraschte sie tn ihrer höchsten Verzweiflung und ohne zu bedenken, daß die Schminke nicht aufgelegt war, um ein verblühtes Gesicht zu verjüngen, sondern vielleicht um einen muthigen Mann zu hindern, am andern Tage vor dem Schaffet zu erblassen, brachen sie in ein lautes Lachen aus; der Nervenreiz siegte einen Augenblick über den Seelenschmerz. Die lange fortgesetzte Anstrengung, einander ihre Gedanken zu verbergen, hatte die Fibern ihres Gehirns gereizt; sie wurden wehrlos von dem Gefühl des Lacherlichen, dem einzigen ohne Zweifel ergrissen, auf das sie nicht vorbereitet waren, und so überließen sie sich trotz ihrem Widerstreben oder vielmehr wegen ihres Bestrebens, ruhig zu bleiben, dem heftigen Lachen, das bald krampfhaft wurde. Die Wachter, welche in ihrer Erfahrung diese Erscheinung schon kannten, hatten mit meiner Mutter mehr Mitleiden, als vier Jahre vorher bei einer andern Gelegenheit der minder erfahrene Pöbel von Paris mit der Tochter Vcrthiers hatte. ____39____ Die Manner tratcn in den Saal und trugen melne Mutter in einer Nervcnkrisis fort, die sich durch immer neu sich wiederholendes Lachen äußerte, während mein Vater gleichen Lachkrämpfen allein überlassen blieb. Das war der Abschied der beiden Gatten und mit diesen Erzählungen wiegte man meine Kindheit. Meine Mutter hatt? Schweigen empfohlen, aber die Leute aus dem Volke sprechen nun einmal gern von den Unfällen, die sie überlebt haben. Die Domestiken sprachen von nichts als von dem Unglück meiner Eltern und ich werde auch nie den Eindruck der Furcht vergessen, dem mein erstes Auftreten unter den Menschen auf mich machte. Mein erstes Gefühl war die Furcht. Diese Furcht vor dem Leben ist eine Emsindung, welche mehr oder minder stark alle Menschen kennen sollten, denn alle erhalten in dieser Welt ihr Maaß des Schmerzes. Diese Empfindung war es vielleicht auch, welche mich die christliche Religion begreifen ließ, ehe man mich in derselben unterrichtete; ich fühlte bei der Geburt, daß ich an einen Ort der Verbannung gelangt sei. Nachdem mein Vater wieber zu sich gekommen war, erholte er sich allmälig von der Krisis, die er bestanden hatte. Gegen Morgen schrieb er einen wegen seiner Nuhe und seines Muthes bewundernswürdigen Brief an seine Frau. Er ist in den Denkwürdigkeiten jener Zeit veröffentlicht worden, wie jener meines Großvaters an denselben Sohn, der starb, weil er seinen Vater hatte vertheidigen und weder als Ausgewanderter an dem preußischen Hofe bleiben, noch mit Gefahrdung des Lebens eines jungen unbekannten Mädchens aus dem Gefängnisse entfliehen wollen. Herr Girard, sein ehemaliger Erzieher, hatte eine zärtliche Liebe für diesen Zögling bewahrt, auf den er stolz war. Er lebte während der Schreckenszeit zurückgezogen in Orleans 40 und erfuhr dm Tob meines Vaters aus der Zeitung; diese unerwartete Nachricht erschütterte ihn so sehr, daß ihn sofort der Schlag tödlich rührte. Wenn selbst die Feinde meines Vaters nur mit einer unwillkürlichen ?lchttmg von meinem Vater sprachen, wie sehr mußten ihn seine Freunde liebend Er besaß ein einfaches natürliches Wesen, welches das Interesse erklärte, das sein Verdienst erregte. Seine ungeheuchelte Bescheidenheit und seine sanfte Sprache erwarben ihm Verzeihung für seine geistige Ueberlegenheit zu einer Zeit, wo der Teufel des Neides rücksichtslos in der Welt herrschte. Ohne Zweifel hat er in der letzten Nacht mchr als einmal an die Prophezeiungen seiner Freunde in Berlin gedacht, aber ich glaube nicht, daß er bereute, so gehandelt zu haben, wie er gehandelt hatte. An einem Lande aber darf man nicht verzweifeln, so lange sich noch Manner in ihm finden, in deren Herzen die Pflicht lauter spricht, als alle Gefühle. Dritter Brief. Neilln, den 23. Juni 1H39. Da ich einmal angefangen habe, Ihnen das Unglück meiner Familie zu erzählen, so will ich es heute zu Ende bringen. Ich glaube, diese Episode aus unserer Revolution, erzählt durch den Sohn der beiden Personen, welche die Hauptrolle darin spielten, muß, auch abgesehen von Ihrer Freundschaft für mich, Interesse haben. Meine Mutter hatte Alles verloren, was sie an das Land fesselte, und es war ihr keine Pflicht mehr geblieben, als die, ihr Leben und das Leben ihres einzigen Kindes zu erhalten. Uebrigens hatte sie in Frankreich mehr zu leiden als die andern Geachteten. Unser von dem Liberalismus befleckter Name war den damaligen Aristokraten eben so verhaßt wie den Iacobinern. Die ausschließlichen und leidenschaftlichen Anhanger des alten Regime konnten meinen Eltern den Antheil nicht verzeihen, den fte an dem Beginne der Revolution genommen hatten, wie ihnen die Terroristen die Mäßigung ihres republikanischen Patriotismus nicht verziehen. In jener Zeit konnte in Frankreich ein vortrefflicher Mensch auf dem Schaffot sterben, ohne von Jemand beklagt und bedauert zu werden. 42 Die Partei der Girondisten, die Doctrinars jener Zeit, hätte meinen Vater vertheidigt; sie war aber vernichtet oder doch wenigstens seit dem Triumphe Robcspierres verschwunden. Meine Mutter stand also vereinzelter da als die meisten andern Opfer der Iacobiner. Sie hatte aus Anhänglichkeit die Ansichten ihres Gatten angenommen und sich entschieden, die Gesellschaft aufzugeben, in welcher sie bis dahin gelebt, aber keine andere gefunden. Was von der frühern Gesellschaft noch übrig war, von der Gesellschaft, welche man seitdem die Faubourg St. Germain genannt hat, war durch unser Unglück nlcht entwaffnet und es fehlte wenig, so wären die reinen Aristocraten aus ihren Verstecken hervorgekommen, um mit zu schreien, als man auf den Gassen und Platzen die Verurtheilung des Verräthers Custine ausrief. Die Partei der klugen Reformatoren, jene der Vaterlandsfreunde, der Männer, deren Liebe zu Frankreich von der Regierungsform ganz unabhängig ist, welche die Franzosen angenommen haben, jene Partei, die jetzt eine Nation ausmacht, bestand damals bei uns noch nicht. Mein Vater war als Märtyrer der Hoffnungen dieser noch ungcbornen Nation gestorben und meine Mutter erfuhr in ihrem Alter von zweiundzwanzig Jahren die nachtheiligen Folgen der Tugend ihres Gatten, einer Tugend, die zu erhaben war, als daß sie von Menschen hatte gewürdigt werden können, welche die Beweggründe nicht zu begreifen vermochten. Die energische Mäßigung meines Vaters wurde von seinen Zeitgenossen verkannt und sein geschmahetcr Ruhm verfolgte seine Gattin von dem Grabe aus; meine arme Mutter mit einem Namen, welcher die Unparteilichkeit reprasentirte inmitten einer Welt voll Leidenschaften, sah sich in ihrem Unglücke von Allen verlassen. Andere hatten doch wenigstens den Trost, mit einander klagen zu können; meine Mutter mußte allein weinen. 43 Einige Tage nach der letzten Katastrophe, die sie zur Wittwe gemacht hatte, fühlte sie, daß sie abreisen müßte; aber man konnte Frankreich ohne einen Paß nicht verlassen, und dieser war schwer zu erhalten. Wer sich von Paris entfernte, setzte sich dem Verbachte aus, und noch viel gefährlicher war es, über die Grenze ;u gehen. Nichtsdestoweniger verschaffte sich meine Mutter, die es an Geld nicht fehlen ließ, einen Paß unter falschem Namen; sie sollte Frankreich an der belgischen Grenze verlassen, unter dem Namen einer Spitzenhanblcrin, wahrend meine Wärterin, jene Lothringerin, die ich schon erwähnt habe, über das Elsaß gehen und in Deutschland mit meiner Mutter zusammentreffen sollte. Nanette Malnat, in Niederweiler bei meinem Großvater geboren, sprach besser Deutsch als Französisch; sie konnte für eine Bäuerin aus den Vogesen mit ihrem Kinde gelten. Der Ort des Zusammentreffens sollte Pyrmont in Westphalen sein; von da wollten wir uns nach Berlin begeben, wo meine Mutter mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zusammenzutreffen gedachte. Niemano als meine Wärterin hatte Kenntniß von dem Plane. Meine Mutter traute ihren Leuten nicht, und übrigens wünschte sie auch, baß sie keck und mit Wahrheit möchten sagen können, unsere Flucht sei ihnen unbekannt gewesen. Wahrend sie ihr eigenes Leben zu retten suchte, dachte sie auch an die Sicherheit ihrer Dienstleute. Um jeden Argwohn einer Mitschuld zu beseitigen, beschloß sie, Abends allein, zu Fuße, als Arbeiterin ihr Haus zu vlrlassen, wahrend meine Wärterin eine halbe Stunde früher fortgehen und mich, in ihrem Mantel versteckt, mit sich nehmen sollte. An dem Balcon des Salons sollte eine Strickleiter befestiget werden, damit man glaube, meine Mutter sei in der Nacht ohne Vorwiffm ihrer Leute durch 44 das Fenster auf die Straße hinuntergestiegen. Wir wohnten in der ersten Etage eines Hauses in der Straß« Bourbon. Seit einigen Tagen hatte man mehrere durchaus nothwendige Gegenstände fortgebracht, um das kleine Rcise-bündel meiner Mutter daraus zu machen. Diese Gegenstände befanden sich b?i einem Freunde, der sie zu einer bestimmten Stunde meiner Mutter vor dem Thore übergeben sollte. Alles war bereit. Nanette ging mit mir fort in das Bureau, von dem aus die Postwagen nach Straßburg abfuhren, und meine Mutter schickte sich an, ebenfalls fortzugehen, um mit der Post nach Flandern zu fahren. In dem letzten Augenblicke war sie allein in einem Zimmer am Ende ihrer Wohnung; die Thüren des Salons waren offen geblieben. Sie ordnete wichtige Papiere, welche sie sorgfaltig prüfte, da sie vor ihrer Flucht nur das verbrennen wollte, was in Pares gebliebene Verwandte oder Freunde von Ausgewanderten gefährden konnte. Diese Papiere waren meist Briefe von ihrer Mutter und ihrem Bruder, Quittungen über Geld, das Offizieren bei der Armee Condi's oder an andere Ausgewandertc geschickt worden, Auftrage, die im Geheim von der Aristocratic verdächtigen Personen in der Provinz gegeben waren, Untcrstützungs-gesuche von armen Verwandten und Freunden, die Frankreich verlassen hatten, — kurz es fanden sich in der Schachtel und den Schubkasten, die sie ausleerte, Dinge, die sie nebst fünfzig andern Personen binnen vierundzwanzia Stunden unter die Guillotine bringen konnten. Sie saß auf einem großen (5anap'> neben dem Kamine und sing an, die gefährlichsten Papiere zu verbrennen, wahrend sie diejenigen, welche sie ohne Nachtheil zurücklassen zu können glaubte, in ein Kastchm legte, um sie einst vielleicht wiederzufinden. 45 Mit einem Male horte sie die Thüre ihrer Wohnung öffnen, die, welche aus dem Speisezimmer in den Salon führte. Eine Ahnung, die sie in den Augenblicken der Gefahr nicht verließ, sagte ihr: „ich bin verrathen; man will mich verhaften." Ohne lange zu überlegen, und weil sie fühlte, daß es zu spät sei, die Masse gefährlicher Papiere umher zu verbrennen, nahm sie alle auf dem Tische, auf dem Canap<>, in der Schachtel liegmden zusammen und warf sie rasch, nebst dem Kastchen, unter das Canap<>, dessen zum Glücke ziemlich hohe Beine durch einen bis an den Boden reichenden Ueberzug verdeckt waren. Nachdem diese Arbeit mit der Schnelligkeit der Furcht beendigt war, stand sie auf und empfing vollkommen ruhig die Personen, welche sie eintreten sah. Es waren wirklich Mitglieder des Sicherheitsausschusses und Leute der Section, welche sie verhaften wollten. Diese eben so lacherlichen als grausamen Gestalten umringten sie augenblicklich; Säbel und Flinten blitzten um sie; sie aber dachte nur an ihre Papiere, die sie mit dem Fuße vollends unter das Canapv schob, vor welchem sie stand. „Du bist verhaftet," sagte der Seclionsprasident. Sie schwieg. „Du bist verhaftet, weil man Dich angeklagt hat, Du wolltest auswandern." „Es ist wahr," sagte meine Mutter, als sie ihr Taschenbuch und ihren falschen Paß, den man ihr sogleich aus der Tasche genommen hatte, in den Handen des Präsidenten sah; „es ist wahr, ich wollte fliehen." „Wir wissen es." In diesem Augenblicke bemerkte meine Mutter ihre Leute, welche den Mitgliedern der Section und des Ausschusses gefolgt waren." 46 Ein Vlick reichte hin, um zu errathen, durch wen sie verrathen worden war-, ihr Kammermädchen konnte das unruhige Gewissen nicht bergm. „Ich bedauere Dich," sagte meine Mutter, während sie zu dem Mädchen trat. Dieses brach in Thränen aus und antwortete leise und schluchzend: „verzeihen Sie mir; ich fürchtete mich." Wenn du besser spionirt hättest," entgegnete meine Mutter, „würdest Du eingesehen haben, daß Du keiner Ge< fahr ausgesetzt warst." „In welches Gefängniß willst Du gebracht sein?" sagte ein Mitglied des Ausschusses j „die Wahl steht Dir frei." „Es ist mir gleichgültig." „So komm." Aber ehe man fortging, durchsuchte man sie noch einmal, öffnete die Schranke, den Secretair, kehrte in dem Zimmer das Unterste zu oberst, und doch dachte Niemand daran, unter das Canap« zu sehen. Die Papiere blieben unberührt. Meine Mutter hütete sich wohl, dahin zu sehen, wo sie dieselben so schnell und schlecht versteckt hatte. Endlich ging sie fort und stieg in einen Fiacre mit drei Bewaffneten, welche sie in die Straße Vaugirard in das Carmeliterkloster brachten, welches in ein Gefängniß umgewandelt war, und an dessen nur zu berüchtigten Mauern das Blut der Opfer vom 2. Septbr. 1792 noch klebte. Der Freund, der vor dem Thore wartete, zweifelte, da die verabredete Stunde vergangen war, keinen Augenblick an der Verhaftung meiner Mutler, ließ für jeden Fall einen seiner Brüder an dem Orte und eilte ohne Zögern in das Post-büreau, um Nanttttn zu hindern, mit mir nach Straßburg zu reisen. Er kam noch zu rechter Zeit an; man brachte mich wieder in unser Haus; meine Mutter war nicht mehr da. Schon war ihre Wohnnng versiegelt. Nur die Küche hatte 47 man frei gelassen, und in dieser schlug meine arme Wärterin ihr Bett neben meiner Wiege auf. Binnen einer halben Stunde hatten alle Dienstleute sich entfernen müssen, dennoch war Zeit für sie übrig ge» blieben, die Wasche und das Silberzeug zu plündern. Das Haus war öde und ausgeräumt. Freunde, Verwandte, Diener, alle waren geflohen; ein Soldat stand an der Thüre auf der Straße; schon am andern Tage kam an die Stelle des ehemaligen Portiers ein Aufseher, der Schuhflicker an der Ecke, den man gleichzeitig zu meinem Vormunde machte. In diesem geplünderten Hause nun pflegte und wartete mich Nanette, als wenn ich ein großer Herr gen'esen wäre; sie sorgte acht Monate lang Mit Mutteltreue für mich. Sie besaß fast gar keinen Gegenstand von Werth; das wenige Geld, das sie zur Reise mitgenommen hatte, war aufgezehrt und sie erhielt mich von dem, was man ihr für ihre Kleidungsstücke zahlte, die sie nach einander verkaufte, obwohl sie sich sagte, daß Niemand ihr erstatten könne, was sie für mich aufwendete. Wenn meine Mutter sterben sollte, wollte sie mich mit in ihre Heimath nehmen, um mich da unter den Kindern ihrer Familie aufwachsen zu lassen. Ich war zwei Jahre alt, und wurde nun an einem bösartigen Fieber todtkrank. Nanette machte es möglich, daß mich drei der ersten Aerzte von Paris behandelten, Portal, Gastaldi und ein dritter, dessen Namen ich vergessen habe. Ohne Zweifel wurden diese Männer durch den Ruf meines Vaters und Großvaters bestimmt, abcr sie würden auch zu einem unbekannten Kinde gekommen sein, denn der Eifer und die Uneigrnnützigkeit der französischen Aerzte sind erprobt. Die Aufopferung meiner Wärterin verdient weit mehr Bewunderung. Die Aerzte 48 sind ihrem Stan d zufolge menschlich und theilnehmenb, das Gewissen unterstützt bei ihnen die Tugend; die Wärterin aber war edel trotz ihrer Armuth, trotz ihrer mangelhaften Bildung; das ist erhaben. Arme Nanette! Sie besaß große Energie, aber die Kraft ihres Verstandes entsprach der Starke ihres Gefühls n Sie war eine schöne Seele, ein edles Herz, aber kein großer Charakter.. Aber welche Treue! — Das Unglück meiner Familie ließ ihre Uneigcnnützigkcit und ihren Muth nur in zu starkem Glänze erscheinen. Sie dehnte die Kühnheit bis zur Verblendung aus. Wahrend des Prozesses meines Großvaters gingen die öffentlichen Ausrufer durch die Hallen und verkauften schandliche Schmähungen gegen dcn Verrath er Custine. Hörte meine Wärterin sie vorbeikommen, so hielt sie dieselben mitten in der Menge an, stritt sich mit ihnen, vertheidigte ihrcn Herrn gegen den Pöbel und appellirte noch auf dem Reuolutions-platze gegen das Urtel des Revolutionstribunals. „Was sagt man gegen deu General Custine? Was wagt man gegen ihn zu schreiben?" rief sie aus, ohne Rücksicht auf die Gefahr, der sie sich aussetzte. ,,Alles das ist falsch; ich bin in seinem Hause geboren, ich kenne ihn besser, denn er hat mich erziehen lassen; er ist mein Herr und besser als Ihr Alle, hört Ihri Wenn er es gewollt hatte, würde er Eure lumpige Revolution mit seiner Armee aufgehalten haben und Ihr würdet Ihm nun die Füße lecken, statt ihn zu beschimpfen," Durch solche Reden und andere Blitze des gesunden Verstandes, die eben so unvorsichtig waren, setzte sie sich oft der Gefahr aus, durch die Harpien der Revolution mit' ten auf der Straße zerrissen zu werden. Eines Tages, kur; nach dem Tode Marats, ging sie mit mir über den Carrousel-Platz. In jener Ideenverwir- ___49^ rung, welche jene Periode des Schwindels charakterisirt, hatte man bort dem Märtyrer des Atheismus und der Unmenschlichkeit einen Nevolutionsaltar errichtet. Im Hintergrunde dieser Art Kapelle ruhte, glaube ich, das Herz oder der ganze Körper Marals. Man sah an diesem neu geweiheten Orte Frauen medccknien und zu einem — Gott weiß welchem — Gott beten, dann wieder aufstehen, sich andachtig bekreuzigen und sich vor dcm neuen Heiligen verbeugen. Diese Handlungen voll Widerspruch zeugen deutlich von der Verwirrung der Gemüther und Dinge in jener Zeit Nanette, welche dieser Anblick empörte, vergaß, daß sie mich auf dem Arme hatte, wendete sich an eine der neumodischen Frommen und überschüttete sie mit Schimpftcden. Die fromme Furie schrie Zcter; von Worten kam es zu Thätlichkeiten; die Menge umringte die beiden Gegnerinnen; Nanette war die jüngere und kraftigere, wurde aber durch die Besorgniß gehemmt, mich zu verletzen, zog den Kürzern, fiel mit mir und verlor ihre Haube. Mit aufgelöstem Haar stand sie wieder auf, hielt mich aber immer fest an ihrem Busen. Von allen Seiten wurde sie durch das Geschrei bedroht: „An die Laterne mit der Aristokratin!" Schon zog man sie an den Haaren nach der nächsten Laterne; eine Frau hatte mich den Armen der Unglücklichen entrissen, als ein Mann, der wüthender zu sein schien als alle übrigen, sich cincn Weg durch die Menge bahnte, die erbitterten Weiber bei Seite schob, sich stellte, als wenn er etwas aushebe, und der Nanette in's Ohr sagte: „Du bist wahnsinnig, Du bist wahnsinnig, verstehst Du mich? oder Du bist verloren; fliehe und fürchte nichts für Dein Kind, ich werde Dir ls von weitem nachtragen; aber spiele die Wahnsinnige, sonst mußt Du sterben." Nanette sing sogleich an zu singen und allerlei Grimassen zu machen. „Sie ist wahnsinnig," sagte I. 4 W da der Mann, der sie beschützte, und sogleich riefen andere Stimmen: „sie ist wahnsinnig! sie ist wadnsinnig! man sieht cs ja. Laßt sie laufen." Sie benutzte oaö ihr gebotene Rettungsmittel, entfloh behende und tanzend über eine Brücke und blieb am Eingänge der Straße Du Vac stehen, wo sie mich von ihrem Befreier zurück erhielt. Aus Liebe zu mir wurde Nanette von nun an vorsichtiger, aber meine Mutter fürchtete stets ihre Kühnheit und ihren Freimuth, den sie nicht immer zügeln konnte. Meine Mutter fand in ihrem Gefängnisse doch einen Trost; sie war nun wenigstens nicht mehr allein. Sie schloß innige Freundschaft mit einigen ausgezeichneten Frauen, deren Ansichten mit denen meines Vaters und Großvaters übereinstimmten. Sie kamen freiwillig einer Frau entgegen, für die sie sich langst schon interessirt hatten, ohne sie zu kennen, und zeigten ihr eine rührende Theilnahme, die sich auf Bewunderung gründete. Sie hat mir die Frau von Lameth, Mlle. Picot, ein Mädchen von liebenswürdigem Charakter und, trotz der trüben Zeit, heiterm Sinne, die Frau von Aiguillon, die letzte des Namens Navailles, die Schwiegertochter des Herzogs von Aiguillon, des Freundes der Du Barry, und endlich die Frau von Beauharnais genannt, die spater die Kaiserin Josephine wurde. Meine Mutter und die Leytere hatten ein und dasselbe Zimmer inne und leisteten einander gegenseitig Kammerwadchendienste. / Diese so jungen, so schonen Frauen besaßen die Tugenden, selbst den Stolz ihres Unglücks. Meine Mutter erzählte mir, sie habe den Schlaf von sich abgewehrt, so lange sie die Kraft nicht in sich fühlte, ihr Leben zum Opfer zu bringen, weil sie, wie sie sagte, Zeichen von Schwache zu 51____ geben fürchtete, wenn man sie in der Nacht plötzlich wecke, um sie in die Eonciergerie, d. h. zum Tode zu führen. Die Frauen von Lameth und von Aiguillon besaßen viel Energie, dagegen verrieth die Frau von Beauharnais eine solche Muthlosigkeit, daß ihre Unglücksgefahrtinncn sich schämten. Sie verband mit der Sorglosigkeit einer Kreolin eine übergroße Unruhe und Muthlostgkeit; die Andern wußten sich w ihr Schicksal zu fügen, sie hoffte immer, legte sich im Geheimen oft die Karte und weinte vor allen Leuten zum großen Aergerniß ihrer Gefährtinnen. Aber sie besaß eine seltene angeborene Anmuth, und wer Anmuth besitzt, darf alles Uebrige entbehren. Ihr Wuchs, ihr Benehmen, hauptsachlich ihre Sprache hatten einen ganz eigenthümlichen Reiz, aber leider war sie weder hochherzig noch offen. Die andern gefangenen Frauen beklagten sie uno klagten, daß sie so wenig Muth besitze, denn obwohl sie Opfer der Republik waren, blieben sie doch dem Charakter nach immer Republikanerinnen. Ich meine namentlich die Frauen uon Lameth und von Aiguillon. Meine Mutter war nur Weib, besaß aber eine Seelengröße, die ihr jedes Opfer als ein Beispiel er-scheinen ließ, welches sie zu edler Nacheiferung antrieb, und sie selbst durch Ansichten, die sie nicht theilte, zu der Höhe begeisterter Thaten echob. Es mußten in der Geschichte einige Umstände zusammentreffen, um ein Weib zu bilden, wie meine Mutter war. Nie wird man die Verbindung von Seelengröße und gesellü gem Talente wiederfinden, welche in ihr durch die Eleganz und den guten Geschmack der Konversationen in dem Salon ihrer Mutter und durch die übernatürlichen Tugenden, hervorgebracht worden war, welche man auf den Stufen des Schaffots Robespierres erlangte. Ber ganze Nciz des französischen Esprit der guten Zeit und die ganze Erhabenheit 4« 52 der alten Charktere fanden sich in meiner Mutter vereint, welche die Gesichtszüge und den Teint der blonden Köpfe Greuze's mit einem griechischen Profile besaß. Als meine Mutter schlechte Kost an einer Tafel mit mehr als dreißig Gefangenen von jedem Stande genießen mußte, bemerkte sie, ob sie sich gleich außerordentlich leicht ekelte, diese Erschwerung der Strafe gar nicht, welche zur schlimmsten Zeit der Schreckensherrschaft in dem Gefangnisse eingeführt war. Die körperlichen Leiden berührten sie nicht mehr. Ich habe an ihr immer nur Kummer gesehen; ihre Krankheiten waren Wirkungen; die Ursache kam von der Seele. Man hat viel über die Seltsamkeiten des damaligen Gefangnißlebens geschrieben; hatte meine Mutter Memoiren hinterlassen, ft würden sie dem Publikum mehrere noch unbekannte Einzclnheitm enthüllt haben. In dem Karmeliter-Gesangnisse waren die Manner von den Frauen abgesondert. Vierzehn Frauen hatten ihre Betten in einem der Sale des ehemaligen Klosters. Unter diesen Damen befand sich auch eine sehr bejahrte, taube und fast blinde Engländerin. Man .hatte es ihr nie begreiflich machen können, warum sie sich da befand; sie fragte Jedermann darum; ihre letzte Frage beantwortete der Henker. Ich habe in den Memoiren jener Zeit den ganz ahnlichen Tob einer alten Dame gelesen, die man aus der Pro-vinz nach Paris geschleppt hatte. Gleiche Ungerechtigkeiten wiederholten sich; die Rohheit ist in ihren Wirkungen eben so wenig mamuchfaltig als in ihren Ursachen. Der Kampf zwischen dem Guten und Bösen unterhält das Interesse deS LebensbramaS; wenn aber der Triumph des Verbrechens gesichert ist, macht die Monotonie das Leben lästig und die Langeweile öffnet die Pforte der Hölle. Dante hat uns in 53 einem der Kreise seiner Verdammten den Zustand der verlorenen Seelen geschildert, deren Körper durch einen Dämon, welcher sich derselben bemächtigte, bewegt werden und auf der Erde noch lebend erscheinen. Das ist das kräftigste und zugleich philosophischeste Sinnbild, das man jemals erdacht hat, um die Folgen des Verbrechens und den Triumph des bösen Princips in dem menschlichen Herzen darzulegen. In demselben Saale befand sich die Frau eines Possenreißers, welcher Marionetten zeigte; beide waren, wie sie sagte, verhaftet worden, weil ihr Polichinell zu aristokratisch gewesen wäre und auf dem Boulevard über den Vater Du-chöne gespottet hätte. Die Frau hegte eine außerordentliche Verehrung für die gefallene Größe, und dieser Verehrung wegen fanden die gefangenen adeligen Frauen hinter den Kerkerriegeln die Achtung und das Ansehen, von dem sie sonst in ihren eigenen Wohnungen umgeben gewesen waren. Die Frau bediente sie blos, um ihnen angenehm zu sein; sie reinigte ihre Zimmer, machte ihre Betten, leistete ihnen unentgeldlich alle kleinen Dienste und näherte sich ihnen nur mit Zeichen der tiefsten Verehrung, so daß die Gefangenen , welche an jene sonstige Artigkeit gar nicht mehr gewöhnt waren, eine Zeit lang glaubten, sie spotte ihrer; aber die arme Frau starb wirklich mit ihrem Manne, und als sie Abschied von ihren vornehmen Gefährtinnen nahm, denen sie nur einige Tage auf das Schaffet vorauszugehen glaubte, vergaß sie keinen Augenblick, sich der Formeln einer veralteten Demuth zu bedienen, mit denen sie dieselben srüher vielleicht um eine Gnade hätte bitten können. Wenn man so cere-moniös reden hörte, so hätte man sich in ein Feudalschloß verseht halten können. Damals konnte sich eine Französin eine so kühne Demuth nur in dem Gefängnisse erlauben; die Un- 54 glückliche brauchte nicht mehr zu fürchten, verhaftet zu werden. Es lag etwas Rührendes in dem Contraste zwischen der Sprache dieser übrigens ganz gewöhnlichen Frau und dem Tone, den Worten der Kerkermeister, die durch ihre Brutalität sich eine gewisse Wichtigkeit geben zu können schienen. Die Gefangenen kamen zu gewissen Stunden in einer Art Garten zusammen, wo sie mit einander umhergingen, und die Männer spielten. Wahrend dieser Erkolungszeit ließ das Re'oolutionstri-bunal gewöhnlich die Opfer holen. Wurde ein Mann abgerufen, der am Spiele Theil nahm, so nahm er einfach von seinen Freunden Abschied: die Partie wurde nicht unterbrochen. Holte man eine Frau, so nahm sie ebenfalls Abschied und ihre Entfernung störte eben so wenig die Spiele und die Unterhaltung der Zurückbleibenden. Dieses Gefängniß war die Erde in Miniatur und Robespierre der Gott. Nichts gleicht der Hölle mehr als diese Carricatur der Vorschung. Das Schwert schwebte über allen Hauptern und wer einmal verschont wurde, glaubte den, welchen er vor sich fortgehen sah, nur um einen Tag zu überleben. Uebrigens schienen in jener Zeit des Wahnsinns die Sitten der Unterdrückten eben so unnatürlich geworden zu sein, wie die der Unterdrücker. So sah meine Mutter nach einer fünfmonatlichen Haft auch den Herrn von Vcauhamais zum Schassot gehen. Als er an ihr vorüberkam, gab er ihr einen arabischen Talisman, der in einen Ring gefaßt war. Sie bewahrte ihn sorgfältig und jetzt trage ich ihn. Man zahlte nicht mehr nach Wochen; die Zeit war bekanntlich in Abschnitte von zehn Tagen eingetheilt. Der zehnte Tag hieß Decadi und entsprach unserm Sonntage, 55 weil man an diesem Tage nicht arbeitete, auch nicht guilloti-nirte. Hatten die Gefangenen den Abend des neunten Tages erreicht, so waren sie auf vier und zwanzig Stunden des Lebens sicher. Das . (dem Neffen seines Souoerains) empfohlen habe. Sie können nichts Besseres thun, als diesen Weg auch einzuschlagen." „Die Wagen der Fürsten," erwiederte ich, „haben vielleicht Vorrechte wie ihre Personen. Die Fürsten sind von Eisen, und ich möchte nicht einen Tag so leben, wie sie das ganze Jahr hindurch leben." Man antwortete mir auf diese Bemerkung nicht, welche ich für sehr unschuldig gehalten haben würde, wenn sie dem deutschen Staatsmanne nicht revolutionair vorgekommen wäre. Dieser ernste, kluge Mann, den meine übergroße Keckheit sehr verstimmte, entfernte sich von mir, sobald er es thun konnte, ohne mich geradezu zu beleidigen. Welche vortreffliche Menschenart! Manche Deutsche sind wirklich gebo- ^87^ rene Unterthanen; sie waren Hofmänner, bevor sie Menschen wurden. Ich muß über ihre lästige Höflichkeit spotten, wenn ich sie auch dem Entgegengesetzten, das ich bei den Franzosen tadele, um Vieles vorziehe. Das Lächerliche wird indeß immer den ersten Anspruch auf meinen Geist haben, da ich trotz meinem Alter und meiner sonstigen Ernsthaftigkeit vor Allem gern lache. Uebrigens wird bald eine wirkliche Straße zwischen Schwerin und Lübeck angelegt werden. Das reizende Vadcmaochen von Travemünde, welches wir Monna Lise nannten, ist verheirathet und hat drei Kinder. Ich besuchte sie in ihrer Wohnung und trat nicht ohne Trauer und Schüchternheit über die bescheidene Schwelle. Sie erwartete mich und hatte mit der herzlichen Koketterie, die den kalten, aber anhänglichen und empfanglichen Nordlandern eigen ist, das Tuch umgethan, das ich ihr gerade vor zehn Jahren, am 5. Juli 1825», gegeben hatte .. Denken Sie sich, daß dieses reizende Geschöpf im 34. Jahre bereits die Gicht hatte! . . Man sieht es ihr an, daß sie schön gewesen, das ist aber auch Alles. Die nicht gewürdigte Schönheit vergeht bald, — sie ist nutzlos. Lise hat einen entsetzlich häßlichen Mann und drei Kinder, darunter einen Knaben von neun Jahren, der auch nie hübsch werben wird. Dieser Junge, der nach der dortigen Art gut erzogen wird, trat mit gesenktem Kopfe und unstatem, aber muthigem Blicke in die Stube. Man sah es ihm an, daß er dem Fremden aus Schüchternheit, nicht aus Furcht, gern aus dem Wege gegangen wäre, wenn ihn nicht die Besorgniß zurückgehalten hatte, von seiner Mutter ausgescholten zu wer-dm. Er schwimmt wie ein Fisch und langweilt sich, wenn er nicht im Wasser oder wenigstens in einem Boote auf dem Wasser ist. Sie bewohnen ein eigenes Haus und scheinen sich wohlzubesinden, aber wie klein ist der Kreis, in welchem 88 sich das Leben einer solchen Familie bewegt l Wenn ich diesen Vater, bieft Mutter und die drei Kinder betrachtete und mich erinnerte, was Life vor zehn Jahren war, kam es mir vor, als ob das Ratksel des menschlichen Lebens sich mir zum ersten Male darstelle. Ich konnte in dem Hauschen nicht athmen, obgleich es reinlich und nett ist, und ging hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Ich sah hier die Glücklichen des Landes vor mir und dachte: wo man nur das Nothwendige hat, hat man nichts. Glücklich der Mensch, der das Uebrige von der Religion erwartet! — ?lber die Religion der Protestanten giebt selbst nur das Nothwendige. Seit die schone Frau an das gemeinsame Schicksal gefesselt ist, lebt sie zwar ohne Noth, aber auch ohne Vergnügen, was ich für die größte Noth halte. Der Mann geht im Winter nicht auf den Fischfang. Die Frau erröthete, als sie mir dies gestand, und ich gestehe, es machte mir einige Freude. Dieser so haßliche Mann besitzt keinen Muth; List sagte aber, gleichsam als Antwort auf meine Gedanken: „mein Sohn wird bald mitgehen." Sie zeigte mir in der Stube einen großen Schafpelz, der bereits für die erste Fahrt dieses kraftigen Sohnes des Meeres bestimmt war. Ich werde, hoffentlich, die Monna List von Trade-münde nicht wiedersehen. Warum muß das wirkliche Leben doch dem Leben der Phantasie so wenig gleichen? Warum ist uns diese — nutzlose, ich möchte sagen, schädliche, Phantasie gegeben? Undurchdringliches Geheimniß, das sich nur der Hoffnung, und auch ihr nur in einzelnen flüchtigen Lichtpunkten, enthüllt. Der Mensch ist ein blinder, gestrafter, aber nicht gebesserter Züchtling. Man legt ihn an Ketten wegen eines Verbrechens, das er nicht kennt; er muß die Strafe des Lebens, d. h. den Tob ertragen; er lebt und stirbt in Fesseln, ohne ____89____ baß er gerichtet wirb, ja ohne daß er erfährt, wessen man ihn beschuldiget. Darf man sich über den Mangel an Gerechtigkeit im Staate wundern, wenn man sieht, daß die Natur so willkürlich verfährt? Wer die Gerechtigkeit hie-nieben erblicken will, muß die Augen des Glaubens besitzen, welche über diese Welt hinaussehen. Die Gerechtigkeit wohnt nicht in dieser Welt. Fliu ft cr Brief. Ohne Licht um Mitternacht am Bord des Dampfschiffs Nicolaus l, im finnischen Meerbusen am «. Juli l>i3g geschrieben. 3öir stehen am Ende des Tages von einmonatlicher Dauer, der in diesen Breiten ungefähr am 8. Juni beginnt und am 4. Juli endigt. Später erscheinen die Nächte wieder. Anfangs sind sie sehr kurz, aber doch angedeutet, dann werden sie unmerklich langer bis zur Tag- und Nachtgleiche im September. Dann nehmen sie mit derselben Schnelligkeit zu, wie im Frühjahre die Tage, und bald umhüllen sie mit Finsterniß den Norden von Nußland, Petersburg, Schweden, Stockholm und die ganze Umgegend des Nordpolkreises. In den Landern, welche von diesem Kreise eingeschlossen werden, theilt sich das Jahr in einen sechsmonatlichen Tag und eine sechsmonatliche Nacht, mit Einschluß der mehr oder minder langen Dämmerung, je nachdem der Ort naher oder entfernter von dem Pole liegt. Das nicht sehr tiefe Dunkel des Winters dauert so lange, als der zweifelhafte und melancholische Tag des Sommers dauerte. Heute kann ich mich der Bewunderung über eine Polnacht nicht ent;iehen, die fast so hell ist als der Tag. Es ist mir, als wäre ich aus der Welt, welche ich bisher be- 91 wohnte, hinausversetzt worden. Nichts hat mich auf meinen Reisen mehr lnteressirt, als die Verschiedenheit des Maßes in der Zutheilung des Lichtes an die verschiedenen Gegenden der Erde. Am Ende des Jahres habcn alle Punkte der Erbe die Sonne während einer gleichen Stundenzahl gesehen, aber welcher Unterschied in den Tagen! Welche Mannich-faltigkeit in der Temperatur und in der Farbe! Die Sonne, deren strahlen gerade auf die Erde herabfallen, und die Sonne, welche nur schiefe Strahlen giebt, ist nicht dasselbe Gestirn, wenigstens wenn man nach den Wirkungen urtheilt. Ich, dessen Leben etwas von dem d?r Pflanzen hat, ich erkenne, daß eine Art Fatum in diesen Breiten liegt, und gestehe gern der Theorie Montesquieu's eine Achtung zu, welche auf dem Einflüsse beruht, den der Himmel auf meine geistige Thätigkeit ausübt. Meine Stimmung und meine Fähigkeiten sind der Einwirkung des Climas so unterwor: sen, daß ich an den Folgen derselben auch auf die Politik nicht zu zweifeln vermag. Nur hat Montesquieu die Folgen ciner in gewissen Fallen wirklich bestehenden, aber durch das System des Schriftstellers gesteigerten Einwirkung zu weit ausgedehnt. Die Klippe der geistigen Ueberlegenheit ist der Eigensinn; die großen Geister sthcn nur, was sie sehen wollen; die Welt ist in ihnen; sie begreifen Alles, nur nicht was man ihnen sagt. Seit ungefähr einer Stunde habe ich die Sonne zwischen Nordnordwest und Nord in das Meer sinken sehen. Sie ließ einen langen leuchtenden Streifen hinter sich, der mir „och hinreichend leuchtet und mir gestattet, Ihncn ohne Licht auf dem Verdeck zu schreiben, wahrend die andern Passagiere schlafen. Unterbreche ich das Schreiben, um mich umzublicken, ft s>h,> jch in Nordnordosi bernts den ersten Schein der Morgendämmerung. Das Gestern ist noch nicht 92 vergangen, und schon beginnt das Morgen. Diese Polherr-lichkeit ist mir eine Enschädigung für die ganze Langweiligkeit der Reise. In diesen Gegenden ist der Tag eine endlose Morgenröthe, die nie hält, was sie verspricht. Dieser Lichtstrahl, der nichts mehr bringt, aber auch nicht aufhört, setzt mich in Erstaunen. Die seltsame Dämmerung geht weder dem Tage noch der Nacht voraus; denn was man in den südlichen Landern so nmnt, eristirt eigentlich hier nicht. Man vergißt den Zauber der Farbe, das schauerlich-unheimliche Dunkel der Nachte und glaubt nickt mehr an die Wunder der gesegneten Climate, wo die Sonne ihre ganze Kraft besitzt. Cs ist nicht mehr die Welt der Maler, sondern die Natur der Zeichner. Man fragt sich, wo man ist, wohin man geht; die Tageshelle nimmt ab, indem sie sich überall gleichmaßig verbreitet; wo der Schatten seine Starke verliert, erbleicht das Licht; die Nacht ist nicht schwarz, aber der ., Tag ist dafür auch grau. Die nordische Sonne ist eine Nabasterlampe, die sich unablässig dreht und in halber Höhe zwischen dem Himmel und der Erde schwebt. Diese ohne Unterbrechung wochen- und monatelang brennende Lampe verbreitet ihren melancholischen Schein unter dem Gewölbe, das sie kaum weiß erscheinen laßt; nichts ist hellglänzend, Allcs aber ist sichtbar; die mit dieser Blässe überall gleich erleuchtete Natur gleicht dem Traume eines Dichters mit altersgrauem Haar, gleicht Ossian, der sich seiner Liebe nicht mehr erinnert und nur noch die Stimmen der Gräber hört. Der Anblick aller dieser Gegenden ohne Relics, dieser Ferne ohne Plan, dieses undeutlichen, gleichartigen Horizontes, dieser halb verwischten Linien, dieses Verschwimmen von Formen und Farben versenkt mich in ein liebliches Traumen. Erwache ich still aus demselben, so fühle ich mich dem Tode 93 cben so nahe als dem Leben. Die Seele schwebt ebenfalls zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachen und Schlaf; sie hat keine lebhaften Freuden; es gebricht ihr das leidenschaftliche Entzücken; die Unruhe der ungestümen Wünsche eristirt für sie nicht. Ist man auch nicht frei von Langeweile, so leidet man doch auch keinen Schmerz; eine ununterbrochene Ruhe verbreitet sich über Herz und Leib und findet ihr Bild m jenem gleichgiltig trägen Lichte, das ebenfalls seine tödtliche Kalte, Tag und Nacht, über Meer und Land ausgießt, welche durch den Schnee verschmolzen und unter dem schweren Fußtritte des Winters gleichgemacht werden. Das Licht dieser flachen Gegenden paßt für die blauen Porzellanaugen, für die nicht scharf vertretenden Gesichtszüge, für das blonde Haar, für die schüchtern romantische Phantasie der nordischen Frauen. Diese Frauen träumen ewig das, was die andern thun, und man kann von ihnen sagen, das Leben sei der Traum eines Schattens. Nähert man sich den Polargegenden, so kommt es dem Reisenden vor, als steige er zu dem Plateau einer Gletscherkette hinauf; je weiter man vordringt, umso naher kommt diese Illusion der Wirklichkeit; man steigt auf der Erdkugel selbst empor; die Erde ist der Berg. Erreicht man die Spitze dieser unermeßlichen Alpe, so findet man das wieder, was man weniger lebhaft bei dem Ersteigen der andern Alpen fühlte; die Felsen senken sich, die Abgründe werden gleichsam ausgefüllt, die Menschen weichen zurück, die bewohnbare Welt liegt zu den Füßen des Wanderers. Die Crde wirb, von dieser Höhe aus gesehen, kleiner, aber das Meer hebt sich, wahrend die Küsten sich verflachen und um den Reisenden her einen kaum bemerkbaren Kreis bilden. Man steigt und steigt wie auf die Spihe einer Kuppel. Diese Kuppel ist die Welt. Von da aus schweiftm die Blicke über eisige 94 Meere, über Crystallfelder, und man glaubt in die Wohnungen der Seligen, unter die Engcl, die unveränderlichen Bewohner eines unveränderlichen Himmels, versetzt zu sein. Das fühlt man, wenn man sich dem bothnischen Meerbusen nähert, dessen nördlicher Theil Thoneo berührt. Die für bergig geltenden fmnländischen Küsten kommen mir wie eine Reihe kleiner, kaum bemcrtlicher Hügel vor; Alles verliert sich in dem Unbestimmten und der Leere des nebeligen Horizontes. Der undurchdringliche Himmel läßt dm Gegenständen die lebendigen Farben nicht, Alles wirb unter diesem Perlmutter-Gewölbe matt und verändert. Die Schiffe, welche am Horizonte hingleiten, stechen schwarz von denselben ab, denn das Licht der ewigen Dämmerung, die man hier Tag nennt, spiegelt sich kaum auf dem Nasser; es hat die Kraft nicht, das Segclwerk eines fernen Fahrzeuges zu vergolden; dasTakcl- und Eegelwerk der Schiffe, die man nach Norden zu schwimmen sieht, glänzen nicht, wie sie auf andern Meeren glänzen würden, sie treten schwarz auf dem graulichen Himmelsvorhange hervor, der aussieht wie ein Zeugstück, das man zu einem chinesischen Schatten-spiele aufgespannt hat. Ich schäme mich, es auszusprechen, aber das Schauspiel der Natur im Norden, so großartig es auch ist, erinnert mich unwillkürlich an eine unermeßliche I.aU er die Haltung eines Garnison-Stutzers beibehalten. Er spricht mit den Russen nur von der Ueberlegenheit der Franzosen in allen Dingen, doch «st 122 ftine Eitelkeit nicht von der Art, daß sie verletzen könnte; man lacht blos über ihn. Er fingt uns Couplets vor, während er dic Damen verliebt ansieht, und declamirt die Parisimne und Marseillaise, indem er sich theatralisch in seinen Mantel drapirt. Die Damen finden viel Unterhaltung in seiner Gesellschaft. Sie glauben in Paris zu sein; der schlechte französische Ton fallt ihnen nicht auf, .weil sie die Quelle desselben nicht kennen, und übrigens fühlen sich die Personen von guter Gesellschaft immer zuletzt verletzt; sie habm es nicht nöthig, bei ledem Worte eine Herabwürdigung zu fürchten. Wir, dcr alte Fürst K.. und ich, lachen in's Faustchen über das, was der Mann den Damen erzählt, die ihrer Seits w aller Unschuld lachen, weil sie nicht wissen, wo in Frankreich bei etwas leichtfertiger Conversation der gute Ton aufhört und der schlechte anfangt. Der schlechte Ton fangt an, sobald man daran denkt, ihn zu vermeiden. Personen, die ihrer selbst vollkommen sicher sind, denken deshalb nie daran. Wird die Lustigkeit des ehemahligen Lancier zu lebhaft so dämpfen die russischen Damen dieselbe, indem sie ihrer Seits jene Nationallieder singen, die für uns so neu sind und deren Originalität und Melancholie uns entzücken. Die Fürstin L. hat uns auch einige Lieder russischer Zigeuner gesungen, und sie erinnern mich zu meiner großen Verwunderung an die spanischen Boleros. Die Gitanos Andalusiens sind von demselben Geschlechte wie die russischen Zigeuner. Dieses Volk, das durch eine unbekannte Ursache über ganz Europa zerstreut wurde, hat an allen Orten seine Gewohnheiten, seine Lebensweise und seine Nationallieder behalten. »23 Können Sie sich eine angenehmere Seereise denken als die unsertge? Diese sehr gefürchtete Fahrt unterhält mich dermaßen, daß ich wirklich mit Bedauern dem Ende entgegensehe. Und wer ängstigte sich nicht bei dem Gedanken, in einer großen Stadt anzukommen, in welcher man keine Geschäfte hat und ganz fremd ist, obgleich sie noch zu europaisch ist, als daß man hoffen könnte, keine sogenannte vornehme Welt da zu sehen? Meine Reiselust kühlt sich ab, wenn ich bedenke, daß das Reisen doch eigentlich nur aus Abreisen und An-kommen besteht. Aber welche Vergnügungen und Vortheile erkauft man durch diese Mühe! Wenn ich fühle, daß mir bei meinen Wanderungen der Muth so ziemlich ausgeht, sage ich zu mir: wenn ich den Zweck will, muß ich auch das Mittel wollen, und ich wandere dann weiter; ja, kaum bin ich zu Hause angekommen, so denke ich wieder an's Reisen. Fortwahrendes Reisen wäre eine ganz angenehme Art, das Leben zu verbringen, besonders für einen Mann, der mit den Ideen nicht übereinstimmt, welche in seiner Zeit gerade vorherrschen-, kommt man in ein anderes Land, so ist es ebcn so gut, als versetzte man sich in eine andere Zeit. In Rußland hoffe ich