^^ ^ ^ '"'."'M> N N ß l a H d im Iahrc 1839. Aus dcm Französischen des Marquis von Eustine, von Vr. A. Diezmann. Dritter Vand.5 « Zweite Aufl^c. V^^!^ (Mit den Zusähen der zweiten Auflage des OrM». ^ie Entzündung meines Auges hat sich vermindert und ich bin gestern ausgegangen, um in dem englischen Club zu speisen. Es ist dies eine Art Nestaurationssaal, in welchen man nur auf die Verwendung eines Mitgliedes der Gesellschaft zugelassen wird, die aus den angesehensten Personen der Stadt besteht. Diese ziemlich neue Einrichtung ist eine englische Nachahmung und ich werde bei einer andern Gelegenheit davon sprechen. In dem Zustande, in welchen das moderne Europa durch die Communicationserlcicl'ierung gebracht worden ist, weiß man nicht mehr, unter welche Nation man noch ursprüngliche Sitten und Gewohnheiten finden kann, welche der wahre Ausdruck der Characters sind. Die in der neuern Zeit bei jedem Volke angenommenen Gebräuche sind das Resultat einer Menge von Entlehnungen, und aus dicscm Aneinanderreihen aller Character«? in der Maschine der allgemeinen Civilisation folgt eine Monotonie und Gleichförmigkeit, welche das Vergnügen der Reisenden sehr schmälern', dennoch war die Reiselust niemals allgemeiner. Die meisten ^eute reisen freilich mehr aus Langeweile, als aus dem Dränge, sich neue Kenntnisse zu sammeln. Zu diesen Reisenden gehöre lch nicht-, ich bin neugierig, unermüdlich und erkenne ieden Tag zu meinem Bedauern, daß in der Welt nichts 1* ^__ seltener ist als - Verschiedenheit. Die Aehnlichkciten bringen dcn Reisenden zur Verzweiflung. Man reiset, um aus dem Kreise von Verhältnissen heraus-zukommen, in denen man bis dahin lebte, aber man kommt nicht heraus', die cwilisirte Welt Hot keim Grenzen; sie erstreckt sich über die ganze C'cdc. Das Menschengeschlecht verschmelzt sich, die Sprachen verschwinden, die Unterschiede der Nationen gleichen sich aus und die Philosophie macht die Religion zu einem innern Glauben. Wer kann sagen, wo und wann die Umwandlung des Menschengeschlechts enden, wann die neue Gesellschaft sich erheben werde? Man kann darin die Hand der Vorsehung nicht verkennen. Der Fluch von Babel nähert sich seinem Ende und die Nationen werden sich verstandigen trotz Allem, was sie getrennt hat. Ich begann heute meine Wanderung mit einer methodischen, in's Einzelne gehenden Besichtigung d»s Kreml unter der Leitung des Herrn —, dem ich empfohlen war. Nur der Kreml'. Er ist für mich ganz Moskau, ganz Rußland. Der Kreml ist eine Welt. Mein Lohnbedicnier hatte mich gleich früh bei dem Aufseher des Schlosses angemeldet und derselbe erwart.te mich. Ich glaubte einen gewöhnlichen Mann zu finden, wurde aber von einem gebildeten, sehr artigen Officer empfangen. Rußland ist mit Recht stolz auf den Schah im Kreml-, er könnce die Chronik dieses Bandes vertreten; er ist eine Geschichte in Edelsteinen wie das l^orum rmnlmuw eine Geschichte in dehauenen Steinen war. Die goldnen Gefäße, die Rüstungen, die alten Gerathe sind hier nicht blos da, um bewundert zu werden-, jcder dieser Gegenstande erinnert an ilgend eine glorreiche oder seltsame Thatsache, welche verdient, daß die Erinnerung daran erhalten werde. Ehe ich Ihnen aber die kostbaren Gegenstände dieses Arsenals beschreibe oder vfelmehr flüchtig andeute, welckcs seines Gleichen, wie ich glaube, in Europa nicht hat, begleiten Sie mich auf dem gangen Weqe, auf welchem man mich in dieses von den Russen verehrte und von den Fremden mit Recht bewunderte Heiligthum führte. Von der großen Dmytrisko'i' aus ging ich, wie am vorigen Tage, über mehrere Plähe, in welche bergige aber nach der Schnur gezogene Straßen münden. Als ich vor der Feste angekommen war, schritt ich unter cincin Gewölbe hm, zu dessen Bewunderung mein Lohnbcdienter mich nöthigte, indem er meinen Wagen anhalten ließ, ohne mich um Erlaubniß zu fragen; so anerkannt ist das Interesse, welches sich an diese Stelle knüpft. Dieses Gewölbe bildet den Untertheil eines Thurmes, der ein seltsames Aussel'en hat wie Alles in der Nähe des alten Stadtthlilcs von Moskau. Ich habe Eonstantinopel nicht gesehen, glaube aber, daß nach jener Stadt Moskau einen frappantem Anblick gewährt als alle andern Hauptstädte Europas. Es ist das Vy^an; des festen Landes. Die öffentlichen Plätze in der alten Hauptstadt sind Gott sei Dank! mcl>t so ungeheuer groß wi? in Petersburg, wo die St. Peterskirche in Rom sich verlieren würde. Die Gebäude nehmcn in Moskcm einen geringern Raum ein und machen deshalb mehr Effect. Der Despotismus der geraden Linien und symmetrischen Fla-clien sah sich durch die Geschichte und die Natur gehindert und Moskau ist vor Allem malerisch. Der Himmel nimmt hier, obne rein zu sein, eine silberne glänzende Farbe an; ohne Plan und Ordnung sind Proben jeder Bauart da aufgehäuft; kein Gebäude ist vollkommen; jedoch erregt das Ganze Erstaunen, wenn auch nicht Bewunderung. Die Unebcn-heiien des Bodens vervielfältigen die Ansichten. Die iiirchc» ____ft____ mit ihren Kuppeln, deren Zahl verschieden ist und oft die übersteigt, welche dm Baumeistern durch die Orthodoxie geboten ist, glänzen und funkeln in die Luft. Eine Menge goldener Pyramiden und minaretähnlicher Thürme ragen in den Himmel und blitzen in den Sonnenstrahlen; ein orientalischer Pavillon, eine indische Kuppel versetzen die Phantasie nach Delhi; ein runder Thurm erinnert an Europa zur Zeit der Kreuzzüge; die Schildwache, welche auf dem Wachthurme sieht, stellt dcn Muezzin dar, welcher die Gläubigen zum Gebete ruft, und um den Gedanken vollends zu verwirren, scheint das Kreuz, das überall glänzt und das Volk auffordert, sich vor den Worte nieder zu werfen, hier aus dem Himmel mitten unter die versammelten Völker Asiens zu fallen, um sie alle auf den Weg des Heils zu leiten. Vor diesem poetischen Bilde rief die Frau von Stal'l aus: Moskau ist das nordische Roml Dieser Ausspruch ist nicht richtig, denn es ließe sich in keiner .Hinsicht eine Parallele zwischen diesen beiden Städten ziehen. M>'n denkt an Ninive, an Palmyva, an Babylon, wenn man Moskau betritt, nicht an die Meisterwerke der Kunst i« dem lieidnischen oder christlichen Europa; auch die Geschichte und Religion dieses Landes lenken den Geist des Reisenden nicht nach Rom. Nom ist Moskau fremder als Pekin; aber die Frau von Stai'l dachte auch an etwas ganz anderes als an das Betrachten Nußlands, als sie durch dieses Land nach Schweden und England reisete, um den Feind jeder Gedankenfreiheit, Napoleon, mit dem Genie und mit Ideen zu bekämpfen. Sie wird sich mit einiqen Worten ihrer Aufgabe als Frau von seltenem Geiste erledigt haben, wann sie in ein neues Land kam. Die berühmten Personen, welche reisen, haben d,is Unglück, daß sie Worte und Aussprüche hinter sich hören müssen; spiechm _I— sie dieselben nicht selbst aus, so legt man sie ilMn m den Mund. Ich schenke nur den Schilderungen unbekannter Personen Vertrauen. Entgegnen Sie darauf, daß ich da für meine eigene Sache spreche, so habe ich nichts dagegen', ich benutze den Vortheil, ein unbekannter Mensch zu scin, um die Wahrheit ;u suchen und zu entdecken. Habe ich das Glück, nur bei Ihnen und einigen Wenigen, die Ihnen gleichen, Vorurtheile und vorgefaßte Meinungen zu berichtigen, so bin ich vollkommen zufrieden. Sie sehen, daß mein Ehrgeiz bescheiden ist, da ja nichts leichter ist, als die Irrthümer ausgezeichneter Menschen zu berichtigen. Wenn Einige den Despotismus nicht so hassen, wie ich, so weiden sie, denke ich, ihn trotz seinem Pomp, seiner Thaten wegen hassen, nachdem sie die wahrhaftige Schilderung gelesen haben, die ich Ihnen vorlege. Der massive Thurm, an defsVn Fuß mein Lohnbedienttr mich aussteigen ließ, rst malerisch durch zwei, Bogengange durchbrochen und trmnt die eigentlichen Mauern des Kremls von der Fortsctzung derselben, welche Kitaigerod, die Enidt der Kausseute, einen andern Theil des alten Moskau einfaßt, der durch die Mutter des Ezar Johann Wasilicwrtsch im Jahre 1534 angelegt wurde. Diese Iahrzahl erscheint uns neu, für Nußland, das jugendlichste Land Europas, ist sie alt. Das Kitaigorod, ein Anhängsel des Kremls, ist ein ungeheurer Vazar, «in Stadttheil, eine ganze Stadt mit düstern gewölbten Gasicbcn, dis wie unterirdische Gänge aussehen. Diele Qandelscatacomben sind nichts weniger als ein Gottesacker, sondern ein immerwährender Markt. Diese gewölbten 6'än^', ew Labyrinth von Galerien, glichen einigermaßen den Passagen in Paris, ob sie gwch minder elegant und 8 glanzend, dagegen weit dauerhafter sind. Diese Bauart ist durch die Bedürfnisse des Handels unter diesem (llima gerechtfertigt; im Norden helfen die bedeckten Straßen so viel als möglich dcn Unannehmlichkeiten und der Strenge des Climas ab. Warum also sind sie so selten? Die Käufer und Verkaufer finden da Schutz vor dem Winde, dem Schnee, der Kalte, und dem Wasser bei dem Aufthaucn. Dagegen sind die leichten offenen Colonnaden, die luftigen Portiken ein lächerlicher Widerspruch; die russischen Baumeister hatten die Maulwürfe und Ameisen, nicht die Griechen und Römer zum Muster nehmen sollen. Vei jedem Schritte stößt man in Moskau auf irgend eine von dem Volke verehrte Kapelle, die von Jedermann begrüßt wirb. Diese Kapellen oder Nischen enthalten gewöhnlich ein Bild der Jungfrau unter Glas mit einer ewig brennenden Lampe. Diese Hciligenschreine werben durch einen alten Soldaten bewacht. In Rußland dienen die Veteranen als Thürsieher der Großen und als Domestiken des lieben Gottes. Man findet siels einige am Eingänge der Wohnung reicher Leute, deren Vorzimmer siebewachen, und in den Kirchen, die sie auskehren. Das Leben eines allcn russischen Soldaten, dessen sich weder die Reichen noch die Geistlichen annahmen, würde ein sehr trauriges sein. Das geheime Mitleid ist dieser Regierung unbekannt, die, wenn sie Gutes thut, Paläste für die Kranken oder Kinder baut, und die Fanden dieser milden Stiftungen ziehen Aller Blicke an. Zwischen den zwei Bogengangen des Thurmes, an dem Pfeiler, der sie trennt, befmdtt sich die Jungfrau von Wiwielski, ein altes im griechischen Style gemaltes und in Moskau sehr verehrtes Vild. Ich bemerkte, daß alle Personen, die an dieser Kapelle vorüber gingen, Große, Bauern, vornehme Damen, Bürger und Soldaten, sich verbeugten und sich bekreuzigten; melnere begnügten sich mit dieser leichten Huldigung nicht und kliern überdies stehen; gut gekleidete Frauen warfen sich sogar vor der wunderthatigen Jungfrau nieder und berührten mit der Stirn demüthig das