eine weit zurückliegende Periode zu studiren. Sei dem, wie ihm wolle, die Gesellschaft auf unserm Dampfschisse ist so unterhaltend, wie ich sie sonst nirgends gefunden zu haben mich erinnere. Das Zusammentressen einiger liebenswürdigen Personen reicht nicht immer hin, cmen unterhaltenden Krcis zu bilden; es müssen auch Umstände, eintreten, welche jedem Einzelnen seinen Werth geben. Wir führen hier ein Leben wie in einem Schlosse auf dem Lande bei schlechtem Wetter. Man tann nicht auögehen, und Alle würden sich langweilen, wenn nicht jeder sich be- 124 mühete, sich zu unterhalten, indem er Andere unterhält. So wird oerZwang, der uns einander nahebringt, ein Vortheil für Alle, freilich in Folge des vollkommenen gesellschaftlichen Talentes einiger der Reisenden, die der Zufall hier zusammengeführt hat, besonders ln Folge der liebenswürdigen Autorität des Fürsten K.. Ohne die Gewaltthätigkeit, die er uns in den ersten Augenblicken der Reise anthat, wäre das Eis vielleicht noch nicht gebrochen, hatten wir uns einander vielleicht während der ganzen Dauer der Reift schweigend angesehen. Dieses Absondern vor Zeugen ist traurig und lastig. Statt desselben plaudert man Tag und Nacht; die Helle der vier und zwanzig Stunden langen Tage ist Ursache, daß jeden Augenblick Jemand Lust zu plaudern hat. Diese Tage ohne Nacht lassen die Zeit vergessen; man hat keine bestimmten Stunden für den Schlaf; seit den drei Stunden, in denen ich Ihnen schreibe, höre ich meine Reisegefährten in der Kajüte sprechen und lachen, und wenn ich'zu ihnen gehe, werde ich ihnen französische Verse und Prosa vorlesen und Geschichten aus Paris erzählen müssen. Wenn sich der französische Lancier, der Eroberer und Kaufmann, in das Gesprach mischt, unterbricht er es gewöhnlich. Dann lacht und singt man und fängt wieder an russische Tanze zu tanzen. Diese doch so unschuldige Lustigkeit ist ein Aergerniß für zwei.Amerikaner, welche in Geschäften nach Petersburg reisen. Diese Bewohner der neuen Welt erlauben sich nicht einmal ein Lächeln über die Heiterkeit junger europäischer Damen; sie si'hm nicht ein, daß diese Freiheit Sorglosigkeit, und die Sorglosigkeit die Schutzwehr jugendlicher Herzen ist. Ihr puritanischer Sinn fühlt sich nicht blos durch wirkliche Unschicklichkeit, sondern selbst durch die Freude verletzt; sie sind protestantische Iansenistcn, und wenn man ihnen gefal- 125 len wollte, müßte man das Leben zu einem langen Begräbnisse machen. Zum Glück sind die Damen, welche wir an Bord haben, nicht geneigt, sich zu langweilen, um diesen pedantischen Kaufleuten Recht zu geben. Sie sind einfacher, als die nordischen Damen zu sein pflegen, die, wenn sie nach Paris kommen, unnatürlich erscheinen zu muffen glauben, um uns zu gefallen; die auf dem Dampfschiffe gefallen, ohne daß sie daran zu denken scheinen, gefallen zu wollen; ihre französische Aussprache erscheint mir besser als die der meisten Polinnen; sie singen weniger im Sprechen und bestreben sich nicht, unsere Sprache zu verbessern, wie fast alle Damen aus Warschau, die ich in Sachsen und Böhmen kennen gelernt habe, — ein Bestreben, daß sich wahrscheinlich von der Pedanterie der Erzieherinnen herschreibt, die man aus Genf nach Warschau kommen laßt. Die russischen Damen, die sich mit mir auf dem Nicolaus I. befinden, sprechen französisch wie wir, und man merkt eS ihnen kaum an, daß es ihre Muttersprache nicht ist. Ein Unfall, der gestern an der Maschine sich ereignete, ließ die geheimen Triebfedern der Charactere erkennen. Die Erinnerung an den Schissbruch und den Brand dieses Dampfschiffes macht die Paffagiere dieses Jahr außerordentlich ängstlich, und man muß allerdings gestehen, daß die Mannschaft nicht von der Art ist, die Furchtsamen zu beruhigen. Ein holländischer Capital«, ein dänischer Steuermann und Matrosen aus Sachsen oder sonst wo aus dem mittlern Deutschland, — das sind die Leute, welche unser russisches Fahrzeug lenken. Gestern nach dem Mittagseffen waren wir fast Alle bei schönem, etwas kühlem Wetter auf dem Verdecke versammelt und lasen mit großem Vergnügen in einem Buche, das zur 126 Schisssbibliothek gehört, als mit einem Male die Räder stillstanden. Man hörte ein ungewöhnliches Geräusch in der Gegend der Maschine und das Schiff rührte sich nicht. DaS Meer war zum Glück vollkommen ruhig. Mehrere Matrosen liefen nach dem Ofen und der Capitain folgte ihnen mit ernstem Gesichte, ohne den Paffagieren zu antworten, die ihn fragend ansahen. Wir befanden uns mitten in der Ostsee, da wo sie am breitesten ist, vor dcm Eingänge in den sinnischen Meerbusen, unterhalb des bothnischen und folglich so fern als möglich von jeder Küste. Wir sahen kein Land, ob es gleich vollkommen hell war. Wir schwiegen Alle; jeder beschäftigte sich mit traurigen Erinnerungen, und die abergläubischesten waren am unruhigsten. Zwei Matrosen warfen auf Befehl des Capitains das Senkblei aus. „Wir sind ohne Zweifel auf eine Klippe ge« rathen," sagte eine Frauenstimme, die erste, welche sich nach dem Unfälle hören ließ, denn die einzigen Worte, welche durch die furchtsame Stille gedrungen, waren bis dahin.die ziemlich schüchternen Befehle des Capitains gewesen, dessen Stimme und Haltung keineswegs zu unserer Beruhigung beitrugen. „Die Maschine ist zu hoch gespannt," sagte eine andere Stimme, „und wird springen." In diesem Augenblicke näherten sich einige Matrosen den Schaluppen und singen an, sie loszumachen. Ich schwieg, aber ich dachte: „meine Ahnung geht in Erfüllung. Es war also nicht blos Laune, weshalb ich diese Fahrt aufgeben wollte." Die Fürstin L., die ziemlich leidend war, sing an zu weinen, und man hörte sie, halb ohnmachtig, zwischen Schluchzen die Worte flüstern: „so fern von meinem Manne zu sterben!" — „Warum ist der meinige hier?" rief die 12? junge Fürstin D. aus, indem sie sich an dm Fürsten mit einer Ruhe anschmiegte, die ich von ihr nicht erwartet hätte. Sie ist eine schwächliche, zierliche Frau mit blauen zärtlichen Augen, wohlklingender, aber schwacher Stimme und hoher, schlanker Gestalt. Dieser ossianische Schatten war in Gegenwart der Gefahr eine Heldin geworden, bereit, Alles zu erdulden und zu ertragen. Der dicke liebenswürdige Fürst K. blieb sitzen, wo er saß, und verzog keine Miene; er wäre von seinem Gurtsessel in's Meer gefallen, ohne sich zu verändern. Der ehemalige französische Lancier, der Kaufmann geworden und Comödiant geblieben war, der trotz dem Alter den Stutzer und trotz der Gefahr den Lustigen spielte, trällerte ein Liedchen. Diese Prahlerei mißfiel mir und ich erröthete im Namen Frankreichs, wo die Eitelkeit bei jeder Gelegenheit sich geltend zu machen sucht; die ächte moralische Würde übertreibt nicht, nicht einmal die Sorglosigkeit vor der Gefahr; die Amerikaner lasen ruhig weiter und ich beobachtete Alle. Endlich kam der Eapitain und sagte uns, irgend eine Hauptschraube sei zerbrochen, man würde eine andere einsetzen und binnen einer Viertelstunde ware sicherlich Alles wieder in Ordnung. Bei dieser Nachricht verrieth sich die Angst, die Ieder-man auf seine Art verheimlicht hatte, durch den Ausbruch einer allgemeinen Lustigkeit. Alle erzählten, was sic gedacht und gefürchtet hatten; Eines lachte das Andere aus; Diejenigen, welche am unverholenstcn ihre Besorgnisse gestanden, kamen noch am besten weg, und so verlängerte sich der Abend der so traurig begonnen hatte, unter den pikantesten Scherzen, unter Tänzen und Gesängen bis um zwei Uhr früh. In dem Augenblicke, als wir uns für den übrigen Theil der Nacht trennten, machte der Fürst K. mir Compli- - 128 mente wegen des Vergnügens, mit dem ich seine Geschichten anzuhören schiene; „man erkennt," sagte er, „den wohlerzogenen Mann an der Art, wie er zuzuhören scheint/' „Die beste Art zuzuhören," antwortete ich, „besteht dann, daß man wirklich zuhört." Diese Antwort, welche der Fürst weiter erzählte, wurde über ihr Verdienst gerühmt. Bei geistreichen und wohlwollenden Personen ist nichts verloren und jeder Gedanke erhält einen d-oppelten Werth. Die Annehmlichkeit der ehemaligen französischen Gesellschaft lag hauptsächlich in der Gunst, den Andern Geltung zu «erschaffen. Diese verlorene Gesellschaft erwarb uns so viele Eroberungen als die Tapferkeit unserer Soldaten und das Genie unserer Generale. Wenn diese wohlwollende Kunst heut zu Tage unter uns fast unbekannt ist, so liegt die Ursache wohl hauptsachlich darin, daß weit mehr Geist dazu gehört, zu loben als zu tadeln. Wer Alles zu würdigen versteht, verschmäht nichts und halt den Spott von sich fern; wo aber der Neid vorherrscht, wirb Alles herunter gezogen. Ich theile hier zwei Geschichten mit, die Ihnen beweisen werden, daß die Aufmerksamkeit, die man an mir rühmte, nlcht eben verdienstlich ist. Wir kamen bald an der Insel Dagö, an der Spitze von EMland, vorüber. Sie gewahrt einen traurigen Anblick, und die Natur erscheint da mehr unfruchtbar und kahl, als wild und gewaltig; es ist, als wollte sie den Menschen mehr durch die Langeweile als durch die Kraft zurückweisen. „Hier ereignete sich ein seltsamer Vorfall," sagte der Fürst zu uns. „Zu welcher Zeit?" „Vor nicht gar langer Zeit, unter dem Kaiser Paul." „Erzählen Sie." 129 Der Fürst nahm das Wort, .. aber ich bin müde, es ist früh fünf Uhr, und ich gehe auf das Verdeck, um mit denen zu plaudern, die plauberlustig sind, bann werde ich mich niederlegen. Abends schreibe ich Ihnen dann die Geschichte des Baron von Sternberg aus, welche der Fürst K.. sehr gut erzählte. I. 9 Sechster Brief. Am Nord des Nicolaus I. den 9. Juli 1839, Abends 5 Uhr. Vergessen sie nicht, daß der Fürst K . . spricht. „Ein Baron Ungern von Sternberg hatte als geistreicher Mann lange Europa durchreist und war durch seine Kenntnisse Alles geworden, was er werden konnte, nämlich ein durch Erfahrung und Studium entwickelter großer Character. „Er Kim — unter dem Kaiser Paul — nach St. Petersburg zurück und eine Ungnade ohne Ursache veranlaßte ihn, sich von dem Hofe zu entfernen. Er schloß sich auf der Insel Dago, die ihm gehörte, ab und schwur hier dem ganzen menschlichen Geschlechte tödllichen Haß, um sich an dem Kaiser, an dcn Menschen zu rächen, der in seinen Augen alle Menschen vertrat. „Dieser Mann, der lebte, als wir noch Kinder waren, hätte als Musterbild zu mehr als einem Helden Vyron's diemn können. „Auf seiner einsamen Insel truq er bald eine leidenschaftliche Vorliebe für das Studiren zurSchau und ließ, um sich ungestört seinen wissenschaftlichen Arbeiten widmen zu können, wie er sagte, einen sehr hohen Thurm bauen, dessen Mauern Sie mit einem Fernrohre von hier aus sehen können." I3l Der Fürst unterbrach sich hier und wir suchten den Thurm von Dagö auf. Dann fuhr der Erzähler fort: „Er nannte diesen Thurm seine Bibliothek und ließ oben daraus cine Art Laterne anbringen, die von allen Seiten wie ein Velvedcre, ein Observatorium oder vielmehr ein Leuchttlnirm, mit Glas versehen war. Er tonnte, wie er oft ;u seinen Leuten sagte, nur in der Nacht und an diesem einsamen Orte arbeiten. Dahin zog er sich denn zurück, um sich zu sammeln und den Frieden zu finden. „Zutritt an diesen Ort fanden nur sein Sohn, der noch ein Kind war, und der Erzieher seines Sohnes. „Gegen Mttttmacht, wenn er glaubte, daß beide schliefen, schloß er sich an gewissen Tagen in sein Laboratorium ein; der mit Glasfenstern versehene Thurm wurde dann durch eine so hellbrennende Lampe erleuchtet, daß man sie von Weitem für ein Signal hielt. Dieser Leuchtthurm, der keiner war, sollte die fremden Schiffe irre leiten, welche an der Küste scheitern mußten, wenn der fern her kommende Capitan nicht jeden Punkt der Küste genau kannte, an welcher man hinfahren muß, um in den gefahrlichen sinnischen Meerbusen zu gelangen. „Dieser Irrthum war nun gerade, was der schreckliche Baron hoffte. Der Verrätherische Thurm, auf einer Klippe mitten in einem furchtbaren Meere, wurde der Zielpunkt der unerfahrenen Steuermanner und die Unglücklichen, welche die falsche Hoffnung, die man vor ihren Augen leuchten ließ, verführte, fanden den Tob, während sie Schutz gegen den Sturm zu finden glaubten. „Sie sehen daraus, daß es mit der Polizei auf dem Meere damals» schlecht stand. „Sobald ein Schiff dem Untergange nahe war, begab 9" ____132 sich der Baron an die Küste, stieg mit einigen geschickten und erfahrenen Leuten, die er für seine nächtlichen Unternehmungen im Dienst hatte, in ein Boot, nahm die fremden Seefahrer auf, ermordete sie im Dunkeln, statt ihnen beizuste-hm und plünderte dann das Schiff, — Alles weniger aus Habsucht, als aus rcincr Vorliebe für das Böse, aus unei-genmchigem Eifer für Zerstörung. „Da er an Allem, besonders an der Gerechtigkeit zweifelte, so glaubte er, die moralische und sociale Unordung entspreche vollkommen dem Geschlechte des Menschen hiniedm und hielt die bürgerlichen und religiösen Tugenden für schädliche Chimären, weil sie der Natur entgegenwirken, ohne sie zu ändern. „Er behauptete, wenn er über das Schicksal von seines Gleichen entschied, die Absichten der Vorsehung zu unterstützen, welche ebenfalls gern Leben aus dem Tode ziehe. „Eines Abends, gegen das Ende deö Herbstes, zur Zeit als die Nächte am längsten find, hatte er die Mannschaft eines hollandischen Handelsschiffes ermordet und seit mehreren Stunden waren die Seeräuber, die er in seinem Dienste hatte, beschäftigt, den Rest der Ladung des gescheiterten Schiffes an's Land zu bringen, ohne zu bemerken, daß wahrend der Metzelei der Eapitan im Dunkeln mit einigen seiner Matrosen in einer Schaluppe sich gerettet hatten. „Gegen Tagesanbruch war das Werk der Finsterniß des Barons und seiner Helfershelfer noch nicht vollendet, als ein Signal die Annäherung eines Bootes meldete. Alsbald wurden die geheimen Thüren zu den unterirdischen Gewölben geschloffen, in welchen man den Raub niederlegte, und die Zugbrücke senkte sich vor den Fremden. „Der Schloßherr beeilte sich mit der Gastfreundschaft, welche ein characteristischcr und unuerlöschlicherZug der russi- 138 schen Sitten lst, die Ankommenden zu empfangen. In vollkommener Sicherheit erwartete er dcn Vornehmsten derselben in einem Zimmer neben dem seines Sohnes. Der Erzieher deS Kindes lag krank im Vett. Die Thüre zu diesem Krankenzimmer war offen. Der Fremde wurde angemeldet. „HerrVaron," sagte dieser mit sehr unkluger Bestimmtheit, „Sie kennen mich, aber Sie werden mich nicht wieder „erkennen, weil Sie mich nur einmal und im Dunkel gesehen „haben. Ich bin der Capitan des Schisses, dessen Mannschaft zum Theil unter ihren Mauern den Tod gefunden „hat. Ungern finde ich mich noch einmal bei Ihnen ein, „aber ich muß Ihnen sagen, daß mehrere Ihrer Leute im „Gedränge erkannt worden sind und daß man Sie selbst mit „eigener Hand Einen meiner Leute hat ermorden schen." „Der Varon machte, ohne zu antworten, gerauschlos die Thüre zu, welche in das Zimmer des Erziehers seines Sohnes führte. Der Fremde aber fuhr fort: „Ich spreche in „dieser Weise mit Ihnen, weil ich nicht die Abficht habe, Sie „in's Unglück zu stürzen; ich will Ihnen blos beweisen, daß „Sie in meinen Handen sind. Geben Sie mir meine Ladung „und mein Schiff zurück, das, obwohl beschädigt, mich wohl „bis St. Petersburg bringen kann und ich verspreche Ihnen „redlich, über Alles zu schweigen. Wenn ich rachsüchtig „ware, würde ich an die Küste geeilt sein, um Sie in dem „ersten Dorfe anzuzeigen. Der Schritt, den ich bei Ihnen „thue beweist Ihnen meinen Wunsch, Sie zu retten, indem „ich Sie vor der Gefahr warne, der Sie Ihre Verbrechen „ausfetzen." „Der Varon schwieg noch immer. Sein Gesicht war ernst, aber keineswegs finster. Er bat nur um eine kurze Bedenkzeit und entfernte sich mit den Worten, er würde nach einer Viertelstunde seine Antwort zurückbringen. 134 „Einige Minuten vor Ablauf dieser Zeit kam cr unerwartet durch eine geheime Thüre in das Zimmer zurück, stürzte sich auf den tollkühnen Fremden und erdolchte denselben. '- Es war auch Befehl gegeben, zu gleicher Zeit die Mannschaft zu ermorden, und die Stille welche «inen Augenblick durch so vielc Mordthaten gestört worden war, trat nun wieder ein. Aber der Erzieher oes Knaben hatte Alles gehört; er horchte noch, vernahm aber nichts, als die Tritte des Barons und das Schnarchen der Seeräuber, die in ihre Schaffelle gehüllt auf den Stufen des Thurmes I^gen und schliefen. „Besorgt und argwöhnisch trat der Baron in das Zimmer des Kranken und betrachtete denselben lange und aufmerksam. Mit dem blutbefleckten Dolche oer Hand stand er am Bette und lauschte auf die geringsten Zeichen, welche einen verstellten Schlaf verrathen könnten, bis er endlich überzeugt zu sein glaubte, der Kranke schlafe wirklich, und beschloß, ihn leben zu lassen. Die Vollkommenheit im Verbrechen ist so selten wie in allen andern Dingen," setzte der Fürst K . . hinzu. Wir schwiegen, denn wir waren auf das Ende der Geschichte gespannt. Er fuhr fort' „Dieser Erzieher hatte schon langst Verdacht gehegt und sobald er die ersten Worte des holländischen Eapitäns gehört, hatte er sich aufgerichtet, um Zeuge des Mordes zu fein, den er durch die Ritzen der Thüre hindurch nebst allen Einzelheiten mit ansah. Einen Augenblick darauf war er wie Sie gesehen haben, kaltblütig genug, um den Mörder tauschen und sein Leben retten zu können. Sobald er wieder allein war, stand er ttoy dem Fieber auf, kleidete sich an, stieg an einem Seile zum Fenster hinaus, band ein Boot l35 los, das er unten am Walle fand, steuerte allein nach dem Fcsilande zu und erreichte dasselbe wohlbehalten. Sobald er an's Vand gestiegen war, zcigle er den Schuldigen in der nächsten Stadt an. „Man bemerkte die Abwesenheit des Kranken in dem Schlosse bald und der Baron glaubte Anfangs, der Erzieher seines Sohnes habe sich in einem Fieberanfalle in das Meer gestürzt, dachte also durchaus nicht an die Flucht. Der Strick am Fenster und das fehlende Boot waren jedoch un-widerlegliche Beweise, baß der Kranke entflohen sei. Erst spat siel dem Rauber dies ein und er dachte erst an seine Sicherheit, als er sich bereits durch Truppen belagert sah, welche man gegen ihn ausgesandt hatte. Einen Augenblick »rollte cr sich vertheidigen, aber seine Leute Men von ihm ab, er wurde ergriffen und nach St. Petersburg gebracht, wo der Kaiser Paul ihn zu lebenslänglicher Strafarbeit verurtheilte. Er ist in Sibirien gestorben. „Dies war das traurige Ende eines Mannes, der durch seinen gebildeten Geist und ein anmuthiges Benehmen in den glänzendsten Gesellschaften Europas eine ausgezeichnete Rolle gespielt hatte. „Unsere Mütter würden sich seiner wohl noch erinnern. „Dieser Vorfall, der uns sehr romanhaft vorkommt, hat sich im Miltelaltcr häufig genug wiederholt und ich würde Ihnen denselben nicht erzählt haben, wenn cr nicht gleichsam in unseren Tagen vorgekommen wäre. Das macht ihn interessant. Rußland ist in Allem um vier Jahrhunderte zurück." Als der Fürst schwieg, äußcrten Alle, der Baron von Sternberg sei das Vorbild des Manfred und Eara. , / „Ohne Zweifel," entgegnete der Fürst K.., welcher'sich nicht vor Paradoren scheut, „kommt uns Vyron so unwahr- 139 schemlich vor, weil er seine Helden aus der Wirklichkeit herausgriff. In der Poesie ist die Wirklichkeit nie natürlich." „Das ist so richtig," entgegnete ich, „daß die Erfindungen Walter Scotts weit stärkere Illusion erregen als die Wahrheit Byrons." „Vielleicht, aber man muß noch andereGründc für diesen Unterschied aufsuchen," cntgegnete der Fürst; „Walter Scott malt, Byron erschafft; jener kümmert sich nicht um die Wirklichkeit, selbst wenn sie ihm in den Weg tritt; dieser besitzt seinen Instinkt für die Wirklichkeit, selbst wenn er erfindet." „Glauben Sie nicht," entgegntte ich, „daß dieser In« stinkt für die Wirklichkeit, welchen Sie dem großen Dichter zuschreiben, die Schuld davon tragt, daß er oft gemein ist? Welche überflüssigen Details! Welche gemeinen Gespräche! Und trotz dem ist in seinen Schilderungen der Anzug seiner Personen und das Zimmer derselben am richtigsten." „Ich vertheidige meinen Walter Scott," erwiederte der Fürst K . ., „und werde nie zugeben, daß man einen so unterhaltenden Schriftsteller beleidige." „DieseS Verdienst gerade spreche ich ihm ab," cntgeg-nete ich; „ein Romandichter, der einen ganzen Band braucht, um eine Scene vorzubereiten, ist eher alles Andere als unterhaltend. Walter Scott ist glücklich zu preisen, daß er in citier Zeit auftrat, in welcher man nicht mehr weiß, was Sich-Untcrhalten heißt." „Wie er das menschliche Herz schildert!" rief der Fürst D . . aus, denn Alle waren gegen mich. „Ja," entgcgnete ich, sobald er es nicht sprechen läßt, denn es gebricht ihm an den geeigneten Ausdrücken, sobald er leidenschaftliche und erhabene Gefühle schildern will. Er zeichnet die (5haractere bewundernswürdig durch die Handlung, denn 137 er besitzt mehr Geschicklichkeit und Beobachtungsgabe als Be-reotsamkeit. Er war cin philosophisches Talent, ein methodischer, berechnender Geist, kam zu rechter Zeit und faßte bewundernswürdig die gemeinsten Ideen zusammen, welche folglich auch am beliebtesten waren." „Er hat zuerst auf genügende Weise die schwere Aufgabe des historischen Romans gelöst; dieses Verdienst können Sie ihm nicht absprechen," sehte der Fürst K.. hinzu. „Welche falsche Begriffe sind aber durch diese Mischung von Roman und Geschichte unter der Menge der ungelehr-ten Leser verbreitet worden! Eine solche Verschmelzung ist immer nachtheilig und sie kommt mir, was Sie auch sagen mögen, durchaus nicht unterhaltend vor. Ich für meinen Theil lese viel lieber, selbst um mich zu zerstreuen, Augustin Thierry, als alle die über bekannte Personen erfundenen Fabeln." „Wenn das eine Geschmackssache ist," unterbrach mich der Fürst K>. lächelnd, „so wollen wir nicht langer darüber streiten." Er nahm meinen Arm, um aufzustehen, und bat mich, ihn bei dem Hinausgehen in die Kaiüte zu unterstützen, wo er mich ersuchte, Platz zu nehmen und leise zu mir sagte: „Wir sind allein, Sie lieben die Geschichte, ich will Ihnen eine noch bedeutungsvollere Thatsache mittheilen, als die, welche ich Ihnen erzählte. Ich theile sie Ihnen allein mit, denn in Gegenwart von Russen kann man von Geschichte nicht sprechen. Sie wissen, daß Peter der Große nach langer Zögerung das Patriarchat von Moskau aufhob, um die Tiara auf seinem Haupte mit der Krone zu vereinigen. So maßte sich offen die politische Autocratic die kirchliche Allmacht an, welche sie seit langer Zeit schon erstrebte, <— eine monströse Vereinigung, eine unter den Nationen des modernen Europa 138 einzige Verwirrung. Die Chimäre der Päbste im Mittelalter ist jetzt in dem Reiche von 60 Millionen Menschen verwirklicht, Menschen, zum Theil aus Asien, welche über nichts erstaunen und es nicht ungern sehen, in ihrem Czar einen Groß-Lama zu finden. „Der Kaiser Peter wollte die Marketenderin Katharina heirathen. Um diesen seinen höchsten Wunsch zu verwirklichen, mußte er erst eine Familie für die künftige Kaiserin auffinden. Man suchte denn in Lithauen, glaube ich, oder Polen einen unbekannten Edelmann, den man zuerst für einen großen Herrn erklärte und dann zum Bruder der erkorenen Kaiserin machte. „Der russische Despotismus rechnet nicht nur die Ideen und Gefühle für nichrS, er ändert auch die Thatsachen um, kämpft gegen den Augenschein und siegt im Kampfe, denn dcr Augenschein hat keinen Advokaten bei uns, eben so wenig als die Achtung, wenn sie der Gewalt zuwider ist." Ich sing an, über die kühne Sprache des Fürsten K.. zu erschrecken. Selsames Land, das nur Sclaven hervorbringt, welche knieend die Meinung annehmen, die man ihnen giebt, Spione, welche gar keine haben, um die der Andern aufzufassen, und Spötter, die das Schlechte übertreiben, — eine sehr feine Art, dem forschenden Blicke der Fremden sich zu entziehen. Aber diese Feinheit wird ein Gestandmß, denn bei welchem andern Volke' hat man es je für nöthig gehalten, seine Zuflucht dazu zu nehmen? Während diese Gedanken mir durch den Kopf gingen, setzte der Fürst seine philosophischen Betrachtungen fort. Er ist in Rom erzogen worden und neigt sich der katholischen Kirche zu, wie Alle in Ruß« land, welche'selbststandig denken und fromm sind. si) „Das Volk und selbst die Großen, die resignirten Zu« 139 schauer bei diesem Kriege gegen die Wahrheit, ertragen das Scandal, weil die Lüge des Despoten, wie plump sie auchsein mag, dem Russen immer als Schmeichelei erscheint. Die Russen, welche so viel ertragen, würden die Tyrannei nicht dulden, wenn der Tyrann sich nicht stellte, als hielte er sie für gewonnen durch seine Politik. Die Menschenwürde, die unter der absoluten Regierung ertrankt wird, greift nach dem kleinsten Strohhalm, den sie fassen kann; die Menschheit will sich wohl verachten und verhöhnen lassen, aber man soll es ihr nicht geradezu in das Gesicht sagen, daß man sie verachte und verhöhne. Sie rettet sich zu den Worten, wenn sie durch Thaten geschmäht wird. Die Lüge ist so erniedrigend, daß es eine tröstende Rache für daS Opfer wird, wenn es den Tyrannen zur Heuchelei zwingen kann, — erbärmliche, letzte Illusion des Unglücks, die man aber doch achten muß, um den Leibeigenen nicht noch tiefer zu erniedrigen." „Nach einem alten Herkommen ging der Patriarch von Moskau bei feierlichen Prozessionen zwischen den beiden größten Herren des Reiches. Vei der Vermahlung beschloß der oberpriesterliche lZzar als Begleiter in dem Zuge einen berühmten Bojaren und den neuen Schwager zu wählen, den er sich ausgesucht hatte. In Rußland macht die höchste Gewalt mehr noch als große Herren, — sie giebt dem Verwandte, der keine hat, und behandelt die Familien wie Baume, welche ein Gärtner beschneiden und verpflanzen und auf die er alles Beliebige pfropfen kann. Bei uns ist der Despotismus stärker als die Natur; der Kaiser ist nicht blos der Stellvertreter Gottes, sondern die schöpferische Macht selbst; cr besitzt eine noch ausgedehntere Macht als unser Herr Gott, denn dieser macht doch nur die Zukunft, wahrend der Kaiser selbst die Vergangenheit umgestaltet. D"s Gesetz hat keine rückwirkende Kraft, wohl aber die Laune des Despoten. 140 „Der Mann, welchen Peter dem neuen Bruder der Kaiserin beigeben wollte, war der größte Herr in Moskau und nach dem Czar der Erste im Reiche, der Fürst Romoda-nowski. Peter ließ ihm durch seinen ersten Minister sagen, er möge sich bei der Ceremonie einsinden, um in der Prozession neben dem Kaiser zu gehen, welche Ehre er mit dem neuen Bruder der neuen Kaiserin theilen würde. „Gut," antwortete der Fürst; „an welcher Seite des Czars soll ich gehen i" „Mein lieber Fürst," antwortete der Minister, „wie können Sie fragen? Muß nicht der Schwager Sr. Majestät zur Rechten gehen?" „So werde ich gar nicht mitgehen," entgegnete der stolze Bojar. Die Antwort wurde dem Kaiser überbracht, der eine zweite Votschaft absandte. „Du wirst gehen," ließ ihm der Tyrann sagen, dem der Zorn einen Augenblick die Maske abriß, „Du wirst gehen oder ich lasse Dich hangen." „Sagt dem Czar," erwiedert der ungebeugte Moskowiter, „ich lasse ihn ersuchen, bei meinem fünfzehnjährigen einzigen Sohne anzufangen; es wäre möglich, baß der Knabe, nachdem er mich sterben gesehen, einwilligte, aus Furcht zur Linken des Souverains zu gehen, wahrend ich fest entschlossen bin, dem Blute der Romodanowski weder vor noch nach meinem Sohne eine Schmach anzuthun." „Der Czar, und ich sage dies zu seinem Ruhme, gab nach, aber aus Rache gegen den unabhängigen Sinn der moskowitischen Aristocrats machte er aus Petersburg nicht blos einen Hafen an der Ostsee, sondern die Stadt, die wir jetzt sehen. „Nicolaus," setzte der Fürst K.. hinzu, „hätte nicht nachge- I4l geben, vielmehr den Bojaren und dessen Sohn in dle Bergwerke geschickt und durch eine in den gesetzlichen Ausdrücken abgefaßte Weise erklärt, daß wider der Vater noch der Sohn Kinder haben könnten. Vielleicht hätte er decrctirt, der Vater sei nicht vcrheirathet. Es kommen solche Dinge in Rußland häusig genug vor und ein Beweis dafür, daß sie erlaubt sind, liegt darin, daß es verboten ist, davon zu sprechen." Wie dem auch sein möge, der Stolz des moskowitischen Edelmannes giebt eine vollkommen? Vorstellung von der seltsamen Combination, aus welcher der jetzige russische Staat hervorgegangen ist. Diese monströse Zusammensetzung aus byzantinischer Kleinigkeitskramerei und Horden-Nohheit, dieser Kampf der Etikette des oströmischen Reiches mit den rauhen Tugenden Asiens hat den seltsamen Staat hervorgebracht, den Europa jetzt dastehen sieht und dessen Einfluß es vielleicht morgen fühlt, ohne sich erklären zu können, wie er wirkt. Sie haben eben gesehen, wie die willkürliche Gewalt, der die Aristocratic muthig entgegentrat, gedemüthigt wurde. Diese Thatsache und mehrere andere brachten mich zu der Behauptung, daß die Aristocratic dem Despotismus eines Einzigen, der Autocratic, schnurstracks entgegenstehe. Die Seele der Aristocratic ist der Stolz, wahrend der Geist der Democratic der Neid ist. Sie werden sehen, wie leicht ein Autocrat zu tauschen ist. Diesen Morgen sind wir an Reval vorbeigekommen. Der Anblick dieser Gegend, die erst seit kurzer Zeit russisch ist, erinnert uns an den großen Mann Karl Xll. uno die Schlacht von Narwa. In dieser Schlacht starb der Franzose, der Fürst von Cro',', der für den König von Schweden focht. Man brachte den Leichnam nach Neval, wo er nicht beerdigt werden konnte, weil er während der Feldzüge Schul- 142 den gemacht hatte und dieselben durch seinen Nachlaß nicht zu decken waren. Nach einem alten Gesetze oder vielmehr einem Herkommen legte man - den Leichnam in der Kirche zu Reval nieder, b' und er befahl, daß die Leiche den nächsten Tag beerdiget, die Kirche aber gereiniget würde. Am nächsten Tage reiste der Kaiser ab und die Leiche wurde auf den Gottesacker getragen, am andern Tage aber befand sie sich wieder in der Kirche an der Stelle, wo der Kaiser sie gesehen hatte. Wenn es in Rußland keine Gerechtigkeit giebt, so giebt es doch Gewohnheiten, die starker sind als das höchste Gesetz. Die größte Unterhaltung wahrend der kurzen Ueberfahrt fand ich darin, daß ich unaufhörlich Rußland gegen den Fürsten K.. zu vertheidigen hatte. Es geschah dies ohne alle Berechnung, einzig aus Liebe zu Recht und Billigkeit und ich erwarb mir dadurch das Wohlwollen aller Russen, die uns ^14^ sprechen hörten. Das freimüthige Urtheil, welches dieser liebenswürdige Fürst über sein Vaterland ausspricht, zeigt mir, baß man in Rußland wenigstens offen sprechen darf. Sage ich ihm dies, so antwortet er mir, er sei kein Ruffe. Seltsam! Er mag Nüsse oder Auslander sein, er spricht, was er denkt, weil er hohe Aemter bekleidet, zwei Vermögen durchgebracht, die Gunst mehrerer Souveraine gekannt hat, weil er alt und krank ist, und weil er namentlich durch eine Person in der kaiserlichen Familie beschuht wird. llcbrigens versichert er, um Sibirien zu entgehen, er schreibe Memoiren und schicke jeden Band, sobald er beendigt sei, nach Frankreich. Der Kaiser fürchtet die Oessentlichkeit, wie Rußland den Kaiser fürchtet. Ich höre den Fürsten K.. fortwahrend mit dem Interesse an, das er verdient, wenn ich seinen Urtheilen auch nicht immer beistimmen kann. Sehr ist mir die außerordentliche Aengstlichkeit der Russen in Vezug auf das Urtheil aufgefallen, das ein Fremder über sie fällt; der Eindruck, den ihr Vaterland auf einen Reisenden machen werde, beschäftigt sie unablässig. Die Epigramme des Fürsten K. . verletzen seine Landsleute hauptsachlich, weil sie einen ungünstigen Eindruck auf mich machen können, und ich bin eine wichtige Person in ihren Augen, weil ich ihnen gesagt habe, ich würde meine Reise beschreiben. „Lassen Sie sich durch diesen schlechten Russen nicht gegen Rußland einnehmen, schreiben Sie nicht unter dem Einflüsse seiner Lügen; er spricht, wie Sie ihn sprechen hören, nur um seinen französischen Esprit auf unsere Kosten zu zeigen; er selbst glaubt kein Wort von dem, was er sagt." So spricht man des Tages zehnmal leise zu mir. Meine Ansicht ist gleichsam ein Schatz, aus welchem jeder ___144 zu schöpfen ein Recht zu haben glaubt; auch verwirren sich mcine armen Gedanken, und wenn der Tag vorüber ist, zweifle ich an meiner eigenen Meinung. Das gefällt den Russen; sie jubeln, wenn wir nicht mehr wissen, was wir von ihrem Vaterlande denken oder sagen sollen. Ich glaube, sie würden wirklich schlechter und barbarischer sein, als sie es sind, wenn man sie dann für besser und civilisirter halten wollte. Ich liebe die Leute nicht, welche die Wahrheit so wohlfeil halten; die Civilisation ist keine Mode, keine List, sondern eine Macht, die ihre Folgen hat, eine Wurzel, die ihren Stengel, lhre Blume treibt und ihre Frucht tragt. „Sie werden uns wenigstens nicht die nordischen Barbaren nennen, wie es Ihre Landsleute thun.." Das sagt man mir jedes Mal, wenn man sieht, daß irgend eine interessante Erzählung, eine National-Melodie, ein schöner Zug von Patriotismus, oder ein edeles poetisches Gefühl eines Russen mich rührte oder amüsirte. Ich antworte auf alle diese Besorgnisse mit unbedeutenden Complimenten, denke aber bei mir, daß mir die nordischen Barbaren lieber sind als die Affen des Süden. Gegen die ursprüngliche Nohheit giebt es Mittel, nicht aber gegen die Sucht, das zu scheinen, was man nicht ist. Eine Art russischer Gelehrter, ein Grammatiker, Uebersetzer mehrerer deutscher Wcrke, Professor an, ich weiß nicht welcher Schule, näherte sich mir wahrend der Reise so oft als möglich. Er hat Europa durchreiset und kehrt nach Rußland zurück, voll Eifer, wie er sagt, dort das Gute in den modernen Ideen der Völker des Abendlandes zu verbreiten. Die Freiheit in seinen Reden kam mir verdächtig vor; sie ist nicht der Unabhängigkeitslurus des Fürsten K.., sondern ein studirter und berechneter Liberalismus, durch den ____145 Andere verlockt werden sollen, sich auszusprechen. Mir hat er sehr wenig abgelockt. Namentlich wünschte er zu wissen, ob ich meine Reise beschreiben würde, und er bot mir dabei seine Beihülfe an. Ich fragte ihn um nichts; meine Zurückhaltung erregte in ihm ein gewisses zufriedenes Erstaunen, und ich verließ ihn mit der Versicherung, „ich reise ausschließlich, um mich zu zerstreuen, ohne die Absicht zu haben, die Schilderung einer flüchtigen Wanderung zu veröffentlichen, die mir nicht gestatten wird, so viel Einzelnheiten zu sammeln, daß sie das Publikum interessiren könnten." Er schien durch diese Versicherung, die ich ihn unter allen Formen, direct und indirect, gab, beruhigt zu sein. Aber seine Unruhe, die ich beseitigte, erweckte neue Besorg-niß in mir. Wenn ich diese Reift beschreiben will, muß ich gefaßt sein, der Regierung verdächtig zu werden, welche am schlausten und durch ihre Spione am besten bedient ist. Das ist m jedem Falle unangenehm. Ich werde meine Briefe verborgen halten, ich werde schweigen, aber nicht affectiren; das unverhüllte Gesicht ist von allen Masken noch immer die, welche am besten tauscht. Mein nächster Brief wird aus Petersburg batirt sein. I. 10 Siebenter Brief. Petersburg, den 10. Juli 1539. Mahert man sich Kronstadt, dcr unterseeischen Festung, auf welche die Nüssen mit Recht stolz sind, so belebt sich plötzlich der finnische Meerbusen. Die imposanten Schiffe der kaiserlichen Marine durchschneiden ihn nach allen Richtungen hin; es ist die Flotte des Kaisers, die über sechs Monace des Jahres eingefroren daliegt, wahrend in den drei Sommermonaten die Seecadcts mit derselben zwischen St. Petersburg und der Ostsee manövriren. So verwendet man zur Belehrung der Jugend die Zeit, welche die Sonne unter diesen Breiten der Schissfahrt gestattet. Ehe wir in die Nähe von Kronstadt gelangten, fuhren wir auf einem fast öden Meere, auf dem sich nur selten ein Handelsschiff und noch seltener der Rauch der Pyroscaphen zeigte. Pyroscaph ist der gelehrte Name, welchen man in der Seesprache, die ein Theil Europa's angenommen hat, dem Dampfschiffe giebt. Die Ostsee mit ihrer matten Farbe und ihren wenig besuchten Gewässern verrath die Nahe eines wegen des kalten Climas dünn bevölkerten Landes. Die unfruchtbaren Küsten paffen zu dcm kalten leeren Meere, und das Herz des Reisenden erstarrt bei dem Anblicke dcr traurigen Erde, des trüben Himmels und der kalten Farbe des Waffers. 147 Kaum nähert man sich dem nicht eben anziehenden Ufer, so möchte man sich schon wieder von ihm entfernen; man denkt seufzend an den Ausspruch eines Günstlings Katharina's, die sich über die Einwirkung des Elima's auf ihre Gesundheit beklagte: „Der liebe Gott ist nicht Schuld daran, daß die Menschen eigensinniger Weise die Hauptstadt eines großen Ncichcs in einer Gegend erbaucten, welche die Natur für die Wölfe und Baren bestimmt hat/' Meine Reisegefährten sehten mir mit Stolz die Fortschritte der russischen Marine in der neuern Zeit auseinander. Ich bewundere dieses Wunder, ohne dasselbe wie sie zu würdigen. Es ist eine Schöpfung oder vielmehr eine Unterhaltung des Kaisers Nicolaus. Dieser Fürst will den vorherrschenden Gedanken Peter's l. verwirklichen; wie mächtig aber auch ein Mensch sein mag, cr muß doch früher oder später anerkennen, daß die Natur stärker ist als der Mensch. So lange Nußland nicht aus seinen natürlichen Grenzen heraus-tritt, wird die Marine das Spielzeug des Kaisers sein, mehr nicht. Man erzählte mir, daß in der Zeit der nautischen Uebungen die jüngsten Seecadets ihre Evolutionen in der Gegend von Kronstadt machen, während die geübtem ihre Entdeckungsreisen bis Neval, bisweilen sogar bis Kopenhagen ausdehnen. Ja, zwei russische Schisse, die ohne Zweifel von Fremden commandirt werden, haben bereits eine Reise um die Welt gemacht oder schicken sich dazu an. Trotz dem Höflingsstolze, mit welchem die Russen mir die Wunderthaten des Willens des Herrn rühmten, der eine kaiserliche Marine haben will und wirklich eine hat, schwand meine Neugierde, sobald ich erfuhr, daß die Schiffe, welche ich sah, nur zur Belehrung und Einübung von Zöglingen da wären. Es war mir, als sei ich in eine Schule versetzt, 10' 148 und der Anblick des Meerbusens, den nur das Studium belebt, machte einen unbeschreiblich traurigen Eindruck auf mich. Diese Bewegung, welche ihre Nothwendigkeit nicht in der That hat, die weder das Resultat des Krieges noch des Handels ist, kam mir wie cinc Parade vor. Nun weiß es Gott und die Russen wissen es auch, ob die Parade ein Vergnügen ist! Die Vorliebe für Musterungen wird in Rußland bis zur Manie getrieben, und ehe ich das Land der Militair-Euolutionen betrete, muß ich schon einer Musterung zur See beiwohnen. Ich kann nicht darüber lachen; Kinderspiel im Großen ist etwas Entsetzliches, etwas Monströses, das nur unter der Tyrannei möglich ist, die sich hier vielleicht am schrecklichsten zeigt. Ucberall, außer unter dem absoluten Despotismus, wollen die Menschen einen großen Zweck erreichen, wenn sie große Anstrengungen machen; nur bei blindlings gehorsamen Völkern kann der Gebieter ungeheuere Opfer für — nichts befehlen. Der Anblick der russischen Seemacht, die zur Unterhaltung des Kaisers, für den Stolz seiner Schmeichler und zur Belehrung seiner Schüler ganz in der Nahe der Hauptstadt vereinigt war, machte einen peinlichen Eindruck auf mich. Es machte sich in dieser Schulübung ein falsch angewendeter eiserner Wille bemerklich, der die Menschen unterdrückt, weil er di> Umstände nicht überwinden kann. Schisse, die nothwendiger Weise in wenigen Wintern verloren sein müssen, ohne daß sie etwas genutzt haben, reprasentiren in meinen Augen keineswegs die Macht eines großen Reiches, sondern den nutzlos vergeudeten Schweiß eines armen Volkes. Das länger als cin halbcs Jahr gefrorene Wasser ist der furchtbarste Feind dieser Kriegsmarine. Jeden Herbst wird der Schüler nach dreimonatlicher Uebung in seinen Käsig, daS 149 Spielzeug in seine Schachtel zurückgebracht, und nur das Eis führt einen ernsten Krieg gegen die kaiserlichen Finanzen. Lord Durham hat zu dem Kaiser selbst gesagt und ihn durch diesen Freimuth an der empfindlichsten Stelle seines Herrscherhcrzens verletzt: „Die russischen Kriegsschisse sind die Spielwerke des russischen Kaisers." Mich stimmt diese colossale Spielerei keineswegs zur Bewunderung dessen, was ich im Innern des Landes finden werde. Will man Nußland bewundern, wenn man zu Wasser da ankommt, so müßte man die Ankunft in England auf der Themse vergessen. Man hat da ein Verhältniß wie zwischen Tod und Leben. Als wir vor Kronstadt den Anker auswarfen, erfuhren wir, eins der schönen Schisse, die wir noch eben hatten manövriren sehen, sei auf einer Sandbank sitzen geblieben. Dieser gefahrlose Schiffbruch war nur für den Capitain einst, der erwarten mußte, am andern Tage cassirt und vielleicht noch strenger bestraft zu werden. Der Fürst K-sagte leise zu mir, der Unglückliche würde besser gethan haben, wenn er mit dem Schisse untergegangen wäre. Die Mannschaft, wcniger Vorwürfen ausgesetzt, war nicht dieser Meinung, auch nicht unsere Reisegefährtin, die Fürstin L<> Diese Dame hat nämlich einen Sohn auf diesem unglücklichen Schisse. Sie war sehr besorgt und wäre beinahe wieder in Ohnmacht gefallen wie den Tag vorher, als die Störung in der Maschine unseres Schiffes eintrat; sie wurde indeß noch bei Zeiten durch den Gouverneur von Kronstadt beruhiget, der ihr gute Nachrichten brachte. Die Russen wiederholen mir fortwahrend, man muffe wenigstens zwei Jahre in Nußland zubringen, ehe man sich 150 ein Urtheil über das Land erlauben könne, das sehr schwer zu beurtheilen sei. Wenn aber die Klugheit und die Geduld Tugenden sind, welche die gelehrten Reisenden oder die, welche schwierige Werke zu schaffen gedenken, nothwendig besitzen müssen, so bin ich entschlossen, aus einem Tagebuche keine Arbeit zu machen. Vis jetzt schreibe ich nur für Sie und für mich. Ich fürchtete mich vor dem russischen Zollwesen, man versicherte mich aber, man würbe mcin Schreibgerät!) verschonen. Uebrigens merke ich schon, daß man sich manchen Unannehmlichkeiten aussetzen müßte, wenn man Rußland, so wie cs mir auf den ersten Anbick erscheint, schildern und ohne Rücksicht Alles sagen wollte, und ich werde mir wahrscheinlich keine besondere Mühe geben. Nichts ist so traurig als die Gegend in der Nahe von Petersburg; gelangt man weiter in den Meerbusen hinein, so schrumpft das sumpfige Ingermannland, daß sich platt hinzieht, endlich in eine schmale zitternde Linie zwischen Himmel und Meer zusammen. Diese Linie ist Rußland, d. h. eine feuchte, niedrige, hie und da mit ärmlichen und unglückseligen Birken bewachsene Halde. Diese flache, öde, hügellose, farblose, grenzenlose und kcinesweges großartige Landschaft wird cben nur so stark erhellt, daß man sie seh«n kann. Die graue Erde ist der bleichen Sonne werth, die sie, nicht von oben, sondern von der Seite, fast von unten beschcint, einen so spitzen Winkel bilden ihre Strahlen mit dem von dem Schöpfer vernachlässigten Boden. Die schönsten Tage im Jahre sind in Nußland nur blaulich. Haben die Nächte eine stauncnöwerthe Helle, so behalten die Tage eine betrübende Dunkelheit. Kronstadt mit seinem Mastenwalde, seinen Unterthanen und seinen Granitmauern unterbrichl in edler Weise die monotonen Gedanken des Reisenden, der gleich mir von dieser undankbaren Erde Bilder verlangt. Ich habe in der Nähe keiner großen Stadt etwas so Trauriges gesehen als die Ufer der Newa. Die Campagna Noms ist eine Einöde, aber welche malerischen Mannichfaltigkeiten, welche Erinnerungen, welches Licht, welches Feuer, welche Poesie, ich möchte sagen, welche Leidenschaft beleben diese Gegend! Vor Petersburg kommt man über eine Wasserwüste, die von einer Torfwüste begrenzt ist. Meer, Küsten, Himmel, Alles verschwimmt; es ist ein Spiegel, aber ein so trüber, matter, als hätte er gar keine Folie; er reflcctirt nichts. Auf dem Meere verfolgten mich die schönen kaiserlichen Kriegsschisse, welche verfaulen, ohne gekämpft zu haben, wie ein Traum. Die Englander nennen in ihrer Sprache, die so poetisch wird, sobald sie Seescenen schildert, ein königliches Kriegsschiff einen Kriegsmann. Die Russen werden ihre Paradeschiffe nie so nennen. Diese armen Hofmänner, die stummen Sclaven eines launenhaften Herrn, hölzerne Höflinge, treue Bilder der Serail-Eunuchen, sind die Invaliden der kaiserlichen Marine. Diese despotische Improvisation, diese nutzlose Marine, flößt mir keineswegs die Bewunderung ein, welche man von mir erwartet, sie erregt vielmehr eine gewisse Furcht in mir, nicht die Furcht vor dem Kriege, sondern vor der Tyrannei. Sie erinnert mich an alles Unmenschliche in dem Herzen Peters l., des Typus aller russischen Sou-veraine, der alien und der neuen, und ich frage mich: Wohin komme ich? Was ist Nußland? Rußland ist ein Land, wo man das Großartigste um des geringfügigsten Resultates willen toun kann .. Dahin mag lch nicht. Einige elende Varken mit Schissern, die so schmutzig waren wie Eskimos, einige Böte, welche lange Flosse von Bauholz für die kaiserliche Marine herbeizuziehen hat- 152 ten, einige Dampfschiffe, die meist von Fremden gebaut sind und commandirt werden, weiter war nichts zu sehen, und ich konnte mich also ungestört mit meinen trüben Gedanken beschäftigen. Das ist die Gegend von Petersburg. Hat Peter der Große vergebens Alles gesehen, was bei der Wahl dieses Punktes der Natur und den wirklichen Bedürfnissen eines großen Volkes entgegen ist? Um jeden Preis das Meer! sagte er. Eine seltsame Idee für einen Russen, die Hauptstadt der Slawen bei den Finnen und gegen die Schweden HU bauen! Wenn auch Peter der Große sagte, er wolle Nußland nur einen Hafen geben, so mußte er doch, wenn, cr das Genie wirklich besaß, das man ihm zuschreibt, die Bedeutung seiner Schöpfung ahnen und ich zweifle nicht, daß er sie ahnte. Die Politik und, ich fürchte, die Nachsicht der Eitelkeit des durch den Unabhangigkeitssinn der alten Moskowiten gereizten Czar haben das Geschick des neuen Nußland gegründet. Rußland gleicht einem kraftigen Menschen, bcr erstickt; es fehlt ihm an Abzügen. Peter l. hatte ihm dergleichen versprochen, aber ohne zu bemerken, daß ein acht Monate des Jahres geschlossenes Meer nicht ist wie die andern Me^re. Für die Russen sind freilich Namen Alles. Die Anstrengungen Peters l., seiner Unterthanen und seiner Nachfolger haben, so staunenswerth sie sind, nichts als eine schwer zu bewohnende Stadt hervorgebracht, welcher die Newa den Boden bei jedem Windstöße von dem Meerbusen aus streitig macht und von wo die Mmschcn bei jedem Schritte zu entfliehen gedenken, den der Krieg ihnen nach Süden zu zu machen erlaubt. Für eiv Bivouac waren die Graniltais zu viel. Die Finnen, bei demn die Rllssm ihre Hauptstadt er- bauten, sind Scythen der Abstammung nach, ein heute noch fast heionischcs Volk, achte Bewohner des Bodens von Petersburg und noch so roh, daß erst 1836 eine Ukase erschien, welche den Geistlichen nöthigt, dem Namen des Heiligen, welchen er dem von ihm getauften Kinde giebt, einen Familiennamen beizufügen. Was nützt abcr die Bezeichnung der Familie, wo es keine Familie giebt? Dieses Volk hat keine Physiognomie. Die Mitte des Gesichtes ist platt gedrückt, was die Züge unförmig macht. Uebrigens sind diese häßlichen und schmutzigen Menschen ziemlich kraftig, wie man mir sagt, ob sie gleich klein, schwächlich und armselig aussehen. 3b sie gleich die Eingeborenen sind, sieht man doch nur wenige in Petersburg; sie wohnen in der sumpfigen Umgegend und an den nicht sehr hohen granitnen Küsten; nur an den Markttagen kommen sie in die Stadt. Kronstadt ist eine sehr flache Insel kn der Mitte des sinnischen Meerbusens. Diese Wafferfestung erhebt sich über das Meer nur eben so weit, um den feindlichen Schiffen, welche Petersburg angreifen wollten, die Weiterfahrt zu wehren. Ihre Kerker, ihr Grund, ihre Starke liegen zum großen Theile unter dem Waffer. Die Geschütze, mit denen sie besetzt ist, sollen, nach der Angabe der Russen, sehr kunstvoll vertheilt sein; bei einer Ladung würde jeder Schuß treffen, und das ganze Meer zerrissen werden wie ein Feld durch Pflugschar und Egge. In Folge dieses Kugelhagels, der auf einen Befehl des Kaisers über den Feind ausgeschüttet werden kann, gilt der Platz für uneinnehmbar. Ich weiß nicht, ob die Kanonen die beiden Einfahrten des Golfes schließen können; die Nüssen, welche wohl im Stand« waren, mir darüber Auskunft zu geben, mögen es nicht. Man müßte, um auf diese Frage Antwort geben zu können, die Tragweite und 154 die Richtung der Kugeln berechnen und die Tiefe der beiden Wasserstraßen sondiren. Meine obgleich ganz neue Erfahrung hat mich bereits gelehrt, den Uebertreibungen zu mißtrauen, welche den Russen durch ihren übergroßm Eifer für den Dienst ihres Herrn eingeflößt werden. Dieser Nationalstolz würde mir nur bei einem freien Volke erträglich vorkommen. Wenn man aus Schmeichelei sich stolz zeigt, so hofft man die Wirkung der Ursache wegen; so viel Ruhmredigkeit zeugt von Furcht, denke ich bei mir, so viel Hochmuth verrach eine sinnreich versteckte niedrige Gesinnung. Diese Entdeckung macht mich feindselig. Ich habe in Frankreich wie in Nußland zwei Arten von Salon-Russen gefunden, — solche, derm Klugheit mit der Eitelkeit zusammentrifft, so daß sie ihr Vaterland übermäßig loben, und andere, die eleganter, civilisirter erscheinen wollen, und entweder eine tiefe Verachtung oder eine außerordentliche Bescheidenheit assectiren, sobald sie von Rußland sprechen. Bis jetzt habe ich mich weder von den erstern, noch von den letztem tauschen lassen, ich möchte aber gern eine dritte Classe finden, ganz einfache Russen, und diese suche ich. Wir kamen in Kronstadt mit der Morgenröthe eines der end- und anfangslosen Tage an, die ich nicht beschreiben kann, die ich aber bewundern muß, — halb ein Uhr. Die Zeit der langen Tage ist kurz, und sie naht sich bereits dem Ende. Wir ankerten vor der stillen Festung und mußten lange auf das Erwachen eines Heeres von Beamten warten, die nach rinandcr an Bord kamen, — Pollzeicommiffare, Zoll-directoren und Zollunterdircctorm und endlich der Zollgou-verneur stlbst. Dieser wichtige Mann hielt sich für verpflichtet, uns cmen Besuch zu machen wegen der hochgestellten 155 russischen Paffagiere, die sich auf dem Nicolaus l. befanden. Er unterhielt sich lange mit den Fürsten und Fürstinnen, die nach Petersburg zurückkamen. Man sprach russisch, wahrscheinlich weil die Politik des westlichen Europa der Gegenstand der Unterhaltung war; als aber das Gesprach auf die Verlegenheiten des Landens und auf die Nothwendigkeit kam, den Wagen im Stich zu lassen und sich auf ein anderes Fahrzeug zu begeben, sprach man französisch. Das Dampfschiff von Travemünde geht zu tief im Wasser, als baß es die Newa hinauffahren könnte; es bleibt in Kronstadt mit dem großen Gepäcke, wahrend die Reisenden auf einem kleinen, schmutzigen und schlecht gebauten Dampfschiffe nach Petersburg gebracht werden. Wir haben dke Erlaubniß, auf diesem neuen Fahrzeuge unsere leichtesten Koffer und Packereien mitzunehmen, vorausgesetzt, daß wir sie in Kronstadt plombiren lassen. Nach Beendigung dieser Formalität entfernt man sich mit der Hoffnung, seinen Wagen den zweiten Tag darauf nach Petersburg nachkommen zu sehen. Bis dahin bleibt er in der Hut Gottes und — der Zollaufseher, die ihn durch Arbeitsleute von einem Schiffe auf das andere bringen lassen, was immer eine schlimme Sache ist, in Kronstadt aber gefährlich wird, weil man sehr unvorsichtig damit umgeht. Die russischen Fürsten mußten sich gleich mir, dem einfachen Reisenden, dem Zollgesetze unterwerfen. Diese Gleichheit gefiel mir; aber in Petersburg sah ich, daß sie binnen drei Minuten abgefertigt w^ren, wahrend ich drei Stunden gegen Plackereien aller Art zu kämpfen hatte. Das einen Augenblick ziemlich lose unter dem Alles gleichmachenden Despotismus verhüllte Vorrecht erschien von Neuem, und dich Auserstehung mißfiel, mir. Der Luxus von kleinen überflüssigen Vorsichtsmaßregeln 156 macht hier elne endlose Menge von Angestellten nöthig. Je: der dieser Leute entledigt sich seiner Pflicht mit einer Pedanterie, einem Rigorismus und einer Wichtigthuerei, welche nur den Zweck hat, auch den untergeordnetsten Posten ein gewisses Ansehen zu geben. Er erlaubt sich nicht ein Wort zu sagen, aber man sieht, daß er ungefähr denkt: Platz vor mir, denn ich bin ein Glied der großen Staatsmaschine. Dieses Glied, das nach einem fremden Willen thätig ist, lebt nicht mehr als ein Rad in einer Uhr, in Rußland nennt man es aber einen Menschen. Mich schaudert bei dem Anblicke dieser Automaten; es liegt etwas Unnatürliches in dem Menschen, der zur bloßen Maschine gemacht ist. Wenn in den Ländern, wo es viele Maschinen giebt, Holz und Metall eine Seele zu haben scheinen, so gleichen die Menschen unter dem Despotismus dem Holze. Man fragt sich unwillkürlich, was sie wohl mit ihren überflüssigen Gedanken anfangen, und fühlt sich unbehaglich, wenn man bedenkt, welche Kraft man aufbieten mußte, um verständige Menschen zu Sachen zu machen. In Rußland fühlte ich Mitleiden mit den Menschen, wie ich in England mich vor den Maschinen fürchtete. Es fehlt hier den Schöpfungen der Menschen nur die Sprache, denn die Sprache ist für die Geschöpfe des Staates zu viel. Diese durch eine Seele belästigten Maschinen sind übrigens entsetzlich höflich; man sieht es ihnen an, baß sie von der Wiege an zur Höflichkeit abgerichtet wurden wie Andere zur Handhabung der Waffen. Aber welchen Werth können die Formen dcr Höflichkeit haben, wenn die Achtung befohlen ist? Was auch der Despotismus thun mag, der freie Wille des Menschen wird immer die nothwendige Weihe jeder menschlichen Handlung bleiben, wenn sie eine Bedeutung haben soll. Nur die Fähigkeit, sich einen Herrn zu wählen.. ____157___ kann der Treue einen Werth geben, und da in Rußland der Untere nichts zu wählen hat, so hat Alles, was er sagt und thut, weder Sinn noch Werth. Bei dem Anblicke so vieler Kategorien von Spionen, die uns visitirten und ausfragten, kam mir das Gähnen an, das sich leicht in die Lust zu weinen verwandelt hätte, zu weinen, nicht über mich, sondern über das Volk. So viele Vorsichtsmaßregeln, die hier für durchaus nothwendig gelten, die man anderwärts aber durchaus nicht bedarf, deuteten mir an, daß ich das Reich der Furcht betrate. Die Furcht steckt aber an wie die Traurigkeit; ich fühlte also Furcht, und ich war traurig — aus Artigkeit, um mich allen Andern gleichzustellen. Man forderte mlch auf, in den großen Saal unseres Dampfschiffes hinunterzugehen, Wo ich vor einem Gerichtshose von Beamten erscheinen sollte, welche die Paffagiere zu verhören haben. Alle Mitglieder dieses mehr furchtbaren als imposanten Tribunals saßen an einer großen Tafel; mehrere blätterten mit schauerlicher Aufmerksamkeit in Registern, und sie schienen so eifrig zu sein, daß sie nothwendig ein geheimes Amt zu verrichten haben mußten; ihr eingestandenes Amt rechtfertigte so viel Ernst nicht. Einige hörten, die Feder in der Hand, die Antworten der Reisenden oder vielmehr der Angeklagten an, denn jeder Fremde wird bei seiner Ankunft an der russischen Grenze als Schuldiger behandelt; Andere riefen laut Copisten Worte zu, auf die wir keinen Werth legten. Diese Worte werden aus einer Sprache in die andere, aus der französischen in die deutsche und aus der deutschen in die russische übersetzt, in welcher der letzte Schreiber sie unveränderlich, vielleicht willkürlich in sein Buch schreibt. Man schrieb die Namen von den Passen ab; jedes Datum, jedes Visa wurde mit der 158 angstlichsten Genauigkeit geprüft, der durch diese moralische Folter gemarterte Passagier aber nur durch Phrasen gefragt, die keine andere Bedeutung zu haben schienen, als ihn auf seiner Armensünderbank zu trösten. Das Resultat des langen Verhörs, das ich mit allen Andern bestehen musite, bestand darin, daß man mir meinen Paß abnahm, nachdem ich eine Karte hatte unterzeichnen müssen, mittelst welcher ich, wie man mir sagte, diesen Paß in Petersburg wlcder zurückfordern könnte. Alle schienen den von der Polizei gebotenen Formalitäten genügt zu haben, die Koffer und Personen waren bereitS auf dem neuen Dampsboote, wir lagen seit vier Uhr vor Kronstadt, und noch hörten wir nichts von der Weiterfahrt. Jeden Augenblick kamen neue schwarze Vöte aus der Stadt und ruderten traurig auf uns zu. Ob wir gleich nahe an den Mauern der Stadt lagen, herrschte doch die tiefste Stille ... Keine Stimme schallte aus diesem Grabe; die Schatten, welche wir um uns her schwimmen sahen, waren stumm wie die Steine, die sie verlassen hatten. Man hatte sagen können, es werde ein Leichcnzua, vorbereitet und man warte nur noch auf den Sarg. Die Manner, welche jene düstern und schmutzigen Fahrzeuge lenkten, trugen grobe Röcke von grauer Wolle; ihre Gesichter hatten keinen Ausdruck und eine grünlich-gelbe Farbe. Es sind Matrosen von der Garnison, sagle man mir; sie glichen Soldaten. Es war längst Tag, er hatte uns aber nicht mehr Licht gebracht als die Dämmerung; die Luft war erstickend heiß, und die Sonne belästigte mich, da sie sich auf dem Wasser spiegelte. Einige Vöte fuhren schweigend um uns herum, ohne daß Jemand zu uns an Bord, kam; ein anderes Mal brachten uns sechs oder zwölf zerlumpte Matrosen, die halb mit umgekehrten Schaffellen (die Wolle nach innen) bedeckt waren. 159 einen neuen Polizeiagentcn ober einen neuen Offizier von der Garnison oder einen Zollaufseher, der sich verlpätigt hatte, und dieses Gehen und Kommen, das unsere Angelegenheiten durchaus nicht sördcrte, gab mir wenigstens hinreichend Zeit, über den eigenthümlichen Schmutz der Nordländer nachzudenken. Die Südländer verbringen ihr Leben halbnackt im Freien oder im Wasser; die Nordländer, die säst immer eingeschlossen sind, besiften eine fettige Unreinlichkeit, die mir weit widerlicher vorkommt als die Nachlässigkeit der Leute, die unter dem freien Himmel wohnen und sich an der Sonne wärmen. Die Langeweile, zu welcher die russische Kleinigkeitskramerei uns verurtheilte, gab mir auch zu der Bemerkung Gelegenkeit, daß die großen Herren des Landes die Unannehmlichkeiten der öffentlichen Ordnung ungern ertragen, sobald sie ihnen selbst lastig werden. „Rußland ist das Land der nutzlosen Förmlichkeiten," flüsterten sie unter einander, aber französisch, damit sie von den Subaltcrnbeamten nicht verstanden würden. Ich habe diese Bemerkung nicht vergessen, deren Richtigkeit mir durch eigene Erfahrung nur schon zu oft bewiesen worden ist. Nach dem, was ich bis jetzt hier gesehen habe, würde ein Werk: „Die Russen, durch sich selbst beurtheilt" sehr hart werden. Die Liebe zu ihrem Vatcrlande ist für sie nur ein Mittel, dem Herrn zu schmeicheln. Sobald sie glauben, dieser Herr und Gebieter könne sie nicht hören, sprechen sie über Alles mit einer Freimüthigkeit, die um so schrecklicher ist, als die, welche sie hören, verantwortlich werden. Endlich erfuhren wir die Ursache des langen Aufenthaltes. Der Erste der Ersten, der Obere der Obern, der Director der Directoren des Zolles erschien, und auf diesen letzten Besuch warteten wir so lange, ohne baß wir es wußten. 160^ Dieser höchste Beamte trc^gt keine Uniform, sondern einen Frack, wie ein gewöhnlicher Privatmann. Seine Nolle scheint die zu sein, den Mann von Welt zu spielen. Anfangs machte er den Angenehmen bei den russischen Damen; er erinnerte die Fürstin D. an ihr Zusammentreffen in einem Hause, in welchem die Fürstin nie gewesen war; er sprach von Hofbällen, wo sie ihn nie gesehen hatte; kurz er spielte Comödie mit uns, namentlich mit mir, der ich nicht begreifen konnte, daß man sich in einem Lande für mehr ausgeben könnte, als man ist, wo das Leben markirt ist, wo der Rang eines jeden ihm auf den Hut oder den Epaulets geschrieben steht; aber der Mensch bleibt im Grunde überall derselbe. Unser Salon-Weltmann nahm, ind?m er fortwahrend als Hofmann erschien, einen Sonnenschirm, einen Koffer, «in Reisenecessaire weg und wiederholte mit unveränderlicher Kaltblütigkeit die Nachsuchungcn, welche von seinen Unterbeamtcn bereits so gewissenhast durchgemacht waren. Diese kleinliche Sorgfalt schließt in der russischen Verwaltung die Unordnung nicht aus. Man giebt sich unendlich viel Mühe, einen kleinen Zweck zu erreichen und glaubt nie genug thun zu können, um seinen Eifer zu zeigen. Aus diesem Eifer der Beamten folgt, daß eine Förmlichkeit den Reisenden noch keineswegs vor einer andern sichert. Es ist gleichsam eine Plünderung; wenn der Reisende den Handen der erstem Schaar entgangen ist, so kann er noch gar nicht sagen, daß er nicht mit einer zweiten, einer dritten zu thun haben werde, die an seinem Wege aufgestellt sind und ihn um die Wette foltern. Das mehr oder minder schüchterne Gewissen der Beamten aller Grade, mit denen er zu thun haben kann, entscheidet über sein Schicksal. Was er auch sagen mag, er wird nie in Ordnung sein, wenn MM sich an ihm rächen will — W1 und ein solches Land will wie die westlichen Staaten civi-lisirt sein! Das höchste Oberhaupt der Kerkermeister des Reiches untersuchte das Schiff sorgsam und gemachlich; er brachte lange, sehr lange zu und die Conversation, die er bei der Ausübung seines Amtes mit zu unterhalten hat, complicirt die Functioncn dieses von Moschus duftenden Cerberus. Endlich waren wir von den Ceremonien der Douane, von der Höflichkeit dcr Polizei, von den militairischen Begrüßungen und von dem Anblicke der tiefsten Armuth, welche den Menschen entstellen kann, erlöset, — denn die Ruderer der Herrn vom russischen Zollwcscn sind Geschöpfe einer ganz besondern Art. Da ich für sie nichts thun konnte, so war ihre Gegenwart mir zuwider und so oft die Armen die Beamten aller Grade im Zoll- und See-Polizeiwesen, der strengsten im Lande, an Bord brachten, wandte ich die Augen ab. Diese zerlumpten Matrosen verunehren das Land; es sind gewissermaßen schmierige Galeerensträflinge, welche ihr ganzes Leben lang die Beamten und Offiziere von Kronstadt an Bord der fremden Schiffe zu bringen haben. Sieht man ihre Gesichter und bedenkt man, was bei diesen Unglücklichen „leben" heißt, so muß man fragen, was der Mensch Gott gethan hat, daß sechszig Millionen seines Gleichen in Nußland zu leben verdammt sind. In dem Augenblicke, als es fortgehen sollte, trat ich zu dem Fürsten K.. „Sie sind Nüsse," sagte ich zu ihm, „liebrn Sie doch Ihr Vaterland so weit, daß sie den Minister des Innern oder den, welcher die Polizei unter sich hat, auffordern, alles dies abzuändern. Er möge sich eines Tags als unverdächtigen Fremden gleich mir zcigm und in Kronstadt ankommen, um I. II 162 mit eigenen Augen zu sehen, was es heißt, in Rußland anzukommen." „Warum?" antwortete der Fürst, „der Kaiser selbst würde hier nichts vermögen." „Der Kaiser nicht, aber der Minister." Endlich setzte sich das Schiff in Bewegung, zur großen Freude der russischen Fürsten und Fürstinnen, die zu ihren Familien und in ihre Hcimath zurückkehrten. Ihr freudiges Aussehen strafte die Bemerkungen meines Wirthes in Lübeck Lügen, wenn nicht auch hier die Ausnahme die Regel bestätiget. Ich für meinen Theil freute mich gar nicht, ich verließ vielmehr ungern eine angenehme Gesellschaft, um mich in einer Stadt zu verlieren, deren Umgegend mich traurig gestimmt hatte. Diese durch den Zufall gebildete Gesellschaft existirte bereits nicht mehr; schon am Tage vorher hatte die Nähe der Stadt die schwachen Bande zerrissen, die uns vereiniget hatten. So thürmt der Wind, der gegen Abend weht, Wolken am Horizonte auf, die untergehende Sonne beleuchtet sie und giebt ihnen ein anderes Ansehen; die Gestalten entsprechen den Träumen der lachendsten Phantasie, die in ihnen nur verzauberte Schlösser mit phantastischen Wesen, Nymphen und Göttinnen sieht, Grotten, in denen Sirenen wohnen, Inseln, die auf einem Feuermcere schwimmen. Mischt sich ein Un-gethüm, eine groteske Gestalt unter diese reizenden Gruppen, so erhöhet sie durch den Contrast die Schönheit der lieblichen Bilder. Aendcrt sich aver dec Wind oder weht er nur fort, geht die Sonne unter, — so ist Alles verschwunden, so ist der Traum zerronnen, die Kälce, die Oeoe folgt auf die Schöpfungen des entschwundenen Lichtes, die Dämmerung entflieht mit ihrem Gefolge von Trugbildern und die Nacht tritt ein. Die nordischen Frauen verstehen sich trefflich darauf, 163 uns glauben zu machen, sie hätten freiwillig gewählt, was das Geschick ihnen gegeben hat. Es ist dies nicht Falschheit sondern rafsinirte Koketterie; sie sind artig und höflich gegen das Schicksal. Die Anmuth ist immer natürlich, das hindert aber nicht, daß man sich derselben bediene, um die Lüge zu verbergen. Das Gewaltsame und Gezwungene in den verschiedenen Lagen des Lebens verschwindet bei den anmuthigen Frauen und den Mannern, die Dichter sind; sie sind die trügerischsten Wesen der Schöpfung. Der Zweifel flieht vor ihrer Furcht; sie schaffen, was sie sich einbilden; vor ih« ren Worten besteht kein Mißtrauen; wenn sie andere nicht belügen, so belügen sie sich selbst, denn ihr Glück ist die Täuschung, ihr Beruf das auf den Schein gegründete Vergnügen. Man fürchte, daß die Anmuth der Frauen und die Poesie der Männer, denn diese Masken sind um so gefährlicher, je weniger man sie fürchtet. Das dachte ich bei mir, während ich die Mauern von Kronstadt verließ. Wir waren noch alle da, aber nicht mehr vereiniget; die Seele fehlte dem Kreise, welchen noch den Tag vorher eine geheime Harmonie belebt hatte, die man nur selten in den menschlichen Gesellschaften findet. Mir ist selten etwas so traurig vorgekommen, als dieser schnelle Wechsel; er lst ble Bedingung bei den Freuden dieser Welt, ich hatte es vorausgesehen, auch habe ich dieselbe Erfahrung hundertmal gemacht, aber nie fiel mir das Licht so plötzlich in die Augen. Und übrigens, welcher Schmerz brennt mehr als der, welchen man Niemanden zur Last legen kann? Jedermann war bereit, seinen eigenen Weg zu gehen; das Geschick zog seine Bahn vor diesen Wanderern, welche wieder in das gewöhnliche Leben eintraten; die Neisefreiheit bestand nicht mehr für sie, sie kehrten in das wirkliche Leben zurück und ich allein sollte von Land zu Lande irren.. Ich fühlte 11' 164 mich verlassen, ich empfand jene Verlassenheit auf derNeise, welche die vollständigste ist, und ich verglich meine Wande-rungs-Einsamkeit mit den hauslichen Freuden der Andern. Die Einsamkeit war wohl eine wirkliche, wurde sie dadurch angenehm? In diesem Augenblicke hätte ich meiner Unabhängigkeit Alles vorgezogen und ich sehnte mich sogar nach Familiensorgen. Einige dachten an den Hof, Andere an die Douane, denn trotz der Zeit, die wir in Kronstadt versäumt hatten, war unser Hauptgrpack doch erst plombirt; manche Schmucksachen, manche LuxuSgegmstande, vielleicht selst Vü-cher lasteten auf dem Gewissen dieser Leute, welche den Tag vorher ganz ruhig auf dem Schiffe saßen und jetzt bei dem Anblicke eines Zollaufsehers zitterten. Ich las in den Augen der Frauen die Sehnsucht nach dem Manne, den Kindern, der Näherin, dem Coiffeur, dem Hofballe; ich las darin, daß ich trotz den Vetheucrungen von gestern für sie bereits nicht mehr eristirte. Die Nordländer haben unsichere Herzen, zweifelhaftes Gefühl; ihre Neigungen sind immer dem Ersterben nahe wie das bleiche Licht der Sonne; sie hangen an nichts, an Niemanden und verlassen gern den Voben, auf dem sie geboren wurden. Diese Völker, die für den Einfall in andere Lander geschaffen sind, haben den einzigen Zweck, in gewissen von Gott bestimmten Zeiten von dem Pole herabzusteigen, um die Völker des Südens, die durch das Feuer der Gestirne und ihrer Leidenschaft ausgeglüht wurden, abzukühlen und wieder anzufrischm. Meine Freunde wurden gleich nach ihrer Ankunft in Petersburg nach ihrem Range bedient und freigelassen; sie verließen ihr Rciftgefangniß, ohne mir Lebewohl zu sagen, der ich unter der Last der Ketten der Polizei und des Zollwesens gebeugt zurückbleiben mußte. Warum auch Lebewohl sagen? Ich war todt. — Was ist für Mütter ein Reisender? — 165 Kein herzliches Wort, kein Blick, keine Erinnerung ward mir geschenkt ... Es war die weiße Leinwand der Zauberlaterne, nachdem die Schatten verschwunden sind. Ich wiederhole es Ihnen: ich erwartete diese Entwickelung, aber keineswegs den Schmerz, den sie mir verursachte, so wahr ist es, daß wir die Quelle alles dessen sind, was uns über: rascht... Drei Tage vor der Ankunft am Lande hatte ich zwei liebenswürdigen Reisegefährtinnen versprechen muffen, sie in Petersburg zu besuchen ... Der Hof ist Alles hier; ich bin noch nicht vorgestellt und werde warten. Achter Vricf. Petersburg, sen il. IM ,959. Mmds, ^ie Straßen Petersburgs haben in den Augen eines Franzosen ein seltsames Aussehen. Ich will es versuchen, Ihnen dieselben zu schildern, vorher aber noch von dem Eintritte in die Stadt von der Newa aus sprechen. Sie ist berühmt, und die Nussm sind mit Recht stolz auf sie, dennoch fand ich sie ihrem Nufe nicht entsprechend. Wenn man von Weitem einige Thürme zu erblicken anfängt, macht das, was man sieht, einen mehr seltsamen als imposanten Eindruck. Die leichte Schicht Erde, die man von fern zwischen dem Himmel und dem Meere sieht, wird an einigen Punkten ungleicher als an den andern; das ist aber auch Alles, und diese kaum bemerklichen Unregelmäßigkeiten sind die riesenhaften Bauwerke der neuen Hauptstadt Rußlands. Man könnte sie mit einer Linie vergleichen, welche die Hand eines KindeS zog, das irgend eine geometrische Figur zeichnet. Nähert man sich mehr, so erkennt man allmalig die griechischen Glockenthürme, die vergoldeten Kuppeln einiger Klöster, dann moderne Gebäude und öffentliche Anstalten, den Fronton der Börse, die weißen Colonnadm der Schulen, Museen, Casernen und Paläste, welche an den Granit-Kaien stehen. Ist man in die Stadt 167 hineingelangt, so kommt man an Sphinxen von Granit vorüber, die von colossalen Dimensionen sind und imposant aussehen. Indeß haben diese Copien des Antiken als Kunstwerke kein Verdienst, aber eine Stadt von Palasten ist majestätisch. Die Nachahmung der classischen Bauwerke verletzt aber doch, wenn man an das Clima denkt, unter welches man diese Musterbauten ungeschickccrweise versetzt hat. Valb fallt die Form und die Menge der Thurmspitzen, der Thürmchen und Mctallfpitzcn auf, welche sich überall emporsirecken-, das ist wenigstens nationale Bauart. Petersburg besitzt große und zahlreiche Klöster mit Thürmen: fromme Städte, welche der profanen Stadt als Walle dienen. Die russischen Kirchen haben ihre ursprüngliche Originalität behalten. Zwar haben die Russen diesen schweren und dauerhaften Styl, welchen man den byzantinischen nmn:, nicht erfunden, aber sie sind ihrem Glauben nach Griechen und ihr Character, ihr Glaube, ihre Bildung, ihre Geschichte rechtfertigen ihre Entlehnung von dem oströmischcn Neiche. Man kann ilmen wohl erlauben, Muster für ihre Gebäude in Constantinopcl zu suchen, nur nicht in Athen. Von der Newa aus gesehen sind die Brustwehren der Kais von Petersburg imposant und prachtvoll; bei dem ersten Schritte aber, den man an's Land thut, findet man, daß die Kais mit schlechten, unbequemen, ungleichen Kieseln gepflastert, welche für das Auge so unangenehm, als für die Fußgänger lästig und für die Wagen nachtheilig sind. Man liebt hier vor allen Dingen das, was glänzt: vergoldete Thurmspitzen, die dünn sind wie Blitzableiter; Portiken, deren Basis fast unter dem Wasser verschwindet; Platze mit Säulen, die in dem unermeßlichen Raume umher verschwinden; antike Statücn, deren Züge, Styl und Bekleidung gegen die Beschaffenheit des Bodens, gegen die Farbe des Himmels, gegen das (5lima wie gegen 168 die Gestalt, die Tracht und Lebensweise der Menschen sind, so daß sie Helden gleichen, die bei ihren Feinden gefangen gehalten werden; Gebäude, die nicht in das Land paffen, Tempcl, die von dem Gipfel der Verge Kriechcnlands in die Sümpfe Lapplands sielen und folglich für die Oertlich-keit, in die sie verpflanzt wurden, ohne daß man weiß, warum, viel zu gedrückt erscheinen. Diese herrlichen Tempel der Götter desHeidenthums, welche mit ihren horizontalen Linien und ihren strengen Umrissen bewundernswürdig die Vorgebirge der ionischen Küste krönen und deren goldener Marmor von weitem in der Sonne auf den Felsen des Peloponnes, in den Ruinen der alten Acropolis, glänzen, sind hier Haufen von Gyps und Mörtel geworden. Die unvcrgleichlichenDetails der griechischen Sculptur, die wunderbaren Feinheiten der classischen Kunst haben, ich weiß nicht welcher, burlesken modernen Verzierung Platz gemacht, welche unter den Finnlandern für den Bewcis von reinem Geschmack in der Kunst gilt. Das Vollkommene nachahmen, heißt es verderben; man muß das Muster genau copiren oder selbst erfinden. Ueberdies würde die Nachbildung der Bauwerke Athens, wie treu man sie auch annehmen mag, in einer kothi-gen Ebene verloren sein, die immer der Gefahr ausgesetzt ist, von dem Wasser überschwemmt zu werden, das fast so hoch steht als der Boden. Hier verlangt die Natur von den Menschen gerade das Gegentheil von dem, was sie ersonnen haben; um die heidnischen Tempel nachzuahmen, müßte man Gebäude in kühnen Formen mit vertikalen Linien aufführen, damit sie durch den Nebel eines Polarhimmels hindurchdringen und die monotone Flache der feuchten grünen Steppen unterbrechen, welche in unabsehbarer Ferne das Gebiet von Petersburg bilden. Ich fange an einzusehen, warum die Russen uns so dringend aufforden, im Winter zu ihnen zu 169 kommen; sechs Fuß hoch liegender Schnee würde alles dies verdecken, während man im Sommer das Land sieht. Man kann das Gebiet von Petersburg und die benachbarten Provinzen durchwandern und wird, wie man mir sagt, hundert Stunden weit nichts als Wasserlachen, verkrüppelte Fichten und Birken mit mattem Grün finden. Gewiß das Leichentuch des Winters ist besser, als die grüne Vegetation der schönen Jahreszeit. Immer dieselben Niederungen mit demselben Gebüsch als Landschaft, wenn man sich nicht nach Schweden oder Finnland zuwendet! Dort wird man eine Reihe kleiner Granitfelsen sehen, die von Fichten strotzen und dem Lande ein anderes Aussehen geben, ohne die Landschaft zu verändern. Eie können sich denken, daß die Oede eines solchen Landes durch oic Reihen kleiner Säulen nicht geändert wird, welche die Menschen auf diese flache und kahle Erde stellen zu müssen glaubten. Zu Soclen griechischer Perystile gehören Verge; hier passen die Erfindungen des Menschen mit der Natur nicht zusammen und dieser Mangel an Harmonie fallt mir bei jedem Schritte unan-genchm auf. Ich fühle, wenn ich durch diese Stadt gehe, das Unbehagen, dem man nicht entgehen kann, wenn man mit einer Person sprechen muß, die sich ziert. Dcr Porticus, ein luftiger Schmuck, ist hier eine Unannehmlichkeit mehr, die man dem Clima hinzugefügt hat, — mit einem Worte, bei der Anlage und Vergrößerung von Petersburg herrscht der Geschmack für geschmacklose Gebäude. Das Widersinnige erscheint mir als das Charakteristischste in der Bauart dieser ungeheuern Stadt, die mir vorkommt, wie ein Gebäude in schlechtem Style in einem Park; aber der Park ist das Drittel der Welt und der Baumeister Peter der Große. Einen wie unangenehmen Eindruck die albernen Nachahmungen aber auch machen mögen, welche das Aussehen 170 Petersburgs verderben, so kann man diese Stadt, welche auf den Ruf eines Mannes aus dem Meere hervorwuchs und die sich, um zu bestehen, gegen eine periodische Ueber-schwemmung von Eis und eine fortwährende von Wasscr vertheidigen muß, nicht ohne Bewunderung betrachten. Sie ist das Resultat einer ungeheuren Willenskraft. Bas Dampfschiff von Petersburg ankerte unweit Petersburgs vor einem Granitkai. Der englische Kai, dem Zollbureau gegenüber, befindet sich unweit von dem berühmten Platze, wo die Statue Peters aus ihrem Felsen steht. Hat das Schiff geankert, so blcibt man lange da; Sie werben sehen, warum. Ich möchte Sie mit dem Detail der neuen Plackereien verschonen, die ich unter dem allgemeinen Namen bloßer Formalitaten uon der Poli;ci und deren treuen Bundes-genossm, der Douane, zu bestehen hatte; es ist jedoch Pflicht, Ihnen eine Vorstellung von den Schwierigkeiten zu geben, welche den Fremden an der Seegrenze von Nußland erwarten. Der Eintritt zu Lande soll leichter sein. Drei Tage im Jahre ist die Sonne uon Petersburg unerträglich; gestern bei meiner Ankunft, war einer dieser Tage. Zuerst sperrte man un« eine Stunde lang auf dem Verdecke des Schiffes ab, — die Fremden, nicht die Russen. Hier waren wir schutzlos der stärksten Hitze und der vollen Morgcnsonne ausgesetzt. Es war acht Uhr und seit ein Uhr früh Tag gewesen. Man spricht von 30° N. Hitze und man darf nicht vergessen, daß diese Temperatur im Norden lästiger ist als in den sogenannten heißen Landern, weil die Luft schwer und mit Nebel beladen ist. Wir mußten vor einem neuen Tribunal erscheinen, das sich wie zuvor in Kronstadt in dem großen Saale unseres Schisses versammelt hatte. Es wurden dieselben Fragen mit 171 derselben Artigkeit vorgelegt und meine Antworten mit derselben Formalität übersetzt. „Was wollen Sie in Rußland?" „Das Land sehen." „Das ist kein Beweggrund zur Reise." (Bewundern Sie nicht die Denutthigkeit brs Einwurfs?) „Ich habe keinen andern." „Was gedenken Sie in Petersburg zu sehen?" „Alle Personen, die mir erlauben, ihre Bekanntschaft zu machen." „Wie lange gedenken Sie in Rußland zu bleiben?" „Das weiß ich nicht." „Ungefähr i" „Einige Monate." „Haben Sie eine öffentliche diplomatische Sendung?" „Nein." „Eine geheime?" „Nein." „Einen wissenschaftlichen Zweck?" „Nein." „Sind Sie von Ihrer Regierung abgesandt, um den geselligen und politischen Zustand des Landes zu beobachten?" „Nein." „Von einer Handelsgesellschaft?" „Nein." „Sie reisen also frei und blos aus Neugierbe." „Ja." „Warum haben sie sich nach Rußland gewendet?" „Ich weiß es nicht lc. lc." „Haben Sie Empfehlungsschreiben an einige Personen hier?" Man hatte mich auf die Unannehmlichkeit einer zu m__ offenherzigen Antwort auf diese Frage aufmersam gemacht; ich nannte also blos mein Bankier. /, Als ich aus dieser Sitzung des Assisengerichtes fortging, sah ich mehrere meiner Mitschuldigen vorbeigehen; man hatte diese Fremden wegen einiger angeblichen Unregelmäßigkeiten in ihren Pässen bedeutend chicanirt. Die Spürhunde der russischen Polizei haben einen feinen Geruch und sie sind je nach den Personen mit den Passen schwierig oder nicht. Wie ich erwarten konnte, wurden die Reisenden auf sehr verschiedene Weise behandelt. Ein italienischer Kaufmann, der vor mir ging, war unbarmherzig durchsucht worden, er mußte selbst ein kleines Taschenbuch ausmachen, man untersuchte die Kleidungsstücke, die cr trug, von innen und außen. Wenn Sie es mit mir eben so machen, dachte ich, werden sie mich für sehr verdachtig halten. Ich hatte die Taschen uoll Empfehlungsbriefe und obgleich sie theils von dem russischen Gesandten in Paris selbst/ theils von eben so bekannten Personen herrührten, so waren sie doch versiegelt, — weshalb ich sie nicht in meinem Schreibpulte lassen mochte. Ich knöpfte meinen Nock auf der Brust zu, als ich die Polizeileute kommen sah. Sie ließen mich gehen, ohne mich zu durchsuchen, als ich aber meinen Koffer vor ben Zollbeamten öffnen mußte, begannen diese neuen Feinde die sorgsamste Arbeit in meinen Effecten, namentlich in meinen Büchern. Diese wurden mir in Masse und ohne Ausnahme weggenommen, wenn auch mit der außerordentlichsten Artigkeit. Auf meine Reklamationen achtete man nicht im entferntesten. Man nahm mir ferner zwei Paar Rcisepistolen und eine alte Stutzuhr ab. Vergebens suchte ich zu begreiftn und mir erklären zu lassen, warum dieser Gegenstand konfiscirt werden mußte. Alles, was man mir weggenommen hat, werde ich wieder erhalten, wie man »Lg mir sagt, freilich nicht ohnr lange und langweilige Unterhandlungen. Ich wiederhole also mit den russischen Großen, daß Nußland das Land dcr nutzlosen Förmlichkeiten ist. Obwohl ich bereits vierundzwanzig Stunden in Petersburg bin, so habe ich der Douane doch noch nichts entreißen können, und um die Verlegenheiten voll zu machen, ist mein Wagen, den man einen Tag früher, als man versprochen hatte, von Kronstadt nach Petersburg geschickt hat, an einen russischen Fürsten und nicht an mich abgegeben worden, Wenn man sich in Rußland einigermaßen in einem Namen irrt, so trifft man gewiß auf einen Fürsien. Es sind endlose Schritte und Erklärungen nöthig, um den Irrthum der Douane nachzuweisen; denn der Fürst, der meinen Wagen erhalten hat, ist abwesend. In Folge dieser Verwechselung werde ich wahrscheinlich alles das, was ich in dem Wagen gelassen habe, lange entbehren muffen. Zwischen neun und zehn Uhr sah ich mich endlich persönlich aus den Fesseln der Douane erlöset, und ich konnte meinen Einzug in Petersburg halten, was ich einem deutschen Reisenden verdanke, dem ich zufallig auf dem Kai begegnete. Wenn er kein Spion ist, so ist er wenigstens sehr dienstwillig; er sprach russisch und französisch und ließ mir eine Droschke holen, während er selbst meinem Diener be-hülflich war, auf einem Karren einen Theil meines Gepäckes, das man mir übergeben hatte, zu dem Wirthe Coulon zu bringen. Ich hatte meinem Diener empfohlen, keine Unzufriedenheit zu äußern. Coulon ist ein Franzose, und sein Gasthaus gilt für das beste in Petersburg, was indeß noch nicht so viel heißt, als befinde man sich wohl bei ihm. In Rußland verlieren die Fremden bald jede Spur von Nationalität, ohne daß sie sich mit den Eingeborncn verschmelzen. Der dienstfertige 174 Deutsche machte sogar einen Führer ausfindig, der deutsch sprach und sich hinter mich in die Droschke setzte, um auf alle meine Fragen zu antworten. Er nannte mir die Gebäude, an denen wir von der Douane bis zum Gasthause vorüberkamen, was ziemlich weit war, denn die Entfernungen sind in Petersburg bedeutend. Die zu berühmte Statue Peters des Großen zog zuerst meine Blicke an; sie macht, meiner Meinung nach, einen seltsam unangenehmen Effect und wurde von Katharina auf dem Felsen mit der scheinbar einfachen, aber stolzen Aufschrift aufgestellt: Peter dem Ersten Katharina II. Diese Reitcrsigur ist weder antik noch modern; sie ist ein Römer aus der Zeit Ludwigs XV. Damit das Pferd sich besser halten könne, hat man ihm eine ungeheure Schlange an die Beine gegeben, — eine unglückliche Idee, welche nur die Ohnmacht des Künstlers verrath! Diese Statue und der Platz, auf dem sie fast verschwindet, sind das Bemerkenswertheste, was ich auf der Fahrt vom Zollhause zum Gasthause gesehen habe. Ich ließ einen Augenblick vor den Gerüsten eines Baues anhalten, der in Europa schon berühmt, ob er gleich noch nicht vollendet ist, die Isaakskirche. Endlich sah ich die Facade des neuen Winterpalastes, eines andern wunderbarm Resultates des Willens eines Menschen, der mit Menschenkraft gegen die Gesetze der Natur kämpft. Der Zweck ist erreicht worden, denn binnen einem Jahre hat sich der Pa, last aus der Asche erhoben, und er ist, glaube ich, der größte, so groß wie der Louvre und die Tuilerien zusammen. Es mußten ungeheuere Anstrengungen gemacht werden, um die Arbeit zu der von dem Kaiser gewünschten Zeit zu Ende zu bringen. Im Innern arbeitete man wahrend des stärksten Frostes fort; fortwährend waren sechstausend Arbeiter ____175 beschäftiget. Zwar starben täglich mehrere, aber die Opfer wurden sogleich durch andere ersetzt, die ihrerseits in dieser ruhmlosen- Bresche sterben mußten. Und der einzige Zweck so vieler Opfer war die Erfüllung einer Herren-Laune. Vei den natürlich, d. h. längst civilisirten Völkern, giebt man das Leben der Menschen nur wegen gemeinsamer Interessen Preis, deren Wichtigkeit fast Jedermann anerkennt. Aber wie viele Generationen von Herrschern hat das Beispiel Peters l. verleitet! Bei einer Kälte von 25 bis 30 Grad waren WA) unbekannte Märtyrer, Märtyrer ohne Verdienst, die unfreiwillig Gchorsam leisteten, was bei den Russen eine angeborene und aufgenöthigte Tugend ist, in Säle eingeschlossen, welche man bis zu 3l) Grad geheizt hatte, damit die Wände um so schneller trockneten. So setzten sich diese Unglücklichen, wenn sie in dieses Haus des Todes, das durch ihre Aufopferung ein Asyl der Eitelkeit, der Prachtlicbe und des Vergnügens wurde, hineintraten oder aus ihm heraus, einer um 50 bis 6s) Grad verschiedenen Temperatur aus. Die Arbeiten in den Bergwerken im Ural sind dem Lehen weniger gefährlich, und doch waren die in Petersburg beschäftigten Arbeiter keine Uebclthäter, Man hat mir erzählt, die Unglücklichen, welche in den am höchsten geheizten Gemachern arbeiteten, hätten eine Art Mützen von Eis aufsetzen müssen, um ihre Sinne in der glühenden Temperatur zu bewahren, welche sie ihre Arbeitszeit hindurch ertragen mußten. Wollte man uns die Künste, die Vergoldung, den Luxus und allen Hof-Pomp verleiden, man könnte kein wirksameres Mittel ergreifen. Dennoch wurde der Herrscher „Vater" von so vielen Menschen genannt, die unter seinen Augen für einen' Zweck reiner kaiserlicher Eitelkeit sich geopfert sahen. Es wird mir unheimlich in Petersburg, seit ich diesen Palast gesehen habe und man mir gesagt hat, wie viele ___176 Menschenleben er kostete, Dicse Details, deren Wahrheit ich verbürge, sind mir weder durch Spione noch durch spottende Russen mitgetheilt worden. Die Millionen, welche Versailles kostete, nährten so viele Familien von französischen Handwerkern, als die zwolfmo-natliche Arbeit an dem Winterpalaste slawische Leibeigene umbrachte; durch dieses Opfer hat aber auch das Wort des Kaisers Wunder gewirkt, und der zur allgemeinen Zufriedenheit beendigte Palast wird durch Hochzeitsfeste eingeweiht werden. Ein Fürst kann in Nußland beliebt sein, ohne baß er großen Werth auf Menschenleben legt. Nichts Colossales wirb ohne Mühe bewirkt; wenn aber ein einzelner Mensch die Nation und die Regierung ist, sollte cr es sich zum Gesetze machen, die großen Triebfedern der Maschine, die er in Bewegung setzt, nur anzuwenden, um ein der Anstrengung würdiges Ziel zu erreichen. Der Kaiser hätte, wie mir scheint, selbst im wohlverstandenen Interesse seiner Macht, zur Ausgleichung des durch die Flammen verursachten Schadens den Leuten der Kunst ein Jahr mehr bewilligen können. Ein unumschränkter Herrscher darf nicht sagen, daß er Eile habe; er muß vor Allem den Eifer seiner Creaturm fürchten, die sich eines an sich unschuldigen Wortes des Gebieters gleich eines Schwertes bedienen können, um Wunder zu wirken, aber auf Kosten des Lebens eines Heeres von Sclaven. Das ist qrosi, zu groß, denn Gott und die Menschen rächen sich endlich für diese unmenschlichen Wunder. Es ist unklug, um nicht mehr zu sagen, von dem Fürsten, eine Befriedigung