Straßenpsiaster. Männer, die nicht Bauern waren, knieten nieder und bekreuzigten sich bis ?,ur Ermattung. Diese frommen Handlungen geschehen auf offner Straße mit einer sorglosen Schnelligkeit, welche mehr von Gewohnheit als von Andacht zeigt. Mein Lohnbcdienter war ein Italiener und es kann nichts Komischeres geben, als die Vermengung von verschiedenen Vorurtheil',n in dem Kopfe dieses Fremden, der seit vielen Jahren in Moskau lebt. Nach seinen Iugendideen, die er aus Nom mitgebracht hat, möchte er an die Vermittelung der Heiligen und der Jungfrau glauben, und er hält, ohne sich in theologischen Spitzfindigkeiten zu verlieren, die Wunder der Reliquien und Bilder der griechischen Kirche für gut, da er nichts anderes hat. Dieser arme Katholik, der ein inniger Verehrer der Jungfrau von Wiwielski geworden ist, war mir ein Beweis von der Allmacht der Einmüthigkeit im Glauben; diese Einmüthigkeit lM, wäre sie auch scheinbar, eine unwiderstehliche Wirkung. Er wiederholte mir fortwahrend mit italienischer Geschwätzigkeit: „kissm»!-, «r«^» n me. «zin'ljltt mlnlolmi! i:t lnisll<:l»li, mil z»»«8'»»i'<>, <> il ^».l«»«« , »»ilucoll — ses ist das Land der Wunder). — Ich glaube es auch, denn die Furcht ist wirklich die größte Wunderthäterin. Merkwürdig, daß man durch eine vierzehntägige Neise in das Europa vor vierhundert Jahren gclana/n kann! Ja, selbst im Mittelaltcr fühlte bei uns der Mensch seine Würde mehr, als er sie heute in Nußland fühlt. Fürsten, so schlau und falsch wie die russischen Helden des Kreml, würben bei uns nie „groß" genannt worden sein. Der Ikonostas dieser Kathedrale ist von dem Fußboden der Kirche an bis in die Spitze der Wölbung hinauf reich gemalt und vergoldet. Der Ikonostas ist in den griechischen Kirchen eine Scheidewand, ein hoher Schirm zwischen dem stets durch Thüren verborgenen Allerheiligsten und dem Theile der Kirche, in welchem sich die Glaubigen befinden', hier reicht diese Scheidewand bis an die Decke deß Gebäudes hinauf und ist prachtvoll verziert. Die ziemlich vier-«ckige, sehr hohe Kirche «st so klein, daß man in ihr in «inem Gefängnisse hin und her zu gehen glaubt. Diese Kathedrale enthalt die Gräber vieler Patriarchen; auch sehr reiche Heiligenschreine und berühmte Reliquien finden sich da, welche aus Asien daher gebracht wurden. Im Detail betrachtet, ist das Gebäude nichts weniger als schön, im Ganzen hat es aber etwas Imposantes. Man fühlt nicht Bewunderung, sondern Traurigkeit, und das ist 16 viel; die Traurigkeit öffnet bcr Seele die religiösen Gefühl?, denn an wen soll man sich wenden, wmn man leidet? In den großen Bauwerken, welche die katholische Kirche aufgeführt hat, findet man freilich mehr als die christliche Traurigkeit, man findet auch den Triumphgesang des siegreichen Glaubens. Die Sakristei enthalt Merkwürdigkeiten, die aufzuzählen für Sie zu langweilig sein würde; erwarten Sie von mir kein Verzeichniß der Reichthümer Moskaus, keinen Katalog seiner Gebäude. Ich erwähne blos, was mir aufgefallen ist, im Uebrigen verweise ich Sie auf ^aveau und Schnihler s— der deutsche Leser ist auf Kohl zu verweisen —) und auf einen Nachfolger, denn gewlsi wird Rußland bald von einem Reisenden durchforscht, da es unmöglich noch lange so unbekannt bleiben kann, wie es ist. Der Thurm Johanns des Großcn, Iwan Weliko'»', befindet sich auch im Kreml. Er ist das höchste Gebäude der Stadt und scine Kuppel, nach der russischen Sitte, mit Dukatengold vergoldet. Wir gingen vor diesem reichen Thurme von seltsamer Bauart, der ein Gegenstand der Verehrung sür die russischen Bauern ist, vorüber. Alles ist heilig in Moskau! Man zeigte mir im Vorbeigehen die Kirche Spaßnaboru (des Erlösers im Walde), die älteste von Moskau, dann eine Glocke, an welcher ein Stück fehlt, die größte in der Welt, glaube ich', sie liegt am Boden und bildet allein eine Kuppel. Sie würd?, wie man erzählt, nach einem Brande, bei dem sie herabgefallen war, unter der Negierung der Kaiserin Anna umgegossen. Der Herr v. Montserrand, der französische Architect, der die Isaakskirche in St. Petersburg baut, hat die Glocke aus der Erde, in die sie eingesungn war, herausgehoben. Das Gelingen dieser Operation, welche 17 Mehrere Versuche erforderte und viel Geld kostete, macht ihm Ehre. Wir haben ferner zwei Klöster, ebenfalls innerhalb des Kremls, besucht, das der Wunder, welches zwei Kirchm mit heiligen Reliquien besitzt, und das .Himmelfahrtskloster, in wel; chem sich die Gräber mehrerer (Zarinnen, unter andern das der Helene, der Mutter Iwans drs Schrecklichen, befinden. Sie war seiner würdig. Auch einige Gemahlinnen dieses Fürsten sind da begraben. Die Kirchen des Himmcifahrtsklosters sehen die Fremden durch ihren Reichthum in Erstaunen. Endlich wagte ich mich an die griechischen Pernstile und die corinthischen Kolonnaden dcs Schafs und stieg in das glorreiche Arsenal hinauf, wo, wie in einem (5unositat?nca-binet, die interessantesten historischen Denkmäler-Nußlands aufgestellt sind. Welche Sammlung von Rüstungen, Waffen und Natio-ncüschätzcn l Welche Menge von Thronen und Kronen in einem einzigm Raume! Die Art, wie diese Gegenstande geordnet sind, erhöhet noch den Eindruck, den sie hervorbringen. Man muß den Geschmack in der Decoration