des Stolzes so hoch anzuschlagen; aber den russischen Herrschern liegt mehr an dem Ruhme, den sie bei den Fremden gewinnen, als an allem Andern, selbst an der wirklichen Macht. Sie handeln darin freilich in Uebereinstimmung mit der öffent- 177 lichen Meinung und überdies kann bei elnem Volke, bei welchem der Gehorsam eine Lebensbedinglmg geworden ist, die Gewalt nichts in Mißcredit bringen. Es haben Menschen das Licht angebetet; die Russen beten die Verdunkelung des Lichtes an; wie könnten ihnen je die Augen geöffnet werden? Ich behaupte nicht, daß ihr politisches System nichts Gutes hervorbringe; ich sage blos, daß das, was es hervorbringt, sehr theuer bezahlt ist. Die Fremden verwundern sich jetzt nicht erst über die Liebe dieses Volkes zu seiner Sklaverei; Sie sollen einen Auszug aus der Korrespondenz des Barons von Herberstein, des Gesandten des Kaisers Maximilians, des Vaters Karls V., bei dem Czar Wassilj Iwanowilsch, lesen. Ich fand diese Stelle in Karamsm, den ich gestern auf dem Dampfschiffe las. Der Band, welcher sie enthalt, ist der Wachsamkeit der Polizei in der Tasche meines Reisemantels entgangen. Die feinsten Spione sind nie fein genug. Man visitirte mich nicht, wie ich Ihnen berichtete. Wenn die Russen wüßten, was etwas aufmerksame Leser von dem schmeichelnden Geschichtschreiber lernen können, dessen sie sich rühmen und den die Fremden doch nur mit dem größten Mißtrauen zu Rathe ziehen wegen seiner Höft lings-Parteilichkeit, würden sie ihn hassen, bereuen, daß sie der Aufklarungssucht nachgegeben, von welcher das moderne Europa besessen ist, und den Kaiser bitten, die Lecture aller russischen Geschichtschreiber, Karamsin an der Spitze, zu verbieten, damit die Vergangenheit in einem für die Ruhe des Despoten wie für das Glück der Völker gleich günstigen Dunkel verbleibe. Die armen Leuten würden sich glücklich schätzen, wenn wir Andern sie nicht unvorsichtiger Weise Opfer nennten. Die gute Ordnung und der Gehorsam, die I. 12 178 beiden Gottheiten der russischen Polizei und des russischen Volkes, verlangen, wie mir scheint, dieses letzte Opfer. Herberstein schrieb, indem er von dem Despotismus des russischen Monarchen sprach: „er (derCzar) spricht und Alles wird gethan; das Lcben und das Vermögen der Laien und der Geistlichen, der Großen und der Bürger, Alles hangt von seinem Willen ab. Er kennt keinen Widerspruch und an ihm ist Alles gerecht wie an der Gottheit, denn die Russen sind überzeugt, daß der Großfürst der Vollstrecker der himmlischen Beschlüsse ist. Gott und der Fürst haben es so gewollt, Gott und der Fürst wissen es, sind ganz gewöhnliche Redensarten unter ihnen und nichts kommt ihrem Eifer für seinen Dienst gleich. Einer seiner ersten Beamten, ein Greis mit weißem Haar, der früher Gesandter in Spanien war, kam uns, als wir unsern Einzug in Moskau hielten, zu Pferde entgegen; der Schweiß strömte ihm über das Geficht und als ich meine Verwunderung darüber aussprach, sagte er ganz laut: „ach, Herr Baron, wir dienen unserm Monarchen auf ganz ander« Weise als Sie." „Ich weiß nicht, ob der russische Charakter solche Auto-craten gebildet hat, oder ob die Autocraten der Nation diesen Character gegeben haben." Dieser vor mehr als dreihundert Jahren geschriebene Brief schildert die damaligen Russen genau so, wie ich die Russen letzt sehe. Ich frage mich wie der Gesandte Maximilians, ob der Character der Nation die Autocratic oder ob die Autocratic den russischen Character geschaffen hat und ich vermag die Frage eben so wenig zu lösen, als es der deutsche Diplomat vermochte. Die Einwirkung scheint gegenseitig zu sein; die russische Regierung hätte nirgends anders als in Rußland entstehen 179____ können und die Russen würben unter einer andern Regierung, als sie haben, das nicht geworden sein, was sie sind. Ich führe noch eine andere Stelle aus demselben Werke Ka-ramsins an. Er erzählt, was die Reisenden im 16. Jahrhunderte sagten, welche Rußland durchwanderten. „Ist es zu verwundern, sagen die Fremden, daß der Großfürst reich ist? Er giebt weder seinen Soldaten noch seinen Gesandten Geld, ja er nimmt den lehtern alles Kostbare ab, was sie aus dem Auslande mitbringen"). So mußte der Fürst Varoslawsky bci seiner Rückkehr aus Spanien alle Goldarbeiten, Halsbander, kostbaren Stoffe und silbernen Geschirre, welche der Kaiser und der Erzherzog Ferdinand von Oesterreich ihm geschenkt hatten, an den Schatz abgeben. Dennoch beklagen sich diese Leute nicht; sie sagen: der Großfürst nimmt; der Großfürst giebt." So sprach man im 16. Jahrhundert von dem Czar in Rußland. Heut zu Tage werden Sie in Paris wie in Rußland viele Russen mit Begeisterung von den Wundern sprechen hören, welche das Wort des Kaisers bewirke; alle sind stolz auf die Folgen, keiner aber bedauert die angewendeten Mittel. Das Wort des Czars ist schöpferisch, sagen sie. Ja; es belebt die Steine, aber indem es die Menschen tödtet. Trotz dieser kleinen Beschrankung, sind alle Russen stolz darauf, sagen zu können: „Bei ihnen berathschlagt man drei Jahre über die Mittel, ein Theater wieder aufzubauen, während unser Kaiser in einem Jahre den größten Palast in der Welt wieber aufrichtet." Dieser Triumph erscheint ihnen durch den Tod einiger armseliger Tausende von Arbeitern, welche dieser sou-verainen Ungeduld, diesem kaiserlichen Einfalle zum Opfer fielen, nicht zu theuer erkauft. Ich, als Franzose, sehe darin ») Etwas AehnlicheS besteht bekanntlich in Nordamerika. »8« nur eine unmenschliche Pedanterie, wahrend sich von cinem Ende dieses unermeßlichen Reiches bis zum andern keine Protestation gegen diese Aeußerung der absoluten Gewalt erhebt. Alles ist hier einstimmig, Volk und Regierung. Die Russen würben den Wundem des Willens, deren Zeugen, Mitschuldige und Opfer sie smd, nicht entsagen wollen, wenn es sich darum handelte, alle Sclaven, welche dabei das Leben verloren, wieder zu erwecken. Ich wundere mich nicht, daß ein Mensch, der in der Selbstvergötterung aufgewachsen ist, ein Mensa), der von sechszig Millionen Menschen oder Halbmenschen allmächtig genannt wirb, solche Dinge unternimmt und ausführt; aber ich wundere mich, daß unter den Stimmen, welche diese Dinge zum Ruhme dieses einzigen Menschen erzählen, auch nicht eine von dein allgemeinen Chore sich abtrennt, um zu Gunsten der Wahrheit gegen die Wunderthaten der Autocratic zu protestiren. Man kann die Russen, die Großen wie die Geringen, von Sclaverei trunken nennen. Neunter Brief. Petersburg, den 12. Juli 1839, früh. Norgestern zwischen neun und zehn Uhr erhielt ich die Er« laubniß zum Eintrltte in Petersburg. Die Stadt ist nicht eben früh auf; m diesem Augenblick« gleicht sie noch einer großen Einöde. Hier und da begegnete ich einigen Droschken, die mit ihren Pferden und deren Lenkern mir im Anfange sehr spaßhaft vorkamen. Die gewöhnlichste Kleidung der Leute aus dem Volke in Petersburg, nicht der Lastträger, sondern der Handwerker, der kleinen Kaufleute, der Kutscher :c. besteht in Folgendem. Auf dem Kopfe tragen sie entweder eine melonen-förmlge Tuchmütze oder einen kleinkrämpigen Hut mit plattem Kopfe, der oben weiter ist als unten. Diese Kopsbedeckung gleicht einem Frauen-Turban oder einer baskischen Mütze und steht den Männern sehr gut. Alle, Junge und Alte, haben einen Bart; die Elegants pflegen und kämmen ihn sehr sorgfältig. Die Augen haben einen eigenthümlichen Ausdruck, den schlauen Blick der asiatischen Völker. Wenn man die Leute ansieht, glaubt man in Pechen zu sein. Die an den Seiten langen Haare fallen an den Backen auf die beiden Ohren herunter, welche sie verdecken, wahrend ____182 ^ sie über dem Nacken glatt abgeschoren sind. Dieser seltsame Kopfputz laßt den Hals hinten ganz bloß erscheinen, denn ein Halstuch wird nicht getragen. Der Bart rcicht bisweilen bis auf die Brust, bisweilen ist er aber auch ziemlich dicht am Kinne abgeschnitten. Sie legen großen Werth auf diesen Schmuck, der allerdings zu ihrem Gesammtanzuge besser paßt, als zu den Fracks und Westen unserer jungen modernen Elegants. Der Bart der Russen ist bei jedem Alter imposant, denn die schnee» weißen Köpfe der Popen gefallen den Malern. Das russische Volk hat ein Gefühl für das Malerische; die Lebensweise, das Gerathe, die Mcubcls, die Kleidung, das Gesicht paßt für die Malerei und man findet deshalb an jeder Straßenecke in Petersburg den Gegenstand zu einem hübschen Genrebilde. Unsere Röcke und Fracks sind durch einen Kaftan ersetzt, ein langes persisches sehr weites Gewand von Tuch, das meist blau, bisweilen aber auch braungrün, grau oder chamois ist. Die Fallen dieses Gewandes ohne Kragen, das am Halse gerade geschnitten ist, den es frei läßt, bilden eine volle Draperie, welche um die Hüften durch einen seidenen oder wollenen Gürtel von heller Farbe zusammengehalten wird. Die Lederstiefeln sind weit, vorn rundlich und nehmen die Gestalt des Fußes an. Der in sich zusammenfallende Schaft giebt einige Falten, die nicht ohne Anmuth find. Die seltsame Form der Droschken, die jetzt überall 'mehr oder minder genau nachgeahmt werden, kennen Sie. Es ist der kleinste Wagen und er wird durch die zwei oder drei Menschen, die er dicht an der Erde hinzieht, ganz verdeckt. Er ist so niedrig, daß man darüber lachen und sich fürchten muß. Er besteht in einer ausgestopften Bank, die mit vier lackirten Spritzledem versehen ist. Man glaubt die Flügel eines Insekts zu sehen. 183 Die so verzierte Bank wird von Federn getragen, welche aus den möglichst niedrigen Radern der Länge nach ruhen. Der Kutscher sitzt vorn, so baß er mit den Füßen fast die Beine des Pferdes berührt. Ganz dicht neben dem Kutscher, reitend aus der Bank, sitzen die Herren; bisweilen fahren zwei Personen in einer Droschke. Frauen habe ich nicht darin gesehen. An diese seltsamen Fuhrwerke spannt man, so leicht sie auch sind, eins, zwei, selbst drei Pferde. Das Hauptpferd, welches in der Gabel geht, hat den Kopf in einem schönen ziemlich hohen Halbkreis von Holz, der einen beweglichen Triumphbogen vorstellt. Es ist kein Kummt, denn der Hals des Pferdes ist von dem Holze weit entfernt; es ist vielmehr ein Reifen, durch welchen baS Thier stolz hindurch zu schreiten scheint. Diese Geschirrart ist sicher und sieht überdies gut aus. Die verschiedenen Theile dis Geschirrs werden auf zierliche und dauerhafte Weise an dieses Holz befestiget und ein Glöckchen an dem Bogen verkündiget die Annäherung der Droschke. Sieht man diese Fuhrwerke, die niedrigsten, die es giebt, auf der Erde zwischen zwei Reihen äußerst niedriger Häuser hinrollen, so glaubt man, nicht mehr in Europa zu sein. Man weiß nicht, welchem Jahrhunderte, welcher Wett das angehört, was man vor sich sieht, und man fragt sich, wie Leute, die mehr auf dem Pflaster hinzukriechen als einen Wagen zu lenken scheinen, im Galopp ihrer Pferde verschwinden konnten. Das zweite außerhalb angespannte Pferd ist noch freier als das Deichselpferd, biegt sich immer links und galoppirt fortwährend, auch wenn das andere nur trabt. Man nennt es das Wüthende. Im Anfange war die Droschke nur ein rohes Brett baß man ohne Federn ganz dicht am Boden zwischen vier kleinen Nadern auf zwei Achsen legte. Dieses patriarchalische 184^ Fuhrwerk ist vervollkommnet worden, hat aber seine ursprüngliche Leichtigkeit und ein seltsames Aussehen behalten. Steigt man auf den Sitz, so glaubt man irgend ein gezähmtes Thier zu besteigen. Will man nicht reiten daraus, so setzt man sich von der Seite und hält sich an den Kutscher an, der immer in Galopp fahrt. Eine neue Droschkenart hat eine längere Bank und einen Kasten, welcher einem Tilbury gleicht, ruht auf vier Federn und wirb von zwei Achsen und uler Nadern getragen, ist aber immer sehr niedrig. Es ist dies eine Annäherung zu den Wagen der andern Länder und gleicht der englischen Mode, was mir leid thut, denn ich liebe bei allen Völkern das Nationale. Das Treibhaus mit seinen Pflanzen, die um so leidender und schwächlicher sind, je weiter sie herkommen und für je kostbarer sie gelten, incomodirt mich erst und langweilt mich bald. Weit lieber ist mir die Unordnung des einheimischen Waldes, dessen Baume aus ihrem Geburtsboden, unter ihrem natürlichen Clima eine sonst unbekannte Kraft schöpfen. Das Nationale in den Staaten ist wie das Wild in den Landschaften; es liegt darin eine ursprüngliche Anmuth, eine Kraft und Natürlichkeit, die durch nichts nachzuahmen und zu ersetzen ist. Jene unbemerklichen Wagen werden unbarmherzig auf den ungleichen Kieseln der Petersburger Straßen gestoßen. In einigen Stadttheilcn ist indeß das, immer unebene, Pflaster an beiden Seiten der Straße durch Bahnen von eingelegten Tannenholzblöcken verbessert. Man findet sie in den breitesten Straßen der Stadt; die Pferde laufen mit großer Schnelligkeit durch die Stadt, namentlich bei trocknen, Wetter, denn der Regen macht das Holz schlüpferig. Diese nordische 185 Mosaik ist übrigens sebr kostspielig, weil sie fortwährend Ausbesserungen nöthig macht. Die Bewegungen der Leute, denen ich begegnete, kamen mir steif und ungezwungen vor. Jede Geberde drückt einen Willen aus, welcher nicht der des Menschen ist, welcher sie macht. Alle, welche ich vorüber kommen sah, beförderten Befehle. Der Vormittag ist die Zeit der Auftrage. Niemand schien aus eigenem Antriebe zu gehen, und der Anblick dieses Zwanges erregte eine unwillkürliche Traurigkeit in mir. Ich bemerkte wenig Frauen auf den Straßen, die durch kein hübsches Gesicht, durch keine Madchenstimme geschmückt wurden; Alles war still und regelmäßig wie in der Caserne, wie im Lager; es sah aus wie Krieg, nur fehlte das Leben und der Enthusiasmus. In Rußland herrscht die Militair-Disciplin. Der Anblick dieses Landes weckte in mir die Sehnsucht nach Spanien, als wäre ich in Andalusien geboren. Nicht an Hitze fehlt es, denn ich ersticke fast, sondern an Licht und Fröhlichkeit. Die Liebe und die Freiheit für das Herz, der Glanz und die Mannichfaltigkeit der Farben für die Augen sind hier unbekannt; mit einem Worte, Rußland ist in größerer Dimension das Gegentheil von Spanien. Es ist mir, als sähe ich den Schatten des Todes über diesem Theile der Welt schweben. Bald sieht man einen Ofsicicr im Galopp dahin reiten, um irgend einem Commandanten einen Befehl zu überreichen, bald begegnet man einem Feldjäger, der dem Gouverneur irgend einer Provinz, vielleicht am andern Ende des Reiches, in einer Kibitka, einem kleinen Wagen ohne Federn und Polster, einen Befehl zu überbringen hat. Dieser Wagen, den ein alter bärtiger Kutscher lenkt, trägt schnell den Courier dahin, dem es sein Rang verbieten würde, st'ch eines bequemen Fuhrwerks zu bedienen, wenn es auch zu seiner ____1^,6^ Verfügung stände. Weiterhin kommen Infanteristen vom Exerziren zurück und begeben sich in ihre Quartiere, um den Befehl ihres Capitains zu holen. Diese Bevölkerung von Automaten gleicht der Hälfte einer Schachpartie, denn ein einziger Mensa) setzt alle Figuren in Bewegung, und der unsichtbare Gegner ist die Menschlichkeit. Man bewegt sich und athmet hier nur in Folge einer Erlaubniß oder auf kaiserlichen Befehl; deshalb ist denn auch Alles düster und gezwungen. Schweigen tobtet und lähmt das Leben. Offiziere, Kutscher, Kosaken, Leibeigene, Hofmänner, sämmtliche Diener eines und desselben Herrn von verschiedenem Range, gehorchen blind einem Gedanken, den sie nicht kennen; es ist ein Meisterstück von Disciplin; aber der Anblick dieser Ordnung befriedigt mich keineswegs, weil so große Regelmäßigkeit nur durch den vollständigen Mangel von Unabhängigkeit zu erlangen ist. Unter diesem Volke, dem es an freiem Willen gebricht, sieht man nur seelenlose Körper, und man schaudert, wenn man bedenkt, baß es für eine so große Menge von Armen und Beinen nur einen Kopf giebt. Der Despotismus ist eine Zusammensetzung von Ungeduld und Trägheit; mit ein wenig mehr Langmuth von Seiten der Gewalt und etwas größerer Thätigkeit von Seiten des Volks wäre dasselbe Resultat wohlfeiler zu erhalten. Was würde aber aus der Tyrannei? — man würde erkennen, daß sie nutzlos ist. Die Tyrannei ist die eingebildete Krankheit der Völker; der als Arzt verkleidete Tyrann hat ihnen eingeredet, die Gesundheit sei nicht der natürliche Zustand des civilisirten Menschen, und je größer die Gefahr, um so gewaltsamer müsse das Heilmittel sein; so unterhält er das Leiben, statt es zuheilen. , Wenn Sie mir vorhalten, ich verwechsele den Despotismus mit der Tyrannei, so antworte ich, daß ich dies absichtlich thue. Sie sind beide so nahe mit einander verwandt, 187 daß sie sich meist immer im Geheimen zum Unglück der Menschen vereinigen. Unter dem Despotismus kann die Tyrannei von Dauer sein, weil sie die Maske behält. Als Peter der Große das Tschinn einführte, d.h. als er die militairische Rangordnung auf die ganze Staatsverwaltung anwendete, änderte er sein Volk in ein Regiment von Stummen um, zu dessen Obersten er sich ernannte und sich das Necht vorbehielt, diesen Rang auf seine Erben zu übertragen. Können Sie sich den Ehrgeiz, die Rivalität und alle Leidenschaften des Krieges mitten im Frieden denken? Wenn Sie sich diesen Mangel an Allem, was das häusliche und staatliche Glück ausmacht, vorstellen, wenn Sie statt der Fa-milienliebe überall die nicht eingestandene Unruhe eines immer kochenden verheimlichten Ehrgeizes erwarten, wenn Sie den fast vollständigen Sieg des Willens eines Menschen über den Willen Gottes begreifen, so werden Sie Rußland verstehen. Die russische Regierung ist die Lagerdisciplin an der Stelle der stadtischen Ordnung, der Belagerungszustand als Normalzustand. Sind die Morgenstunden vorüber, so wird die Stadt allmälig belebter und geräuschvoller, aber nicht heiterer und bunter; man sieht nur nicht eben elegante Wagen, die von zwei, vier, sechs Pferden gezogen werden und Leute tragen, die immer Eile haben, weil ihr ganzes Lebm darin besteht, vorwärts zu kommen. Das zwecklose Vergnügen, also das eigentliche Vergnügen ist hier eine unbekannte Sache. Fast alle großen Künstler, die nach Rußland gekommen sind, um die Früchte des Ruhmes zu pflücken, den sie anderswo erworben haben, blieben nur eine kurze Zeit, oder sie schadeten, wenn sie ihren Aufenthalt verlängerten, ihrem Talente. Die Luft dieses Landes ist der Kunst schädlich; Alles, was 188 anderswo von selbst wachst, gedeiht hier nur im Treibhaus. Die russische Kunst wird stets nur eine Treibhauspflanze sein. Bei der Ankunft in dem H«'>tel Coulons fand ich einen ausgearteten französischen Wirth. Sein Haus ist wegen der bevorstehenden Feste am Hofe so ziemlich gefüllt, und es schien ihm fast unangenehm zu sein, einen Gast mehr aufnehmen zu müssen; auch gab er sich wenig Mühe, mir Bequemlichkeit zu verschaffen. Nach einigem Hin« und Herlaufen und vielen Unterhanolungen brachte er mich endlich in eine Wohnung im zweitm Stock, die aus einem Entree, einem Zimmer und einem Schlafcabinet bestand. Nirgends waren Vorhänge, Rouleaux oder Jalousien zu sehen, was wohl zu beachten ist, da hier die Sonne ungefähr zweiundzwanzig Stunden am Himmel bleibt, und ihre schieffallcnden Strahlen weiter in die Hauser eindringen als die der Sonne in Afrika, welche gerade herab auf die Köpfe fallen, aber nicht bis an das Ende der Zimmer dringen. Man athmet in dieser Wohnung eine Gipsatmosphare, Kalkofen- und Staubgerüche und Ausdünstungen vonInsecten in Verbindung mit Moschus. Die Ermattung von der Nacht und vom Morgen her, so wie die Langeweile im Zollhause überwanden meine Neugierde. Statt, nach meiner Gewohnheit, allein, zu Fuße, auf Geradewohl in einer unbekannten Stadt herum zu irren, warf ich mich, in meinen Mantel gehüllt, auf ein ungeheures flaschengrünes Ledersopha, das fast die ganze eine Seite des Zimmers einnahm, und schlief — drei Minuten lang. Nach dieser Zeit wachte ich m,'t Fieber auf, und waS sah ich, als ich auf meinen Mantel blickte«! — rm graues, aber lebendiges Gewebe. Ich muß die Sachen bei dem rechten Namen nennen, ich war von Wanzen überdeckt, die gierig über mich herfielen. Nußland steht in dieser Hinsicht Spanien nicht nach. Aber im Süden tröstet und heilt man sich 189 im Freien, hier ist man mit dem Feinde eingeschloffen und der Krieg wird um so blutiger. Ich warf alle meine Kleidungsstücke ab und lief hülfe schrei end in dem Zimmer auf und ab. Welche Aussicht für die Nacht! dachte ich und schrie dabei immer aus vollem Halse. Es kam ein russischer Kellner, ich machte ihm begriflick, daß ich mit seinem Herrn zu sprechen wünsche. Der Herr ließ lange auf sich warten; endlich kam er und als ich ihm den Gegenstand meiner Klage vorgetragen, sing er an zu lachen und entfernte sich mit den Worten, ich würbe mich daran schon gewöhnen, denn in Petersburg würde ich es nirgends anders finden, doch empfahl er mir, mich nie auf ein russisches Canap«> zu setzen; weil auf diesem die Diener schliefen, die immer l!c: gioncn von Insecten an sich trügen. Um mich zu beruhigen, versicherte er, das Ungeziefer würde mich verschonen, wenn ich mich von diesen Mcublcö fern hielte, die es nicht verlasse. Nachdem er mich getröstet, verließ er mich. Die Wirthshauser in Petersburg haben eine Aehnlich-keit mit den Caravanserais. Man ist sich selbst überlassen und wenn man nicht eigene Bedienung hat, wird man nicht bedient. Mein Diener versteht nicht russisch, nützt mir eigentlich gar nichts, ja er wird mir zur Last sein, da ich für ihn und für mich zu sorgen haben werde. Mit seiner italienischen Schlauheit hatte er aber doch auf einem der dunkeln Gange der Maucrwüste, welche Hütel Coulon heißt, einen Lohndiener gefunden. Dieser Mann spricht deutsch und der Wirth empfiehlt ihn. Ich nehme ihn an und erzähle ihm meine Noth. Sogleich laßt er ein russisches eisernes Reisebett holen; ich kaufe es, lege die Matratze nebst dem frischeste« Strohe hinein, batz aufzutreiben ist und stelle dies Bette, die vier Füße in Kruge mit Wasser, mitten in das Zimmer, das ganz ausgeräumt werden muß. So für ___190____ die Nacht verschanzt, kleide ich mich wieber an und verlasse das prachtige Gasthaus in Begleitung des Lohndimers, der den Auftrag erhalt, mich nach Belieben gehen zu lassen. Das Gasthaus ist von außen ein Palast, im Innern cin vergoldeter mit Sammet und Seide ausgeschlagener — Stall. Das Hütel Coulon geht auf eine Arc zP^r»», der für Petersburg ziemlich belebt ist. Dieser «'inar« wird auf der einen Seite durch den neuen Palast Michael, die prachtige Wohnung des Großfürsten Michael, dcs Bruders des Kaisers, begrenzt. Ich konnte nicht ausgehen, ohne vor dem Gitter dieses Palastes vorüber zu kommen, der sogleich meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er wurde von dem Kaiser Alexander erbaut, der ihn aber nicht bewohnte. Die drei andern Seiten des Platzes werden durch schöne Hauserreihen geschlossen, zwischen denen schöne Straßen hindurch gehm. Seltsamer Zufall! Kaum hatte ich den neuen Palast Michael verlassen, als ich vor dem alten stand. Dieser alte ist ein großes vierseitiges düsteres Gebäude und in jeoer Hinsicht von der eleganten neuen Wohnung desselben Namens verschieden. Wenn in Rußland die Menschen schweigen, so sprechen die Steine und zwar mit kläglicher Stimme. Ich wundere mich nicht, daß die Russen ihre alten Gebäude fürchten und vernachlässigen; sie sittd Zeugen ihrer Geschichte, die sie meist gern vergessen möchten. Wenn ich die schwarzen Vottreppen, die tiefen banale, die massiven Brücken, die öden Peristyle dieses düstern Palastes sehe, frage ich mich nach dem Namen, und dieser Name erinnert mich unwillkürlich an die Katastrophe, welche Alexander auf den Thron brachte. Alle Umstände der schauerlichen Scene, mit welcher die Regierung Paul l. endigte, stellen sich meiner Phantasie dar. Noch nicht genug. Aus blutiger Ironie hatte man vor I9l dcm Haupteingangc dieses düstern Gebäudes vor dem Tode deffen, der ihn bewohnte, und auf den Befehl desselben die Reiterstatue seines Vaters Peters lll. aufgestellt, eines andern Opfers, deffen bel'lagenswerthes Andcntcn Paul ehren wollte, um das triumphirenoe Andenken an seine Mutter zu schänden. Welche Tragödien sind in diesem Lande gespielt worden, wo selbst der Ehrgeiz und drr Haß scheinbar ruhig sind! Bei den Südländern söhnt mich die Leidenschaft einigermaßen mit ihrer Grausamkeit aus, aber die berechnete Zurückhaltung und die Kälte der Menschen im Norden giebt dem Verbrechen überdies einen heuchlerischen Firniß. Der Schnee ist auch eine Maske. Der Mensch erscheint sanft, weil er von den Leidenschaften nicht bewegt ,vird, aber dcr Mord ohne Haß erregt in mir größern Abscheu als der Todtschlag aus Nachsucht. Ist die Religion dcr Rache nicht natürlicher, als der Verrath aus Eigennutz? Je mehr ich einm unwillkürlichen Trieb zum Bösen anerkennen muß, um so getrösteter fühle ich mich. Leider waren bei der Ermordung Pauls die Berechnung, nicht der Zorn, und die Berechnung thatig. Die guten Russen behaupten, die Verschworenen halten nur die Absicht gehabt, ihn in das Gefängniß zu bringen. Ich sah die geheime Thüre, welche auf einer geheimen Treppe in das Gemach des Kaisers führte. Diese Thüre geht in einen Theil des Gartens bei einem großen Graben; auf diesem Wege führte Pahlen die Mörder hinauf. Am Tage vorher hatte er zu ihnen gesagt: „Morgen um fünf Uhr früh habt Ihr den Kaiser entweder ermordet, oder halb sechs Uhr zeige ich Euch dem Kaiser als Verschwö, rec an." Das Resultat dieser beredten lakonischen Anrede konnte nicht zweifelhaft sein. Aus Besorgniß vor zu spater Reue ging er aus, um in der Nacht nicht zurückzukommen, und damit er überzeugt 192 sei, daß ihm keiner der Verschworenen vor der Ausführung des Planes begegne, besuchte er die uerschicdenen Casernen in der Stadt. Er wollte die Stimmung der Truppen kennen lernen. Am nächsten Tage um fünf Uhr war Alexander Kaiser und galt für einen Vatermörder, ob er gleich (und dies ist, glaube ich, wahr) seine Einwilligung nur zur Einschließung seines Vaters gegeben hatte, um seine Mutter vor dem Gefangnisse, vielleicht vor dem Tode zu bewahren, auch sich selbst vor einem ähnlichen Schicksale zu schützen und sein Vaterland vor der Wuth und d?n Launen eines wahnsinnigen Selbstherrschers zu retten. Jetzt gehen die Russen vor dem alten Paläste Michael vorbei, ohne zu wagen ihn anzublicken. Es ist verboten, in den Schulen oder anderswo den Tod des Kaisers Paul zu erzählen, ja selbst an dieses Ereigniß zu glauben, das in das Reich der Fabel verwiesen ist. Ich wundere mich, daß man diesen Palast mit den unbequemen Erinnerungen nicht abgetragen hat. Für den Reisenden ist es freilich ein Glück, ein Gebäude zu sehen, das sich durch sein alterthümliches Aussehen in einem Lande auszeichnet, wo der Despotismus Alles gleichförmig und neu macht, wo der herrschende Gedanke jeden Tag die Spuren der Vergangenheit verwischt. Uebrigms erklärt diese Beweg-lichkeit, warum dieser alte Palast Michael noch steht; er ist vergessen worden. Seine vierseitige Masse, seine tiefen Gräben, seine tragisch«, Erinnerungen, seine geheimen Treppen und Thüren, die dem Verbrechen so günstig waren, seine ungewöhnliche Höhe in einem Lande, wo alle Gebäude gedrückt aussehen, geben ihm etwas Imposantes, was in Petersburg selten ist. Ich wundere mich hier bei jedem Schritte über die Vermengung zweier so verschiedener Künste wie die Archi- 193 tectur und die Decoration. Peter der Große und seine Nachfolger haben ihre Hauptstadt für ein Theater gehalten. Mein Führer machte ein ganz erschrockenes Gesicht, als ich ihn so unbefangen als möglich über das fragte, was in dem alten Palaste Michael geschehen. Ich las in den'Zu» gen dieses Mannes: „man sicht es ihnen an, daß Sie erst angekommen sind." Sie schen, daß Jedermann das denkt, was Niemand sagt. Das Staunen, der Schrecken, das Mißtrauen, die affectirte Unschuld, die erheuchelte Unkenntl niß und die Erfahrung eines alten schlauen Fuchses, der nicht so leicht zu hintergehen ist, machten das unwillkürlich bewegte Gesicht zu einem eben so belehrenden als unterhaltenden Buche. Ist der Spion durch Ihre scheinbare Sicherheit getäuscht, so wird sein Ansehen wahrhaft grotesk, denn er glaubt sich durch sie gefährdet, sobald er merkt, daß Sie nicht fürchten, durch ihn gefährdet zu werben; der Spion erwartet überall Spioniererei, und wenn sie seinen Netzen entgehen, glaubt cr, in die Ihrigen zu fallen. Ein Spaziergang durch die Straßen von Petersburg in Begleitung eines Lohndieners ist höchst interessant und gleicht durchaus einem Gange in den Hauptstädten der andern Lander der civilisirten Welt nicht. Von dem alten tragischen Paläste Michael aus schritt ich übcr einen großen Play, welcher dem Marsfelde in Paris gleicht, so groß und leer ist er. Auf der einen Seite ein öffentlicher Garten, auf der andern einige.Häuser, in der Mitte Sand, überall Staub, — das ist dieser Platz. Die Form desselben ist nicht genau anzugeben, die Größe aber ungeheuer, und er endigt an der Newa bei elner Bronze-Statue Suwarows. Der wahre Stolz Petersburg ist die Newa mit ihren Brücken und Kaien. Dieses Bild ist so unermeßlich, daß I. 13 194 dagegen allcs Andere klein erscheint. Die Newa ist ein bis an den Rand gefülltes Gefäß und der Rand verschwindet unter dem Wasser, das überall überzufließen droht. Venedig UNd Amsterdam scheinen besser gegen das Meer vertheidigt zu s?in als Petersburg. Mir gefallt eine Stadt nicht, welche durch nichts beherrscht wird, und gewiß war die Nahe eines Flusses, der breit ist wie ein Sce und sein Bett völlig ausfüllt, in einer sumpfigen Ebene zwischen dem Nebel des Himmels und den Dünsten dcs Meeres, die ungünstigste Lage, welche zur Anlage einer Hauptstadt gewahtt werden konnte. Das Wasser wird früher oder später den Stolz des Menschen demüthigen; selbst der Granit ist nicht dauerhaft genug gegen die Einwirkung der Winter in dieser feuchten, eisigen Gegend, wo die von Peter dem Großen erbaute Citadelle ihre Walle und ihren Felsengrund bereits zwei Mal abgenutzt hat. Man hat sie wiederhergestellt und wird sie wiederherstellen, um dieses Meisterstück des Stolzes und des Eigenwillens zu wahren. Ich wollte sogleich über die Brücke gehen, um diese berühmte Citadelle in der Nahe zu sehen. Mein Diener führte mich zuerst der Feste gegenüber zu dem Hause Peters des Großen, das durch eine Straße und ein Stück Land von dem Castell getrennt ist. Das Häuschen soll in dem Zustande erhalten ^vorden sein, in welchem der Czar dasselbe verließ. In der Citadelle werden jetzt die Kaiser begraben und die Staatsgefangenen bewacht, — eine seltsame Art, die Todten zu ehren! Denkt man an alle die Thränen, welche hier unter dem Grabe der russischen Herrscher vergossen werden, so glaubt man dem Leichenbegängnisse eines asiatischen Königs beizuwohnen. Aber ein mit Blut benetz- 195 tes Grab würde minder schrecklich erscheinen; die Thränen fließen langer und vielleicht unter größern Schmerzen. Während der kaiserliche Handwerker das Häuschen bewohnte, baute man vor seinen Augen seine künftige Hauptstadt. Zu seinem Ruhme muß erwähnt werden, es lag ihm damals weniger an dem Palaste, als an der Stadt. Eine Piece in dieser Hütte, in welcher der dzar als Zim-mcrmann arbeitete, ist jetzt in eine Kapelle verwandelt, und man tritt eben so andächtig hinein wie in die verehrtest«« Kirchen des Reiches. Die Russen machm gern Heilige aus ihren Helden, verwechseln die schrecklichen Tugenden ihrer Herren mit der wohlthatigen Macht ihrer Schutzheiligen und suchen die Grausamkeiten der Geschichte unter den Schirm des Glaubens zu stellen. Ein anderer russischer Held, der meiner Ansicht nach sehr wenig Bewunderung verdient, ist von den griechischen Priestern heilig gesprochen worden, Alerander Newsky, ein Muster von Klugheit, aber kein Märtyrer der Treue ober des Edelmuthes. Die Nationalkirche canonisirte diesen mehr klugen als heldenmüthigcn Fürsien. Er ist der Ulysses unter den Heiligen. Um seine Ueberrcste her hat man ein ungeheuer großes Kloster gebaut. Das Grab in der Kirche dieses heiligen Alerander ist an sich allein ein großer Bau-, es besteht aus einem Altare von massivem Silber mit einer Art Pyramide von demselben Metall darüber, und diese Silber-masse reicht bis an die Wölbung einer großen Kirche hinauf. Das Kloster, die Kirche und der Cenotaph sind eins der Wunder Rußlands. Sie bessnden sich am Ende der Newski-Perspettive. Ich habe sie mit mehr Ver- als Bewunderung betrachtet; die Kunst an diesem frommen Werke ist sehr gering, der Luxus dagegen ungeheuer. Die Phantasie er- 13" «96____ schrickt, wenn sie sich vorstellt, wie viele Menschen und Barren zu einem solchen Mausoleum gehörten. In dem Hause des Czars zeigte man mir ein Boot, das er selbst gebaut hat, und einige andere sorgsam aufbewahrte Gegenstande, die von einem Veteranen bewacht werben. In Rußland sind die Kirchen, die Palaste, viele öffentlichen Oerter, so wie Privathällser der Aufsicht invalider Soldaten anvertraut. Diese Unglücklichen würden keinen Lebensunterhalt in ihrem Alter haben, wenn man sie nicht aus der Caserne wegnehme und zu Portiers machte. Sie behalten auf diesem Posten ihren langen Soldatenrock, eine Art Mantel von grober Wolle und schmutziger Farbe. Bei jedem Besuche, den man macht, wird man an der Thüre der Hauser oder bei dem Einlritte in öffentliche Gebäude von so gekleideten Mannern empfangen. Solche Gespenster in Uniform erinnern an die Disciplin, unter welcher man lebt. Petersburg ist ein Lager, das man in eine Stadt verwandelt hat. Mein Führer verschonte mich mit keinem Bilde und keinem Stück Holz in der kaiserlichen Hütte. Der Veteran, der sie bewacht, zündete mehrere Kerzen in der Kapelle an, die nichts als ein berühmtes Loch ist, und zeigte mir das Schlafgemach Peters des Großen, des Kaisers aller Reußen; ein Zimmermann würde jetzt seinen Lehrjungen nicht da schlafen lassen. Diese Einfachheit schildert die Zeit und das Land eben so gut wie den Mann selbst. Man opferte damals in Rußland alles der Zukunft; man baute Gebäude, mit denen Niemand etwas anfangen konnte, denn die Herren, für welche diese modernen Palaste bestimmt waren, waren noch nicht geboren, und die Erbauer so vieler prächtiger Gebäude, die für sich selbst das Bedürfniß des Luxus nicht 197 fühlten, begnügten sich mit der Rolle von Tirailleurs dec Civilisation. Sie gingen den unbekannten Potentaten voraus, deren Wohnungen sie mit Stolz vorbereiteten. Es liegt gewiß Großherzigkeit in dieser Vorsorge eines Fürsten und seines Volkes für die Macht und selst die Eitelkeit kommender Geschlechter; das Vertrauen der Lebenden aus den Ruhm ihrer späten Enkel hat etwas Edeles und Originelles; cs ist ein uneigennütziges, poetisches Gefühl, starker als dir Achtung, welche Menschen und Nationen gewöhnlich für ihre Vorfahren haben. An andern Orten hat man große Städte zur Erinnerung an große Thaten der Vergangenheit gebaut, oder es sind Städte durch sich selbst mit Hilfe der Umstände und der Geschichte entstanden, ohne Mitwirkung, scheinbar wenigstens, menschlicher Berechnung; — Petersburg aber mit seiner Pracht und Größe ist eine Trophäe, welche die Russen ihrer künfligen Größe errichteten, und die Hoffnung, welche solche Anstrengungen macht, ist sicherlich eine erhabene. Seit dem Tempel der Juden hat nie der Glaube eines Volkes an sein Geschick der Erde etwas Wunderbareres entrissen als St. Petersburg. Und wahrhaft bcwundernswerth ist, daß dieses Vermachtniß eines Mannes an sein ehrgeiziges Vaterland von der Geschichte angenommen worden ist. Die Prophezeihung Peters des Großen, die in Granit-blöckcn im Meere geschrieben steht, geht seit einem Jahrhunderte vor den Augen der ganzen Welt in Erfüllung. Wenn man bedenkt, baß die, sonst überall emphatischen, Redensarten hier nur der wahre Ausdruck der Wirklichkeit sind, so bleibt man ehrfurchtsvoll stehen und sagt sich« Hier waltet Gott! Zum ersten Male erscheint mir der Stolz rührend. Ueberall, wo die Macht des menschlichen Geistes sich vollständig zeigt, hat man Ursache zur Bewunderung. 198 Zum Ueberstuß datirt die Geschichte Nußlands nicht, wie das unwissende und leichtfettige Europa zu glauben scheint, von der Regierung Peters I. Moskau erklärt Petersburg. Die Befreiung Moscoviens nach langen Jahrhunderten der Invasion, spater die Belagerung und Einnahme Kasans durch Iwan den Schrecklichen, die erbitterten Kampfe gegen Schweben und so viele andere glanzende und geduldige Waf-fenthaten rechtfertigen die stolze Haltung Peters des Großen und das demüthige Vertrauen seines Volkes. Der Glaube an das Unbekannte ist immer imposant. Dieser eiserne Mensch hatte ein Recht, sich auf die Zukunft zu stützen; Character? wie cr thun, was Andere hoffen. Ich fthe ihn mit der Einfachheit eines wahrhaft Großen, d. h. eines großen Mannes, auf der Schwelle dieser Hittte sitzen, von der aus er gleichzeitig gegen Europa eine Stadt, eine Nation und eine Geschichte schafft. Die Größe Petersburgs ist nicht leer, und diese gewaltige Stadt, die ikr Eis und ihre Sümpfe beherrscht, um die Welt zu beherrschen, ist prächtig, prachtiger noch vor dem Gedanken als vor den Augen. Freilich, dieses Wunder hat 10tt,l»0l) Menschen gekostet, welche aus Gehorsam in den pestilentialischrn Sümpfen versanken, die gegenwärtig eine stolze Hauptstadt sind. In Deutschland wird jetzt ein Meisterstück der Kritik vollbracht; eine seiner Städte wandelt sich gelehrt in eine Stadt Griechenlands und Italiens um, aber dem neuen München fehlt ein antikes Volk; den Russen hätte Petersburg gefehlt. Von dem Hause Peters des Großen aus ging ich wieder vor der Newa-Brücke vorbei, welche auf die Inseln führt, und trat in die Festung Petersburgs ein. Ich habe bereis erwähnt, daß dieser Vau, dessen Name schon Furcht erzeugt, zwei Mal seine Granitmauern abge- 199 nutzt hat, und doch ist er kaum 440 Jahre alt. Welcher Kampf! Die Steine leiden hier unter der Gewaltthätigkeit wie die Menschen. Die Gefängnisse ließ man mich nicht sehen. Es giebt Kerker unter dem Wasser und unter den Dachern, und Me sind gefüllt. Nur in die Kirche führte man mich, in welcher sich die Gräber der regierenden Familie befinden. Ich stand vor diesen Gräbern und suchte sie noch, da ich mir nicht vorstellen konnte, baß ein viereckiger Stein ohne Verzierung, von der Länge und Breite eines Bettes, über dem eine grüne Tuchdecke mit dem eingestickten kaiserlichen Wappen liegt, das Grabmal der Kaiserin Katharina l., Peters I., Katharina's ll. und so vieler anderer Fürsten bis zum Kaiser Alexander sein könnte. Die griechische Religion verbannt die Graber aus den Kirchen; sie verlieren dadurch mehr an Pomp und religiöser Pracht, als sie an mystischem Schauer gewinnen, besonders da sich der byzantinische Glaube mit Vergoldungen, Ciselirungrn und gewissen Malereien begnügt. Die Griechen sind die Kinder der Iconoclasten-, in Rußland glaubten sie aber die Lehre ihrer Vater mildern zu können. Sie hatten noch weiter gehen können. In dieser Vegräbniß-Citadelle erschienen mir die Tod, ten freier als die Lebendigen. So lange ich mich da befand, war mir es, als vermöchte ich nur mit Anstrengung zu athmen. Hatte man nach einer philosophischen Idee die Gefangenen des Kaisers und die Gefangenen des Todes, die Verschwörer und die Herrscher, gegen die man sich verschwört, in ein Grab eingeschlossen, so würde ich diese Idee ehren; hier aber sehe ich nur die cynische absolute Gewalt, das brutale Vertrauen eines gesicherten Despotismus. Mit 2W dieser übernatürlichen Kraft kann man sich über die kleinen menschlichen zarten Rücksichten erheben, die sich nur für die gemeinen Regierungen ziemen; ein Kaiser von Rußland ist so erfüllt von dem, was er sich selbst schuldig ist, daß seine Gerechtigkeit auch vor der Gerechtigkeit Gottes nicht in den Schatten tritt. Wir Menschen im Westen, wir royalisti-schen Revolutionaire, sehen in einem Staatsgefangenen-in Petersburg nur ein unschuldiges Opfer des Despotismus; die Russen sehen in ihm einen Verworfenen, einen Ruchlosen. So weit führt die policische Götzendienern. IedeS Geräusch erschien mir als eine Klage; die Steine ächzten unter meinen Füßcn und mein Herz empfand den heftigsten Schmerz, indem die Phantasie ihm die qualvollsten Schmerzen vorhielt, die der Mensa) jemals hat den Menschen erduloen lassen. Ach, ich beklage die Gefangenen in dieser Frstr. Man schaudert, wenn man die Existenz der Russen in Kerkern unter der Erde nach jener der Russen beurtheilt, die auf der Erde umhergehen. Ich habe auch an andern Orten Festungen gesehen, aber dieser Name bedeutete das nicht, was er in Petersburg ausdrückt. Mir wurde unheimlich, wenn ich bedachte, daß die gewissenhafteste Trcue und die fleckenloseste Rechtlichkeit keinen Menschen vor den unterirdischen Gefangnissen in der Citadelle von Petersburg schützen, und ich athmete freier, als ich über die Graben wieder hinüberschritt, welche diesen traurigen Raum vertheidigen und von der übrigen Welt absondern. Wer bemitleidete dieses Volk nicht? Die Russen, und ich spreche von denen der höhern Classen, leben immer von Vorurtheilen und einer Unwissenheit, die sie nicht mehr ha, ben. Die assectirte Resignation halte ich für die tiefste Erniedrigung, in welche eine sclavische Nation verfallen kann. 201 Die Empörung, die Verzweiflung würde ohne Zweifel schreck: licher sein, aber minder unedel; die Schwäche, die sich so tief erniedrig, daß sie sich selbst die Klage versagt, jenen Trost des Viehes; die Furcht, die so groß ist, daß sie ruhig wird, ist eine moralische Erscheinung, die man nicht sehen kann, ohne blutige Thränen zu vergießen. Nachdem ich dasVegrabniß der russischen Herrscher besichtigt hatce, ließ ich mich in mein Stadtviertel und in die katholische Kirche führen, in welcher Dominikaner-Mönche fungiren. Ich wollte eine Messe lesen lassen für einen Jahrestag, den ich auf allen meinen Reisen bisher stets in einer katholischen Kirche gefeiert habe. Das Dominikaner-Kloster liegt in der NewM-Persprctwe, der schönsten Straße Petersburgs. Die Kirche ist prächtig, aber anständig. Die Klostcrgange find verödet, in den Höfen liegen Schutt und Trümmer und es herrscht eine gewisse Traurigkeit. Trotz der Toleranz, ^welche das Kloster genießt, schien es nicht eben reich und gesichert zu sein. In Rußland verbürgt die Toleranz weder die öffentliche Meinung, noch das Staatsgesetz; sie ist wie alles Uebrige eine von einem Manne bewilligte Gnade und dieser Mann kann morgen zurücknehmen, was er heute gegeben hat. Ehe ich mich zu dem Prior begab, blieb ich eine Zeit lang in der Kirche und da unter meinen Füßen erblickte ich einen Stein, auf welchem ich einen Namen las, der mich tief ergriff: Poniatowski. Dieses königliche Opfer der Eitelkeit, dieser zu leichtgläubige Liebhaber Katharina's II. ist hier begraben ohne irgend eine Auszeichnung. 