und mehr noch den politischen Verstand bewundern, welche bei der wohl rtw.'ls stolzen Aufstellung so vieler Insignlen und Trophäen waltet; aber der patriotische Stol; ist der ehrcnwerthesie von allen. Man verzeiht der Leidenschaft, welche so viele Pflichten erfüllen liilft. Es liegt da cine tieft Idee, deren Symbol die Dinge sind. Die Kronen liegen auf Kissen auf Piedestalen und die Throne sieben an den Wanden hin auf eben so vielen Estraden. Es fehlr bei dieser Heraufbeschwörnng der Vergangenheit nur die Anwesenheit der Manner, für die alle dttse Dinge gewacht wurden, und ihre Abwesenbeit ist so gut als eine Predigt übcr die Vergänglichkeit alles Irdischen. Der Kreml W- 2 ,8 ohne seine Czare ist cine Bühne ohne Licht und Schauspieler. Die ehrwürdigste, wenn nicht die imposanteste der Kronen tst die Monomachs, die im Jahre 111., Iwans des Schrecklichen, auf dcm böchstm der Thürme seines Palastes sich erbeben, und mit seiner Schwester und Freundin, Elisabeth von England, sich bemuken zu sehen, Napoleon in einem Blutsee zu ertranken. Die beiden Gestalten schienen sich über den Sturz des Niesen zu freuen, der, nach dem Beschlusse des Schicksals, nach seinem Falle seine beiden Feinde mächtiger sehcn sollte, als er sie gefunden hatte. England und Rußland haben Ursache, Bonaparte Dank zu sagen, und sie verweigern . Ehe ich nack Moskau kam, hatte ich, wie ich glaube, die meisten von Reisenden herausgegebenen Beschreibungen Moskaus gelesen und dennoch stellte ich mir das seltsame Aussehen dieser hügeligm Stadt nicht vor, die wie durch Zauberei aus der Erbe heraustritt und in den ebenen ungeheuren Räumen mir ihren Hügeln erscheint, die durch die Gebäude noch erhöhet werden, welche sie inmitten einer wellenförmigen Ebene tragen. Es ist eine Theaterdecoration. Moskau ist so ziemlich die einzige Gebirgsgegend, die es im Centrum Rußlands giebt. Stellen Sie sich aber bei diesen Worten nicht etwa die Schweiz oder Italien vor; es ist ein unebener Boden, weiter nichts. Aber der Contrast dieser Unebenheiten mitten in Flachen, in denen das Auge und der Gedanke sich verlieren, wie in den Savannen Amerikas oder wie in den Steppen Asiens, bringt überraschende Effecte hervor. Es ist die Stadt der Panoramen. Mit ihrer herrlichen Lage und ihren seltsamen Gebäuden, welche den phantastischen Bildern Martins als Muster hatten dienen könen, erinnert sie an die Vorstellung, die man sich, ohne recht zu wissen warum, von Persepolis, Bagdad, Babylon, Palmyra macht, von den romanhaften Hauptstädten fabelhafter Lander, deren Geschichte ein Gedicht, deren Architectur ein Traum ist; mit ^ cmem Worte, in Moskau vergißt man Europa. Das wußte ich in Frankreich nicht. Die Reisenden daben also ihre Pflicht nicht gethan. Einem besonders kann ich es nicht verzeihen, daß er mich seinen Aufenthalt in Rußland nicht genießen ließ. Keine Beschreibung kommt den Zeichnungen eines zugleich genauen und pittoresken Malers wie Horace Vernet gleich. Welcher Mensch wäre geeigneter gewesen, den Geist, der in dcn Gegenständen lebt, zu fühlen und ihn Andern fühlbar zu machen i Die Wahrheit der Malerei ist die Physiognomie der Gegenstände; er versteht sie wie ein Dichter und giebt sie wieder wie ein Künstler; ich kann deshalb auch den Zorn gegen ihn nicht bergen, so oft ich die Unzulänglichkeit meiner Worte anerkenne; seht die Bilder von Horace Vernet an, würde ich sagen, und Ihr werdet Moskau kennen; so würde ich meinen Zweck ohne Mühe erreichen, während ich jetzt mich alistrenge und ihn doch nicht erreiche. Hier macht Alles Landschaft. Wenn die Kunst wenig für die Stadt gethan hat, so haben die Laune der Arbeiter und die Macht der Umstände Wunder geschaffen. Das außerordentliche Aussehen der Gebäude-Gruppen und die Massen-haftigkeit machen Eindruck auf die Phantasie. Freilich ist es ein untergeordneter Genuß. Moskau ist nicht das Product des Genies, die Kenner würden kein einer aufmerksamen Prüfung würdiges Gebäude finden; es ist auch keine maje« statische Einöde, m welcher die Zeit still zerstört, was die Natur geschaffen hat> es ist die verödete Wohnung eines Riefengeschlechtes, das zwischen Gott und den Menschen stand, das Werk von (Zyclopen. Man kann es mit dem übrigen Europa nicht vergleichen; aber in einer Stadt, in welcher kein großer Künstler den Stempel seines Gedankens zurückgelassen hat, staunt man, weiter nichts, das __W Staunen aber hört bald auf und die Seele drückt es nicht gern aus. Selbst aus der Täuschung, die hier auf die erste Überraschung folgt, ziehe ich indeß eine Lehrei sie deutet einen innigen Zusammenhang zwischen dem Ausleben der Stadt und dem Character der Menschen an. Die Bussen lieben das Glänzende und lassen sich durch den Schein verführen, der auch an ihnen verführt; ihr Glück besteht darin: Neid zu erregen; auf den Preis, um dni es geschieht, kommt nichts an. An England zehrt der'Stolz, Rußland zerfrißt die Eitelkeit. Ich fühle das Bedürfniß, Sie kier daran ^u erinnern, daß die Allgemeinheiten immer für Ungerechtigkeiten gelten. Die periodische Wiederkehr dieser oratorischen Vorsicht muß Sie aber langweilen, wie sie mir lästig ist; ich möchte also ein- für allemal Ausnahmen reserviren und meine Achtung, meine Bewunderung für die Verdienste und Annehmlichkeiten Einzelner aussprechen, auf die sich meine tadelnden Bemerkungen natürlich nicht beziehen. Indessen beruhigt mich auch der Gedanke, daß wir nicht in der Kammer sind, und meine Meinungen nicht mit Amendements und Eous-Amendements discutiren. Andere Reisende haben vor mir gesagt, daß man einen Nüssen um so liebenswürdiger finde, je weniger man ihn kenne; man hat ihnen geantwortet, baß sie gegen sich selbst sprachen und daß die Abkühlung, über die sie sich beklagten, ein Beweis von ihren geringen Verdiensten sei. „Wir haben Sie gut ausgenommen," sagen die Nüssen, „weil wir von Natur gastfrei sind, und wir wurden anders gegen Sie, weil wir Sie anfangs höher schätzten, als Sie es verdienen." Diese Antwort erhielt vor langer Zeit ein französischer Reisender, ein gewandter Schriftsteller, der sich aber in Folge 4l seiner Stellung sehr vorsichtig ausspricht und dessen Namen und Schrift ich nicht nennen will. Die kleine Anzahl von Wahrheiten, die er in seinen vorsichtsblassen Erzählungen durchblicken läßt, hat ihm dennoch viele Unannehmlichkeiten zugezogen. Das lohnt« die Mühe, sich den Gebrauch des Geistes zu versagen, den er besaß, um sich Anforderungen zu unterwerfen, denen man nie genügt, man mag ihnen schmeicheln oder sie behandeln, wie sie es verdienen! Es kostet nicht mehr, ihnen sich entgegenzustellen; dies thue ich, wie Sie sehen. Da ich die Ueberzeugung habe, daß ich mißfalle, so soll es wenigstens geschehen, weil ich die ganze Wahrheit gesagt habe. Moskau ist stolz auf den Fortschritt seiner Fabriken; die russischen Seidenzeuge wetteifern mit denen des Morgen- und Abendlandes. Die Stadt der Kaufleute, Kitaigorod, wie die Straße, welche die Marschallsbrücke heißt, wo sich die elegantesten Laden befinden, gelten füc Merkwürdigkeiten dieser Hauptstadt. Ich erwähne sie nicht, weil ich glaube, die Anstrengungen des russischen Volkes, sich von dem Tribute frei zu machen, den es der Industrie der andern zahlt, könne wichtige politische Folgen in Europa haben. Die Freiheit, die in Moskau herrscht, ist nur eine Illusion, doch kann man nicht leugnen, daß es in den Straßen dieser Stadt Menschen giebt, die sich aus eigenem Antriebe zu bewegen scheinen, Menschen, die den Antrieb, zu denken und zu handeln, nur von sich selbst erwarten. Moskau unterscheidet sich darin sehr von Petersburg. Unter den Ursachen dieser Seltsamkeit stelle ich die große Ausdehnung und die Unebenheiten des Vodens, in welchem Moskau Wurzel gefaßt hat, oben an. Der Naum und die Ungleichheit üch nebme das Wort hier in allen seinen Bedeutungen) sind Elemente der Freiheit, denn die absolute 42 Gleichheit ist snnonym mit Tyrannei, well die Minderheit unterjocht wird; die Freiheit und die Gleichheit schließen einander aus, trotz den mehr oder minder falschen, mehr oder minder geschickten Vorbehalten und Combinationen, welche die Sachen entstellen oder neurralisiren, während sie die Namen dafür beibehalten. Moskau liegt inmitten des Landes, dessen Hauptstadt es ist, gleichsam begraben. Daher der Stempel dcr Originalität, den seine Gebäude an sich tragen; daher das Aussehen von Freiheit, das seine Bewohner auszeichnet; daher endlich die geringe Liebe der Czaren für diese Residenz mit unabhängiger Physiognomie. Die Ezaren, die alten Tyrannen, welche die Mode zähmte und in Kaiser, ja in liebenswürdige Menschen umwandelte, fliehen Moskau. Sie ziehen Petersburg vor, trotz den Unannehmlichkeiten desselben, weil sie das Bedürfniß haben, in fortwahrender Verbindung mit dem Westen Europas zu sein. Rußland, so wie es Peter der Große gemacht hat, verlaßt sich, um zu leben und sich zu unterrichten, nicht auf sich selbst. In Moskau könnte man nicht in sieben Tagen Anecbötchen aus Paris erhalten, nicht mit dem geringsten Geschwätz über die Gesellschaft und die ephemere Literatur Europas »u coup«»! bleiben. Diese Details, so armselig sie uns erscheinen, interessiren den Hof und folglich Rußland am meisten. Wenn der gefrorne und der schmelzende Schnee die Eisenbahnen in diesem Lande nicht sechs bis acht Monate un-brauckbar machten, würden Sie die russische Regierung die andern in der Anlegung dieser Straßen, welche die Erde verkleinern, überholen sehen; denn sie leidet mehr als jede andere von der Unannehmlichkeit der weiten Entfernungen. Wenn man aber auch die Eisenbahnen vervielfältigt und die Schnelligkeit des Fahrens auf denselben steigert, eine weite Landsirecke ist und bleibt immer das größte Hinderniß für die Circulation des Gedankens, denn der Boden läßt sich nicht nach allen Richtungen hin durchschneiden wie das Meer; das Wasser, das auf den ersten Blick die Bestimmung zu haben scheint, die Bewohner dieser Welt zu trennen, verbindet sie. Wunderbares Räthsel: der Mensch, der Gefangene Gottes, ist doch nichtsdestoweniger der König der Natur. Wenn Moskau ein Seehafen oder wenigstens der Mittelpunkt eines großen Netzes jener Eisenschienen, der elektrischen Leiter des Menschengedankens, wäre, welche die Bestimmung zu haben scheinen, die Ungeduld unsrer Zeit einigermaßen zu befriedigen, würde man dort gewiß das nicht sehen, was ich gestern im englischen (5lub sah, wo Soldaten von jedem Alter, elegante Herren, ernste Manner und junge Wlldfange sich