2b ibm aber auch die Maiestat des Thrones fehlt, die Majestät des Unglücks ist ihm geblieben. Das Unglück diefts Fürsten, seine so grausam bestrafte Verblendung und die perfide Politik 202 feiner Feinde werden alle Christen und alle Reisende auf dieses unbeachtete Grab aufmerksam machen. Neben dem verbannten Könige ist der verstümmelte Leichnam Moreau's begraben worden. Dcr Kaiser Alexander 'ließ ihn von Dresdcn daherbringcn. Ich halte die Idee, die sterblichen Ueberreste dieser beiden so beklagenswerten Männer zu vereinigen, um in einem Gebete die Erinnerungen an ihre verfehlten Geschicke zu verflechten, für eine der edelsten jmes russischen Kaisers, der, vergessen wir dies nicht, groß erschien bei stincm Einzüge in eine Stadt, welche Napoleon verlassen hatte. Gegen vier Uhr Nachmittags erinnerte ich mich endlich, daß ich nicht blos nach Rußland gekommen sei, um mehr oder minder merkwürdige Gebäude zu fehen, oder mehr oder minder philosophische Resiettioncn anzustellen, und ich eilte zu dem französischen Gesa-ndten. Meine Erwartung wurde hier getäuscht. Ich erfuhr, die Vermahlung der Großfürstin Marie mit dem Herzoge von Leuchtenberg würde schon am zweiten Tage darauf stattfinden, und ich wäre zu spat gekommen, um vor der Ceremonie noch vorgestellt zu werden. Versäumte ich diese Festfeierlichkeit in einem Lande, wo der Hof Alles ist, so war meine Reise vergeblich. I e h »i t e r Brief. Petersburg, an demselben Tage, dem 12. Juli 183U, Abends. W?an hat mich auf die Insel-Promenade geführt. Es ist dies ein angenehmer Sumpf. Nie hctt man Schlamm beft ser unter Blumen versteckt. Denken Sie sich cine feuchte Niederung, die im Sommer durch die Canale, welche die Feuchtigkeit aufnehmen, von Wasser frei erhalten wird. Die-ftn Voden nun hat man mit prächtigen — Virkenboskets bepflanzt und mit einer Menge allerliebster Landhauser bebaut. Alleen von Birken, welche nebst den Fichten die einzigen einheimischen Baume dieser eisigen Halden sind, erregen eine gewisse Illusion; man glaubt in einen englischen Park versetzt zu sein. Dieser große Gatten mit Villen und cni«nz;<-8 vertritt für die Bewohner von Petersburg „das Land", wo sich einen Augenblick im Jahre die Höflinge aufhalten, wahrend er die übrige Zeit hindurch öde bleibt. Das nennt man denn den Inscldistrict. Es führen mehrere schöne Wege mit Brücken über verschiedene Meeresarme dahin. Wandert man durch die schattigen Gange, so kann man sich allerdings auf das Land versetzt halten, aber auf ein monotones und künstliches. Der Boden ist einförmig flach und man sieht nur eine Baumart; wie laßt sich da- 204 mit uiel Malerisches erreichen i Die Pflege der Menschen hilft der ärmlichen Natur nur unvollkommen nach. Sie haben hier Alks gethan, was ohne den liebcn Gott geschehen konnte, und das ist freilich wenig. Unter dieser Zone sind die Treibhauspflanzen, die exotischen Früchte, selbst die Bergwerkscrzeugnisse, Gold und Edelsteine, minder selten als unstre gemeinsten Waldbänme. Durch den Reichthum verschafft man sich hier Alles, was unter Glas gedeiht, — das ist viel als Gegenstand einer Beschreibung in einem Fecnmarchen, gnügt aber nicht in einem Part. Ein Kastanien-, ein Eichenwaldchen unserer Hüg<'l würde ein Wunder in Petersburg sein. Italienische Hauser, die von lappländischen Bäumen umgeben und mit Blumen aus allen Landern angefüllt sind, sehen gewih, außerordentlicher als angenehm aus. Die Pariser, welche nie Paris vergessen, würden dieses gebauete Land die russischen elysaischen Felder nennen. Es ist aber größer, landlicher uno doch geputzter, künstlicher als die Promenade in Paris, auch entfcrlMr uo>i den eleganten Stadttheilen. Dcr Inseldistricc ist gleichzeitig eine Stadt und freies Land; einige Wiesenstücke, die man dem Schlamme abgedrungen hat, erregen bisweilen den Glauben, es gäbe da wirtliche Wälder, Dörfer und Felder, wahrend Hauser in Form von Tempeln, Pilaster, welche Treibhauser einfassen, Colonnaden von Palästen, Theater mit antiken Peristyle« be-weist'N, daß man aus der Stadt nicht hinaus gekommen ist. Die Nüssen sind mit Recht stolz auf diesen Garten, den si'e mit so großen Kosten dem schwammigem Boden Petersburgs entrissen baben. Ncnn aber auch die Natur über-wunden ist, so gedenkt sie doch noch immer ihrer Niederlage und unterwirft sich nur grollend; jenseits der Parkhecke beginnen die Brachfelder. Glücklich die Lander, wo d?r Boden 205 und der Himmel wetteifern, den Aufenthalt des Menschen zu verschönern und ihm das Leben leicht und süß zu machen. Ich würde mich wenig bei den Unannehmlichkeiten dieses verwahrloseten Bodens aushalten und bei der Neise im Norden mich nicht so sehr nach der Sonne des Südens sehnen, wenn die Russen weniger affectirten, das zu verachten, was ihrem Lande fehlt. Ihre vollkommene Zufriedenheit erstreckt sich selbst auf das Clima, auf die Erde. Da sie uon Natur zur Prahlerei gencigt sind, so bilden sie sich selbst auf die Natur etwas ein wie auf die Gesellschaft, in welcher sie leben. Dies ist die Ursache, daß ich mich, wie es wohl meine Wicht wäre und wie ich mir vorgenommen hatte, in alle Unannehmlichkeiten der nördlichen Lander nicht ergebe. Das Delta zwischen der Stadt und ein« der Mündungen der Newa ist jetzt von dieser Art Park ganz eingenommen. Er befindet sich jedoch innerhalb Petersburgs. Die russischen Städte umschließen ganze Länder. Dieses Delta würde ein volkreicher Theil der neuen Hauptstadt geworden sein, wenn man den Plan des Gründers genauer befolgt hatte. Petersburg hat sich aber allmalig südlich von dem Flusse gewendet, um wo möglich den Ueberschwemmungen zu entgehen, und der sumpfige Boden der Inseln ist ausschließe lich für die Frühjahrehauser der reichsten und elegantesten Leute vom Hofe aufgespart wurden. Neun Monate im Jahre sind diese Hauser balb unter dem Waffer und dem Schnee versteckt und dann streifen die Wölfe um ocn Pavillon der Kaiserin. In dcn drei andern Monaten gleicht aber auch nichts dem Luxus der Blumen in diesen Sommerwoh: nungen. Auch unter dieser nachgemachten Eleganz dringt das Naturell der Eingebornen hervor. Die Sucht zu glänzen ist die herrschende Leidenschaft der Rufsm; deshalb sind die Blumen in ihren Salons nicht so aufgestellt, daß sie 206 das Innere der Wohnung angenehmer machten, sondern baß sie von außen bewundert werden, gerade umgekehrt wie in England, wo man sich vor allen Dingen hütet, die Ausschmückung bis auf die Straße auszudehnen. Die Engländer sind die Menschen auf der Welt, welche den Styl am besten durch den Geschmack zu ersetzen verstehen; ihre großen Gebäude sind Meisterstücke der Lächerlichkeit, ihre Privatwohnungen aber Muster von Eleganz und verständiger Bequemlichkeit. Auf dcn Inseln ist ein Haus und ein Weg wie die andern. Der Fremde wandelt auf dieser Promenade ohne Langeweile umher, wenigstens am ersten Tage. Der Schatten der Birke ist durchsichtig, aber unter der nordischen Sonne sucht man auch kein dichtes Blatterdach. Ein Canal folgt auf einen Cee, eine Wiese auf ein Vosktt, eine Hütte auf eine Villa, eine Allee auf eine andere, an deren Ende man dann wicder ganz ahnliche Ansichten sindct, wie man sie eben hinter sich gelassen hat. Diese träumerischen Vil-der fesscln die Phantasie, ohne sie lebhaft zu interessiren, ohne die Neugierde zu reizen; es ist Ruhe und die Ruhe ist etwas Kostbares an dem russischen Hofe, und ob sie gleich da nicht so geschaht wird, wie sie es verdient. Einige Monate hindurch ergötzt ein Theater so gut als möglich dlese Sommcrquartiere der russischen Großen. Um das Theater hcr bildn: künstliche Flüsse und schattige (5^-nale Wasseralleen; das Wasser breitet sich bisweilen sogar in kleine Seen aus, welche das Gras an ihren Ufern nähren, — das Gras! eine wunderbare Schöpfung der Kunst auf einem Boden, der von sich srlbst nur Haidckraut und Moose hervorbringt. Man geht unter einer endlosen Menge von Wohnungen umher, die mit Blumen überfüllt und unter Bäumen versteckt sind, wie die Gebäude in einem 207 englischen Park; aber trotz diesen Wundern giebt das bloße monotone Grün der Birke dieser Gartenstadt immer ein trauriges Aussehen. Der kostspieligste Lurus kann hier nicht Ueberfluß genannt werden, denn man muß alle Hilfsmittel der Kunst erschöpfen und Schatze aufwenden, um das hervorzubringen, was anderswo von selbst gedeiht und da für durchaus nothwendig gehalten wird. Ein Fichtenwald in der Ferne streckt hier und da seine magern und traurigen Wipfel über die Dacher einiger Villen, die von Bretern erbaut und wie Steine angestrichen sind. Diese Erinnerungen an die Einode dringen durch den ephemeren Schmuck der Garten hindurch, gleichsam als Zeugniß von der Strenge des Winters und der Nahe Finnlands. Der Zweck der Eiuilisation des Nordens ist ernst. Unter diesen Climaten ist der gesellschaftliche Verband nicht die Frucht des Vergnügens des Mcnschens, nicht leicht zu befriedigender Interessen und Leidenschaften, sondern cincs ausdauernden Willens, der oft auf Hindernisse stößt und die Völker zu unbegreiflichen Anstrengungen treibt. Mnn hier die Individuen sich vereinigen, so geschieht es, um gegen eine rebellische Natur zu kämpfen, welche immer widerstrebend auf die Anforderungen antwortet, welche man an sie stellt. Die traurige rauhe physische Welt erzeugt eine Langeweile, welche mir die an diesem Hofe so häufigen Tragödien der politischen Welt erklärlich macht. Das Drama geht hi^r in der positiven Welt vor, wahrend das Theater dem Vaudeville überlassen bleibt, das Niemanden in Furcht setzt, wie man am liebsten die Schriften Paul de Kocks licht. Nur die nichtigen Unterhaltungen sind in Rußland erlaubt. Unter einer solchen Ordnung der Dinge ist das wirkliche Leben zu ernst, als daß eine ernste Literatur möglich wäre. Nur die Posse und Idylle tonnen vor ein?r so schrecklichen 208 Wirklichkeit bestehen. Wenn unter dieser feindseligen Temperatur die Vorsicht des Despotismus die Beschwerlichkeiten dcs Lebens noch erhöhet, so ist dem Menschen alles Glück versagt, so wird jede Ruhe für ihn unmöglich. Friede und Glück sind hier so unbestimmte Wörter wie Paradies. Trägheit ohne Muße, ein unruhiges Nichtsthun ist das unvermeidliche Resultat der nordischen Autocratic. Die Russen genießen jenen Garten, den sie sich vor der Thüre geschaffen haben, nur wenig. Die Frauen leben im Sommer aus den Inseln wie im Winter in Petersburg, stehen spät auf, machen den Tag über Toilette, Abends Besuche und spielen die Nacht hindurch, denn der Zweck des Lebens ist hier dem Anscheine n^ch sich selbst zu vergessen und sich zu belauben. Der Frühling der Inseln beginnt in der Mitte Junis und dauert bis Ende Augusts. In diesen zwei Monaten hat man, das jetzige Hahr ausgenommen, acht warme Tage; die Abende sind feucht, die Nächte durchsichtig, aber nebelig, die Tage grau, und das Leben würde unerträglich traurig für jeden sein, der sich dem Nachdenken überlassen wollte. In Rußland heißt Konversation Verschwörung und Denken Empörung; ach, der Gedanke ist nicht blos ein Verbrechen, sondern ein Unglück. Der Mensch denkt nur, um sein oder Anderer Schicksal zu verbessern, wenn man aber durchaus nichts ändern tann, wird der nutzlose Gedanke in der Seele vergiftet und vergiftet dieselbe, weil er nichts anderes thun kann. Deshalb tanzt man in Rußland in der großen Welt in jedem Alter. Ist einmal der Sommer vorüber, so fallt fortwährend, Wochen lang, ein feiner Regen. Dann verlieren in zwei Tagen die Birken der Inseln ihre Blätter und die Hauser ihre Blumen und Vewohmr; die Ettaßrn und Brücken be- 209 decken sich mit beschmutzten Wagen, in denen man mit der den Slawen eigenen Unordnung, Sorglosigkeit und Unreinlichkeit Meublcs, Zeuge, Breter, Kasten unter einander packt"), und wahrend dieser Zug sich langsam nach dem andern Ende der Stadt zu bewegt, bringen einige vierspännige Equipagen, einige elegante Droschken die Eigenthümer dieser Schatze, die bis zum nächsten Jahre aufbewahrt werden, schnell in ihren Wintcraufmthalt. So flieht der Reiche im Norden, nachdem die nur zu flüchtigen Illusionen des Sommers geschwunden sind, vor der rauhen Luft und die Baren und Wölfe treten wieder in den Besitz ihres rechtmäßigen Gebietes. Die Stille erlangt ihre alten Rechte wieder über die gefrorenen Sümpfe und die frivole Gesellschaft unterbricht für neun Monate> ihre Vorstellungen in der Wüste. Schauspieler und Zuschauer vertauschen die hölzerne Stadt mit der steinernen, sie bemerken aber die Veränderung nicht; denn in Petersburg verbreitet der Schnee der Winternachte fast eben so viel Lichtglanz als die Sonne in den Sommertagen, und die russischen Ocfen sind wärmer als die Strahlen eines schieffallenden Lichtes. Nach Beendigung des Schauspieles packt man die Coulissen und Vorhänge zusammen, löscht die Lampen aus, entfernt die Blumen uud nur einige unglückliche Baume seufzen neun Monate über den Binsen des blassen Sumpfes. Was auf den Inseln alle Jahre geschieht, wirb einmal der ganzen Stadt geschehen. Wird diese Hauptstadt ohne Wurzel in der Geschichte einen einzigen Tag von dem Herrscher vergessen, lenkt eine neue Politik den Gedanken des Gebieters nach einer andern Richtung, so zerfallt der Granit unter dem Wasser, die überschwemmte Niederung tritt ') Ich habe dics nach meiner Rückkunft aus Petersburg selbst g«sehen. l. 14 210 in ihren natürlichen Zustand zurück und die Bewohner der Einöde nehmen davon wieder Besitz. Diese Gedanken beschäftigen alle Fremde, die in Petersburg umherwandcln; Niemand glaubt an die Dauer dieser wunderbaren Stadt. Denkt man nur rin wenig nach (und welcher achte Reisende denkt nicht nach?), so ahnt man den und den Krieg, die und die Umwandlung der Politik, welche die Schöpfung Peters I. verschwinden lassen würde wie eine Seifenblase unter einem Hauche, wie eine Zauberlaterne, deren Licht man verlöscht. Nirgends fühlte ich mich von der Unbeständigkeit aller menschlichen Dinge so durchdrungen; in Paris, in London .dachte ich oft bci mir: es wird eine Zeit kommen, in welcher diese geräuschvolle Stadt stiller sein wird denn Athen, Rom, Syracus oder Karthago; abcr kein Mensch vermag die Stunde oder die unmittelbare Ursache dieser Zerstörung zu ahnen, während man das einstige Verschwinden Petersburgs uorhersehm kann; es kann morgen, inmitten der Triumphgesange seines siegreichen Volkes geschehen. Der Verfall der andern Hauptstädte folgt der Ausrottung ihrer Bewohner; Petersburg wird untergehen, sobald die Russen ihre Macht sich ausbreitm sehen. Ich glaube an die Dauer Petersburgs wie an die eines politischen Systems, wie an die Beständigkeit eines Menschen. Das kann man von keiner andern Stadt in der Welt sagen. Wie entsetzlich ist die Macht, welche inmitten einer Wüste eine Hauptstadt hervorrief und die mit einem Worte der Einöde Alles zurückgeben kann, was sie ihr entrissen hat! Das Leben gehört hier nur dem Herrscher; das Geschick, die Kraft, der Wille cines ganzen Volkes liegen in einem Haupte. Der Kaiser von Rußland ist die Personification einer socialen Gewalt; uiucr ihm herrscht die 211 Gleichheit, wie sie die modernen gallo-amerikanischen Demo-craten, Fourrieristen :c. träumen. Aber die Russen kennen eine Ursache des Sturmes mehr als die andern Menschen -den Zorn des Kaisers. Die republikanische oder monarchische Tyrannei erregt Abscheu vor der absoluten Gleichheit. Ich fürchte nichts so sehr als die Anwendung einer unbeugsamen Logik auf die Politik. Wenn Frankreich seit zehn Jahren materiell glücklich ist, so liegt die Ursache darin, daß die scheinbare Absurdität, die seine Angelegenheiten leitet, eine praktische hohe Weisheit ist; uns beherrscht das Factische, das an die Stelle der Speculation getreten ist. In Rußland wirkt das Prinzip des Despotismus immer mit einer mathematischen Strenge und das Resultat dieser äußersten Consequenz ist eine äußerste Unterdrückung. Man wird unwillig, wenn man diese harte Wirkung einer unbeugsamen Politik sieht, und fragt sich mit Schrecken, warum in drn Werken des Menschen so wenig Menschliches Ilegt. Zittern heißt aber nicht verhöhnen; waS man fürchtet, verachtet man nicht. Betrachtet man Petersburg, denkt man über das schreckliche Leben der Bewohner dieses Lagers uon Granit nach, so kann man an der Barmherzigkeit Gottes verzweifeln, wehklagen und fluchen, langweilen wird man sich nicht. Es liegt da ein unbegreifliches Geheimniß, aber zugleich etwas wunderbar Großes. Der Despotismus, der so organisirt ist, wie hier, wird ein unerschöpflicher Gegenstand der Beobachtung und des Nachdenkens. Dieses colossale Reich, daö ich plötzlich vor mir im Osten von Europa sich erheben sehe, im Osten jenes Europa, wo die Staaten an der Abnahme aller anerkannten Autorität leiden, gleicht einer Auferstehung. Es ist mir, als sähe ich ein Volk des alten Testamentes 14" 212 vor mir, und ich bleibe entsetzt und neugierig vor den Füßen des vorsündfluthlichen Niesen stehen. Gelangt man in das Land der Russen, so bemerkt man auf den ersten Blick, daß der Staat, so wie sie ihn eingerichtet haben, nur für sie paßt; man muß Russe sein, um in Nußland leben zu können, und doch geschieht da scheinbar Alles wie an andern Orten. Erst wenn man den Sachen auf den Grund sieht, bemerkt man den Unterschied. Diesen Abend hatte ich eine Musterung der eleganten Nelt auf den Inseln gehalten. Die elegante Welt ist sich überall gleich, sagt man; nichtsdestoweniger habe ich nur Eigenthümliches gefühlt und gedacht, — weil jede Gesellschaft eine Seele hat und diese Seele ihren ursprünglichen Character bewahrt, wenn sie sich auch wie eine andere durch die Fee, welche man Civilisation nennt, die aber nur die Mode jeder Zeit ist, leiten und bestimmen laßt. Diesen Abend war die ganze Stadt Petersburg, d. h. der Hof mit dem Gefolge und der Dienerschaft auf den Inseln versammelt, nicht wegen des uneigennützigen Vergnügens einer Promenade an einem schönen Tage, — dieses Vergnügen würbe den Höstingm hier todt erscheinen, sondern um das Packccbooi der Kaiserin vorbeifahren zu sehen, ein Schauspiel, dessen man nie überdrüssig wird. Jeder Herrscher ist hier ein Gott, jede Prinzessin eine Ärmide, eine Cleopatra. Das Gefolge dieser wechselnden Gottheiten ist unveränderlich und vergrößert sich durch ein immer getreues Volk, das sich zu ihnen drangt; der regierende Fürst ist, zu Pferd, zu Fuß, im Wagen, bei diesem Volke immer Mode und allmachtig. Was diese Menschen aber auch thun und sagen mögen, ihr Enthusiasmus ist erzwungen, ist die Liebe der Heerde zu dem Hirten, der sie füttert, um sie zu schlachten. Ein Volk ohne Freiheit besitzt Instinct, aber keine Gesinnungen; die 2l3____ Instinkte äußern sich oft auf eine lästige, nicht eben zarte Neise; vor den Kaisern von Nußland muß man sich in Unterwürfigkeit überbieten, und bisweilen belästiget der Weihrauch den Götzen. Dieser Cultus läßt wirklich schreckliche Zwischenspiele zu. Die russische Regierung ist eine durch den Mord gemäßigte absolute Monarchie, und wenn der Fürst zittert, langweilt er sich nicht; er lebt also zwischen Furcht und Ekel. Will dcr Stolz des Despoten Sclaven habcn, so sucht der Mensch seines Gleichen; ein Czar hat Nicht seines Gleichen; die Etikette und die Eifersucht halten um die Wette Wache um sein vereinsamtes Herz. Er ist Mehr noch zu beklagen als sein Volk, besonders wenn er etwas werth ist. Ich höre das häusliche Glück des Kaisers Nicolaus rühmen, sehe aber darin mehr den Trost cincr schönen Seele als einen Vcweis von vollständigem Glücke. Die Entschädigung ist nicht das Glück, im Gegentheil das Heilmittel zeugt von dem Leiden. Ein Kaiser von Rußland hat immer Herz übrig, wenn er überhaupt ein Herz besitzt. Daraus lassen sich die zu bewunderten hauslichen Tugenden des Kaisers Nicolaus erklären. Die Kaiserin hatte diesen Abend Peterhof zu Wasser verlassen und landete an ihrem Pavillon auf den Inseln. Hier will sie auf den Augenblick dcr Vermählung ihrer Toch-rer warten, die morgen in dem neuen Winterpalast gefeiert werden soll. Befindet sie sich auf den Inseln, so schirmt der Schatten um ihren Pavillon her den Tag über ihr Regiment reitender Garde, eines dcr schönsten in der Armee. Wir kamen zu spät, als daß wir sie aus ihrem geweihten Boote hätten steigen sehen können, aber die Menge war Noch ganz ergrissen von der flüchtigen Erscheinung des kaiserlichen Gestirns. Das Mcnschenwogen glich ganz der Be- 214 lvegung der Wellen, nachdem ein gewaltiges Kriegsschiff durch dieselben hindurch gedrungen. Das sl»l;e Schiff durchschneidet die Wogen mit vollen Segeln und die Welle schäumt noch lange, nachdem der Kiel, der sie zertheilt, in den Hafen gelangt ist. Endlich also athmete ich die Hofluftl Aber bis jetzt konnte ich noch kcinc der Gottheiten bemerken, welche sie auf die Sterblichen wehen lassen. Die bemerkenswerthesten Lusthäuser liegen um diesen kaiserlichen Pavillon herum oder doch in der Nähe. Der Mensch lebt hier nur von oem Blicke des Herrn, wie die Pflanze von den Strahlen der Sonne; die Luft gehört dem Kaiser, man athmet nur das, was cr jedem dauon ungleich zutheilt; bei dem ächten Hofmanne gehorcht die Lunge wie der Rücken. Uebcrall, wo ein Hof, eine Gesellschaft ist, giebt es auch Berechnung, nirgends aber liegt sie so erkennbar vor wie hier. Dieses Reich ist ein großes Schauspielhaus, wo man von allen Logen aus in die Coulissen sieht. Es ist ein Uhr früh; die Sonne will aufgehen; ich kann noch nicht schlafen, werde also die Nacht beschließen, wie ich sie begonnen habe, ich werde ohne Licht schreiben. Trotz den Ansprüchen der Russen auf Eleganz können die Fremden in ganz Petersburg kein erträgliches Gasthaus finden. Die Großen bringen aus dem Innern des Landes ein stets zahlreiches Gefolgt mit da her; der Mensch ist ihr Luxus, da er ihr Eigenthum ist. Sobald die Diener in dem Zimmer des Herrn allein gelassen werden, walzen sie sich auf orientalische Weise auf allen Mcubles umher, die sie mit Ungeziefer bedeckm, das aus dem Roßhaar in das Holz, aus dem Holze in den Kalk, in die Decke, in die Wände, in den Fußboden kriecht; in wenigen Tagen ist die ganze Woh- 2l5 nung rettungslos angesteckt, und die Unmöglichkeit, die Häuser den Winter über zu lüften, macht das Uebel ewig. Der neue kaiserliche Palast, welcher mit so vielem Aufwand von Gcld und Menschen wieder aufgebaut worden, ist mit diesem Ungeziefer bereits angefüllt, gleich als wenn die unglücklichen Arbcitsleute> die ihr Leben opferten, um die Wobnung des Gebieters schneller auszuschmücken, schon im Voraus ihren Tod dadurch geracht hatten, daß sie den mörderischen Wanden ihr Ungeziefer mittheilten. Schon sind mehrere Zimmer des kaiserlichen Palastes geschlossen und abgesperrt, bcuor sie bewohnt worden sind. Wie sollte ich bei Coulon schlafen können, wenn der kaiserliche Palast von diesen nächtlichen Feinden nicht verschont ist? Ich ergebe mich, — die Helle der Nächte entschädiget mich. Obgleich Üium von den Inftln zurückgekommen, war ich doch so eben um Mitternacht zu Fuße wieder ausgegangen, um meine Erinnerungen zu sammeln und die Gespräche wrlche mich den Tag über am meisten intcressirt hatten, noch einmal zu überdenken. Ich werde Ihnen sogleich einen Ueberblick davon geben. Dieser einsame Spaziergang brachte mich in die schöne Straße, welche Newsky-Perspective heißt. Ich sah von Weitem im Dämmerlichte die kleinen Säulen drs Admirali-tatsthurmes mit der hohen Metallspitze darauf glänzen. Die Spitze dieses christlichen Minarets ist spitzer als irgend ein gothischer Thurm und ganz mit dem Golde der Dukaten vergoldet, welche die vereinigten Provinzen von Holland dem Kaiser Peter I. als Geschenk übersandten. Diese widerlich unreinlichen Wirthshauszkmmer und jenes fabelhaft prachtvolle Gebäude! — So ist Petersburg. An Kontrasten fehlt es, wie Sie sehen, in dieser Stadt nicht, wo Europa sich Asien und umgekehrt zur Schau stellt. 216 Das Volk ist schön; die Männer von rein slavischem Stamme, welche aus dem Innern von den reichen Herren hergebracht wurden, die sie in ihrem Dienste verwenden, oder ihnen erlauben, eine gewisse Zeit lang in Petersburg ein Gewerbe zu betreiben, zeichnen sich durch ihr blondes Haar und ihre blühend rothe Farbe, besonders aber durch die Vollkommenheit ihres Profils aus, das an die griechischen Statuen erinnert; ihre mandelförmig geschnittenen Augen haben die asiatische Form mit der nordischen Farbe, sind meist bläu-lich und besitzen einen eigenthümlichen Ausdruck von Sanftmuth, Grazie und Schelmerei. Dieser immer bewegliche Blick giebt der Iris schillernde Farben, welche von dem Grün der Schlange und dem Grau der Katze bis zu dem Schwarz der Gazelle spielen, obgleich der Grund immer blau bleibt. Der Mund mit einem seidenweichen goldgelbem Barte geschmückt, hat einen vollkommen reinen Schnitt und blendendweiße Zahne, die ihrer bisweilen spitzen Form wegen den Zahnen eines Tigers oder einer Sage ähnlich werden; gewöhnlich sind sie jedoch vollkommen regelmäßig. Die Tracht dieser Leure ist originell und sie besteht bald in der griechischen Tunica mit einem Ledergürtel in abstechender Farbe, bald in dem persischen Gewände, bald in dem russischen kurzen mit Schafpelz gefütterten Nocke. Die Frauen aus dem Volke sind minder schön; man begegnet wenigen auf der Straße, und die, welche man sieht, haben nichts Reizendes; sie sehen verdummt aus. Seltsam! Die Manner erscheinen sorgfaltig, die Frauen nachlassig gekleidet, — vielleicht weil die Manner durch ihren Dienst zu dem Hause der Großen gehören. Die Frauen aus dem Volke haben einen schwerfälligen Gang und tragen als Fußbekleidung große Leberstiefeln, die ihnen den Fuß verunstalten; ihre Person, ihr Wuchs, Alles an ihnen ist durchaus nicht zier- 217 lich; auch ihr erdfahler Teint, selbst wenn sie jung sind, hat nicht das Blühende der Männer. Ihr kurier, vorn offener Ueberrock ist mit fast immer zerrissenem Pelz gefüttert, der in Stücken herum hängt. Diese Tracht würde hübsch ftin, wenn sie besser getragen würde, wie unsere Modenhändler sagen, und wenn ihre Wirkung nicht sehr häusig durch einen verunstalteten Wuchs oder durch eine widerliche Unreinlichkett verdorben würde. Die National-Kopfbedeckung der Russinnen ist schön, wird aber selten; man sieht sie nur noch, wie man mir gesagt hat, bei den Ammen und bei den Hofdamen an Galatagen; sie besteht in einer Art vergoldetem, gesticktem und oben sehr ausgeschweiftem Thurm von Pappe. Die Gespanne sind malerisch-, die Pferde besitzen Kraft und Schnelligkeit, aberdie Equipagen, die ich diesen Abend auf den Inseln sah, selbst die der vornchmsten Herren, waren nicht clegant, nicht einmal reinlich. Dies erklärt mir die Unordnung und die Nachlässigkeit der Domestiken des Großfürsten Thronfolger, die Plumpheit und den abscheulichen Lack seiner Wagen, als ich ihn in Ems ankommen sah. Die Pracht im Großen, der in die Augen fallende Luxus, die Vergoldung, find den russischen Großen natürlich, keineswegs aber die Eleganz, die Sorgfalt, die Reinlichkeit. Es ist etwas Anderes, die Vorübergehenden durch den Reichthum in Erstaunen zu setzen, als den Reichthum, selbst im Verborgenen, zu genießen und als ein Mittel zu benutzen, sich so viel als möglich die traurigen Bedingungen des menschlichen Lebens zu verbergen. Man hat mir diesen Abend mehrere merkwürdige Züge von der sogenannten Leibeigenschaft der russischen Bauern erzahlt. Wir können uns nur mit Mübe eine richtige Vorstellung von der wahren Lage dieser (5lasse von Menschen machen, welche kein anerkanntes Recht haben und doch die Nation 218 sind. Obgleich die Gesetze ihnen Alles genommen haben, so sind sie doch in moralischer Hinsicht nicht so tief gesunken als in socialer herabgcdrückt; sie besitzen Geist, bisweilm Stolz, vorherrschend ist aber in ihrem Character und in ihrem ganzen Lebenswandel die List. Niemand hat das Recht, ihnen diese nur zu natürliche Folge ihrer Lage zum Vorwürfe zu machen. Dieses Volk, das immer gegen Herren auf der Hut ist, deren schamlose Treulosigkeit sie jeden Augenblick empfinden muffen, gleicht durch große Pfiffigkeit den Mangel an Redlichkeit der Herren gegcn ihre Leibeigenen aus. Die Verhaltnisse des Bauern zu dem Besitzer des Grund und Bodens, d. h. zu dem Kaifer, welcher den Staat re-prasentirt, würde allein schon cin des Studiums würdiger Gegenstand bei einem langen Aufenthalte in dem Innern Rußlands sein. In vielen Theilen des Reiches glauben die Bauern, sie gehörten zu dem Grund und Boden, ein Zustand, der ihnen ganz natürlich vorkommt, während sie Mühe haben zu glauben, daß Menschen Eigenthum eines andern Menschen sein können. In vielen andern Gegenden glauben die Bauern, der Grund und Boden gehöre ihnen und diese sind die glücklichsten, wenn sie nicht die unterwürfigsten der Sclaven sind. Manche, die verkauft werden sollen, schicken weit zu einem Herin, von dessen Gutherzigkeit sie gehört haben, und lassen ihn bitten, sie mit ihren Landereicn, Kindern und Vieh zu raufen. Hat dieser Herr, der unter ihnen durch seine Milde berühmt ist (ich sage nicht durch seine Gerechtigkeit, denn das Rechtsgcfühl ist in Rußland ganz unbekannt), hat dieser wünschenswerthe Herr kein Geld, so geben sie ihm die nöthige Summe, um sicher zu sein, daß sie nur ihm angehören werden. Dann kauft sie der gute Herr, um seine neuen Bauern zufrieden zu stellen, für ihr eigenes Geld und 219 nimmt sie als Leibeigene an, läßt sie eine gewisse Anzahl von Jahren von Abgaben frei und entschädiget sie auf diese Weise für das Geld, das sie ihm gaben, damit er sie kaufm konnte. So setzt also der reiche Leibeigene den armen Herrn in den Stand, ihn und stine Nachkommen zu besitzen, und schätzt sich glücklich, ihm und den Seinigrn anzugehören, und dadurch dem Joche eines unbekannten oder eines bösen Herrn zu entgehen. Sie ersehen daraus, d^ß der Kreis ihres Ehrgeizes noch nicht sehr groß ist. Das größte Unglück, das diese Menschen-Pflanzen be: treffen kann, ist der Verkauf ihres heimathlichen Bodens; man verkauft sie immer mit der Scholle, an welche sie gefesselt find, und der einzige wirkliche Vortheil, den sie bisher von den milderen neuen Gesetzen gehabt,haben, besteht darin, daß man den Menschen nichl mehr ohne Grund lind Boden verduftn kam,. Man umgeht indeß das Gebot durch Allen bekannte Mittel; so verkauft man nicht ein ganzes Gut mit allen Bauern, sondcrn einige Acker und hundert bis zweihundert Bauern auf den Acker, Kommt dich's ungcschliche Verfahren zur Kenntniß der Behörde, so straft sie, aber sie hat selten Gelegenheit zum Einschreiten, denn zwischen dem Vergehen und dem höchsten Nichter, d. h, dem Kaiser, steht ein Wall voll Menschen, die ein Interesse dabei haben, die Mißbrauche fortdauern zu lassen und sie zu verhüllen. .-" Die Grundbesitzer leiden durch diesen Zustand derDinge ebenso wie die Leibeigenen, besonders diejenigen, deren Angelegenheiten nicht in Ordnung sind. Die Besitzung ist schwer verkäuflich, so schwer, daß der, welcher Schulden hat und sie bezablen will, endlich aus der kaiserlichen Bank die nöthigen Summen leiht und dcr Bank Hypot>-k auf seine Güter giebt. Es folgt daraus, daß der Kaiser Schatzmeister und Glaubiger deö ganzen russischen Adels wird und daß sich der 220____ durch die höchste Macht so gczügelte Adel in die Unmöglich-keit versetzt sieht, seine Pflichten gegen das Volk zu erfüllen. Ein vornehmer Mann wollte einst eine Besitzung verkaufen; die Nachricht von dieser Absicht brachte das ganze Land in Aufruhr; die Bauern schickten die Aeltesten des Dorfes zu ihm, die sich vor ihm auf die Knie niederwarfen und ihm weinend erklärten, sie möchten nicht verkauft sein. „Ich muß," antwortere der Herr i „es widerspricht meinen Grundsätzen, die Abgaben zu erhöhen, welche meine Bauern zahlen, und doch bin ich nicht reich genug, ein Gut zu behalten, das mir fast nichts einbringt." — „Wenn es nur das ist," sagten die Abgeordneten der Bauern, „so sind wir reich genug, daß Sie uns behalten können." Und alsbald verdoppelten sie freiwillig die Abgaben, welche sie seit undenklicher Zeit gezahlt hatten. Andcre Bauern, die minder sanftmüthig, aber schlauer sind, emperen sicll gegen ihren Herrn blos in ber Hoff-nung, Leibeigene der Krone zu werden. Das ist das Ziel des Ehrgeizes aller russischen Bauern. Wollte man solche Menschen mit einem Mal frei geben, so würde man das Land in Feuer und Flammen versetzen. Sobald die von dem Grund und Boden getrennten Leibeigenen sahen, daß man dasselbe ohne sie verkaufte, verpachte, bebaue, würden sie sich in Maffe erheben und schreien, man nehme ihnen, was ihnen gehöre. Vor Kurzem benutzten in einem Dorfe, wo ein Feuer ausgekommen war, die Bauern, welche sich über die Harte ihres Herrn beklagten, die Unordnung, welche sie vielleicht selbst herbeigeführt hatten, um ihren Feind, d. h. ihrcn Herrn, zu ergreifen, ihn bei Seite zu schaffen, zu pfählen und an dem Feuer zu braten. Sie glaubten, dieses Verbrechen vollständig entschuldiget zu haben, wenn sie eidlich versicher- 221 ten, der Unglückliche hätte ihre Häuser verbrennen wollen und sie hätten sich nur vertheidiget. Nach solchen Vorfällen läßt der Kaiser meist das ganze Dorf nach Sibirien transportiren und das nennt man in Petersburg: Asien bevölkern. Wenn ich oiest Thatsache und eine Menge anderer mehr oder minder geheimer Grausamkeiten bedenke, welche täglich in diesem unermeßlichen Reiche vorkommen, wo die Entfernungen die Empörung wie die Unterdrückung begünstigen, wird mir daS Land, die Regierung und das ganze Volk verhaßt, ich fühle ein unbeschreibliches Mißbehagen und wünsche nichts sehnlicher, als wieder fortzukommen. Der Vlumen- und Livr^enluxus bei den Großen amü-sirte mich; jetzt empört er mich und ich halte mir das Vergnügen, womit ich ihn Anfangs betrachtete, fast als ein Verbrechen vor. Das Vermögen eines Grundbesitzers wird hier nach Vauernköpfen gerechnet. Ein nicht freier Mensch ist hier Gel^> und bringt im Durchschnitt seinem Herrn, den man frei nennt, wcil er Leibeigene hat, zchn Rubel jährlich ein. In manchen Gegenden tragt er aber auch das Dreifache und Vierfache ein. Die Menschenmünze ändert in Rußland ihren Werth wie bei uns Grund und Boden, dessen Preis sich erhöht nach den Abzugswegen, die sich für den Ertrag sinoen. Ich berechne fast unwillkürlich, wie viel Familien ein Herr braucht, um einen Hut, einen Shawl für seine Frau kaufen zu können; trete ich in ein Haus ein, so erscheint mir hier ein Rosenstock, eine Hortensie keineswegs so wie an andern Orten; Alles kommt mir blutbefleckt vor und ich sehe von der Münze nur die Kehrseite. Die Summe der Seelen, welche bis zu ihrem Tode leiden müssm, um die Zeugstoffe zu vervollständigen, welche eine Dame zu ihrem Meublement und ihrem Anzüge braucht, beschäftigt mich 222 mehr als ihr Schmuck oder ihre Schönheit. Ich fühle es wohl, daß ich bei diesen Berechnungen ungerecht werde; manche reizende Person erinnert mich unwillkürlich an die Carl-caturen gegen Vonaparte, welche 1813 in Frankreich und ganz Europa verbreitet wurden. Betrachtete man diesen Coloß des Kaisers von Weitem, so war er ahnlich, sah man aber das Vild genauer an, so erkannte man, daß das Gesicht aus verstümmelten Leichen zusammengesetzt war. Der Arme arbeitet überall für den Reichen, der ihn bezahlt; dieser Arme, der für seine Zeit durch das Geld eines andern Menschen entschädiget wird, ist aber doch nicht lcbens-länglich eingesperrt wie ein Stück Vieh, und obgleich er die Arbeit verrichten muß, die ihm jeden Tag das Brod für seine Kinder giebt, so besitzt er doch eine gewisse, wenigstens scheinbare Freiheit, und der Schein ist ja für ein Wesen von beschränktem Gesicht und unbegrenzter Phantasie fast Alles. Bei uns steht es dem, welcher um Lohn arbeitet, frei, sich andere Arbeitgeber, einen andern Aufenthalt, selbst eine an-dere Ardeitsart zu suchen, da seine Arbeit nicht als die Rente des Reichen angesehen wird, der ihn beschäftiget. Der rus-fische Leibeigene dagegen ist eine Sache des Herrn, von sei-ner Geburt an bis zu seinem Tode für den Dienst eines und desselben Herrn eingeschrieben und sein Leben repraftn-tirt diesem Herrn seiner Arbeit ein Theilchen der Summe, welche derselbe jahrlich zur Befriedigung seiner Bedürfnisse oder Einfälle bedarf. Bei einem solchen Zustande der Dinge ist der Lurus gewiß nicht mehr unschuldig, nicht mehr zu entschuldigen. Jeder Staat, .in welchem es keine Mittelklasse giebt, sollte den Luxus als ein Aergerniß ver-bannen, weil in wohlgeordneten Landern der Zweck, welchen diese Classe von der Eitelkeit zieht, den Wohlstand der Reichen erklart und entschuldiget. 223 Wenn, wie man sagt, Rußland ein industrielles Land wird, so werden sich die Verhältnisse zwischen den Leibeigenen uno dem Bescher des Grundes und Bodens bald an-dn'n; es wird cine Bevölkerung von unabhängigen Kaufleuten und Handwerkern zwischen den Adeligen und den Bauern sich ausbilden, die sich jetzt freilich erst zu zcigen beginnt und sich fast ausschließlich durch Fremde verstärkt. Die Fabrikanten und Kaufleute sind fast alle Deutsche. Es ist hier nur zu leicht, sich durch den Schein der Civilisation täuschen zu lassen. Wenn man den Hof und die Personen sieht, welche sich an demselben bewegen, so glaubt Man sich unter einem Volke zu befinden, das in Bildung und in Staatswissenschaft weit fortgeschritten; bedenkt man aber die Verhältnisse, in denen die verschiedenen Classen des Staates zu einander stehen, erkennt man, wie wenig zahlreich diese Classen noch sind, betrachtet man endlich die Sitten und die Umstände genau, so erblickt man unter empörender Pracht eine kaum verhüllte wirtliche Barbarel.. Ich tadele die Nüssen nicht darum, was sie sind; icl) tadele an ihnen nur ihr Streben, das zu scheinen, was wir sind. Sie sind noch ungebildet und dieser Zustand läßt wenigstens hoffen, aber ich sehe sie unablässig mit dem Wunsche beschäftiget, die andern Nationen nachzuäffen, während sie die verspotten, die sie nachahmen. Da denke ich bei Mir: diese Menschen sind für den rohen Zustand verloren und haben die Civilisation verfehlt, und ich erinnere mich an den schrecklichen Ausspruch Voltaires oder Diderots, den man in Frankreich vergessen hat: „die Russen sind verfault, ehe sie reif wurden." In Petersburg sieht Alles reich, groß, prächtig aus, wenn man aber die Wirklichkeit nach diesem Aussehen beurtheilen wollte, würde man sich arg getäuscht sindm. Die 224 erste Wirkung der Civilisation äußert sich dann, daß sie das materielle i!eben leicht macht; hier ist Alles schwierig. Will man genau erfahren, was in dieser großen Stadt zu sehen ist und Schnitzler's Buch genügt nicht, lo findet man keinen andern Fuhrer; kein Buchhändler verkauft einen vollständigen Anzeiger der Sehenswürdigkeiten von Petersburg; die unterrichteten Personen, die man fragt, haben ein Inte» esse daran, keine Auskunft zu geben oder haben etwas Anderes zu thun als zu antworten-, der einzige Gegenstand, welcher für würdig gilt, die Gedanken eines Russen zu beschäftigen, ist der Kaiser, der Ort, den er bewohnt und der Plan, mit dem er scheinbar umgeht. Alle haben den Wunsch, sich dem Herrn angenehm zu machen, indem sie den Reisenden etwas von der Wahrheit zu verheimlichen suchen. Niemand denkt daran, die Neugierigen zu begünstigen; man tauscht sie gern durch falsche Documente und wer mit Vortheil in Nußland reism wollte, müßte ein großes kritisches Talent besitzen. Unter dem Despotismus ist die Neugierde gleichbedeutend mit Indiscretion; das Reich ist der regie-rcnde Kaiser; befindet er sich wohl, so ist man von allen andern Sorgen frei und jedes Herz, jeder Geist hat sein tagliches Vrod. Wenn man nur weiß, wo dieser Grund jedes Gedankens, dieser Vewegcr jedes Willens und jeder That, sich aufhalt und wie er lebt, so hat man, sei man Ruffe oder Fremder, in Rußland nichts mehr zu fragen, nicht einmal nach dem Wege, denn auf dem russischen Plane von St. Petersburg sind nur die Namen der Hauptstraßen angegeben. Dennoch gnügtc dieser entsetzliche Grad von Macht dem Czar Peter noch nicht; es war ihm nicht genug, der Vater seines Volkes zu sein; er wagte, das Geschick der Russen in der Ewigkeit zu bestimmen, wie er über alle ihre Schritte 225 in dieser Wett verfügte. Die Macht, welche den Menschen über das Grab hinaus folgt, kommt mir monströs vor; der Fürst, welcher selbst vor einer solchen Verantwortlichkeit nicht zurück wich und der, trotz seiner langen, wirklichen oder scheinbaren Zögerung sich endlich einer so ungeheuern Usurpation schuldig machte, hat der Welt mehr Schaden zugefügt durch dieses einzige Attentat gegen die Vorrechte des Priesters und die Religionsfreiheit des Menschen, als er Rußland Gutes that durch seine kriegerischen und administrativen Eigenschaften, so wie durch sein industrielies Genie. Dieser Kaiser, das Muster des Reiches und der Kaiser auch in unserer Zeit, vereinigt? in sich Großartiges und Kleinliches; herrschsüchcig, wie die grausamsten Tyrannen aller Zeiten und Länder, geschickt genug, um mit den besten Mechanikern seiner Zeit welteifern zu können, ein gewissenhaft schrecklicher Fürst, 'Adler und Ameise, Löwe und Viber, war er während seines Lebens ein unbarmherziger Herr und drangt sich auch noch gewissermaßen als Heiliger der Nachwelt auf, deren Urtheil er als Tyrann bestimmen will, nachdem er sein Leben lang die Handlungen seiner Unterthanen als Tyrann bestimmte. Diesen Mann unparteiisch zu beurtheilen und zu schildern, gilt noch heut zu Tage für ein Verbrechen, das selbst für einen Fremden gefahrlich werden könnte, der in Rußland leben muß. Ich trotze dieser Gefahr jeden Augenblick des TageS, denn kein Joch ist mir unerträglicher als das einer anbefohlenen Bewunderung. So unbeschrankt die Gewalt in Rußland ist, so fürchtet sie sich doch außerordentlich vor dem Tadel, ja schon vor dem Freimuthe. Ein Bedrücker fürchtet von allen Menschen die Wahrheit am meisten; er entgeht dem Lacherlichen nur durch den Schrecken und das Geheimniß und deshalb rann man hier weder von Personen, noch von sonst etwas spre-l. 15 220 chen, auch nicht von den Krankheiten, an denen die Kaiser Peter III. und Paul l. starben, ft wie nicht von den geheimen Liebschaften, die einige Uebelwollende dem jetzigen Kaiser zugeschrieben. Die Unterhaltungen dieses Fürsten gelten ebm nur für — Unterhaltung. Ist dies einmal anerkannt, so muß man, welche Folgen sie auch für manche Familien haben mögen, die Augen vor ihnen schließen, wenn man nicht des größten Verbrechens beschuldigt sein will, das ein aus Sclaven und Diplomaten bestehendes Volk kennt, — des Verbrechens der Indiscretion. Ich möchte gern die Kaiserin sehen. Man nennt sie reizend; sie gilt aber für frivol und stolz. Es gehört freilich Geisteshoheit und leichter Sinn dazu, um ein Leben gleich dem zu ertragen, das sie führen muß. Sie mischt sich in nichts, fragt nach nichts; man weiß ja immerzu viel, wenn man nichts thun kann. Die Kaiserin macht es wie die Unterthanen des Kaisers; alle geborenen Nüssen und Alle, die in Rußland lebcn wollen, scheinen sich das Wort gegeben zu ha-' ben, unbedingt über Alles zu schweigen. Es wird hier von nichts gesprochen und doch weiß man Alles; geheime Con-versationen müßten sehr interessant sein, aber wer erlaubt sich dieselben? Wer reflectirt, macht sich verdächtig. Herr von Ncpnin regierte das Land und den Kaiser; Herr von Nepnin ist vor zwei Jahren in Ungnade gefallen und seit zwei Jahren hat Rußland diesen Namen nicht aussprechen hören, der sonst in Aller Munde war. Er stürzte an einem Tage von dem höchsten Gipfel der Macht in die finsterste Nacht; Niemand wagte sich seiner zu erinnern oder an sein Leben zu glauben, nicht an sein jetziges, sondern an sein vergangenes. In Rußland wcrdcn an dem Tage, da ein Minister fallt, die Freunde taub und blind. Wer wie in Ungnade gcsallen aussieht, wird begraben. Ich sage, „wer wie in 227 Ungnade gefallen aussieht," denn man geht nie so weit und sagt, es sti Jemand in Ungnade gefallen. Deshalb weiß Rußland heute nicht, ob der Minister, der es gestern regierte noch existirt. Unter