bekreuzigen und einige Augenblicke still beten, bevor sie sich zu Tische setzen, nicht im Familienkreise, son» dern an der Table d'hüte, unter Männern. Die Personen, welche sich dieser religiösen Pflicht enthalten (es waren deren ziemlich viel), sahen den andern zu, ohne sich zu verwundern. Sie erkennen daraus, daß noch achthundert gute Stunden zwischen Paris und Moskau liegen. Der Palast, in welchem sich dieser Gub befindet, ist groß und schön; die ganze Anstalt ist zweckmäßig eingerichtet und geleitet; man findet so ziemlich, was man in andern Clubs hat. Das hat mich nicht überrascht, aber die Frömmigkeit der Nüssen bewundere ich. Ich sagte dies auch der Person, die mich eingeführt hatte. Wir plauderten nach Tische im Garren des Clubs mit einander. ,,Sie dürfen uns nicht nach dem Scheine beurtheilen," antwortete mir der Herr, der mich eingeführt hatte und der ein sehr aufgeklarter Russe ist, wie Sie sehen wer» den. „Gerade dieses Aeußerliche," fuhr ich fort, „siößl wir ___44 Achtung für Ihre Nation ein. Bei uns fürchtet man nur die Heuchelei, und dennoch ist der Cynismus den Gesellschaft ton am allerverderblichsten." — ,,Ia, aber er empört die edeln Herzen weniger." — ,, Ich glaube das/'' fuhr ich fort, ,,aber ist es nicht sonderbar, daß gerade der Unglaube über Entweihung des Heiligen schreit, sobald er in dem Herzen eines Menschen etwas weniger Frömmigkeit findet, als er in seinen Worten oder Handlungen zur Schau tragt? Wenn unsere Philosophen consequent wären, würden sie die Heuchelei als eine Stütze der Staatsmaschine dulden? Der Glaube ist toleranter." — ,,Ich erwartete keineswegs von Ihnen eine Vertheidigung der Heuchelei zu hören." — „Ich verabscheue sie als das verhaßteste aller Laster, aber ich behaupte, daß die Heuchelei, die dem Menschen nur in seinem Verhältniß zu Gott schadet, für die Gesellschaften und Staaten minder verderblich ist, als der schamlose Unglaube, und bin der Meinung, daß nur die wahrhaft frommen Seelen das Recht haben, über Profanation zu entscheiden. Die irreligiösen Geister, die philosophischen Staatsmänner, sollten sie mit Nachsicht behandeln und könnten sich ihrer selbst als eines gewaltigen politischen .Hilfsmittels bedienen; dies ist aber in Frankreich nur seltcn und in langen Zwischenräumen geschehen, weil die gallische Aufrichtigkeit sich scheut die Lüge zu benutzen, um die Menschen zu beherrschen» aber das berechnende Genie einer rivalisirenden Nation hat sich besser als wir unter das Joch heilsamer Fictionen zu beugen gewußt. Hat nicht die Politik Englands, in welchem der practi-sche Sinn vorzugsweise herrscht, die theologische Inconsequenz und die religiöse Heuchelei freigebig belohnt? Die anglikanische Kirche ist gewiß weit weniger reformirt als die katholische, seit das Concilium von Trident den rechtmäßigen Forderungen der Fürsten und Völker Genüge leistete; es ist 43 thöricht, die Einheit zu zerstören unter dem Vorwande, es fänden Mißbrauche statt, diese Mischrauche aber bestehen zu lassen, wegen deren Aufhebung man sich das verderbliche Recht, eine Secte zu bildm, anmaßte, und dennoch unterstützt noch heute diese auf Widersprüche gegründete und durch die Usurpation unterstützte Kirche das Land bei der Eroberung der Welt, und das Land belohnt sie durch einen heuchlerischen Schutz. Das kann empörend erscheinen, ist aber ein Mittel, Kraft zu erlangen. Ich behaupte deshalb auch, diese in den Augen wahrhaft religiöser Menschen monströsen Inconsequen-zen und Heucheleien sollten Philosophen und Staatsmanner nicht verletzen." — „Sie wollen damit doch nicht sagen, daß es bei den Anglikanem keine redlichen Christen gebe?" — ,,Nem, ich gebe Ausnadmen ^u, die man ja überall findet; ich behaupte nur, der großen An;ahl bei diesen Christen fehle es an Logik, woraus aber, ich wiederhole es, noch nicht folgt, daß ich für Frankreich die religiöse Politik Englands beneide, wie ich hier bei iedem Schritte die fromme Unterwürfigkeit des russischen Volkes bewundere. Bei den Franzosen wird jeder in Ansehen stehende Priester ein Unterdrücker in den Augen der Freigeister, welche das Land regieren, indem sie dasselbe desorganisiren, und zwar seit beinahe hundert und dreißig Jahren, bald offen durch ihren Revolutions: fanatismus, dald insgeheim durch ihre philosophische Gleichgültigkeit." Der wahrhaft aufgeklärte Mann, mit welchem ich sprach, schien ernstlich nachzudenken. Nach einer ziemlich langen Pause fuhr er fort: ,,Ich bin von Ihrer Ansicht nicht so fern als Sie glauben, denn seit der Erfahrung, die ich auf meinen Reisen erworben habe, schien mir Eins immer einen Widerspruch in sich zu schließen, der Widerwille der Liberalen gegen die katholische Religion. Ich spreche selbst von 4<5 denen, welche sich Christen nennen. Wie geht es zu, baß diese Leute (manche unter ihnen denken ganz richtig und trei-b bedeutend, daß sich nichts mehr dagegen thun läßl-, Gewalt würde das Uebel bekannt machen, ohne rs ;u ersticken, und dieser Versuch, die Leute zu Überzügen, müßte ein? Erörterung herbeiführen, das schlimmst? Uebel in den Augen der absoluten Regierung. Man schweigt also, das Uebel wird verdeckt aber nicht geheilt, im Gegentheil, auf diese Weise begünstigt. „Das russische Reich wird durch die religiösen Spaltungen untergehen. Wenn Sie, wie Sie eben thaten, uns um die Stärke des Glaubens beneideten, so beurtheilten Sie uns, ohne uns zu kennen." Das ist die Meinung der aufgeklartesten und redlichsten Manner, die ich in Rußland getroffen habe. — Ein glaubwürdiger Ausländer, der lange in Moskau lebt, hat mir auch erzahlt, daß er in Petersburg bei einem Kaufmanne mit dessen drei Frauen, nicht Concubinen, sondern rechtmäßigen Frauen, zu Tische gewesen sei. Dieser Kaufmann war ein geheimer Anhänger einer neuen Secte, Ich glaube, der Staat hat die Kinder, welche ihm seine drei Frauen geboren haben, nicht als eheliche anerkannt, aber sein ^hiistengewissen war vollkommen ruhig. Wenn mir dies ein Russe berichtet hatte, würde ich es nicht erzählt haben, denn Sie wissen, manche Russen lügen gern, um die zu neugierigen und zu leichtgläubigen Reisenden irre zu führen, was das überall schwere, aber nirgends als in Rußland schwerere Amt eines Beobachters ungemein hemmt. Die Gilde der Handelsleute ist in Moskau sehr machtig, sehr alt und sehr angesehen-, das Leben dieser reichen Handelsleute erinnert an die Lage der Kaufleute in Asien, — eine neue Aehnlichkeit zwischen den russischen Sitten und den Gebräuchen des Orientes, die in den arabischen Mährchen 8l so gut geschildert sind. Es giebt so viele Vergleichspunkte zwischen Moskau und Bagdad, daß man bei einer Reise in Rußland die Neugierde, Persien zu sehen, verliert, denn man lernt auch dieses kennen. Ich wobnte einem Volksfeste um das Kloster Dewitschei-pol bei. Die dabei thätig Auftretenden sind Soldaten und Muschiks, und die Zuschauer Vornehme, die sich in großer Anzahl da einfmben. Die Zelte und Buden, in denen man trinkt, sind neben dem Gottesacker aufgeschlagen, und der Cultus dl>r Todten dient dem Vergnügen des Volks zum Vorwande. Das Fest wird zu,n Andenken an, ich weiß nicht welclien, Heiligen gefeiert, dessen Reliquien und Bilder man bei Kwaß-Trinken besucht. Es wird an diesem Abende eine fabelhafte Menge von diesem Nationalgetränke verbraucht. Die wunderthätige Jungfrau von Smolensk, oder wie Andere sagen, eine Copie derselben, wird in diesem Kloster aufbewahrt, das acht Kirchen einschließt. Gegen Abend trar ich in die Hauptkirche hinein; sie kam mir ziemlich imposant vor-, das Dunkel erhöhet? den Eindruck. Die Nonnen haben die Altäre ihrer Kapellen zu schmücken, und sie erfüllen diese Pflicht, obne Zweifel ihre leichteste, gewissenhaft. Die schwierigern Pflichten werden, wie man mir sagt, nicht so treu beobachtet, denn wenn man gut unterrichteten Personen glaubt, ist der Lebenswandel der Nonnen in Moskau nichts weniger als erbaulich. Diese Kirche enthalt die Gräber mehrerer (Zzarinnen und Prinzessinnen, namentlich das der ehrgeizigen Sophie, der Schwester Peters des Großen, und das der Czarin Eubo-xia, der ersten Gemahlin dieses Fürsten. Die unglückliche, lm Jahre ttt!)6 glaube ich, verstoßene Frau mußte in Susdal den Schleier nehmen. 4' 52 Die katholische Kirche hat so viel Ehrfurcht vor dem unlöslichen Bande der Ehe, daß sie einer verheirateten Frau nur dann erlaubt, Nonne zu werden, wenn auch ihr Mann gleichzeitig in den Orden tritt, oder wie sie das Klostevgclübde ablegt. Das ist die Regel, aber bei uns wie an andern 3rten werden die Gesehe oft unter die Interessm gebogen; indessen bezeugt es die Geschichte, daß die katholische Geistlichkeit noch dieiemge ist, welche am besten in der ganzen Welt die heiligen Rechte der religiösen Unabhängigkeit gegen die Anmaßungen der menschlichen Politik zu vertheidigen weiß. Die kaiserliche Nonne starb in Moskau 17Al im Kloster Dewitscheipol. Der Kirchhof dient zugleich als Gottesacker, der wirklich schön ist. Im Allgemeinen sehen die russischen Klöster mcbr wie ein Haufen kleiner Hauser, wie ein ummauerter Stadttheil, als wie ein religiöser Zufluchtsort aus. Da sie oft zerstört und wieder aufgebaut wurden, haben sie ein modernes Aussehen unter diesem Gima, in welchem nichts dauert; kein Gebäude kann hier dem Kriege der Elemente widerstehen. Alles mcht sich in wenigen Iabren ab, und wird neu wieder hergestellt; deshalb sieht denn auch das ^and wie eine vor wenig Tagen angelegte Kolonie aus. Nur der Kreml scheint dem Clima zu trotzen, und so lange zu leben, wie das Reich, dessen Sinnbild und Bollwerk er ist. Wenn aber die russischen Klöster durch den Styl ihrer Architects nicht imponiren, so ist doch die Idee des Unwiderruflichen immer feierlich. Ich war, als ich aus diesem Raume heraustrat, nicht in der Stimmung, mich unter die Menge zu mischen, deren Getöse mich belästigte. Die Nacht stieg bis zu den Epitzen der Kirchen empor, und ich begann eine der schönsten Ansichten von Moskau und der Umgegend zu beobachten; es giebt in dieser Sradt sehr viele Aussichcs- 33 punkte. Von der Straße aus sieht man nur die Haus« derselben; geht man aber über einen großen Platz, sicigt man einige Stufen hinauf, öffnet man ein Fenster, tritt man auf einen Balcon, auf eine Terrasse, so erblickt man alsbald eine neue ungeheure Stadt auf Hügeln, dic durch Getreidefelder, Teiche, und selbst Waldungen, tief von einander geschieden sind; der Umfayg dieser Stadt ist ein ^and, und dieses Land dehnt sich bis zu den unebenen Umgebungen aus, die ihrer Form