Ludwig XV. war das Exil des Herrn von Choistul ein Triumph; in Rußland ist der Rücktritt des Herrn von Repnin der Tod. An wen wird das Volk einst von dem Schweigen der Großen appckliren? Welchen Ausbruch von Rache bereitet ge-gm die Autocratic die Abdication einer so feigen Aristocratie vor? Was thut der russische Adel? — er betet den Kaiser an und macht sich zum Mitschuldigen der Mißbrauche der höch-stm Gewalt, um selbst das Volk fort drücken zu können, das er so lange peitschen wird, als ihm der Gott, dem er dient, die Peitsche und die Hand laßt. sUnd sie selbst hat diesen Gott geschaffen). Hatte ihm die Vorsehung in der Occonomie des gewaltigen Reiches diese Rolle bestimmt? Nimmt er die Ehrenposten ein? Was hat er gethan, um sie zu verdienen? Die übergroße und noch immer steigende Macht des Herrn ist die ganz gerechte Straft der Schwache der Großen. In der Geschichte Nußlands hat Niemand, außer dem Kaiser, das gethan, was seines Amtes war, weder der Adel, noch die Geistlichkeit. Ein unterdrücktes Volk hat immer seine Strafe verdient; die Tyrannei ist das Werk der Nationen. Die civi-lisicte Welt nimmt entweder, ehe fünfzig Jahre vergehen, daS Joch der Barbaren noch einmal auf sich oder in Rußland bricht eine Revolution aus, schrecklicher als die, deren Wirkungen der Westen Europas noch immer fühlt. Ich mache die Bemerkung, daß man mich hier fürchtet, weil man weiß, daß ich nach meiner Ueberzeugung schreibe. Kein Fremder kann das Land betreten, ohne zugleich beurtheilt und bekrittelt zu werden. „Er ist ein aufrichtiger Mann," denkt man, „er kann also gefährlich werden." Da sehe man !5° 228 den Unterschied; unter der Regierung der Advokaten ist ein aufrichtiger Mann nur nutzlos. „Der Haß gegen den Despotismus herrscht unklar in Frankreich," sagt man-, „rr ist übertrieben, kcnnt die Sachlage nicht und kann demnach wohl ertragen werden; sobald aber cin Reisender, der glaubwürdig ist, weil er glaubt, die Mißbrauche für wirklich erklart, die ihm bci uns in die Augen fallen müssen, wird man uns sehen, wie wir sind. Jetzt bellt Frankreich gegen un?, ohne uns zu kennen; es wird uns beißen, sobald es uns kennt." Die Russen erzeigen mir durch diese Besorgniß ohne Zwei: fel zu viel Ehre; aber trotz der Verstellung können sie doch ihre Gedanken über mich nicht verbergen. Ich weiß nicht, ob ich über ihr Land sagen werde, was ich denke, das aber weiß ich, baß sie sich Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn sie die Wahrheiten fürchten, die ich aussprechen l'ann. Die Russen haben von Allem den Namen, aber von nichts die Sache; nur an Ankündigungen sind sie reich; man lese nur die Etiketten, sie daben die Civilisation, die Gesellschaft, die Literatur, das Theater, die Künste, dle Wissenschaft, aber sie haben keinen Arzt. Ist man krank, hat man das Fieber, so muß man sich selbst behandeln over einen fremden Arzt rufen lassen. Laßt man zufällig den Arzt in der Nahe rufen, so ist man ein Kind des Todes; die russische Heilkunde liegt noch in der Wiege. Außer dem Arzte des Kaisers, der ein Russe und Gelehrter ist, wie man mir sagt, sind die alleinigen Aerzte, die nicht umbringen, meist Deutsche im Hause der Fürsten; aber die Fürsten leben in ewiger Bewegung; man kann nicht bestimmt wissen, wo sie sich befinden, und man hat also eigentlich keinen Arzt. Das ist keine Einbildung, sondern etwas, was ich seit mehreren Tagen mit eigenen Augen beobachtet h-che und nicht weiter ausmale, um Niemanden zu compromittiren. Wie kann 229 man 20, 40, f>0 Werste weit schicken, um zu erfahren, an welcher Krankhclt man lcidtt? Und was wird aus dcrHoff, nung, wenn man den Arzt an dem gewöhnlichen Aussent« Haltsorte des Fürsten nicht findet t „Der Herr Doctor ist nicht zugegen." Eine andere Antwort erhalt man nicht. Was soll man thun i Soll man sich weiter erkundigen? In Rußland muß Alles verschwiegen. Alles benutzt werden, um die Lieblingstugend des Landes, die Verschwiegenheit, zu bethätigen. Man darf die Plane und die Reisen der Großen und der Leute im Dienste derselben, und ware es ihres Ar;-tcs, nicht kennen; Alles, was sie Leuten, die geborene Hof-manner sind und deren Leidenschaft der Gehorsam ist, nicht offiziell mittheilen, muß ein Geheimniß bleiben. Das Geheimhalten ist hier ein Verdienst. Ist man durch eine erste ausweichende Antwort abgewiesen worden, so wiederhole man ja die Frage nicht. Sie sind krank; gut; heilen Sie sich selbst, sterben Sie oder warten Sie, bis der Arzt zurückkommt. Der geschickteste dieser Aerzte der Fürsten steht überdies weit untcr dem letzten unserer Hospitalarzte; die erfahrensten und gelehrtesten Praj'liker kommen bald aus der Routine, wenn sie an einem Hofe leben. Wenn auch der Hof in Petersburg Alles vertritt, so ersctzt doch dem praktischen Arzte nichts die Erfahrung, welche er an dem Krankenbette erlangt. Ich würde mit Vergnügen und lebhaftem Interesse die geheimen wahrhaftigen Memoiren eincs A'cztcs vom russischen Hofe lesen, seine Rezepte aber mag ich nicht; sie sind so gestellt, daß si> bessere Chromkenschmber als Aerzte sein müssen. Wenn man krank wird bei diesem sogenannten civilisirten Volke, hat man also nichts Besseres zu thun, als sick einzubilden, man sei unter Wilden un) die Heilung dcr Natur zu überlassen. Bei meiner Nachhausekunft diesen Abend fand ich einen ^ 230 Brief, der mich angenehm überraschte. Durch die Vermittelung unseres Gesandten werbe ich morgen Zutritt in drr kaiserlichen Kapelle erhalten und die Trauung der Großfürstin mit ansehen. Es ist gegen alle Gesetze der Etikette, am Hofe zu erscheinen, bevor man vorgestellt worden ist; ich war weit entfernt, eine solche Begünstigung zu hoffen. Der Kaiser gestattet sie mir. Der Graf Woronzow, der Ober-Cercmo-nienmeister, hatte, ohne mir etwas davon zu sagen, um mir keine ungewisse Hoffnung zu machen, einen Courier nach Peterhof gesandt, das 10 St. von St. Petersburg liegt, um Se. Maj. zu bitten, über mein Schicksal am andcrn Tage zu bestimmen. Diese freundliche Vorsorge war nicht vergebens. Der Kaiser antwortete, ich mögc die Trauung in der Kapelle des Hofes mit ansehen und würde Abends an demselben Tage bei dem Valle ohne Ceremonie vorgestellt werden. Morgen also, nachdem ich die kaiserliche Kapelle verlassen ! Elfter Brief. Petersburg, den 14. Juli lft39- (An dem fünfzigsten Iahres-Tage der Erstürmung der BastiUe). Vemerken Sie vor allen Dingen, daß merkwürdiger Weise der Anfang unserer Revolutionen und die Vermählung deS Sohnes Eugen Veauharnais, mit der Tochter des Kaisers von Rußland an einem und demselben Tage, mit einem Zwischenraumc von 50 Jahren, stattfanden. Ich komme von dem Hofe zurück, nachdem ich in der kaiserlichen Kapelle allen griechischen Ceremonien der Trauung der Großfürstin Marie mit dem Herzoge von Leuchtenbcrg beigewohnt habe. Ich wollte sie Ihnen so gut als möglich im Einzelnen beschreiben, aber ich will doch zuerst von dem Kaiser sprechen. Auf den ersten Blick erscheint als vorherrschender Character feiner Gesichtsbildung unruhige Strenge, ein, trotz der Regelmäßigkeit der Züge, allerdings nicht eben angenehmer Ausdruck. Die Physiognomen behaupten mit Recht, die Verhärtung des Herzens könne der Schönheit des Gesichtes schaden. Bei dem Kaiser Nicolaus scheint diese wenig wohlwollende Stimmung mehr das Resultat der Erfahrung, als ___232 das Werk der Natur zu sein. Muß nicht ein Mensch durch langes und grausames Leiden gequält worden sein, wenn sein Gesicht Furcht in uns erregt trotz dem unwillkürliche,! Wohlwollen, das edle Züge gewöhnlich einflößen? Ein Mann, welcher eine ungeheure Maschine in ihren geringsten Details dirigiren muß, fürchtet natürlich fortwahrend irgend eine Störung in dem Räderwerke. Der Gehorchende leidet nur nach dem materiellen Maße dls Leidens, das cr fühlt-, der Herrschende dagegen leidet wie die andern Menschen, dann verhundertfachen aber für ihn die Eitelkeit und die Einbildung das Allen gemeinsame Uebel. Die Verantwortlichkeit ist die Straft des absoluten Herrschers. Er ist die Triebfeder des Willens Aller, wird aber auch der Heerd aller Schmerzen; je mehr man ihn fürchtet, um so mehr ist cr zu beklagen. Dem, welcher Alles kann und Alles thut, wird 'Alles zur Last gelegt. Er unterwirft die Welt seinen Befehlen und sieht dann selbst im Zufalle einen Schatten von Empörung. Er ist überzeugt, daß seine Rechte heilig sind und.erkennt k«ine andern Grenzen seiner Macht, als die seines Verstandes und seiner Macht an; eine Fliege also, die zu unrechter Zeit in dem kaiserlichen Palaste, wahrend einer Ceremonie, stiegt, demüthiget den Kaiser. Die Unabhängigkeit der Natur halt er sür ein böses Beispiel; jedes Wesen, das er seinen willkürlichen Gesetzen nicht unterwerfen kann, wird ln seinen Augen ein Soldat, der sich mitten in der Schlacht gegen seinen Feldwebel aufleimt. Die Schande fallt auf die Armee, selbst auf den General; der Kaiser von Nußland ist ein Militair Ehef und jeder seiner Tage ein Schlachttag. Bisweilen mildert ein Strahl von Sanftmuth den gebieterischen ober kaiserlichen Blick des Herrn und der Ausdruck der Freundlichkeit laßt dann sogleich die eigentliche Schönbeit 233 dieses antiken Kopfes hervortreten. In dem Herzen des Vaters und Gatten triumphirt die Menschlichkeit auf Augenblicke über die Politik des Fürsten. Ruht der Herrscher von dem Joche aus, daß er auf dem Haupte Aller drücken läßt, so sieht er glücklich aus. Dieser Kampf der ursprünglichen Würde des Menschen gegen den erzwungenen Ernst des Fürsten ist ein merkwürdiger Gegenstand der Beobachtung und damit verbrachte ich den größten Theil der Zeit in der Kapelle. Der Kaiser ist um eine halb« Kopfslänge größer als die gewöhnlichen Menschen und sein Körper edel, obgleich etwas steif. Er hat von Jugend auf die russische Gewohnheit angenommen, sich übcr den Hüften zusammen zu schnüren und den Unterleib nach der Brust hinauf zu pressen, wodurch die Seiten aufgetrieben erscheinen, Diese unnatürliche Austreibung schadet der Gesundheit und der körperlichen Anmuth. Die^e freiwillige Verstellung, welche der Freiheit der Bewegung schadet, vermindert die Eleganz der Tournüre und läßt die ganze Person gezwungen erscheinen. Man sagt, der Kaiser werde ungcmein matt, wenn er sich aufschnalle und die Eingeweide für den Augenblick ihr gestörtes Gleichgewicht wieder einnähmen. Er hat ein griechisches Profil, line hohe aber nach hinten zu eingedrückte Stirn, eine gerade und vollkommen gebildete Nase, einen sehr schönen Mund, ein edeles, ovales, aber etwas langes Gesicht, ein militairisches und mehr deutsches als slawisches Aussehen. Sein Gang und seine Haltung sind imposant. Er erwartet immer betrachtct zu werden und vergißt keinen Augenblick, daß man ihn ansieht, ja er will vielleicht der Zielpunkt aller Blicke sein. Man hat es ihm vielleicht zu oft gesagt und angedeutet, daß er schön sei und daß er sich den Feinden und Freunden Rußlands mit Erfolg zeigen könne. 234 Den größten Theil seines Lebens verbringt er im Freien bei Musterungen oder auf ft inen schnellen Reisen; deshalb zeichnet auch im Commer der Schatten seines Hutes über snne gebräuntc.Stirn eine schiefe Linie, welche die Einwirkung der Sonne auf die Haut zeigt, deren weiße Farbe an der Stelle aufhört, die durch die Kopfbedeckung geschützt ist. Diese Linie bringt eine seltsame Wirkung hervor, die indeß nicht unangenehm ist, da man sogleich die Ursache erräth. Als ich aufmerksam das schöne Gesicht dieses Mannes betrachtete, dessen Wille über das Leben so vieler Menschen entscheidet, bemerkte ich mit unwillkürlichem Bedauern, daß er nicht gleichzeitig mit den Augen und dem Munde lachen kann, was einen fortwährenden Zwang verrath und an die natürliche Grazie erinnert, die man in dem vielleicht minder regelmäßigen, aber angenehmern Gesichte scincs Bruders, des Kaisers Alexander, bewunderte. Dieser war immer freund-lich, hatte aber bisweilen etwas Falsches in den Zügen; Nicolaus ist aufrichtiger, aber in seinem Gesichte liegt fortwährend der Ausdruck der Strenge und diese Strenge geht bisweilen so weit, daß er hart und unbeugsam aussieht; er ist minder verführerisch, besitzt aber mehr Kraft und muß von derselben freilich auch oft Gebrauch machen. Die Anmuth dagegen sichert die Herrschaft, indem sie Widerstand in voraus beseitiget. Diese kluge Berechnung in der Ausübung der Gewalt ist ein Geheimniß, das der Kaiser Nicolaus nicht kennt. Er ist immer der Mann, der Gehorsam verlangt; Andere wollen nur geliebt sein. Die Kaiserin ist zierlicher gewachsen, und ich finde, trotz ihrer außerordentlichen Hagerkeit, eine unbeschreibliche Grazie in ihrer ganzen Person. Ihre Haltung ist durchaus nicht stolz, wie man sie mir angekündigt hatte, sie drückt vielmehr Gewöhnung an Resignation aus. Bei dem Ein- 235 tritte in die Kapelle war sie sehr bewegt, dem Tode nahe, wie es nur schien; ein nervöses Zucken bewegte die Züge ihres Gesichtes, bisweilen sogar dcn Kopf; ihre eingesunkenen blauen sanften Aligen verrathen tiefes, mit Engelsruhe ertragenes Leiden; ihr gefühlvoller Blick hat um so mehr Gewalt, da sie keine hineinlegen will. Sie ist vor der Zeit gebrochen, und man vermag, wenn man sie ansieht, ihr Alter nicht zu errathen; sie ist so schwach, daß sie nicht einmal die Kraft zu leben zu besihm scheint; sie erlöscht und gehört schon der Erde nicht mehr an; sie ist ein Schatten. Sie konnte sich von ibrcr Angst am Tage ihrer Thronbesteigung nie rvicder erholen. Uebrigcns hat sie Rußland zu viele Abgötter, dem Kaiser zu viele Kinder gegeben. „Welches Geschick, sich in Großfürsten zu erschöpfen!" sagte eine vornehme Polin, die sich nicht für verpflichtet hält, das in Worten zu verehren, was sie im Herzen haßt. Jedermann sieht den Zustand der Kaiserin, aber Niemand spricht davon; der Kaiser liebt sie, er pflegt sie selbst wenn sie im Vett liegt; er wacht bei ihr und reicht ihr die Medicin wie eine Krankenwarterin; ist sie dagegen auf, so bringt er sie durch Unruhe, Feste und Reisen wieder um; erst wenn die Gefahr sich zeigt, laßt er von seinen Planen ab; er verabscheut die Vorsschtsmaßrigeln. welche dem Uebel zuvorkommen würden; Frau, Kinder, Diener, Verwandte, Günstlinge, Alles muß in Nußlaud lächelnd dem kaiserlichen Wirbel folgen bis zum Tode, Alles muß sich bestreben, dem Gedanken des Herrschers zu gehorchen; dieser einzige Gedanke ist das Geschick Aller; je näher eine Person dieser Sonne der Geister steht, um so mehr ist sie Sclav des Glanzes ihres Ranges; die Kaiserin stirl't daran. Das weiß hier Jedermann, aber Niemand spricht es aus, denn nach der allgemeinen Regel spricht Niemand ein 236 Wort, das Jemanden lebhaft intrressiren könnte; weder der, welcher spricht, noch der, mit welchem er spricht, darf gestehen, daß der Gegenstand ihrer Unterredung eine gespannte Aufmerksamkeit verdiene oder irgendwie die Leidenschaft anrege. Alle Hilfsmittel der Sprache werden aufgeboten, um aus den Besprechungen die Idee und das Gefühl zu ban-ncn; doch darf man sich nicht merken lassen, daß man sie verheimliche, weil dies linkisch sein würde. Das gezwungene Wesen, wllchls die Folge dieser bewundernswürdigen Arbeit — bewundernswürdig wegen der Kunst, mit welcher sie verborgen wird, — vergiftet das Leben der Russen. Eine solche Qual ist die Strafe für die Menschen, welche freiwillig der beiden größten Gaben Gottes sich entäußern, der Seele und des Wortes, das jene mittheilt, oder mit andern Worten des Gefühls und der Freiheit. Je mehr ich von Rußland sehe, um so mehr stimme ich dem Kaiser bei, wenn er den Russen das Reism verbietet und den Fremden den Eintritt in sein Land schwierig macht. Das politische Regime Rußlands würde der freien Communication mit dem Westen Europas nicht zwanzig Jahre widerstehen. Man höre nur nicht auf die Ruhmredigkeit der Russen; sie halten die Pracht für Eleganz, den Luxus für Artigkeit, die Polizei und die Furcht für die Grundlagen der Gesellschaft. Ihrer Meinung nach ist disciplinirt gleichbedeutend mit cwilisirt; sie vergessen, daß es auch Wilde mit sanften Sitten und sehr grausame Soldaten giebt; trotz allen ihren sogenannten guten Manieren, trotz ihrer oberflächlichen Bildung und ihrer frühzeitigen tiefen Verderbnis;, trotz der Leichtigkeit, mit welcher sie das Positive des Lebens errathen und begreifen, sind die Russen doch noch nicht ckvilisirt. Sie sind disciptimrte Tataren, mehr nicht. Damit soll nicht gesagt sein, daß man sie verachten 237 müsse; je mehr Rohheit sie unter den Formen der socialen Sprache in dcr Seele behalten haben, u:n so mehr sind sie zu fürchten. Bis jetzt haben sie sich mit dem Scheine der Civilisation begnügt, wenn sie sich aber jemals wegen ihrer wirklichen noch untergeordneten Stellung rächen können, werden sie uns grausam unsere Vorzüge büßen lassen. Nachdem ich mich diesen Morgen eilig angekleidet hatte, um mich in die kaiserliche Kapelle zu begeben, folgte ich, allein in meinem Wagen, über die Platze und durch die Straßm, die nach dem Palaste führen, dem Wagen des französischen Gesandten, und betrachtete aufmerksam Alles, was mir unterwegs aufsticß. Ich bemerkte die Eingänge des Palastes und die Truppen, welche mir ihrem Nufe nach nicht prächtig genug vorkamen; die Pferde sind schön; über den ungeheuern Platz, welcher die Wohnung dcs Herrschers von dcr übrigen Stadt trennt, eilten in vcrschiedenen Richtungen die Hofwagen, Menschen in Livree und Soldaten in Uniformen von allen Farben. Die Kosaken sind die be-merkmswerthcsten. Trotz dcr Menschenmenge gab es kein Gedränge, so groß ist der Platz. In den neuen Staatcn gibt es überall leeren Naum, besonders wcnn die Regierung eine absolute ist; der Mangel an Freiheit erzeugt die Einsamkeit und verbreitet Trauer. Nur in freien Ländern giebt es Völker. Die Equipagen und Personen am Hofe sehen gut, aber nicht eben sehr sorgfaltig unterhalten, nicht elegant aus. Die schlecht angestrichenen und noch schlechter lackirten Wagen sind schwerfällig und werden von vier Pferden gezogen; die Strange sind maßlos lang. Ein Kutscher lenkt die Pferde an der Deichsel; ein kleiner Postillon, in einem langen persischen Gewände wie der Kutscher, sitzt aus einem hohen ausgepolsterten, hinten 238 und vorn crhöhcten Sattel, und heißt deutsch Vorreiter. Er reitet, wohl zu bemerken, stets auf dem rechten Pferde des vorbern Zuges, ganz gegen die in allen andern Ländern bestehende Sitte, wo der Vorreicer aus dem linken Pferde sitzt, um frei mit der rechten Hand lenken zu können. Die-ses Gespann siel mir durch seine Seltsamkeit auf. Das Feuer und die Kraft der Pferde, die Gewandtheit der Kutscher, die reiche Kleidung, kurz das ganze Aussehen verrath eine Pracht, die wir nicht mehr kennen; der Hof von Rußland ist noch eine Macht, während der Hof aller andern Lander, selbst der glänzendste, nur ein Schauspiel ist. Ich dachte über diesen Unterschied und viele andere Dinge nach, welche mir vor die Augm traten, als mein Wagen unter einem grandiosen Peristyl hielt, wo man unter dem tausendfachen Geräusche einer geschmückten Menge aussteigt, welche ganz aus Höflingen besteht. Diese waren von ihren, dem Anscheine wie der Wirklichkeit nach halbwilden Vasallen begleitet, der Anzug dieser Diener aber ist fast eben so glanzend wie jener der Herren. Die Nüssen haben eine große Vorliebe für Alles, was glänzt, und sie entfalten ihren derartigen Luxus namentlich bei Hoffesten. Als ich eilig aus dem Wagen stieg, um nicht von den Personen getrennt zu wekdcn, welchen ich mich anzuschließen hatte, bemerkte ich den Schmerz kaum, den mir ein heftiger Stoß an den Tritt verursachte, an welchem ich rinen Augenblick mit dem Sporn hängen blieb. Denken Sie sich aber meine Angst, als ich einen Augenblick nach diesem Unfälle, bei dem ersten Tritte auf die prachtvolle Treppe des Winterpalastes die Bemerkung machte, daß ich einen meiner Sporen verlor.cn und daß, was noch schlimmer, der Sporn den 'Absah mit weggmssm hatte, an welchem er befestigt gewesen warl Dieser Unfall war ein wahres Unglück, da 239 ich eben das erste Mal vor einem Manne erscheinen sollte, der eben so kleinlich als hochgestellt und machtig ist. Die Russen sind spottsüchtig, und der Gedanke, ihnen Veranlassung zum Lachen zu geben, war mir im höchsten Grade unangenehm. Was thun? Unter den Peristyl zurückkehren und den Absatz suchen? Wozu? Schon waren Wagen über dieses Stieselfragment hinweggefahren. Den verlorenen Absatz wiederzufinden ware ein kaum zu hoffendes Wunder gewesen, und d^nn was solltc ich damit anfangen? sollte ich ihn in der Hand tragen? Sollte ich den französischen Gesandten verlassen und nach Hause zurückkehren? Das hatte in diesem Augenblicke bereits einen Auftritt gegeben; auf der andern Seite mußte ich, wenn ich mich in meinem Zustande zeigte, bei dem Gebieter und dessen Höflingen verlieren, und gegen das Lächerliche, dem ich mich freiwillig aussetze, habe ich keine schützende Philosophie. In solchen Fällen ist es schon genug, das Unvermeidliche zu ertragen.. Die Unannehmlichkeiten, die man sich tausend Stunden von der Heimath zuzieht, halte ich für unerträglich. Leicht ist es wohl, gar nicht zu gehen, wenn man aber linkisch geht, kann man keine Verzeihung erwarten. Ich bemühte mich erröthcnd, in der Menge mich zu verbergen, aber ich wiederhole es, es giebt in Nußland keine Menschenmenge, namentlich auf einer Treppe, gleich jener des neuen Winterpalastes, welche einer Operndecoration gleicht. Dieser Palast ist, glaube ich, die größte und prachtvollste Fürstenwohnung in der Welt. Meine natürliche Verlegenheit wurde, wie ich deutlich fühlte, durch den lacherlichen Unfall gesteigert, aber mit einem Male schöpfte ich Muth gerade aus meiner Furcht und sing an so leicht und unbemerklich als möglich durch die unermeßlichen Säle und glänzenden Galerien zu hinken, deren Pracht und Lange ich verwünschte, 240 da dieser Pomp ohne Unordnung mir alle Hoffnung nahm, den forschenden Blicken der Höflinge zu entgehen. Die Nüssen sind kalt, schlau, spottsüchtl'g, geistreich und ziemlich unempfindlich wie alle ehrgeizigen Menschen. Sle sind überdies mißtrauisch gegen die Fremden, deren Urtheil sie fürchten, weil sie glauben, wir beurtheilten sie nicht wohlwollend. Dies macht sie von vorn herein feindselig, verleumderisch und beißend, ob sie gleich scheinbar sehr artig und gastfreundlich sind. Endlich gelangte ich, nicht ohne Mühe, im Hintergrunde der kaiserlichen Kapelle an, und hier vergaß ich Alles, selbst meine alberne Verlegenheit, zumal die Menschen an dieser Stelle sehr gedrangt stanoen und Niemand sehen konnte, was meiner Fußbekleidung fehlte. Die Neuheit des Schauspiels, das mich erwartete, gab mir meine Kaltblütigkeit und die Herrschast über mich selbst wieder. Ich erröthete über die Unruhe, der mich meine Eitelkeit ausgesetzt hatte; ich wurde wieder blos Reisender und fand als solcher die Nuhe des philosophischen Beobachters wieder. Nun noch ein Wort über mein Ecistüm. Es war der Gegenstand einer ernsten Berathung gewesen. Einige junge Männer bei der französischen Gesandtschaft hatten mir die Uniform der Nationalgarde gerathen, ich fürchtete aber, diese möchte dem Kaiser mißfallen, und entschied mich für die eines Stabsoffiziers mit dcn Epauletten eines Oberstlieutenants, welche die meines Ranges sind. Man hatte mir gesagt, diese Uniform würde neu erscheinen und von Seiten der Prinzen der kaiserlichen Familie und des Kaisers selbst der Gegenstand einer Menge von Fragen werden, die mich in Verlegenheit bringen könnten. Bis jetzt hat aber noch Niemand Zeit gehabt, sich mit einer solchen unwichtigen Angelegenheit zu beschäftigen. 241 Die Ceremonien der griechischen Trauung sind langdauernd und majestätisch; in der orientalischen Kirche ist Alles symbolisch. Der Glanz der Religion schien mir die Pracht der Hoffeierlichkeiten zu erhöhen. Die Wände, die Decke der Kapelle, die Gewänder der Geistlichen, Alles blitzte von Gold und Edelsteinen. Es war ein Reichthum, welcher auch eine gar nicht poetische Phantasie in Erstaunen setzen konnte. Dieses Schauspiel kommt den phantastischesten Beschreibungen in Tausend und Einer Nacht gleich; es ist Poesie wie Lall« Rooth, wie die Wunderlampe, aber orientalische Poesie, wodurch mehr die Sinne als der Geist angereget werden. Die kaiserliche Kapelle ist nicht sehr groß. Sie war durch die Repräsentanten aller Fürsten Europas und fast aller Asiens, durch einige Fremde gleich mir, welche mit dem diplomatischen Corps Zutritt erhalten hatten, durch die Frauen der Gesandten und endlich durch die großen Würdenträger des Hofes beinahe gefüllt; ein Geländer trennte uns von dem kreisförmigen Raume, in welchem der Altar stand. Dieser Altar gleicht einem niedrigen viereckigen Tische. In dem Chore bemerkte man die für die kaiserliche Familie re-servirten Plätze. Als wir eintraten, waren sie noch leer. Ich habe wenig gesehen, was sich an Pracht und Feierlichkeit dem Einttitte des Kaisers in diese von Gold strahlende Kapelle an die Seite stellen ließe. Er schritt mit der Kaiserin voraus und der ganze Hof folgte ihm; meine Blicke und die aller Anwesenden richteten sich sogleich auf ihn; dann bewunderten wir seine Familie, unter welcher Vraut und Bräutigam hervorglanzten. Eine Heirath aus Liebe unter gestickten Gewandern und an so prachtvollem Orte ist eine Seltenheit, welche die Scene noch weit interessanter machte. So sagte Jedermann in meiner Nähe, ich aber 242 glaube an dieses Wunder nicht und sehe unwillkürlich in Allem , was man hier thut und sagt, eine politische Absicht. Der Kaiser täuscht sich vielleicht selbst; er glaubt als zärtlicher Vater zu handeln, während doch in seinem Herzen die Hoffnung auf irgend einen Vortheil in der Zukunft ftine Wahl entschieden hat. Es ist mit dem Ehrgeize wie mit dem Geize; die Geizigen rechnen immer, selbst wenn sie einem uneigennützigen Gefühle nachzugeben glauben. Obgleich die Versammlung sehr zahlreich war und die Kapelle klein ist, so trat doch durchaus keine Verwirrung ein. Ich stand mitten unter dem diplomatischen Corps nahe an dem Gelander, das uns von dem Heiligthum trennte. Wir waren nicht so zusammengedrängt, daß wir nicht die Züge und die Bewegungen aller Personen hätten erkennen können, welche die Pflicht oder die Neugierde hier versammelt hatte. Das ehrfurchtsvolle Schweigen wurde durch keine Unordnung gestört. Glänzender Sonnenschein erleuchtete das Innere der Kapelle, in welcher die Hitze, wie man mir sagte, bis auf 30 Grad gestiegen war. Hinter dem Kaiser sah man im langen goldenen Gewände, die spitze Mütze mit goldenen Stik-kereien auf dem Kopfe, einen tatarischen Khan, der Rußland halb zinspfllchtig, halb von ihm unabhängig ist. Dieser kleine sclavische Fürst hielt es nach der zweideutigen Stellung, in die ihn die Eroberungspolitik seiner Schuhherren gebracht hat, für zweckmäßig, den Kaiser aller Reussen zu bitten, einen zwölfjährigen Sohn, den er nach Petersburg mitgebracht hat, unter seine Pagen aufzunehmen, um dem Kinde eine passende Zukunft zu sichern. Diese gefallene Macht, welche der triumphirenden Macht als Relief diente, erinnerte mich an den Pomp Noms. Die ersten Damen vom russischen Hofe und die Frauen der Gesandten aller Höfe, unter denen ich Mademoiselle Son- 243 tag, die jetzige Gräfin Rossi, erkannte, schmückten die Kapelle ringsum; im Hintergrunde, der sich in eincr von Malerei glänzenden Rotunde endiget, war die ganze kaiserliche Familie aufgestellt. Die unter den Sonnenstrahlen glühende Vergol-dung bildete eine Art Heiligenschein über dem Haupte der Herrscher und der Kinder derselben. Der Schmuck und die Diamanten der Damen blitzten im Zauberglanze inmitten aller Schatze Asiens, die an den Wanden des Heiligthums verschwendet waren, wo die fürstliche Pracht die Majestät Gottes heraus zu fordern schien, die sie ehrte, ohne sich selbst zu vergessen. Alles dies ist schön, staunenswert!) für uns, wenn wir uns der noch nicht sehr entlegenen Zeit erinnern, wo die Vermahlung der Tochter eines Czaren in Europa fast unbeachtet geblieben sein würde und wo Peter I. anzeigte, er habe daS Necht, seine Krone zu hinterlassendem er wolle. Welche Fortschritte in so kurzer Zeil^^"" Wenn man über die diplomatischen und andern Eroberungen dieser Macht nachdenkt, welche sonst in den Angelegenheiten der ciuilisitten Welt fast gar nicht beachtet wurde, so fragt man sich, ob man nicht träume. Der Kaiser selbst schien an das, was um ihm her vorging, nicht recht gewöhnt zu sein, denn er verließ jeden Augenblick seinen Betstuhl und ging hierhin und dorthin, um die Etikettensehler seiner Kin-dcr oder seiner Geistlichkeit wieder gut zu machen. Dies beweist mir, daß in Nußland selbst der Hof im Fortschreiten begriffen ist. Vald befand sich fein Schwiegersohn nicht an dcr rechten Stelle und er ließ ihn zwei Fuß zurück oder vortreten; die Großfürstin, selbst die Geistlichen, die Großwür-dentrager, Alles schien seiner Oberleitung unterworfen zu sein. Ich für meinen Theil würde es für würdiger gehalten haben, dir Sachen gehen zu lassen, wie sie eben gingen. Ich hätte es lieber gesehen, wenn er in der Capelle nur noch! V 16" 244 an Gott gedacht und Jedermann überlasten hätte, seine Func-tionen zu verrichten, ohne ängstlich auch den kleinsten Fehler der kirchlichen Disciplin oder des Hoftcremoniels zu berichtigen. Aber in diesem seltsamen Lande offenbart sich der Mangel an Freiheit überall; MlM findet ihn selbst am Fuße des Altars. Der Geist Peters des Großen beherrscht hier alle Geister. Bei der Messe der griechischen Trauung kommt ein Augenblick, in welchem Braut und Bräutigam gleichzeitig aus cinem und demselben Becher trinken. Spater gehen sie in Begleitung deS Geistlichen dreimal um den Altar herum, wobei sie einander an der Hand halten, um so die eheliche Vereinigung anzudeuten und die Treue zu bezeichnen, mit welcher sie mit einander durch das Leben gehen sollen. Alle diese Handlungen sind um so imposanter, als sic an die Gebrauche der ersten (Christen erinnern. Nach allen diesen Ceremonien wurde lange eine Krone über das Haupt der Braut und des Bräutigams gehalten. Die Krone der Großfürstin hielt der Bruder derselben, der Großfürst Thronfolger, dessen Stellung der Kaiser, der deshalb seinen Betstuhl noch einmal verließ, mit einer Art Gut-müthigteit und Kleinlichkeit änderte, die ich mir nicht crkl^ rcn konnte; die Krone des Herzogs von Leuchtenberg wurde durch den Grafen von Pahlen, den russischen Gesandten in Paris und Sohn des nur zu berühmten und zu eifrigen Freundes Alexanders, gehalten. Diese Erinnerung, welche aus den Gesprächen, vielleicht sogar aus den Gedanken aller jetzigen Nüssen verbannt ist, beschäftigte mich fortwahrend, so lange der Graf von Pcchlm mit der ihm eigenen Einfachheit das Amt verrichtete, um das er wahrscheinlich von Allen beneidet wurde, die nach der Gunst des Hofes streben. Er sollte durch die Function, welche er bei dieser heiligen Handlung verrichtete, den Schutz des Himmels auf das Haupt 245 der Enkelin Pauls l. herabrufen. Ich wiederhole, daß wahrscheinlich Niemand an dieses seltsame Zusammentreffen dachte. Die Schmeichelei wandelt sogar die Vergangenheit ;um Vortheile dcs Tagesinteresses um. Der Tact scheint hier nur denen nöthig zu sein, welche keine Gewalt besitzen. Hätte der Kaiser an das Ereigniß gedacht, an welches ich mich erinnerte, cr würde gewiß eine andere Person beauftragt haben, die Krone über dcm Haupte seines Schwiegersohnes zu halten; in einem Lande aber, wo man weder schreibt noch spricht, ist von dem Ereignisse des Augenblickes nichts weiter entfernt, als die Geschichte der nachstuergangenen Zeit, UNd deshalb erscheint die Gewalt oftmals unachtsam, — ein Zeichen, daß sie in einer, oft trügerischen Sicherheit schlummert. Die russische Politik wird in ihrem Gange weder durch die Meinungen noch selbst durch die Handlungen gehemmt; die Gunst des Gebieters ist Alles ; so lange sie wahrt, vertritt sie bei dem Menschen, über den sie sich verbreitet, die Stelle des Verdienstes, der Tugend und, waö noch mehr ist, der Unschuld; verliert er sie, so verliert er Alles. Jedermann bewunderte mit ängstlicher Spannung die Unbeweglichkeit der Arme, welche die beiden Kronen hielten. Diese Scene dauerte lange und mußte für die dabei Betheiligten sehr ermüdend scin. Die jugendliche Braut sieht unschuldig und anmuthsvoll aus; sie ist blond und hat blaue Augen; ihr zarter feiner Teint strahlt in dem ganzen Glänze der ersten Jugend und der Ausdruck ihres Gesichts ist Natürlichkeit. Diese Prinzessin und ihre Schwester, die Großfürstin Olga, halte ich für die beiden schönsten Personen am Hofe; die Vorzüge des Ranges treffen bei ihnen mit den Gaben der Natur zusammen. 246 Als der Bischof das junge Paar den erhabenen Eltern vorstellte, küßten es diese mit rührender Herzlichkeit. Im nächsten Augenblicke sank die Kaiserin in die Arme ihres Gemahls, — eine zärtliche Scene, die in einem Zimmer mehr an ihrem Orte gewesen sein würde als in der Kapelle, aber in Rußland sind die Herrscher überall zu Hause, selbst im Gotteshause. Uebrigens schien anch die Rührung der Kaiserin ganz unwillkürlich zu sein, die Aeußerung derselben konnte deshalb aucl> nichts Verletzendes habcn. Wche denen, welche die Rührung in Folge eines wahren Gefühls lacherlich finden. Ein solcher Ausbruch von Empfindsam-kcit ist übrigens ansteckend. Die deutsche Gemüthlichkeit verliert sich nie und man muß gewiß Gemüth besitzen, um auf dem Throne die Fähigkeit zu behalten, sich seinen Gefühlen hinzugeben. Vor der Einsegnung hatte man nach der Sitte zwei graue Tauben in der Kapelle fliegen lassen, und im nächsten Augenblicke setzten sie sich auf einen vergoldeten Sims, der gerade über den» Haupte des jungen Paares vorragte und hier schnäbelten sie sich, so lange die Messe wahrte. Die Tauben sind in Rußland sehr glücklich; man verehrt sie als ein Sinnbild des heiligen Geistes und es ist verboten, sie zu todten. Glücklicherweise sagt auch ihr Fleisch den Russen nicht zu. Der Herzog von Leuchtenberg ist ein großer, starker, gutgewachsener junger Mann; die Züge seines Gesichtes haben nichts Ausgezeichnetes; seine Augen sind schön, aber er hat einen etwas vorstehenden Mund von unregelmäßiger Form; sein Wuchs ist schön, aber nicht edel; dagegen steht ihm die Uniform gut und ersetzt die Eleganz, die seiner Per-son abgeht. Er gleicht mehr einem gutgewachsenen Sous-lieutenant als einem Fürsten. Nicht einer seiner Verwand- 247 ten war zur Feier scincr Vermählung nach Petersburg gekommen. Cr schien während der Messe, stets den Wunsch zu hegen, mit seiner Gemahlin allein zu sein und die Augen der ganzen Versammlung wendeten sich unwillkürlich nach der Gruppe der beiden Tauben, die über dem Altar säßen. Ich hege weder den Cynismus St. Simons, noch beside ich das Ausdrucksgenie desselben oder die naive, Schelmerei der Schriftsteller aus der guten alten Zeit, erlassen Sie mir also die Details, wie unterhaltend sie Ihnen auch scheinen mögen. In der Zeit Ludwigs XIV'. lMte man Sprechfreiheit, welche «ine Folge der Ueberzeugung war, daß man nur von Leuten gehört werde, welche alle gleich lebten und sprachen; es gab damals eine Gesellschaft, kein Publicum. Jetzt giebt es ein Publicum und keine Gesellschaft. Bei unseren Vorfahren konnte jeder Erzähler in seinem Kreise wahr sein, ohne irgend eine Rücksicht nehmen zu müssen, jetzt, wo alle Classen vermischt find, fehlt das Wohlwollen und es giebt deshalb auch keine Sicherheit mehr. Wollte man sich frei und rücksichtslos aufsprechen, so würde das von vielen Personen für schlechten Ton gehalten werden. Es ist etwas von der bürgerlichen Empfindlichkeit in die Sprache selbst der besten Gesellschaft in Frankreich übergegangen; je größer die Zahl der Personen wird, an die man sich wendet, eine um so ernstere Miene muß man bei dem Sprechen annehmen; eine Nation will mehr geachtet sein als eine vertrauliche Gesell: schaft, wie elegant sie auch sein mag. In Hinsicht auf decente Sprache ist die Menge sirenger als der Hos; je mehr Zeugen die Keckheit hatte, um so unschicklicher würbe sie sein. Das sind meine Gründe, aus welchen ich Ihnen nicht sage, warum mehr als ein ernster 248 Mann, vielleicht mehr als eine tugendhafte Dame diesen Morgen in der kaiserlichen Kapelle lächelte. Ganz mit Stillschweigen kann ich aber einen Vorfall nicht übergehen, der zu auffallend von der Majestät der Ceremonie und dem nothwendigen Ernst der Zuschauer abstach. Vei der langen griechischen Trauungsccremonie kommt ein Augenblick, wo alle auf die Knie fallen müssen. Äer Kaiser warf, bevor er wie die übrigen niederknicete, emen nicht eben anmuthigen forschenden Blick auf die Versammlung. Er schien sich überzeugen zu wollen, ob aucb nicht irgend Jemand stehen bleibe, was eine ganz überflüssige Vorsicht war, denn obgleich sich unter den Anwesenden Katholiken und Protestanten befanden, so war es doch gewiß nicht Einem unter ihnen eingefallen, den Gebrauchen der griechischen Kirche äußerlich sich nicht zu fügen.") ') Die Besorgniß des Kaisers wird einigermaßen durch die nachstehende Erzählung erklärt, welche mir im Januar 1843 von einer der wahrhaftigsten Personen, die ich kenne, aus Nom zugesandt wurde: „Am lchtcn Tage des Decembers befand ich mich in der Kirche d der sie begleitenden Schweizer-Garde ankommen; sie nahmen Platz auf den für sie bereit gehaltenen Stühlen, ohne auf den Betpultcn, die vor ihnen standen, niederzuknieen und ohne auf das auLgestelltc heilige Sacrament zu achten. Die Eh-rendamen setzten sich hinter dem Herzoge und der Großfürstin, was diese nölhigte, den .Kopf nach der Seite zu wenden, um ein Gespräch zu führen, als wenn sie sich in einem Salon befunden 249 Die Möglichkeit eines Zweifels in dieser Hinsicht rechtfertigt, was ich oben gesagt habc, und gestattet mir zu wiederholen, daß die unruhige Strenge der gewöhnliche Ausdruck des Gesichtes des Kaisers geworben ist. Fürchtet die Selbstherrschaft auch ein Attentat gegen ihre Macht in unsern Tagen, wo die Empörung gleichsam in der Luft liegt? Diese Besorgniß sticht auf unangenehme, ja auf entsetzliche Wcise von der Idee ab, welche sie von ihren Rechten hat. Die absolute Macht wird zu furchtbar, wenn sie sich selbst fürchtet. Bei dem Anblicke des Nervenzuckens, der Schwache und der Hagerkeit der Kaiserin, der so anmuthigen Dame, erinnerte ich mich an das, was sie wahrend des Ausstandes bei ihrer Thronbesteigung gelitten haben mag, und ich dachte bei mir: Der Heroismus muß bezahlt werden. Es ist Kraft, aber eine Kraft, welche das Leben aufzehrt. Ich habe erwähnt, daß Alle auf die Knie gesunken waren, der Kaiser zuletzt. Das junge Paar war vermahlt, die kaiserliche Familie, die Anwesenden erhoben sich wieder, und in diesem Augenblicke stimmten die Geistlichen und der Chor hätten. Zwei Kammcrherrn warcn, wie es gebräuchlich ist, neben ihnen stehen geblieben. Ein Sacristan glaubte, sie ständen, weil sie keine Stühle hätten, und brachte ihncn Stühle, worüber der Herzog, dic Großfürstin und ihre ganze Umgebung auf ganz unziemliche Weise lachten. Die Cardinale nahmen Platz in dem Maße, wie sie ankamm, dann erschien bcr Pabst, kniete auf ei-ncm Betpulte niedcr und blieb da die ganze Zeit dcr Ceremonie hindurch. Das l'v 1)«!!», wurde zum Danke für die göttliche Gnade im Laufe des vergangenen Jahres grsungm und tin Cardinal ertheilte den G^gm. Se. Heiligkeit blicb fottwährmd auf den Knien; der Herzog von Üeuchttnberg hatte sich auch auf dic Knie niedergelassn, die Großfürstin abcr blicb sitzen." 250 das 1« v!!' in der heiligen Woche in dcr Sixtinischen Kapelle in Rom vergleichen, aber die Kapelle des Pabstes ist freilich jetzt nur noch ein Schatten von dem, was sie sonst war. Sie ist eine Ruine mehr unter den Ruinen Noms. In der Mitte des letzten Jahrhunderts, zur Zelt als die italienische Schule in ihrem ganzen Glänze strahlte, wurden die alten griechischen Gesänge durch Componisten, die aus Rom nach Petersburg kamen, umgeschmolzen, aber nicht verdorben. Diese Fremden lieferten ein Meisterwerk, weil sie ihren ganzen Geist und ihre ganze Wissenschaft aufboten, das Werk der alten Zeit zu erhalten. Ihre Arbeit ist eine classische Composition geworden und die Ausführung ist der Com-position würdig; die Sopranstimmen, Kinderstimmen, denn zu der Musi der kaiserlichen Kapelle gehört kein Weib, singen mit vollendeter Richtigkeit und die Basse sind stark, tief und rein. Ich erinnere mich nicht, so tiefe und so schöne 25 t Bässe gehört zu haben. Für einen Musikfreund ist allein die Musik in der kaiserlichen Kapelle die Reise nach Petersburg werth; die Pianos, die Forte, die feinsten Nuancirun-gen des Ausdrucks wcrden mit tiefem Gefühl, mit wunderbarer Kunst und bewundernswürdigem Ensemble beobachtet; das russische Volk ist musitalisch, daran kann man nicht zweifeln, wenn man feine Kirchengesänge gehört hat. Ich hörte fast ohne zu wagen Athem zu Holm uno wünschte weiter nichts, als daß Meyerbeer mir die Schönheiten erkläre, die ich wohl hörte, ohne sie aber zu begreifen. Wahrend d?s '!'«> l><,m», in dem Augenblicke als die bndcn G)öre einander antworten, öffnet sich das Tabernakel und man sieht die Geistlichen mit ihren von Edelsteinen blitzenden Tiaren und mit ihren qolocnen Gewandern, von denen ihre silberweißen Barte majestätisch abstechen. Manche dieser Barte reichen bis auf den Gürtel; die Assistenten sind eben so glanzmd als die andern. Dieser Hof ist prachtvoll und das militairische Costüm strahlt dort in seinem ganzen Glänze. Ich sah mit Bewunderung die Welt Gott ihre Huldigung darbringen. Die heilige Mustk wurde uon einem profanen Zuhörerkreise mit einer Stille und Andacht angehört, welche auch minder erhabene Gesänge schön machen würdcn. Gott waltet hier und seine Gegenwart heiligt selbst den Hof; die Welt ist nur noch eine Nebensache und der herrschende Gedanke der Himmel. Der Erzbischof verunzierte die Majestät des Schauspiels nicht. Wcnn er auch nicht schön, so ist er doch alt; sein kleines Geficht gleicht dem eines kranken Wiesels, aber das Alter hat sein Haupt mit Schnee bedeckt; er sieht angegriffen, krank aus, aber ein alter und schwacher Priester kann nicht unedel sein. Nach Beendigung der Ceremonie ucrbeugce sich der Kaiftr vor ihm und küßte ihm ehrerbietig die Hand. ___252 Der Autocrat versäumt nie eine Gelegenheit, ein Beispiel von Unterwürfigkeit zu geben, wenn dieses Beispiel ihm von Nutzen sein kann. Ich bewunderte diesen armen Erzbischof, der inmitten seines Glanzes zu sterben schien, und — den Kaiser von majestätischen Wuchst, mit edelm Gesicht, der sich vor der geistlichen Macht beugte; — weiterhin das junge Ehepaar, die Familie, die Menschenmenge, der ganze Hof, der die Kapelle erfüllte, es war das der Gegenstand zu einem Gemälde. Vor dcr Ceremonie glaubte ich, der Erzbischof würde in Ohnmacht fallen; der Hof hatte ihn lange warten lassen trotz dem Ausspruche Ludwigs XVIII: „Die Pünktlich-keit ist die Höflichkeit der Könige." Trotz dem Ausdrucke von Schlauheit in seinem Gesichte flößte mir der Greis, wenn nicht Ehrfurcht, doch Mitleiden ein; er war ja so schwach und ertrug die Anstrengung mit so großer Geduld, daß ich ihn beklagte. Was liegt daran, ob er diese Geduld aus der Frömmigkeit oder dem Ehrgeize schöpftci — sie wurde auf eine harte Probe gesetzt. Was ich auch that, um mich an das Gesicht des jungen Herzogs von Leuchtenberg zu gewöhnen, es gefiel mir zu Ende der Ceremonie nicht mehr als zu Anfange. Der junge Mann'hat eine schöne militairische Haltung, weiter nichts; er bewies mir noch einmal, was ich schon wußte, daß nämlich heut zu Tage die Fürsten nicht so selten sind als Edelleute. Der junge Herzog würde meiner Ansicht nach in der Garde des Kaisers mehr an seinem Orte sein als in der kaiserlichen Familie. In seinen Zügen zeigte sich in keinem Augenblicke der Ceremonien, die doch sogar mir, dem gleichgiltigen Zuschauer, rührend vorkamen, irgend eine innere Bewegung. Ich war neugierig eingetreten und wurde andächtig; der Schwiegersohn des Kaisers aber, der Held der 253 Scene, sah aus, als sei ihm Alles fremd, was um ihn her vorging. Er hat keinen Gesichtsausdruck. Er schien mehr verlegen zu sein, als Antheil an irgend etwas zu nehmen. Man sieht, er rechnet wenig auf das Wohlwollen eines Hofes, wo die Berechnung unumschränkter herrscht als an jedem andern, und wo sein unerwartetes Glück ihm mehr Neider als Freunde machen muß. Die Achtung laßt sich nicht improvisiren; ich hasse jede Stellung, die nicht einfach ist, und ich beurtheile unwillkürlich, vielleicht bisweilen ungerechter Weife, den Mann streng, der, aus was immer für einem Grunde, eine solche Stellung annimmt. Der iunge Herzog besitzt dennoch eine leichte Aehnlichkeit mit seinem Vater, dessen Gesicht klug und anmuthig war; trotz der russischen Uniform, in welcher Jedermann sich gehemmt fühlt, so sehr wird man zusammengeschnürt, schien er leicht zu gehen wie ein Franzose. Als er an mir vorüberschritt, ahnte er nicht, daß sich Jemand da befand, der auf der Brust ein für beide, namentlich aber für den Sohn Eugen Beauharnais kostbares Andenken trug, — den arabischen Talisman, welchen Herr von Beauharnais, der Vater des Vicekönigs von Italien und Großvater des Herzogs von Leuchtenberg, meiner Mutter gab, als er vor dem Zimmer, das sie in dem Carmeliterklostcr bewohnte, auf dem Wege nach dem Schaffot vorüberging. Nach Beendigung der kirchlichen Ceremonie in der griechischen Kapelle sollte eine zweite Einsegnung durch einen katholischen Geistlichen in einem Saale des Palastes erfolgen, der für diese Zeit und diesen Zweck geweiht worden war. Nach dieser Doppeltrauung sollte das junge Paar und die Familie sich zur Tafel begeben; ich hatte keine Erlaubniß, der katholischen Trauung und dem Bankett beizuwohnen, folgte also dem größten Theile des Hofes und ging 254 hinaus, um eine minder erstickende Luft zu athmen und mir Glück zu wünschen, daß mein verletzter Stiefel nicht mehr Aufsehen gemacht. Einige Personen sprachen lachend gegen mich davon, das war Alles. Nichts von dem, was nur uns selbst angeht, ist, im Guten wie im Schlechten, so wichtig, als wir glauben. Statt auszuruhen, schreibe ich Ihnen. So lebe ich auf der Reise. Ich fand meinen Wagen vor dem Palaste ohne Mühe; ich wiederhole cs, es giebt nirgends in Nußland Gedränge, der Raum ist immer zu groß dazu. Es ist dies der Vortheil des Bandes, das keine Nation hat. Sobald einmal in Petersburg Gedränge entsteht, wird man einander erdrücken; wie es in Rußland jetzt steht, müßte eine Menschenmenge eine Revolution sein. <- Wegen der Leere, die hier überall herrscht, sehen die Gebäude für die Ocrtlichkeit zu klein aus; sie verlieren sich in der Unermcßlichkeit. Die Alexandersaule gilt für höher als die auf dem Vend'''me-Platz in Paris wegen der Dimensionen des Piedestals; der Schaft ist ein einziges Granil-siück, das größte, das jemals von Menschenhanden bearbeitet worden ist. Dennoch sieht diese ungeheuere Säule zwischen dem Ninterpalaste und dem Halbkreise von Gebäuden, welcher die eine Seite des Platzes schließt, wie ein Pfahl aus, und die Häuser an diesem Platze scheinen so flach und niedrig zu sein, daß sie einem Stackete gleichen. Denken Sie sich einen Raum, auf welchem hunderttausend Mann manöuriren können, ohne ihn auszufüllen, ja ohne daß er sehr belebt aussiebt; da kann nichts groß erscheinen. Dieser Platz oder vielmehr dieses russische Marsfeld wird durch den Winter-palast geschlossen, dessen Fanden nach dem alten Palaste der Kaiserin Elisabeth neu gebaut worden sind. Auf ihm kann 255 wenigstens das 'Auge von dm steifen kleinlichen Nachahmungen so vieler Gebäude aus Athen und Rom ausruhen; er ijt in drm Geschmacke der Negmcschastözeit, d. h. in dem ausgearteten Style Ludwigs XlV. aufgeführt, aber sehr großartig. Die Seite des Platzes, dem Winterpalaste gegenüber, wird halbkreisförmig durch Gebäude geschlossen, in denen man verschiedene Ministerien untergebracht hat und die meist in dem alten griechischen Style sind. Seltsamer Geschmack! Tempel für Schreiber! An der langen Seite des Platzes befinden sich die Admiralitätsgebäude, die malerisch sind und deren kleine Säulen, vergoldete Spitzen und Kuppeln einen guten Effect machen. An dieser Stelle verziert den Platz eine Vaumallce und macht ihn minder monoton. An tinem Ende dieses unermeßlichen Feldes, der Alerandersaule gegenüber, erhebt sich die Isaac'sr'irche mit ihrem colossalen Peristyl und ihrer ehernen Kuppel, noch zur Hälfte unter dem Ge-rüste Versteckt. Weiterhin sieht man den Senatspalast und andere Gebäude, immer in der Gestalt heidnischer Tempel, ob sie gleich die Wohnung des Kriegsministeis sind, An einer vorspringenden Ecke endlich, welche dieser langc Platz bildet, an dem Cnde nach der Newa zu, erblickt man die Statue Peters des Großen — wenigstens sucht man sie zu erkennen — auf ihrem Granicfelsen, der auf dem unermeßlichen Raume verschwindet wie ein Kiesel. Die Statue des Helden ist durch den Charlatan-Stolz der Frau, die sie aufstellen ließ, nur zu berühmt geworden; sie kommt ihrem Rufe bei Weitem nicht gleich. Aus den Gebäuden, die ich Ihnen genannt habe, könnte man eine ganze Stadt bauen, und doch füllen sie den großen Platz in St. Petersburg noch nicht aus, der cine Flache ist, auf welcher nicht Getreide, sondern Säulen wachsen. Die Russen ahmen mit größcrm oder gecingerm Glücke alles Schöne nach, was die Kunst zu jeder Zeit und . 256 in iedem Lande hervorgebracht hat, aber sie vergessen immer, baß die Natur stärker ist. Sie ziehen dieselbe nie genug zu Nathe und so rächt sie sich. Die Meisterwerke sind nur von Menschen hervorgebracht worden, welche auf die Natur hörten und sie verstanden. Die Natur ist der Gedanke Gottes und die Kunst die Verwandtschaft der menschlichen Gedanken mit der Macht, welche die Welt erschaffen hat und sie erhalt. Der Künstler wiederholt auf der Erde, was er im Himmel gehört hat; er ist der Uebcrsetzer Gottes. Die, welche aus sich ftlbst schaffen wollen, bringen Ungeheuer zur Welt. ' Vei den Alten thürmten die Baumeister die Gebäude an steilen zusammengedrängten Orten auf, wo das Malerische der Gegend den Effect des Menschenwerkes erhöhece. Die Russen, welche das Alterthum zu reproduciren glauben, dasselbe aber nur ungeschickt nachahmen, zerstreuen dagegen ihre sogenannten griechischen und römischen Gebäude auf grenzenlosen Flachen, wo das Auge sie kaum bemerkt. Die eigentliche Architectur dieses Landes würde nicht die Colonnade des Parthenon, nicht die Kuppel des Pantheons, sondern der Thurm von Pekin sein. In einem Lande, wo die Natur Alles flach und eben gelassen hat, muß der Mensch Verge bauen; die Russen mit ihrer Vorliebe für den.heidnischen Styl bauen dicht am Boden Frontons und Säulenreihen, ohne zu bedenken, daß man auf einem flachen, kahlen Boden so niedrige Gebäude kaum bemerkt. Man denkt deshalb in diesen Städten, in welchen man das römische Forum nachahmen wollte, immer an die Steppen Asiens. Was man auch thun mag, Rußland wird immer mehr von Asien als von Europa haben. Der Geist des Orients schwebt über dem Lande, das seiner Bestimmung entsagt, wenn es dem Westen nachgeht. Der Halokrcis von Gebäuden, welcher dem kaiserlichen 257 Paläste entspricht, sieht, von der Seite des Papstes aus betrachtet, wie ein verfehltes antikes Amphitheater aus; man muß ihn von Weitem betrachten; in der Nahe findet man darin nur eine Decoration, die alle Jahre übertüncht wird, um die Verwüstungen des Winters wieder auszugleichen. Die Alten kauten mit unverwüstlichen Materialien unter einem erhaltenden Himmel; hier führt man unter einem Cli-ma, das Alles zerstört. Palaste von Holz, Hauser von Bre-tern und Temprl von Gips auf; deshalb sind denn auch die russischen Arbeiter das ganze Leben lang beschäftigt, im Sommer wieder herzustellen, was der Winter zerstört hat. Nichts widersteht der Einwirkung dieses Elimas; die Gebäude, selbst die, welche die ältesten zu sein scheinen, sind erst gestern wieder hergestellt. Der Stein dauert hier so lange, wie an andern Orten Kalk und Möttel. Der Schaft der Alexander-Säule, dieses ungeheuere Granitstück, ist in der Kalte bereits gesprungen. In Petersburg muß man Erz anwenden, um Granit zu halten, und trotz allen Warnungen der Art hört man in dieser Stadt nicht auf, die Bauwerke der südlichen Länder nachzuahmen. Man bevölkert die Einöden des Pols mit Statuen und sogenannten historischen Vasreliefs, ohne zu bedenken, daß in diesem Lande die Bauwerke nicht einmal so lange währen als die Erinnerung. Die Russen thun Alles, aber es sieht auch aus, als fragten sie sich, ehe sie noch fertig geworden: wann werden wir alles dies wieder verlassen? Petersburg ist gleichsam das Gerüste an einem Baue, und das Gerüste wird fallen, sobald der Bau vollendet ist. Dieses Meisterwerk, nicht der Architectur, sondern der Politik, ist das neue Vyzanz, das nach den geheimen Gedanken der Russen die künftige Hauptstadt Rußlands und dcr Welt sein soll. Dem Paläste gegenüber dringt eine unermeßliche Arcade I. 17 258 durch den Halbkreis dem Alterthume nachgeahmter Gebäude; sie dient als Ausgang des Platzes und führt nach der Mors" koe-Straße. Ueber dicscr ungeheuern Wölbung stcht prahlend ein Wagen mit sechs Pferden von Bronze neben einander, die durch eins, ich weiß nicht welch?, allegorische oder geschichtliche Person geleitet werden. Ich glaube nicht, daß man sonst irgendwo etwas so Geschmackloses sehen kann als dieses colossale Thor unter einem Hause neben andern Hausern. Trotzdem nennt man es den Triumphbogen. Ich werde, wiewohl ungern, hingehen und diese vergoldeten Pferde, die Statue und den Wagen in der Nahe betrachtn; wenn sie aber auch von vortrefflicher Arbeit sein sollten, was ich bezweifele, so sind sie doch so schlecht aufgestellt, baß ich sie unmöglich bewundern kann. An Gebäuden forixrt vor Allem die Harmonie des Ganzen den Neugierigen auf, auch die Einzelnheiten zu betrachten; was liegt an der feinen Ausführung, wenn der Entwurf nicht schön ist? Uebn'gens fehlt es den Erzeugnissen der russischen Kunst meist an beiden. Bis jetzt ist oie Kunst nur Geduld und besteht darin, gut oder schlecht das nachzuahmen, was anderswo erfunden worden ist. Wenn man die antike Architectur nachahmen will, sollte man sich nur die Copie erlauben und auch diese nur an entsprechenden Orten. Alles ist hier armlich, obgleich colossal, denn in der Architectur macht nicht die Dimension der Mauern das Großartige, sondere die Strenge des Styls. Ich kann mich über die Leidenschaft nicht genug wundern, die man hier für luftige Gebäude hegt. Wozu nutzen unter einem so rauhen Clima die Portikcn, Arcaden, Colonnade« und Peristyle Athens und Noms? Die Sculptur unter freiem Himmel macht hier einen eben solchen Eindruck auf mich, wie die exotischen Gewächse, welche man im Winter in das Warmehaus bringen muß. Nichts 259 paßt weniger für die Lebensweise und den Geist dieses Volkes, für den Boden und das Elima, als dieser falsch? Luxus. In cincm Lande, wo zwischen der Temperatur des Winters und jener dcs Sommers oft ein Unterschied von Kl> Grad ist, sollte man der Architectur der schönen Climate entsagen. Aber die Russen haben nun einmal die Gewohnheit, selbst die Natur als Sclavin zu behandeln und die Zeit fiir nichts zu achten. Als hartnäckige Nachahmer nehmen sie ihre Eitelkeit für Genie und hatten sich für bemfen, die Bauwerke der ganzen Welt in ihrer Hcimath sämmtlich und zwar in größerm Maßstabe nachzumachen. Vie Stadt mit ihren Granitkaien ist ein Wunder, aber der Eispalast, in welchem die Kaiserin Katharina ein Fest gab, war auch ein Wunder; es dauerte so lange als die Schneeflocken, die Rosen Sibiriens. Ich habe bisher in den Schöpfungen der russischen Fürsten keineswegs Liebe für die Kunst, sondern Eigenliebe und Eitelkeit gesehen. Unter andern Prahlereien höre ich von vielen Russen auch behaupten, ihr Elima werde milder. Sollte Gott der Mitschuldige bei dem Ehrgeize dieses habsüchtigen Volkes sein? Sollte er ihm selbst den Himmel und das Clima des Südens gc'ben wollen l Werden wir Athen in Lapplano, Rom in Moskau und die Reichthümer der Themse in dem sinnischen Meerbusen sehen ? Reducirt sich die Geschichte der Völker auf einer Langen- und Breiten-Frage? Soll die Welt immer ein und dasselbe Schauspiel auf andern Bühnen aufführen sehen. Wahrend mein Wagen von dem Palaste aus schnell über das längliche Viereck fuhr, das durch den eben beschriebenen ungeheuren Platz gebildet wird, trieb ein ungestümer Wind Wolken uon Staub auf und ich sah die Equipagen, welche in allen Richtungen hin über das holperige Pflaster der Stadt rollten, nur noch durch einen beweglichen Schleier. Der Staub 17" 260 ist im Sommer in Petersburg eine wahre Pein, so daß man selbst den Schnee des Winters zurückwünscht. Ich war noch nicht in meine Wohnung zurück, als das Gewitter losbrach; es hat alle Abergläubischen in der Stadt durch seine mehr oder minder bedeutungsvollen Anzeichen erschreckt; daS Dunkel mitten im Tage, die erstickende Hitze, die Donncrschlage, welche sich immer wiederholen und keinen Regen bringen, ein Sturm, der Hauser niederwerfen könnte — dieses Schauspiel gewahrte der Himmel wahrend des kaiserlichen Bankets. Die Russen beruhigen sich indeß damit, daß das Unwetter nicht lange dauerte und die Luft schon reiner ist als vorher. Ich erzähle das, was ich sehe, ohne Theil daran zu nehmen; ich habe kein Interesse dabei als das eines aufmerksamen Neugierigen, dem aber eigentlich Alles fremd und gleichgültig ist, was vor seinen Augen vorgeht. Zwischen Frankreich und Rußland steht eine chinesische Mauer: die slawische Sprache und der slawische Character. Trotz den Einbildungen, welche Peter dcr Große den Nüssen eingepflanzt hat, beginnt Sibirien an der Weichsel. Gestern Abend, um sieben Uhr, kehrte ich mit mehreren Fremden in den Palast zurück. Wir sollten dem Kaiser und der Kaiserin vorgestellt werden. Man sieht, daß der Kaiser keinen Augenblick das, was er ist, und die fortwahrende Aufmerksamkeit, die er erregt, vergessen kann. Es ist immer, als säße er einem Maler, und deshalb ist er nie natürlich, selbst wenn er aufrichtig ist. Sein Gesicht hat einen dreifachen Ausdruck und keiner davon ist die ganz einfache Herzensgute. Der gewöhnlichste fcheint mir immer die Strenge zu sein. Ein anderer aber seltener Ausdruck paßt für dieses schöne Gesicht vielleicht noch besser, nämlich die Feierlichkeit. Ein dritter ist die Artigkeit und in diesen schlüpfen einige Nuancen von Anmuth, welche das kalte 261 Staunen mildern, das durch die beiden andern erregt wirb. Trotz dieser Anmuth schabet aber doch etwas dem geistigen Einflüsse des Mannes, der Umstand nämlich, daß jeder Gesichtsausdruck, der willkürlich in den Zügen wechselt, vollständig hcruortritt oder schwindet, ohne daß eine Spur von dem verschwundenen zurückbleibt, um den neuen Ausdruck zu modi-siziren. Es ist ein rascher und vollständiger Decorations-wechsel, der durch keinen Uebergang vorbereitet wird, oder eine Maske, die man nach Belieben an- und ablegt. Deuten Sie den Sinn nicht falsch, den ich hier dem Worte Maske beilege; ich nehme es nach der Etymologie. Ich meine, der Kaiser ist immer ganz in seiner Rolle, die er als großer Schauspieler durchführt. Maske und Schauspieler sind nun freilich übelklingenbe Worte, namentlich in dem Munde eines Mannes, der unparteiisch und ehrerbietig sein will. Für verstandige Leser aber, und nur an solche denke ich, sind Worte eigentlich nichts; die Bedeutung und Wichtigkeit der Worte hangt von dem Sinne ab, den man ihnen geben will. Ich will also nicht sagen, daß es dem Gefichtsausdrucke des Kaisers an Offenheit fehle; es fehlt ihm nur die Natürlichkeit. Es zeigt sich deshalb das größte Uebel, an welchem Rußland leidet, der Mangel an Freiheit, selbst in dem Gesichte des Beherrschers; er hat viele Masken, aber kein Gesicht. Wenn man den Menschen sucht, findet man immer den Kaiser. Man kann, glaube ich, diese Bemerkung zu seinem Lobe auslegen; er treibt sein Gewerbe gewissenhaft. Bei seiner Größe, welche die der gewöhnlichen Menschen überragt, wie sein Thron die andern Sitze überragt, würde er sich der Schwache beschuldigen, wenn er nur einen 'Augenblick sehen ließe, daß er wie ein gewöhnlicher Mensch lebt, denkt und fühlt. Cr scheint vielmehr keines unserer Gefühle zu theilen, 2ft2 ist immer Oberhaupt, Nichter, General, Admiral, Fürst mit rinem Worte, nichts mehr und nichts weniger "). Zu Ende scincs Lebens wird er sehr ermüdet sein, aber auch hochstehen in der Meinung seines Volkes, vielleicht der Wclt, denn die Menge liebt die 'Anstrengungen, welche in Erstaunen setzen, und wird stolz, wenn sie die Mühe sieht, welche man sich giebt, um sie zu blenden. Die Personen, welche den Kaiser Mäander gekannt haben, rühmen diesen Fürsten auf eine ganz entgegengesetzte Wcisc. Die guten und schlechten Eigenschaften der beiden Brüder waren ganz verschieden; sie hatten keine Aehnlichkeit mit einander und fühlten keine Sympathie für einander. Das Andenken an den verstorbenen Kaiser wird hier zu Lande nicht geehrt, aber diesmal stimmt die Neigung mit der Politik zusammen, die frühere Regierung zu vergessen und Petcr der Große steht dem Kaiser Nicolaus naher als dessen Bruder Alexander und er ist deshalb auch jetzt mehr in der Mode. Wenn die Vorfahren der Kaiser geschmeichelt werden, so vcr-läumdet man doch immer ihre unmittelbaren Vorganger. Der regierende Kaiser vergißt die Majestät nur im Familienleben. Hier erinnert er sich, daß der Mensch Freuden und Vergnügen hat, die von seinen StaatSpflichten unabhängig sind-, ich hoffe es wenigstens für ihn, daß ihn dieses uneigennützige Wohl an sein Haus knüpft. Seine hauslichen Tugenden unterstützen ihn ohne Zweifel bei der Regierung, indem sie ihm die Achtung der Welt sichern, aber er würde sie auch, glaube ich, ohne Berechnung üben. ') Kürzlich kam cm Russe aus Petersburg nach Pans zurück und eine stiner Landsmännin fragte ihn: „wie haben Sie den Herrn gefunden 7" — „Sehr wohl." -— „Und den Menschen?" — „Den Menschen habe ich nicht gesehen." — Ich wiederhole es immer; die Russen sind meiner Meinung, aber sprechen sie nicht aus. 263 Vei den Russen wird die höchste Gewalt wie eine Religion geachtet, deren Autorität ganz unabhängig von dem Personlichen Verdienste ihrer Priester ist; da also die Tugenden des Fürsten überflüssig find, so sind sie gewiß aufrichtig Und ungeheuchelt. Wenn ich in Petersburg lebte, würde ich Hofmann wcr-dm, nicht aus Liebe zu der Macht, nicht aus Habsucht und kindischer Eitelkeit, sondern um zu entdecken, auf welchem Wege man zu dem Herzen dieses Menschen gelangen kann, der von allen andern Menschen verschieden ist. Die Unem-pfindlichkcit ist bei ihm keineswegs ein angeborncr Mangels sondern das unvermeidliche Resultat einer Stellung, die er nicht gewählt hat und die er nicht verlassen kann. Einer bestrittenen Macht zu entsagen, ist bisweilen eine Rache; eine unbeschränkte Macht aufzugeben, würde eine Feigheit sein. Sei dcm nun wie ihm wolle, das seltsame Geschick eines Kaisers von Rußland flößte mir anfangs lebhafte Neugierde, sodann Mitleiden ein. Wie sollte man auch mit den Leiden eines so glänzenden Exils kein Mitleiden haben! Ich weiß nicht, ob der Kaiser Nicolaus von Gott ein für Freundschaft empfängliches Herz erhalten hat; aber ich fühle, daß die Hoffnung, einem Manne, dem die Gesellschaft seines Gleichen versagt, eine uneigennützige Anhänglichkeit zu erweisen, den Ehrgeiz vertreten könnte. Der absolute Herrscher, ist von allcn Menschen derjenige, welcher moralisch die Ungleichheit der Stande am schmerzlichsten empfindet und seine Leiden sind um so größer, als sie, von den gemeinen Men-' schen beneidet, dem, welcher sie fühlt, unabänderlich erscheinen Müssen. Selbst die Gefahr würde meinem Eifer den Reiz der Begeisterung geben. Wie? fragt man vielleicht, Anhänglichkeit an einen Mann, der nichts Menschliches besitzt, dessen 264 strenge Züge eine mit Furcht gemischte Achtung einstoßen, dessen fester Blick jede Vertraulichkeit ausschließt und nur Gehorsam verlangt, dessen Mund, auch wenn er lächelt, nie mit dem Ausdrucke der Augen übereinstimmt, an einen Mann, der keinen Augenblick die Nolle des absoluten Fürsten vergißt! Warum nicht? Dieser Mangel an Uebereinstimmung, diese Härte ist kein Unrecht, sondern ein Unglück. Ich sehe, darin eine nothwendige Gewohnheit, nicht aber Charakter; ich glaube den Mann zu errathen, den Ihr durch Euere Furcht, durch Euere Vorsicht wie durch Euere Schmeicheleien verlaumdct, ich ahne, wie schwer es ihm wird, sein? Fürstenpflicht zu erfüllen, und möchte diesen unglücklichen Erdengott nicht dem unuersönlichem Neide, nicht der heuchlerischen Unterwürfigkeit seiner Sclaven ganz überlassen. Es ist ein Werk der Barmherzigkeit, eine heilige Mission, die Gott segnen muß, seinen Nächsten auch in einem Fürsten wieder zu finden und ihn wie einen Bruder zu lieben. Iemehr man sieht, was der Hof ist, um so innigeres Mitleiden fühlt man mit dem Schicksale des Menschen, der ihn leiten muß, namentlich in Rußland. Er macht denselben Eindruck auf mich wie ein Theater, in welchem die Schauspieler fortwährend nur Hauptproben halten. Keiner hat seine Rolle inne und der Tag der Vorstellung kommt nie, weil der Director mit dem Spiele seiner Untergebenen nie zufrieden ist. Schauspieler und Directoren verbringen so nutzlos ihr Leben damit, daß sie unaufhörlich ihre endlose Gesellschastscomödie vorbereiten, corrigiren und vervollkommnen, welche den Titel führt! „Civilisation des Norden." Wenn das Zusehen dabei schon ermüdet, wie beschwerlich muß es sein, eine Rolle dabei zu spielen. Da gefallt mir Asien besser, denn dort ist mehr Uebereinstimmung. Bei jedem Schritte, den man in Ruß' land thut', fallen die Folgen der Neuheit in allen Dingen 265 und Einrichtungen, so wie die Unerfahrenhcit der Menschen auf. Man verheimlicht dies zwar mit der größten Sorgsamreit, aber mit ein wenig Aufmerksamkeit erkennt der Reisende 'Alles, was man ihm nicht zeigen will. Der Kaiser ist durch sein Blut mchr Deutscher als Russe, deshalb erinnern auch die Schönheit seiner Gesichtszüge, die Regelmäßigkeit s/ines Profils und ftine militairische Haltung mehr an Deutschland, als sie Rußland characterisiren. Seme deutsche Natur muß ihm lange hinderlich gewesen sein, ehe er wurde, was er jctzt ist, ein achter Rufs?. Wer weiß? Vielleicht wäre er ein recht gutmüthiger Mann geworden! Denken Sie sich, was es ihn in diesem Falle gekostet haben muß, um sich zu zwingen einzig und allein das Oberhaupt der Slawen zu scheinen. Nicht jeder wird Despot, der es ftin will. Die Nothwendigkeit, fortwahrend sich selbst zu besiegen, um Andere zu beherrschen, wütde den übertriebenen Patriotismus des Kaisers Nicolaus erklären. Alles dies zieht mich an, stößt mich nicht ab. Ich interessire mich umvillkürlich für einen Mann, der von der übrigen Welt gefürchtet wird und der darum nur um so mehr zu beklagen ist. Um dem Zwange, dcn er sich auferlrgt, so viel als möglich zu entgehen, bewegt er sich ruhmlos wie ein Löwe im Käsig, wie eilt Kranker im Fieber; er reitet aus, er gcht aus, halt eine Revue, führt einen kleinen Krieg, reiset zu Wasser, giebt ein Fest, übt seine Marine und alles dies an einem und demselben Tage. Man furchtet an diescm Hofe nichts mehr als die Muße und ich schließe daraus, daß man sich nirgends mchr langweilt. Der Kaiser reiset unaufhörlich; er durchfliegt in einer Saison wenigstens fünfzehnhundert Stunden und will es nicht zugeben, daß dies nicht von Jedermann gethan werden könne. Die Kaiserin liebt ihn, fürchtet ihn zu verlassen, folgt ihm so viel als möglich und kommt vor Anstrmgung dabei um. Sie hat siä' an ein ganz äußerliches Leben gewöhnt. Diese ihrem Geiste nothwendig gewordene Zerstreuung tödtet ihren Korper. Ein so gänzlicher Mangel an Nuhc must die Erziehung der Kinder benachlheiligen, welche in der Lebensweise der Acltern Ernst erfordert. Die jungen Prinzen leben nicht abgesondert genug, als daß die Fnuolität eines immer im Freien befindlichen Höfts, der Mangel an jeder interessanten, zusammenhangenden Unterhaltung, die Unmöglichkeit des Nachdenkens, keinen nachtheiligen Einfluß auf ihren Character haben sollten. Wenn man die Verwendung ihrer Zeit bedenkt, muß man selbst an dem Geiste zweifeln, den sie zeigen, wie man für den Glanz einer Vlume fürchten würde, wenn sie nicht in einem ihr zusagenden Boden wurzelte. Alles dies ist SHein in Rußland und deshalb ist man überall mißtrauisch. Diesen Abend bin ich vorgestellt worden, nicht durch den französischen Gesandten, sondern durch den Ober-Cere-monienmeisier des Hofes. Der Kaiser hatte es so befohlen und der französische Gesandte hatte mir dies angezeigt. Ich weiß nicht, ob dies gewöhnliche Negel ist, ich aber wurde I. I. Majestäten so vorgestellt. Alle Fremden, welche die Ehre erlangt hatten, sich den Majestäten nahern zu dürfen, waren in einem der Salons versammelt, den sie durchschreiten mußten, um den Ball zu eröffnen. Der Salon befindet sich vor der großen neu gebauten und vergoldeten Galerie, welche der Hof seit dem Brande nicht gesehen hatte. Wir waren zur bestimmten Stunde angekommen und warteten ziemlich lange» auf das Erscheinen des Gebieters. Wir waren nicht sehr zahlreich- Neben mir befanden sich einige Franzosen, ein Pole, 2l)7 ein Genfer und mehrere Deutsche. An der entgegengesetzten Seile des Saales hatte sich eine Reihe russischer Damen aufgestellt. Der Kaiser empfing uns Alle mit einer ganz besondern Artigkeit. Man erkannte in ihm auf den ersten Blick einen Mann, der gewohnt ist, die Eitelkeit Anderer zu schonen. Jeder fühlte sich durch ein Wort, einen Blick in den kaiserlichen Gedanken und in Folge davon in der Meinung der Andern classisicirt. Um mir zu erkennen zu geben, daß er mich ohne Mißfallen sein Neich durchreisen sehen würde, erzeigte mir der Kaiser die Gnade mir zu sagen, ich müßte wenigstens bis Moskau und Nischnei gehcn, um eine richtige Vorstellung von dem Lande zu erlangen. „Petersburg ist russisch," setzt,,' er hinzu, „aber es ist nicht Rußland." Diese wenigen Worte wurden in einem Tone gespro-chen, den man nicht vergessen kann, so viel Autorität liegt darin, so ernst und fest ist er. Jedermann hatte mir von dem imposanten Aussehen, von dem Adel der Züge und der Figur des Kaisers erzahlt, von der Macht seiner Stimme aber hatte Niemand gesprochen. Diese Stimme ist allerdings die eines Mannes, der zu befehlen gewohnt ist. Es liegt nichts Gezwungenes, nichts Studirtes darin; sie ist eine Gabe, welche die häufige Uebung entwickelt hat. Die Kaiserin besitzt in der Nahe einen reizenden Gesichtsausdruck und der Ton ihrer Stimme ist so lieblich und mild, wie die Stimme des Kaisers von Natur gebieterisch ist. Sie fragte mich, ob ich blos als Reisender nach Petersburg gekommen. Ich bejahete dies und sie entgegnete: „ich weiß, daß Sie neugierig sind." „Allerdings," antwortete ich, „führt mich die Neugierbe 268 nach Rußland und diesmal werbe ich es nicht bereuen, der Sucht, die Welt zu durchwandern, nachgegeben zu haben/, „Glauben Sie," erwiederte sie mit reizender Anmuth. „Es scheinen sich hier zu Lande so sehcnswerthe Dinge zu befinden, daß man sie mit eigenen Augen gesehen haben muß, um daran ;u glauben." „Ich wünsche, daß Sie viel und dies gut sehen mögen." „Der Wunsch Ew. Majestät ist eine Ermuthigung." „Wenn Sie Gutts denken, so werden Sie es wohl sagen, aber vergebens; man wird Ihnen nicht glauben; man kennt uns schlecht und will uns auch nicht besser kennen lernen." Diese Worte in dem Munde der Kaiserin sielen mir auf, weil sie mir die Gedanken verriethen, die sie beschäftigten. Auch schienen sie mir eln gewisses Wohlwollen gegen mich auszudrücken, das mit seltener Artigkeit und Natürlichkeit ausgesprochen wurde. Die Kaiserin stößt auf den ersten Blick eben so viel Vertrauen als Ehrfurcht ein; man erkennt durch die nothwendige Zurückhaltung hindurch, daß sie ein Herz besitzt. Dieses Unglück giebt ihr einen unbeschreiblichen Zauber; sie ist mehr als Kaiserin, sie ist Weib. Sie schien außerordentlich angegriffen zu sein und ihre Hagerkeit ist wirklich entsetzlich. Jedermann behauptet, die Ruhelosigkeit werde sie aufreiben, die Langeweile eines ruhigern Lebens aber sie todten. Das Fest, das unserer Vorstellung folgte, war eins der prachtvollsten, das ich in meinem Leben gesehen habe. Es war feenhaft... Die Bewunderung, das Staunen, das jeder Saal in diefem binnen einem Jahre wiederhergestellten Paläste in dem ganzen Hofe erregte, gab dem etwas kühlen 269 Pompe der gewöhnlichen Feierlichkeiten ein gcwi^s dramatisches Inttreffe. Jeder Saal, jedes Gemälde, war ein Gegenstand der Ueberraschung selbst für die Nüssen, welche der Katastrophe beigewohnt, aber dicse bewundernswürdige Wohnung nicht wieder gesehen hallen, seit der Tempel auf drn Machtspruch scincs Gottes aus der Asche wieder erstanden war. Welche Willenskraft! dachte ich bei jeder Galerie, bei jedem Marmorstücke, bei jeder Malerei, die ich sah. Der Styl der Verzierungen erinnert, obgleich erst vor wenigen Tagen wieder hergestellt, an das Jahrhundert, in welchem der Palast gegründet worden; AlleS was ich sah, kam mir schon alt vor. Man copirt in Rußland Alles, selbst die Zeit. Diese Wunder flößen der Menge eine ansteckende Bewunderung ein, so daß ich selbst, als ich den Triumph des Willens eines Menschen sah und die Ausrufungen der andern Menschen hörte^ nicht mehr so großen Unwillen über den Preis fühlte, den dieses Wunder gekostet hatte. Wenn ich diese Einwirkung nach einem zweitägigen Aufenthalte fühle, wie nachsichtig müssen wir dann die Menschen beur: theilen, welche in dieser Hofluft, d. h. in Nußland geboren sind und da ihr Leben verbringen! Man athmet hier von einem Ende des Nciches bis zum andern und stets die Höft luft. Von den Leibeigenen spreche ich nicht, aber selbst diese fühlen durch ihre Verbindung mit dem Herrn einigen Einfluß des souvcrainen Gedankens, der allein das Neich belebt. Der Höfling, ihr Herr, ist für sie das Bild des höchsten Herrn, denn der Kaiser und der Hof erscheinen den Nüssen überall, wo ein Mensch einem Menschen gehorcht, der gebietet. An andern Orten ist der Arme ein Bettler oder ein Feind; in Rußland ist er auch ein Höfling, denn es giebt dort Höflinge auf allen Stufen der Gesellschaft. Deshalb sage ich denn auch, der Hof sei überall und zwischen den 270 Ansichten der russischen Herren und der Edelleute des alten Europa bestehe ein Unterschied wie zwischen der.höflingswelt und der Aristokratie, oder zwischen der Eitelkeit und dem Stolze. Uebrigms ist der wahre Stolz überall fast so selten als die Tugend. Statt die Höfling zu schmähen, wic Beaumarchais nebst vielen Andern gethan hat, sollte man diese Menschen beklagen, die, was man auch sagen möge, allen Menschen gleichen. Arme Höflinge! Sie sind keineswegs die Ungethüme der modernen Romane und Theaterstücke oder der revolutionaircn Journale, sondern schwache, verdorbene oder verderbende Wesen wie die andern, nicht mehr, welche der Verführung ausgesetzt sind. Die Langeweile ist die Wunde der Reichen, aber die Langeweile ist doch kein Verbrechen. Die Eitelkeit und der Eigennutz werden an den Höfen lebhafter angeregt als sonst irgendwo, und diese Leidenschaften verkürzen das Leben. Wenn aber die Herzen, die sie bewegen, starker gefoltert werden, so sind sie doch nicht schlechter als die kranken Menschen, denn sie haben ihren Stand nicht gesucht, nicht gewählt. Die menschliche Weisheit würde einen großen Fortschritt gemacht haben, wenn man der Menge begreiflich machen könnte, wie sehr die Besitzer der eitcln Güter ;u bedauern sind, nach denen sie strebt. Ich habe einige gesehen, die an der Stelle tanzten, wo sie früher unter den Trümmern verschüttet zu werden gefürchtet hatten und wo Andere umgekommen warm — um dem Hofe an dem von o<'m Kaiser bestimmten Tage cinc Unterhaltung zu gewahren. Alles dies kam mir noch außerordentlicher als schön vor; unwiderstehliche philosophische Betrachtungen verdunkeln mir alle russischen Feste und Feierlichkeiten. An andern Orten ruft die Freiheit eine Heiterkeit hervor, welche die Illusionen begünstiget, hier stimmt der Despotismus un- 271 fehlbar zum Nachdenken, waches die Bewunderung stört, denn wenn man sich den Gedanken überläßt, läßt man sich nicht blenden. Der Tanz, welcher in diesem Lande bei den großen Festen am gebräuchlichsten ist, stört den Gedankengan^ nicht; man geht in gemessenen durch die Musik geregelten Schritten einher; jeder Herr führt eine Dame an der Hand; hun^ derte von Paaren folgen so aufeinander in Prozession durch unermeßliche Säle und durchwandern den ganzen Palast, denn der Zug geht von einem Zimmer in das andere und schlangelt sich durch Galerien und Säle nach dem Einfalle des Mannes, der ihn anführt; das nennt man die Polonaise tanzen. Einmal unterhalt das Schauspiel vielleicht, für die Leute aber, welche dies ihr ganzes Leben lang tan-zcn muffen, muß der Ball cine Strafe werden. Die Polonaise von Petersburg versetzte mich zu dem Congresse nach Wien zurück, wo ich 1814 bei der großen Rcdoute mittanzte. Bei j^nem europäischen Feste wurde keine Etikette beobachtet; jeder ging auf Geradewohl unter allen Souverainen der Erde umher. Mich hatte der Zufall zwischen den Kaiser Alexander von Rußland und dessen Gemahlin geführt, die eine Prinzessin von Baden war. Ich folgte dem Zuge und suhlte mich in der Nahe so erhabener Personen recht unbehaglich. Mit cinrm Male hielt die Paar-Reihe an, ohne daß man wußte, warum; die Musik spielte weiter. Der Kaiser streckte ungeduldig den Kopf über meine Achsel und sagte ziemlich barsch zu der Kaiserin: „weiter! vorwärts!" Die Kaiserin drehete sich um und als sie hinter mir den Kaiser erblickte, der mit einer Dame tanzte, der er seit einigen Tagen große Aufmerksamkeit erzeigte, antwortete sie mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke: „immer artig!" Der Selbstherrscher biß sich auf die Lippen und s.ch 272 mich cm. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und der Tanz wurde fortgesetzt. Der Glanz der großen Galerie blendete mich; sie ist jetzt ganz vergoldet, vor dem Brande war sie nur weiß gemalt. Dies« Unfall kam der Vorliebe des Kaisers für kaiserliche, ich möchte fast sagen göttliche Pracht zu statten; göttlich kommt der Idee naher, welche die höchste Gewalt in Rußland von sich selbst hat. Die Gesandten des gesammten Europa waren daher eingeladen worden, um dlc wunderbaren Resultate dieser Regierung zu bewundern, die von den gemeinen Leuten um so bitterer getadelt, je mehr sie von den Staatsmannern beneidet und bewundert wird, die wesentlich praktische Menschen sind und denen das einfache Räderwerk des Despotismus sogleich auffallen muß. Ein Palast, einer der größten in der Welt, in einem Jahre aufgebaut, — welcher Gegenstand zur Bewunderung für Menschen, welche gewöhnt sind, Hosiuft zu athmen! Etwas Großes ist nie ohne große Opfer zu erlangen; die Einheit in dem Befehl, die Kraft, die Autorität, die Militairmacht werden hier durch den Mangel an Freiheit erkauft, wahrend die politische Freiheit und der industrielle Reichthum Frankreich den sonstigen ritterlichen Sinn und das alte Zartgefühl kosteten, das man sonst die National-ehre nannte. Diese Ehre ist durch andere minder patriotische aber allgemeinere Tugenden erscht: durch Humanität, Religion und allgemeine Menschenliebe. Jedermann wird zugestehen, daß Frankreich jetzt mehr Religion hat als zu der Zcit, da die Geistlichkeit allmächtig war. Wer die Vortheile erhalten will, die einander ausschließen, verliert die, welche jeder Lage eigenthümlich sind. Das will man bei uns nicht anerkennen, wo man sich der Gefahr 2?3 ausseht, Alles zu zerstören, indem man Alles erhalten will. Jede Regierung hat gewisse Nothwendigkeiten, die sie dulden und achten muß, wenn sie nicht selbst zu Grunde gehen will- Wir wollen ein Handelsvolk sein, wie ble Engländer, frei wie die Amerikaner, inconsequent wie die Polen zur Zeit ihrer Reichstage und Eroberer wie die Russen, und dadurch werden wir — nichts. Der gesunde Sinn eines Volkes besteht darin, taß es sein Ziel nach seinem eigenthümlichen Genius ahnt, dann wählt und vor keinem Opfer zurückweicht, das nothwendig ist, um dieses durch die Natur und Geschichte bezeichnete Zirl zu erreichen. Frankreich entbehrt in seinen Ideen gesunden Verstand, in seinen Wünschen Mäßigung. Es ist edelgesinnt, selbst ergeben, aber es weiß seine Kräfte weder anzuwenden noch zu leiten. Es geht immer auf Gcradewohl. Ein Land, in welchem man seit Fenelon von nichts als von Politik gesprochen hat, wird heute noch nicht regiert und verwaltet. Man findet nur Leute, welche den Ucbelstand sehen und ihn beklagen; das Mittel dagegen sucht jeder in seinen Leidenschaften und folglich findet es Niemand, denn die Leidenschaften überzeugen nur die, welche sie fühlen. Dennoch führt man noch immer in Paris das angenehmste Leb.n-, man vergnügt sich dort an Allem, während man Alles schmähet; in Petersburg langweilt man sich mit Allem, wahrend man Alles lobt. Uebrigens ist das Vergnügen nicht der Zweck des Lebens; es ist der Zweck nicht einmal der Individuen, viel weniger also der Völker. Noch bewundernswürdiger als der Tanzsaal in dem Win-terpalaste, obwohl er ganz von Gold strahlte, kam mir di.» Gallerie vor, in welcher das Souper servirt wurde. Sie ist l. 18 274 noch nicht ganz vollendet, aber diesen Abend hatten die Lustres uon. weißem Papier, welche provisorisch zur Erleuchtung dienten, eine phantastische Form, die mir nicht mißsiel. Diese für den Hochzeitstag mprovisitte Beleuchtung entsprach aller; dings der Einrichtung dieses Zauberpalastes nicht, gab aber eine Sonnenhelle und das war für mich genug. Dank sci es dem Fortschreiten der Industrie, man weiß in Frankreich nicht mehr, was eine Kerze ist; in Rußland scheint es noch ächte Wachskerzen zu geben. Die Soupertasel strahlte. Alles kam mir bei diesem Feste colossal und unzahlig vor und ich wußte nicht, was ich mehr bewundern sollte, den Eindruck des Ganzm oder das Großartige und die Menge der Gegenstände im Einzelnen. Es saßen tauftnd Personen auf einmal an dieser Tafel in einem einzigen Saale. Unier diesen mehr oder minder von Gold und Diamanten strahlenden tausend Personen befand sich auch der Khan der Kirgisen, den ich früh in der Kapelle gesehen hatte. Eein Sohn und sein Gefolge begleiten ihn. Auch bemerkte ich eine alte Königin von Georgien, die vor dreißig Jahren entthront wurde. Diese arme Frau schmachtet ohne Ehre an dem Hofe ihrer Besieger hin. Eie würde mir tiefes Mitleiden einflößen, wenn sie nicht gar zu sehr einer dem Cabinet von Curtius entnommenen Figur gleich sahe. Ibr Gesicht ist braun wie das eines an die Strapazen des Lagerlebens gewöhnten Mannes und dabei kleidet sie sich lacherlich. Wir lachen gar zu leicht über das Unglück, wenn es uns unter einer mißfalligen Gestalt erscheint. Besonders sollte, unserer Meinung nach das Unglück eine Königin von Georgien verschönern, dem ist aber nicht so, im Gegentheil, und die Her-zen werden schnell ungerecht gegen das, was den Augen nicht gefällt. Diese Art, sich von dem Mitleiden zu disprnsiren, ist nicht edel, aber ich gestehe es, ich konnte nicht ernsthaft 275 bleiben, als ich das Haupt einer Königin mit einer Art Tschacko bekleidet sah, von dem ein seltsamer Schleier herabhing. Das Uebrige der Person entsprach dem Kopsputze und wahrend alle Damen vom Hose in Schleppkleidern erschienen, trug diese orientalische Königin einen mit Stickereien überladenen kurzen Rock. Sie erregte Lachen und Furcht, so geschmacklos war ihr Anzug, so viel Langeweile und doch zu gleicher Zeit Höfisches lag in ihrem Gesicht, so viel Häßlichkeit in ihren Zügen, so viel Ungraziöses in ihrer ganzen persönlichen Erscheinung. Die Nationalkleibung der russischen Damen bei Hofe ist imposant und der Form nach alt. Sie tragen auf dem Kopfe cine Art Castell von kostbarem Stoffe, und dieser Kopfputz gleicht einem Herrenhute, den man niedriger gemacht und der den Deckel verloren hat, so daß man den Hinterkopf sehen kann. Dieses mehrere Zoll hohe Diadem faßt das Gesicht angenehm ein, ohne es zu bedecken; meist ist es mit Edelsteinen verziert und über der Stirn angebracht, die es frei laßt. Es ist dies ein alter Putz und er giebt dem ganzen Anzüge etwas Nobeles und Originelles, was schönen Personen sehr gut steht, die haßlichen aber noch haßlicher macht. Leider sind diese an dem russischen Hofe zahlreich, von dem man sich nur mit dem Tode zurückzieht, so große Anhänglichkeit haben die alten Leute an die Aemter, die sie hier bekleiden. Im Allgemeinen ist, ich wiederhole es, weibliche Schönheit in Petersburg selten, indeß ersehen in der großen Welt die Anmuth und der Reiz sehr hausig die Regelmäßigkeit der Züge und die Reinheit der Formen. Einige Georgierinnen vereinigen beide Vorzüge. Diese Gestirne glänzen unter den nordischen Frauen wie Sterne in dem tiefen Dunkel der südlichen Nächte. Die Form des Hofgewandes mit den langen Aermeln und der langen Schleppe giebt der 18" 276 ganzen Person etwas Orientalisches, was den ganzen Cercle imposant erscheinen läßt. Ein seltsamer Vorfall gab mir Gelegenheit, die vollendete Artigkeit des Kaisers rennen zu lernen. Während des Balles hatte ein Ceremonienmeister denjenigen Fremden, welche zum ersten Male am Hofe erschic: nen, den Platz angewiesen, der ihnen an der Solipertafel bestimmt war. „Wenn Sie sehen, daß der Ball unterbrochen wird," hatte er zu jedem gesagt, „so folgen Eie der Menge in die Galerie; dort werden Sie eine große gedeckte Tafel finden; hier wenden Sie sich rechts und setzen sich an dem ersten freien Platze nieder." Für das diplomatische Corps, die Fremden und alle Personen vom Hofe stand nur eine einzige Tafel mit tausend Gedecken da; rechts vom Eingänge aber und vorn befand sich ein kleiner runder Tisch mit acht Platzen. Ein Genfer, ein gebildeter und geistreicher junger Mann, war in der Nationalgardenuniform — die der Kaiser im Allgemeinen nicht gern ficht — diesen Abend vorgestellt worden und schien sich ganz behaglich zu fühlen; aus angeborener Selbstgenügsamkeit, oder aus republikanischer Ungenirtheit, oder aus Herzrnsemfalt dachte er weder an die Personen, die ihn umgaben, noch an den Eindruck, den er vielleicht auf dieselben machte. Ich beneidete ihn um seine vollkommene Sicherheit, die ich durchaus nicht theilte. Unser Venehmen, obgleich sehr verschieden, hatte indeß gleichen Erfolg, denn der Kaiser behandelte uns beide gut. Eine erfahrene und geistreiche Person hatt« mir in halb ernstem, halb spöttischem Tone empfohlen, eine ehrerbietige und schüchterne Miene anzunehmen, wenn ich dem Gebieter gefallen wolle. Dieser Rath war sehr überflüssig, denn ich bin von Natur so blöde und schüchtern, daß ich in Verlegen- ___277___ heit kommen würde, wenn ich in die Hütte eines Köhlers treten und mit ihm Bekanntschaft machen sollte. Man hat nicht vergebens deutsches Blut in den Adern. Ich besaß also schon von Natur oie nöthige Dosis von Verlegenheit, welche erforderlich ist, um die unruhige Majestät des Czars zu beruhigen, der eben so groß sein würde, als er erscheinen will, wenn er sich auch weniger mit der Idee beschäftigte, man könne gegen die ihm gebührende Ehrfurcht verstoßen. Ein neuer Beweis für meine Bemerkung, daß man an diesem Hose sein Leben mit Generalproben verbringt. Diese Unruhe des Kaisers herrscht indessen nicht immer vor. Hier ein Beweis von der natürlichen Würde dieses Fürsten. Ich habe erwähnt, daß der Genfer, weit entfernt, die altmodische Bescheidenheit zu theilen, nichts weniger als verlegen war. Er ist jung und besitzt den Geist seiner Zeit, natürlich, auck bewunderte ich mit einem gewissen Neide das Gefühl der Sicherheit, so oft der Kaiser mit ihm sprach. Die Freundlichkeit des Kaisers wurde durch den jungen Schweizer balo auf eine entscheidendere Probe gestellt. Bei dem Eintritte in dm Bankettsaal wendete sich der Republikaner der erhaltenen Weisung nach rechts, bemerkte hier sogleich den kleinen runden Tisch und setzte sich unerschrocken ganz allein da nieder, denn der Tisch war noch leer. Als einen Augenblick nachher die Menge der Gäste Platz genommen .hatte, erschien der Kaiser mit einigen vertrauten Offizieren und setzte sich an dem runden Tische dem glücklichen Genfer Nationalgardisten gegenüber nieder. Die Kaiserin befand sich nickt mit an diesem Tische. Der Fremde blieb mit dem unveränderlichen Selbstvertrauen sitzen, das ich schon so sehr an ihm bewundert hatte. Es fehlte nun an einem Platze, oenn der Kaiser hatte diesen neunten Gast nicht erwartet; aber mit vollkommener 278 Artigkeit befahl er sofort einem Diener, noch einen Stuhl und einCouvert zu bringen, was ganz geräuschlos geschah. Da ich an dem cinen Ende der großen Tafel saß, so befand ich mich ganz nahe an dem Tische des Kaisers, dessen Bewegung mir nicht entging und also auch dem nicht entgehen konnte, welcher der Gegenstand derselben war. Der glückliche junge Mann gerieth indrß durchaus nicht in Verlegenheit, ale er bemerkte, daß er gegen die Absicht des Gebieters da sitze, und setzte ruhig das Tischgespräch mit seinen beiden nächsten Nachbarn fort. Ich dachte bei mir, vielleicht handelt er aus Tact so, er will kein Aufsehen machen und wartet nur auf den Augenblick, wenn der Kaiser aufsteht, um zu ihm zu gehen und ihm das Mißverständnis; zu erklären. Keineswegs! Mein Mann war, nach Beendigung des Soupers, weit entfernt, sich zu entschuldigen, schien vielmehr die Ehre, welche er gehabt hatte, ganz natürlich zu finden. In seiner Wohnung hat er vielleicht ganz einfach in sein Tagebuch geschrieben: „mit dem Kaiser soupirt." Nichtsdestoweniger kür;te der Kaiser das Vergnügen ab; er stand vor den Personen an der großen Tafel auf, ging hinter uns hin und verlangte, daß wir sitzen blieben. Der Großfürst Thronfolger begleitete seinen Vater, und ich sah diesen Prinzen hinter dem Stuhle eines vornehmen Englanders, des Marquis von .., stehen bleiben und mit dem Sohne desselben, dem Lord.., scherzen. Die Fremden, welche wie alle übrigen vor dem Prinzen und dem Kaiser sitzen blieben, kehrten ihnen so im Gesprach den Rücken zu und aßen weiter. Diese Probe von englischer Artigkeit beweist Ihnen, baß der Kaiser von Rußland einfacher in seinem Benehmen ist als viele Priuat-Hausherren. Ich erwartete keineswegs bei dicscm Balle ein Vergnügen zu finden, das den Personen und Dingen um mich her 279 ganz fremd war, — ich meine nämlich den Eindruck, welchen die großen Erscheinungen der Natur auf mich machten. Am Tage betrug die Temperatur 39 Grad und trotz der Abend-kühle war die Warme in dem Palaste erstickend. Ich flüchtete mich nach aufgehobener Tafel so schnell als möglich in die Brüstung eincs offenen Fcnsiers. Hier vergaß ich Alles, was mich umgab, und bewunderte einen jener Lichteffecte, die man nur im Norden, wahrend der magischen Helle der Polnacht..' findet. Mehrere Abstufungen sehr dunkler, schwerer Gewitterwolken theilten den Himmel; es war halb ein Uhr in der Nacht. Die Nachte, die jetzt für Petersburg wieder beginnen, sind noch so kurz, daß man kaum Zeit hat, sie zu bemerken. Um diese Zeit zeigte sich um die Richtung nach Archangel bereits die Morgendämmerung; der Landwind hatte sich gelegt und in den Räumen zwischen den unbeweglichen Wolkmstreisen sah man den Himmel, der so glanzend weiß war, daß er durch massive Stickereien von einander getrennten Eilberblattern glich. Dieses Licht spiegelte sich auf der Ncwa, die sich nicht bewegte, da der noch von dem Sturme aufgeregte Meerbusen das Wasser in das Flußbett zurückdrängte und diesem schlummernden Strome das Aussehen eines Milch- oder Perlmuttermeeres gab Der größte Theil von Petersburg mit seinen Kais un) den Spitzen seiner Kapellen dehnte sich vor meinen Augen aus; es war ein wahres VUd von Sammet-Breughel. Die Farben dieses Bildes lassen sich durch Worte nicht beschreiben; die St. Nicolauskirche mit ihren Pavillons statt der Thürme trat blau auf dem weißen Himmel hervor; die. Uebcrreste einer durch die Morgenröthe verlöschten Illumina-uon glänzten noch unter dem Porti'cus der Börse, eines griechischen Gebäudes, welches mit Theaterpomp eine Insel der Newa an der Stelle endigt, wo der Fluß sich in zwei 280 Hauptarme theilt; die beleuchteten Säulen dieses Gebäudes, dessen schlechter Styl zu dieser Zeit und in dieser Entfernung unkenntlich blieb, spiegelten sich in dem weißen Wasser, wo sie einen umgekehrten goldenen Fronton und Peristyl darstell-ten; die ganze übrige Stadt sah blau aus wie das Dach der St. Nicolauskirche und wie die Ferne auf dcn Landschaften der alten Maler. Dieses phantastische Bild auf einem Ul-tramarin-Grunde, in dem Nahmen eines goldenen Fensters, contrastirte in wahrhast übernatürlicher Art mit dem Lichte der Kronleuchter und dem Pomp im Innern des Palastes. Es war, als ob die Stadt, der Himmel, das Meer, die ganze Natur zu dem Glänze dieses Hofes beitragen und das Fest mit feiern wollten, das der Beherrscher dieser unermeßlichen Lande seiner Tochter gab. Das Aussehen des Himmels hatte etwas so Staunenswerthcs, daß man mit etwas Phantasie hatte glauben können, der König des Himmels antworte durch ein Zeichen von den Steppen Lapplands bis zur Krim, von dem Kaukasus und der Weichsel bis nach Kamtschatka dem Rufe des Königs der Erde. Der nor-dische Himmel ist reich an Wahrzeichen. Alles dies war außerordentlich und selbst schön. Ich war in tiefe Betrachtung versunken, als ich durch eine liebliche Frauenstimme geweckt wurde. „Was thun Sie hier?" fragte sie mich. „Ich bewundere; heute kann ich nichts Anderes thun." Es war die Kaiserin, und sie befand sich allein mit mir in dieser Fcnsterbrüstung, welche einem auf die Newa gehenden offenen Pavillon glich, „Ich ersticke," fuhr die Kaiserin fort; „das ist minder poetisch, aber Sie bewundern dieses Bild mit Necht, denn es ist prachtig." Sie betrachtete es mit mir und fuhr dann fort: 281 „Ich bin überzeugt, daß wir beide Mein diesen Licht-effect bemerken." „Alles, was ich sehe, ist neu für mich, Majestät, und ich werde mich nie zufrieden gslxn, daß ich nicht in meiner Jugend nach Rußland gekommen bin." „Das Herz und die Phantasie bleiben immer jung." Ich wagte nicht zu antworten, denn die Kaiserin besitzt eben so wenig als ich jene Jugend noch, und dies wollte ich ihr nicht fühlbar machen. Sie würde mir die Zeit nicht gelassen und ich die Kühnheit nicht gehabt haben, ihr zu sagen, welche Entschädigung sie habe, um sich über die Flüchtigkeit der Zeit zu trösten. Als sie sich von mir entfernte, sagte sie mit der Anmuth, die sie so wesentlich auszeichnet.' „ich werde mich erinnern, mit ihnen gelitten und bewundert zu haben." Dann setzte sie hinzu: „ich breche noch nicht auf, wir werden uns diesen Abend wieder sehen." Ich bin schr genau mit der polnischen Familie bekannt, aus welcher die Dame stammt, die sie am meisten liebt. Die Baronin "", geb. Grasin "", die in Preußen mit der Tochter des Königs erzogen wurde, folgte der Prinzessin nach Rußland und hat sie nie verlassen. Sie vcchcirathete sich in Petersburg und hat keinen andern Stand als den der Freundin der Kaiserin. Eine solche treue Freundschaft ehrt beide. Die Baronin "" hat gewiß gcgen o«n Kaiser und die Kaiserin vorthcilhaft von mir gesprochen und meine natürliche Schüchternheit, eine um so feinere Schmeichelei, da sic eine ganz unwillkürliche ist, das Uebrige gethan. Bevor ich den Eouper-Eaal verließ, um mich in die Ball-Galerie zu begeben, trat ich noch einmal an ein Fenster. Dies ging in den Binnenhof des Palastes und ich hatte da einen ganz andern, aber eben so unerwarteten, eben so überraschenden Anblick als die Erscheinung der Moc' 282 genröche an dem schönen Himmel Petersburgs. Dies« Hof des Winterpal^stes ist viersritig wie jener des Louure. Wäh' rend des Balles hatte sich dieser Naum allmalig mit Menschen gefüllt; die Morgendämmerung wurde heller und heller und der Tag brach an. Vci dem Anblicke dieser vor Bewunderung stummen Menge, dieses unbeweglichen, schweigenden, durch den Glanz des Palastes seines Gebieters gleichsam bezauberten Voltes, das mit scheuer Ehrfurcht, mit einer gewissen thierischen Freude .die Düfte von dem kaiserlichen Vankct in sich sog, empfand ich ein gewisses angenehmes Gefühl, denn ich hatte endlich eine Volksmenge in Rußland gefunden; ich sah da unten nichts als Menschen; kein Zoll breit Vooen war zu erkennen, so dicht standen die Leute gedrängt. Trotzdem kommen mir in den des-potischen Ländern alle Vergnügungen des Volkes, wenn sie mit denen des Fürsten concurriren, verdachtig vor; die Furcht und die Schmeichelei der Kleinen, der Stolz und der heuchlerische Edclnntth der Großen sind die einzigen Gefühle, welche ich bei den Menschen, die unter der russischen Autocratic lrbcn, für wirklich bestehend halte. Ich kann bei den Festen in Petersburg die Reise der Kaiserin Katharina in die Krim und die Dörserfa^aden nicht vergessen, die in gewissen Entfernungen von bemalten Bre-tern und Leinwand eine Viertelstunde von der Straße aufgestellt wurden, um die triumphirende Fürstin glauben zu lassen, die Einöde sei unter ihrer Regierung bevölkert worden. Solche Gcdanken beschäftigen die russischen Geister noch; jeder verhüllt das Schlechte und stellt das Gute vor die Augen des Gebieters. Es ist eine permanente Beschwörung von Lächeln, eine Verschwörung gegen die Wahrheit, um den zufrieden zu stellen, der nach der angenommenen Meinung das Wohl Aller will und schafft. Der Kaiser ist 283 eigentlich der einzige Mensch im Reiche, der wirklich lebt; denn cfsen heißt noch nicht leben. Man muß indeß gestehen, daß das Volk beinahe freiwillig dablieö; ich bemerkte keinen Zwang, der es unter die Fenster des Kaisers trieb, damit es sich da zu freuen scheine; es freute sich also, aber nur über das Vergnügen der Großen, es freute sich „sehr traurig", wie Froissart sagt. Der Kopfputz dcr Frauen, die schönen Tuchgewander und die hellen wollenen oder seidenen Gürtel der russisch, d. h. persisch gekleideten Manner, die Mannichfaltigkeit der Farben, die Unbeweglichkeit dcr Personen gaben dem Ganzen das Aussehen eines großen türkischen Teppichs, der auf Befehl des Zauberers, der hier alle Wunder wirkt, von einem Ende des Hofes bis zum andern ausgebreitet worden. Ein Parterre von Köpfen war der schönste Schmuck des Palaste« des Kaisers in der Hochzeitsnacht seiner Tochter. Er dachte darüber wie ich, denn er machte wohlgefällig die Fremden auf diese stille Volksmenge aufmerksam, die blos durch ihre Anwesenheit ihre Theilnahme an dem Glücke der Gebieter zeigte. Es war der Schatten eines Volkes auf den Knieen vor unsichtbaren Göttcrn. Die Majestäten sind die Gottheiten dieses Elysiums, dessen Bewohner sich cin bewunderndes Glück schaffen, welches nur aus Entbehrungen und Opfern besteht. Ich bemerke, daß ich hier spreche wie die Nadicalen in Paris, aber obgleich Democrat in Rußland, bin ich doch nichtsdestoweniger in Frankreich entschiedener Aristocrat; ist doch ein Bauer aus der Gegend von Paris, ein kleiner Bürger bei uns viel freier als ein Großer in Rußland. Man muß reisen, um zu erfahren, in welchem Maße das menschliche Herz optischen Tauschungen ausgesetzt ist. Diese Erfahrung bestätigt die Bemerkung dcr Frau von Sta^l, 284 welche sagte, man sei in Frankreich immer der Iacobiner oder der Ultra Jemandes. Ich kam in meine Wohnung zurück betäubt von der Größe und Pracht des Kaisers, mehr aber noch erstaunt über die uneigennützige Bewunderung des Volkes für die Güter, die cs nicht hat, die es nie erhalten wird und die es nicht einmal zu wünschen wagt. Wenn ich nicht alle Tage sähe, wie viele selbstsüchtige Ehrgeizige die Freiheit erzeugt, würde ich schwerlich glauben, daß der Despotismus so viele uneigennützige Philosophen schaffen könnte. Zwölfter Brief.") Petersburg, den 19. Juli 1839. Söerden Sie es glauben? Ich babe Ihren Brief vom 1. Juli schon uor fünf Tagen erhalten und doch noch keine Zeit gehabt, Ihnen zu antworten. Ich hatte nur die Nacht dazu verwenden können, aber dei der tödtlichen Hitze Lapplands, die uns niederdrückt, dürfte es gefährlich sein nicht zu schlafen. Man muß Ruffe und selbst Kaiser sein, um den Strapazen des Lebens in Petersburg in dem jetzigen Augenblicke °) Dieser nachstehende Brief wurde durch eine sichere Person von Petersburg nach Paris mitgenommen, und der Freund, an den er gerichtet war, bewahrte ihn auf wegen einiger Details, die ihm merkwürdig erschienen. Dcr Ton ist lobpreisender dann als in den Briefen, die ich behült, weil cine zu große Aufrichtigkeit in einem gewissen FaUe die gefällige Person hättc compromittiren tön-ncn, welche den Wrivf mitnahm. Ich sah mich also genöthigt, in diesem Briefe, abcr nur in diesem, das Gute stärker herauszuheben und übcr das Schlechte leicht hinzugehen; ich gestehe dies, weil die geringste Verheimlichung ein Fehler in einem Werke sein würde, dessen Werth einzig und allein in der gewissenhaften Aufrichtigkeit des Verf. liegt. Ich bitte deshalb diesen Brief mit größerer Vorsicht zu lesen als die übrigen, und namentlich die Noten nicht zu übersehen. 286____ zu widerstehen: Abends Feste, wie man sic nur in Rußland sieht, früh Gratulationen am Hofe, Ceremonien, Empfang oder öffentliche Festlichkeiten, Paraden zu Waffer und zu Lande, ein Kriegsschiff von 1^0 Kanonen, das vor dem Hofe lind der ganzen Stadt vom Stapel in die Newa gelassen wuroe, — das nimmt meine Kräfte in Anspruch und beschäftigt meine Neugicroe. Bei so ausgefüllten Tagen wird das Bricfschreiben unmöglich. Wenn ich sage, die Stadt und der Hof waren versammelt gewesen, um ein Schiff vom Stapel lassen zu sehen, das größte, welches die Newa je getragen, so glauben Sie nicht etwa, daß eine Volksmenge da versammelt gewesen ware, den Russen fehlt es an nichts weniger als anNaum; die vier- bis fünfmalhunderttausend Menschen, welche Petersburg bewohnen, ohne es zu bevölkern, verlieren sich in dem unermeßlichen Umfange dieser Stadt, deren Herz von Granit und Erz, deren Leid von Gips und Mörtel ist, deren Glieder aber von angestrichenem Holze und von verfaulten Brctern sind. Diese Breter stehen da als Mauern um einen öden Sumpf herum.") Diese Stadt von fabelhafter Pracht, ein Coloß mit thönernen Füßen, gleicht keiner andern Hauptstadt der civilisirten Welt, obgleich man bei dem Baue derselben alle copirt hat; wenn aber auch der Mensch seine Vorbilder am Ende der Welt sucht, der Boden und das (5lima sind seine Gebieter und zwingen ihn, Neues zu schassen, selbst wenn er nur das Alte nachahmen wollte. Ich sah den Wiener Congreß, erinncre mich aber keiner Versammlung, die in ') Die Kai's an der Newa sind von Granit, dle Kuppel der St. Isaakslivche ist von Kupfer, der Wmtcrpalast und die Alexan-dcrsäulc von schönem Sttin, Marmor und Granit, und die Statue Peters I. von Erz. 287 Reichthum an Juwelen und Anzügen, in der Mannichfaltig-keit und Pracht dcr Uniformen und in der Großartigkeit des Ganzen sich mit dem Feste vergleichen ließe, welcheö der Kaiser am Hochzeittage seiner Tochter in dem Winterpalaste gab, der vor einem Jahre niedergebrannt war und auf das Gebot eines einzigen Mannes aus der Asche emporstieg. Peter der Große ist nicht todt. Seine geistige Kraft lebt und wirkt noch immer. Nicolaus ist der einzige russische Herrscher, den Nußland seit der Gründung der Hauptstadt gehabt hat. Gegen das Ende der Soiree, welche dem Hofe zur Feier der Hochzeit der Großfürstin Marie gegeben wurde, stand ich, meiner Gewchnheit g^maß, bei Seite, und die Kaiserin ließ mich eine Viertelstunde lang durch dienstthuende Offnere suchen, die mich nicht fanden. Ich betrachtete die Schönbeit des Himmels und bewunderte die Nacht in dem Fenster, wo die Kaiserin mich verlassen hatte. Ich hatte diescn Platz nur einen Augenblick verlassen, um II. Majestäten vorübergehen zu sehen; da sie mich aber nicht bemerkt hatten, kehrte ich an das Fenster zurück, wo ich mit Muße das poetische Schauspiel des Sonnenaufgangs über einer großen Stadt wahrend cineS Hofballes betrachtete. Die Of-siciere, die mich suchten, bemerkten mich endlich in meinem Verstecke und geleiteten mich zu der Kaiserin, die auf mich wartete. Sie hatte die Güte, vor dem ganzen Hofe zu mir zu sagen: „Herr v. Custine, ich frage schon lange nach Ihnen; warum fliehen Sie mich?" „Ich habe mich zweimal in die Nahe Ew. Maj. gestellt, aber Sie sahen mich nicht." „Das ist Ihre Schuld, denn ich habe Sie gesucht, seit ich wieder in den Vallsaal getreten bin. Ich wünsche, baß Eie Alles hier im Einzelnen sehen, damit Sie eine Meinung 288 von Rußland zurückbringen, welche die der Thoren und Böswilligen berichtige." „Ich bin weit entfernt, mir diese Macht zuzuschreiben; Wenn aber das, was ich fühle, mitzutheilen wäre, würde bald ganz Frankreich Nußland für ein Feenland halten." „Sie dürfen sich nicht an den äußern Schein halten, sondern müssen die Sachen beurtheilen, wie sie eigentlich sind, da Sie Alles besitzen, was dazu gehört. Leben Sie wohl; ich wollte Ihnen nur gute Nacht sagen; die Warme belästigt nuch. Vergessen Sie nicht, sich nieine neuen Gemacher zeigen zu lassen; sie sind nach den Angaben des Kaisers wiederhergestellt worden. Ich werde Befehl ertheilen, Ihnen Alles zu zeigen." Als sie sich entfernt hatte, war ich der Gegenstand der allgemeinen Neugierde und des scheinbaren Wohlwollens aller Anwejenden. Dieses Hoflcben ist für mich so neu. daß es mich unterhalt; es ist eine Reise in die alte Zcit; ich bilde mir ein, um ein Jahrhundert zurück versetzt und in Versailles zu sein. Die Artigkeit und die Pracht sind hier das Natürliche und Sie erkennen daraus, wie weit Petersburg von unserem jetzigen Paris entfernt ist. Es giebt in Paris Luxus, Reich-thum, selbst Eleganz aber nichts Großes, keine Artigkeit mehr. Seit der ersten Revolution bewohnen wir ein erobertes Land, wo sich die Beraubten und die Rauber untergebracht haben, wie es eben gehen wollte. Um artig zu sein, muß man etwas zu geben haben; die Artigkeit ist oie Klinst, Andern die Ehre der Vorzüge zu gcbcn, die man besitzt, seines Geistes, seines Reichthums, seines Ranges, seines Ansehens u. s. w.; artig sein, heißt mit Anmuth etwas bieten und annehmen können; wenn aber Niemand etwas sicher besitzt, kann Niemand etwas geben. In Frankreich wird jetzt nichts 289 freiwillig ausgetauscht, sondern Alles dem Eigennutz, dem Ehrgeize oder der Furcht entrissen. Selbst die Conversation schweigt, sobald sie nicht durch eine geheime Berechnung angeregt wird. Der Geist hat keinen andern Werth als den Vortheil, den man daraus ziehen kann. Die Sicherheit der Zustande ist die erste Grundlage der Artigkeit und Urbanität in dem gesellschaftlichen Verkehr und die Quelle der Geist- und Witzfunken in der Conversation. Wir hatten von dem Hofballe kaum ausgeruht, als wir uns gestern zu einem andern Feste in dem Palaste Michael bei der Großfürstin Helene, dcr Schwagerin des Kaisers, Gemahlin des Großfürsten Michael und Tochter Pauls von Würtemberg zusammenfanden. Sie gilt für eine der ausgezeichnetsten Personen in Europa und ihre Conversation ist äußerst interessant. Ich hatte die Ehre, ihr vor dem Valle vorgestellt zu werden. Im ersten Augenblicke sagle sie kein Wort zu mir, im Verlaufe des Abends gab sie mir aber mehrmals Gelegenheit mit ihr zu sprechen. Ich habe von ihren anmuthigen Worten ungefähr Folgendes behalten-„Man hat mir gesagt, Sie hatten in Paris und auf dem Lande eine sehr angenehme Gesellschaft." „Ja, Madame, ich liebe die geistreichen Leute und die Unterhaltung mit ihnen ist mein größtes Vergnügen, ich war aber weit entfernt zu glauben, daß Ew. Kais. Hoheit so genau unterrichtet waren." „Wir kennen Paris und wissen, daß es wenige Personen dort giebt, welche die ichige Zeit recht verstehen und die Erinnerung an die vergangene bewahren. Ohne Zwei: sel findet man bei Ihnen solche Personen. Wir lieben ihrer. Werke wegen mehrere, mit denen sie gewöhnlich umgehen, besonders Madame Gay und deren Tochter, die Frau von Girardin." I 19 290 „Diese Damm sind sehr geistreich und ausgezeichnet und ich habe das Glück, ihr Freund zu sein." „Sie haben da sehr überlegene geistreiche Personen zu Freunden." Nichts ist so selten, als sich genöthiget zu sehen, im Namen Anderer bescheiden zu sein; dennoch fühlte ich in diesem Augenblicke etwas d.'r Art. Sie werden entgegnen, diese Bescheidenheit sei die leichteste, aber, lachen Sie ft viel Sie wollen, es ist nicht weniger wahr, daß ich einen Verstoß gegen das Zartgefühl zu begehen geglaubt haben würde, wenn ich meine Freunde so ohne weiteres einer Bewunderung überlassen hätte, die mir zu Gute gekommen sein würde. In Paris würde ich meine Meinung gerade heraus gesagt haben, in Petersburg fürchtete ich, mich zu sehr hervorzuheben, wenn ich Andern vollkommen Gerechtigkeit widerfahren ließ. Die Großfürstin fuhr fort- „Wir lesen die Bücher der Madame Gay mit großem Vergnügen; was halten Sie davon?" „Man findet meiner Meinung nach darin die sonstige Gesellschaft von einer Person geschildert, die sie versteht." „Warum schreibt die Frau von Girardin nicht mehr?" „Die Frau von Girardin ist Dichterin, und für den Dichter heißt schweigen arbeiten." „Ich hoffe, daß dies die Ursache ihres Schweigens ist, denn bei ihrem Veobachtungsgeiste und ihrem schönen poetischen Talente ware es schade, wenn sie nur noch ephemere Werke schreiben wollte." Ich mußte mir bei diesem Gespräche das Gesetz auflegen, nur zuzuhören und zu antworten, abcr ich wartete, daß auch andere Namen, welche die Großfürstin genannt hatte, meinem patriotischen Stolze schmeicheln und meine Freundschaft auf die Probe stellen würden. Diese Erwartung wurde 291 aber getauscht; die Großfürstin, welche in dem Lande lebt, wo man vor Allem den Tact zu schätzen weiß, wußte ohne Zweifel besser als ich, was sich sagen laßt, und worüber man schweigen muß. Sie fürchtete die Bedeutsamkeit meiner Worte und meines Schweigens und sprach kein Wort mehr über unsere jetzige Literatur. Manche Namen würden schon durch ihren Klang die Seelenruhe und Gedankengleichsörmigkeit stören, welche Allem, was am russischen Hofe leben will, despotisch auferlegt sind. Lesen Sie dies den Damen Gay und Girardin vor; ich habe weder die Kraft, diese Erzählung in einem andern Briefe zu wiederholen, noch materiell Zeit an Jemanden zu schreiben. Ich will ein für allemal die zauberischen Feste beschreiben, denen ich jeden Abmd beiwohne. Vei uns werden die Balle durch die traurige Kleidung der Manner verunziert, wahrend die verschiedenartigen und glänzenden Uniformen der russischen Ossiciere den Salons in Petersburg einen eigenthümlichen Glanz geben. In Rußland paßt die Pracht des Frauenschmuckes zu dem Golde der Militairtrachten und die Tanzer sehm nicht neben ihren Tanzerinnen wie Apochekcrlehllinge oder Schreiber aus. Die äußere Facade des Palastes Michael, nach dem Garten zu, ist der ganzen Lange nach mit einem italienischen Porticus verziert. Gestern hatte mnn eine Warme von 2> Grad benutzt, um die Zwischcnraume dieser Außengalerie durch Lampengruppen von originellem Effect zu beleuchten. Diese Lampchen waren von Papier und hatten die Gestalt von Tulpen, Lyras und Vasen. Es war elegant und neu. ^ Bei jedem Feste, welches die Großfürstin Helene giebt, ersinnt sie, wie man mir sagt, etwas bis dahin Unbekanntes. Die-ser Ruf muß ihr beschwerlich werden, da cr nur mit Mühe 10" 292 aufrecht zu erhalten ist. Deshalb kam mir denn auch diese so schöne, so geistreiche Fürstin, welche durch ihr anmuthiges Benehmen und ihre interessante Konversation in Europa berühmt ist, nicht so natürlich, vielmehr gezwungener vor als die andern Damen der kaiserlichen Familie. Der Ruf einer .schöngeistigen Frau ist an einem Hofe eine schwere Last. Dic Großfürstin ist eine elegante, ausgezeichnete Dame, scheint sich aber zu langweilen; vielleicht ware sie glücklicher gewesen, wenn sie in einem kleinern einförmigen Kreise geblieben und minder geistreich ware. Die Obliegenheit, am Hofe des Kaisers Nicolaus die Honneurs der französischen Literatur zu machen, erschreckt mich im Namen dcr Großfürstin Helene. Das Licht der Lampchcngruppen wurde malerisch auf die Säulen des Palastes und selbst auf die Lauben des Gartens geworfen, der von Menschen gefüllt war. Bei den Festen in Petersburg dient das Volk als Zierart, wie eine Sammlung seltsamer Pflanzen ein Gewächshaus schmückt. In den Dickichten spielten mehrere Orchester Militai>Sym-phonien. Baumgruppcn, die durch bedeckte Feuer beleuchtet wurden, machten einen reizenden Effect, denn es kann nichts Phantastischeres geben als hell erleuchtetes Grün in einer schönen Nacht. Gestern war es beinahe eine Stunde lang fast ganz Nacht, nämlich von halb zwölf bis halb ein Uhr. Die große Galerie, wo man tanzte, war mit bewundernswürdigem Luxus geschmückt; fünfzehnhundert Kasten und Töpfe mit den seltensten Blumen bildeten ein duftiges Bosket. An dem einen Ende des Saales, im dichtesten Gebüsch exotischer Pflanzen sah man ein Becken frischen klaren Waffers mit einem Springbrunnen. Dieser von Kerzcnbün-deln beleuchtete Wasserstrahl glänzte wie Diamantenstaub und kühlte die Luft ab, die fortwährend durch ungeheure regenfeuchte Palmenblatter und von Thau funkelnde Bananen bc- 293 wegt wurde. Es war, als wüchsen alle »diese auslandischen Gewächse, deren Wurzeln unter einem Teppich von Grün versteckt waren, hier in ihrem natürlichen Boden und als wandelten die Tänzer und Tänzerinnen des Nordens durch Zauberkraft in cinem tropischen Walde. Man glaubte zu träumen. Es war nicht blos Luxus, cs war auch Poesie. Der Glanz der zauberischen Halle wurde überdies durch eine Spie-gclmengc verhundertfacht, wie ich sie nirgends gesehen habe. Die Fenster, welche auf den erwähnten sinnreich beleuchteten Porticus gingen, standen wegen der außerordentlichen Warme dieser Sommernacht offen, aber außer denen, nxlche als Ausgänge dienten, waren die Vertiefungen aller durch sehr große vergoldete Spiegelschirme aus einem Stücke verdeckt, deren unterer Theil unter Blumenkörbchen verschwand. Die Größe dieser in Goldrahmen gefaßten Spiegel, in denen zahllost Kerzen sich wiederholten, kam mir wahrhaft wunderbar vor. Man hatte sie für Pforten von Fcenpalästen halten können. Diese Spiegel paßten vollkommen in die Fensterbrüstungen, die sie verdecken sollten, es waren in Gold gefaßte Diamant-Vorhange. Die Galerie ist sehr hoch und die Fenster sind deshalb außerordentlich groß. Die Spiegel füllten die Oeff-nungcn aus, obne jedoch die Luft ganz auszuschließen, denn zwischen den Spiegeln und den offenen Fenstern hatte man einen Naum von mehreren Zollen freigelassen, den man nicht sah, der aber zur Abkühlung der Luft hinreichte. An der entgegengesetzten Wandfläche hatte man ebenfalls Spiegel in goldenen Nahmen von gleicher Größe wie die an den Fenstern angebracht. Der Saal nimmt die Hälfte der Länge des Palastes ein. Sie können sich also eine Vorstellung von dieser Pracht machen. Man wußte nicht, wo man war; die Grenzen waren verschwunden; Alles wurde Raum, Licht, Gold, Blumen, Reflex, Täuschung; die Bewegung der Menge und 19°" 294 die Menge selbst vervielfältigten sich m's Unendliche. Jede Person war so gut wie hundm. Dieser Palast ist für ein Fest wie geschaffen; es war mir, als müsse der Saal nach dem Balle mit den Tanzern verschwinden. Ich habe niemals etwas Schöneres gesehen, aber der Ball selbst glich andern Ballen und entsprach dem außerordentlichen Schmucke des Gebäudes nicht. Ich wunderte mich, daß dieses Volk von Tanzenden nicht cnvas Neues erdenke für eine Vühne, die so ganz anders ist als die Oerter, wo man sonst zu tanzen und unlcr dem Vorwande, sich zu vergnügen, sich zu langweiligen pflegt. Ich hatte da Quadrillen, Ueberraschungen, Erscheinungen, Vallets, bewegliche Theater sehen mögen. Im Mittelalter hatte, meiner Meinung nach, die Phantasie größcrn Antheil an Hoffestcn, Ich habe in dem Palaste Michael nichts als Polonaisen, Walzer und jene ausgearteten (5ontretanze tanzen sehen, welche man in dem Nussisch-Französisch Quadrillen ncnut; selbst die Masur-kas, die man in Petersburg tanzt, sind minder lustig, minder graziös als die achten Tanze Warschaus. Die russische Gravität kann sich zu der Lebhaftigkeit, zu der Ausgelassenheit der acht polnischen Tanze nicht bequemen. Nach jeder Polonaise nchete die Kaiserin unter dem duf-tigcn Schatten dieser Galerie, aus, die ich beschrieben habe; sie fand da Schutz gegen die Wärme des illuminirten Gartens, in dem die Lust in dieser Gewitternacht so heiß war wie in dem Paläste selbst. Ich hatte bei diesem Feste Muße, die beiden Länder zu vergleichen, und meine Beobachtungen sielen nicht zum Vortheile Frankreichs aus. Die Demokratie muß der Ordnung einer großen Versammlung schaden: das Fest in dem Palaste Michael wurde durch alle Huldigungen und Aufmerksamkeiten verschönert, deren Gegenstand die Herrscherin war. Die eleganten Vergnügen muffen eine Königin haben, aber die Gleich- 295 hm hat freilich auch so viele andere Vorzüge, daß man ihr wohl den Lurus der Vergnügungen zum Opfer bringen kann. Das thun wir in Frankreich mit verdienstlicher Uneigennützig-keit-, ich fürchte nur, daß unsere Nachkommen andercr Meinung geworden, wenn die Zeit gekommen ist, die Vervollkommnungen zu genießen, die ihnen die zu cdel gesinnten Vorfahren bereitet haben. Wcr weiß, ob nicht jene Generationen bann sagen, wenn sie von uns sprechen: „sie waren, durch eine falsche Veredtsamkeit verführt, f.inatisch, ohne recht zu wissen wofür, und h^oen uns nur elend gemacht." Wie es aber auch mit dieser amerikanischen Zukunft stehen mag, die man Europa verheißt, ich werde nicht im Stande sein, Sie das Fest in dem Palaste Michacl hinreichend bewundern zu lassen. Bewundern Sie, soweit Sie es im Stande sind, was ich Ihnen beschrieben und was ich Ihnen nicht schildern kann. Vor dem Souper winkte mich die Kaiserin, die unter den erotischen Pflanzen saß, in ihre Nahe-, kaum hatte ich gehorcht, so erschien auch der Kaiser bei dem Bassin, dessen Wasserstrahl uns mir seinen Diamanten beleuchtete und zugleich abkühlte. Er nahm mich an der Hand, um mich einige Schritte von dem Sessel seiner Gemahlin zu führen, und hier sprach er wohl eine Viectelstunde lang über interessante Gegenstande mit mir. Er spricht nicht wie andere Fürsten, nur damit man sehe, daß er spricht. Anfangs sagte er einige Worte über die schöne Anordnung des Festes und ich antwortete ihm, daß ich mich wundere, wie er bei seinem so thätigen Leben für Alles Zeit sinde, Zeit sogar, um die Vergnügungen der Menge zu theilen. „Glücklicherweise," entgcgnete er, „ist die Venvaltungs-maschim in meinem Lande sehr einfach, denn bei den großen Entfernungen, die AllcS erschweren, würde für eine complicirte Regievungsfonn der Kops eines Einzigen nicht hinreichen." 296 Dicser Ton der Offenheit überraschte mich und schmeichelte mir, der Kaiser aber, der besser als irgend Jemand versteht, was man ihm nicht sagt, fuhr als Antwort auf meine Gedanken fort: „ich spreche so mit Ihnen, weil ich weiß, daß Sie mich verstehen können; wir setzen das Werk Peters des Großen fort." „Er ist nicht gestorben. Sire, sein Gelst und sein Wille beherrschen Rußland noch." Wenn man öffentlich mit dem Kaiser spricht, bildet sich ein großer Kreis von Höflingen in ehrerbietiger Ferne. Es kann deshalb Niemand hören, was der Gebieter sagt, auf den jedoch Aller Blicke gerichtet sind. Nicht durch den Kaiser kommt man in Verlegenheit, wenn er mit Einem spricht, sondern durch das Gefolge desselben. Der Kaiser fuhr fort: „Dieser Wille ist nur sehr schwer zur Ausführung zu bringen; die Unterwürfigkeit veranlaßt Sie, an Gleichförmigkeit bei uns zu glauben; Sie irren sich; in keinem Lande giebt es eine solche Verschiedenartigkei't in Volks: stammen, Sitten, Religion und Geist als in Rußland. Die Verschiedenartigst bleibt unten, die Gleichförmigkeit zeigt sich an der Oberfläche und die Einheit ist nur scheinbar. Sie sehen da in unserer Nahe zwanzig Officiere; nur die beiden ersten sind Russen, die drei andern sind versöhnte Polen, ein Theil der andern Deutsche; selbst Kirgijen-Khane bringen mir ihre Söhne, damit ich sie unter meinen Eadets erzic-hm lasse; da ist einer," sagte er, indem er mit dem Finger auf einen kleinen chinesischen Assen in seltsamem ganz mit Gold bedeckten Sammetanzuge zeigte. Dieser Sohn Asiens trug eine hohe gerade spitze Mütze mit großen umgeschlagenen runden Rändern. „Dort werden zwcimalhunderttausend Kinder auf nm'ue Kosten mit diesem Kinde erzogen und unterrichtet." 297 „Alles geschieht in Rußland im Großen, Sire; Alles ist hier colossal." „Für einen Menschen zu colossal." „Welcher Mensch hätte je seinem Volke näher gestanden?" „Sie meinen Peter den Großen?" „Nein." „Ich hoffe, daß Sie sich nicht darauf beschränken werden, Petersburg zu sehen. Welchen Reiseplan haben Siei" „Ich wünsche gleich nach dem Feste in Peterhof abzureisen." „Wohin?" „Nach Moskau und Nischnei." „Das ist gut, aber Sie eilen zu sehr; Sie werden Moskau vor meiner Ankunft verlassen haben und ich hätte Sie gern dort gesehen." „Diese Bemerkung Ew. Maj. wird mich bestimmen, meinen Plan zu ändern." „Desto besser; wir werden Ihnen die neuen Arbeiten zeigen, die wir im Kreml vornehmen. Ich habe die Absicht, diese alten Gebäude dem Gebrauche, den man jetzt davon macht, mehr anzupassen; der Palast ist zu klcin und wurde unbequem für mich. Sie werden auch einer interessanten Ceremonie in der Ebene von Borodino beiwohnen: ich lasse da den erstm Sccin eines Denkmals zur Erinnerung an jene Schlacht legen." Ich schwieg und der Ausdruck meincs Gesichts wurde ohne Zweifel ernst. Der Kaiser heftete die Augen auf mich, dann fuhr er in sehr freundlichem Tone fort" „wenigstens wird Sie das Schauspiel der Manöver inccressiren." „Eire, in Nußland mteressirt mich Alles." 298 Ich sah den alten Marquis D..., dcr nur ein Vein hat, die Polonaise mit der Kaiserin tanzen; so verstümmelt er auch ist, so kann cr doch diesen Tanz gehen, der nur eine feierliche Prozession ist. Er kam mit seinen Söhnen hierher; sie reisten wirklich als große Herren; ihre eigene Vacht hat Ne von London nach Petersburg gebracht, wohin sie sich englische Pferde und englische Wagen in großer Anzahl senden ließen, Ihre Equipagen sind die elegantesten, wenn nicht die reichsten in Petersburg. Man behandelt diese Reisenden mit ausgezeichnetem Wohlwollen; sie leben auf vertrautem Fuße mit der kaiserlichen Familie; die Iagdlust und die Neiseerinnerun-gen des Kaistrs an London, als er noch Großfürst war, haben jene Vertraulichkeit zwischen ihm und dem Marquis D. herbeigeführt, welche meiner Meinung nach dem Fürsten angenehmer ftin muß als den Privatpersonen, die der Gegenstand einer solchen Gunst sind. No die Freundschaft unmöglich ist, scheint mir die Vertraulichkeit lastig zu sein. Wenn man sieht, wie die Söhne des Marquis sich bisweilen gegen die Personen der kaiserlichen Familien benehmen, könnte man wohl behaupten, sie dachten darüber wie ich. Wohin soll sich das Lob und mit ihm die Artigkeit stückten, wenn sogar die Leute vom Hofe offenherzig zu werden anfangen?") °) Einige Tage nach der Absenkung dieses Briefes kam am Hose eine kleine Scene vor, welche das Benehmen der jungen Herren, die jetzt die modischesten in England sind, in's Licht stellen wird; sie haben den unartigsten Pariser Stutzern nichts vorzuwerfen, sie um nichts zu beneiden. Welcher Abstand von dieser brutalen Eleganz zu der Artigkeit eines Buckingham, Lauzun, Richelieu! Die Kaiserin wollte dieser Familie, welche Petersburg bald zu verlassende? dachte, einen Ball geben. Sie lud zuerst selbst den Vater tin, der mit seinem hölzernen Beine ft gut tanzt. „Madame," antwortete der alte Marquis, „man hat mich in Petersburg überschüttet, 299 Sie können sich keine Vorstellung von dem ruhelosen Leben machen, das wir hier führen; schon das Ansehen so großer Vewegung würde für mich eine Anstrengung sein. Der junge "" ist in Petersburg; wir begegnen uns überall und mit Vergnügen; er ist der Typus der jetzigen Fran« zosen, aber wirklich gut erzogen. Er scheint von Allem entzückt zu sein und diese Zufriedenheit ist so natürlich, daß sie auch auf Andere übergeht, deshalb glaube ich, der junge Mann gefallt so, wi? er gefallen will; er reiset zweckmäßig, besitzt Kenntnisse und sammelt viel Thatsachen, die er aber mehr zusammen zählt als classificirt, denn in seinem Alter zablt man mehr als man beobachtet. Er ist sehr stark in Iahrzahlen, Maßen, Zahlen und einigen anderen positiven Daten, und deshalb interesst'rt und belehrt mich das Gesprach mit ihm. Aber wie anders ist die Konversation unseres Gesandten! Wie viel zu viel Geist für die Geschäfte, und wie sehr würde die Lite: aber so viele Vergnügungen übersteigen meine Kräfte-, ich hoffe, Ew. Maj. werden mir erlauben, noch diesen Abend mich zu beurlauben und mich morgen früh auf meine Vacht zu begeben, um nach England zurückzukehren; ich sterbe sonst vor Freude in Nußland." — „Nun wohl, so gebe ich Sie auf," sprach die Kaiserin zufriedengestellt durch diese artige Antwort, welche drrZnt würdig war, in welcher der alte Lord in die Welt eintrat; dann wendete sie sich an dic Söhne des Marquis, die noch länger in Petersburg bleiben sollten. „Ich rechne wenigstens auf Sie," sagte sie zu dem Acltcstcn. — „Madame," antwortete dieser, „wir haben an diesem Tage eine Nennthierjagdpavthi'." Die Kaiserin, die man stolz mnnt, verlor den Muth nicht, wendete sich cm den Jüngsten und sagte: „So werdcn Sie mir wenigstens bleiben." Der junge Mann, der keine Entschuldigung fand, wußte nicht, was er antworten sollte, rief aber in seinem Aergcr seinen Bruder und sagte ganz laut zu ihm: „ich also bin das Opfer?" Diese Anecdote hat dem Hofe viclcn Spaß gemacht. 300 ratur ihn vermissen, wenn nicht die Zeit die cr der Politik widmet, auch ein Studium wäre, das spater der Literatur zu Gute kommen wird. Niemals war ein Mann mehr an seiner Stelle und schien weniger mit seiner Rolle beschäftigt zu sein. Fähigkeit ohne Wichtigthuerei, das ist heut zusage, meiner Meinung nach, die Bedingung, unter welcher jeder Franzose, der sich mit Staatsangelegenheiten beschäftigt, auf Erfolg rechnen kann. Niemand h^t seit der Juli-Revolution das schwierige Amt eines französischen Gesandten in Petersburg so wohl ausgefüllt als der Herr von Varante. (Der Versasser fügt hier das vollständig Reglement der Hoffcstlichkeiten bei der Vermählung der Großfürstin Marie mit dem Herzoge von Leuchtenberg bei, da dies aber schwerlich Einen unserer Leser Intcressirt, so lassen wir cö weg. Der Ucbcrs.) Der Oberkammcrhcrr starb vor derVcrmählungsfeier und die Stelle wurde dem Grafen Golowkin, dem ehemaligen russischen Gesandten in Lhma, das er aber nicht betreten durfte, übertragen. Er übernahm sein Amt zuerst bei Diesen Festen und cr besitzt weniger Erfahrung als sein Vorgänger. Ein junger Kammerherr zog sich den Zorn des Kaisers zu und setzte den Oberkammcrherrn einem strengen Tadel aus. Es war bei dem Balle bcr Großfürstin Helene. Der Kaiser sprach mit dem österreichischen Gesandten und der junge Kammerherr erhielt von der Großfürstin Marie den Befehl, diesen Gesandten zum Tanze mit ihr aufzufordern. Der arme Teustl drängte sich in seinem Eifer durch den Kreis hindurch, den ich beschrieben habe, trat unerschrocken an den Kaiser hinan und sagte in Gegenwart Sr. Majestät zu dem österreichischen Gesandten: Herr Graf, die Frau Herzogin von Leuchtenberg bittet Sie, die erste Polonaise mit ihr zu tanzen." 301 Der Kaiser fühlte sich durch die Unwissenheit dcS neuen Kammerherrn verletzt und sagte sehr laut: „Sie sind zu Ihrem Amte ernannt worden, lernen Sie, was Sie in demselben zu thun haben. Erstlich heißt meine Tochter nicht Herzogin von Leuchtenberg, sondern die Großfürstin Marie"), mid dann müssen Sie wissen, daß man mich nicht unterbricht, wenn ich mit Jemandem spreche" ""). Der neue Kammerherr, der diesen strengen Tadel aus dem Munde des Gebieters selbst erhielt, war zum Unglück ein armer polnischer Edelmann. Der Kaiser begnügte sich abet mit diesen wenigen Worten nicht; er ließ den Oberkam« merherrn rufen und empfahl ihm, in Zukunft umsichtiger in seinen Wahlen zu sein. Dieser Auftritt erinnert an das, was hausig an dem Hofe des Kaisers Napoleon vorkam. Die Nüssen würden eine Vergangenheit von einigen Jahrhunderten theuer erkaufen. Ich verließ den Ball in dem Paläste Michael sehr zeitig. Vci dem Fortgehen blieb ich auf der Treppe stehen und ich wünschte, mich immer dort ausgehalten zu haben; es war ein Wald von blühenden Orangenbäumen. Ich habe nichts Prachtvolleres, nichts Geordneteres gesehen als dieses Fest, aber ich kenne auch nichts Ermüdenderes, als lange fortgesetzte Bewunderung, besonders wenn sie weder Naturerscheinungen, noch Kunstwerke betrifft. Ich verlasse Sie, um zum Diner bei einem russischen Ossicicr, dem jungen Grafen von .., zu gehen, der mich die- °) Sle hat diesen Titel auch nach ilirer Vermählung behalten. °°) Habe ich eS Ihnen nicht gesagt? Man verbringt an dle- fem Hofe sien Leben in Generalproben. Seit Peter I. vergißt ein Kaiser von Rußland nie, daß er selbst fein Vvlk Alles zu lehren hat. 302 sen Vormittag in das mineralogische Cabinet begleitete, das, wie ich glaube, das schönste in Europa ist, denn die Bergwerke im Ural sind unvergleichlich reich. Man kann hier nichts allein sehen, ein Einheimischer ist immer dabei, um die Honneurs zu machen und das Jahr hat wenige Tage, die der Vesichtiglmq dcr öffentlichen Anstalten günstig sind. Im Sommer übergipset man die Gebäude, die von dem Froste gelitten; im Winter geht man in Gesellschaften und tanzt, wenn man nicht erfriert. Sie werden glauben, ich übertreibe, wenn ich Ihnen sage, daß man Nußland in Petersburg nicht besser sieht als in Paris. Nehmen Sie dieser Bemerkung die paradoxe Form und Sie haben die reine Wahrheit. Es reicht nicht hin in dieses Land zu kommen, um es kennen zu lernen. Wird man nicht prodegirt, so erhält man von nichts eine Idee und durch tne Protection wird man tyrannisirt und auf falsche Gedanken gebracht. Druck von Hirschfeld in Leipzig.