nach den Wellen des Meeres gleichen. Das Meer, sieht, von weitem betrachtet, immer wie eine Ebene aus, wie bewegt auch seine Wogen sein mögen. Moskau ist die Stadt der Genremaler, aber die Archi-tecten, die Bildhauer und Historienmaler haben da nicbts ^u sehen, nichts zu thun. Massen von Gebäuden, die in Einöden vertheilt sind, bilden eine Menge hübscher Vlldcr, und bezeichnen den Vordergrund großer Landschaften, welche diese alte Hauptstadt zu einem in der Welt einzigen Orte machen, weil sie die einzige große Stadt ist, die auch bei der Zunahme ihrer Bevölkerung malerisch geblieben ist, wie das offene Land. Man zahlt in ihr eben so viele Wege als Straßen, eben so viele Felder als bebauete Hügel, eben so viele öde Thaler, als öffentliche Platze. Sobald man sich von dem Mittelpunkte entfernt, befindet man sich vielmehr in einem Haufen von Dörfern, Teichen und Wäldern, als in einer Stadt; hier sieht man in qewissen Entfernungen imposante Klöster, die sich mit ihrer Menge von Kirchen und Thürmen erheben; dort erblickt man mit Hausern bebaute, dort besacte Hügel, dort einen im Sommer fast ausgetrockneten Fluß; etwas weiter hin liegen wiederum Inseln von eben so außerordentlichen als mannigfaltigen Gebäuden; um Theater mit antiken Peristyle« her stehen hölzerne Palaste, die lwzigen Wohnungen von nationalem Vaue, und alle diese Massen von verschiedenen Bauten sind halb im Grünen versteckt; endlich wird dieser poetische Schmuck überall von dem alten Krrml mit seinen zackigen Mauern, mit seinen ungewöhnlichen Thürmen überragt. Dieses Parthenon der Slawen beherrscht und beschützt Moskau; man könnte es einen Dogen von Venedig nennen, der inmitten seines Senates sitzt. Abends wurden die Zelte, in denen sich die Leute in Dewicschripol zusammendrängten, durch verschiedene Gerüche verpestet, deren Verbindung eine stinkende Luft hervorbrachte-, es war Iuchtengeruch, Geruch von geistigen Getränken, von sauerm Vier, von Kohl, von dem Fette auf den Stiefeln der Kosaken, von Moschus und Ambra an der Person einiger vornehmen Herren, die sich ebenfalls da eingefunden hatten und entschlossen zu sein schienen, sich aus aristocralischem Stolze zu langweilen. Ich hätte diese mephitische Luft nicht lange athmen können. Das höchste Vergnügen dieses Volkes ist der Rausch, oder, mit andern Worten, das Vergessen. Arme Leute! Sie müssen träumen, um glücklich zu sein> aber die Gutmüthigkeit der Russen zeigt sich auch hier, denn wenn die Muschiks betrunken sind, werden diese verthicrten Menschen weich und zärtlich, statt sich unter einander zu prügeln und zu ermorden, wie es unter unsern Betrunkenen geschieht; sie weinen und umarmen einander. Interessantes merkwürdiges Volk! Es müßte so süß sein, es glücklich zu machen! Aber die Aufgabe ist schwer, wenn nicht unmöglich, zu lösen. Wo ware das Mittel, die unklaren Wünsche eines jungen, faulen, unwissenden, ehrgeizigen Riesen zu befriedigen, der so geknebelt ist, daß er weder Hand noch Fuß regen kann? Ich wurde nie über das Schicksal dieses Volkes gerührt, ohne zugleich den allmächtigen Mann zu beklagen, der es regiert. 85 Ich entfernt? mich von den Wirthshausern, und wanderte auf dem Platze umher; Schaaren von Umhcrwcmdelnden regten Wolken von Staub auf. Der Sommer in Athm ist lang, aber die Tage sind kurz, und wegen des Seewindes ist dort die Luft nicht wärmer als in Moskau in dem flüchtigen nordischen Sommer. Diese Jahreszeit ist in Nußland unerträglich heiß; jetzt geht sie zu Ende, die Nacht kehrt wieder und der Winter rückt mit großen Schritten heran; er wird mich nöthigen, meinen Aufenthalt abzukürzen, wie gern ich auch diese Reise verlangern möchte. Man leidet in Moskau von der Kalte nicht, ^- sagen alle Vertheidiger des russischen Climas; vielleicht sagen sie die Wahrheit, aber eine achtmonatliche Einsperrung, Pelze, Doppelfenster und Vorsichtsmaßregeln, um sich vor einer Kalte von 15 bis 30 Graden zu schützen? Kann man sich da noch bedenken? Das Kloster Dewitscheipol liegt an der Moskwa, über die es hinwegragt-, der Markt- oder vielmehr Festplatz ist em bald sanft, bald steil nach dem Flusse abschüssiger Raum. Der Fluß selbst gleicht dieses Jahr einer ungleich breiten, sandigen Straße, über die cin Vachelchen fließt. Auf der einen Seite nach dem freien Felde zu erheben sich die Thürme des Klosters, welche den Raum begrenzen, und auf der entgegengesetzten erscheinen die Gebäude des alten Moskau, das man in der Ferne liegen sieht; die Einblicke auf die Ebene und die Häusermassen, die durch Vaumgruppen gelrennt werdm, die grauen Breter der Hütten neben dem Kalk und Gips der glänzenden Paläste, die fernen Fichtenwalder, welche die Stadt gleich einem Trauergürtel umgeben, die allmalig verschwimmenden Tinten einer langen Dämmerung, Alles tragt dazu bei, die Wirkung der monotonen nordischen Landschaften zu erhöhen. Es ist dies traurig, aber imposant. 8tt Es liegt darin eine Porsie in geheimnißvolle!.' Sprache, die wir nicht kennen; betrete ich diese unterdrückte Erde, so höre ich, ohne sie zu verstehen, die Klagelieder eines unbekannten Ieremias; der Despotismus muß eigene Propheten erzeugen; die Zukunft ist ja das Paradies der Sclaven und die Hölle der Tyrannen. Einige Töne eines wehmüthigen ^Gesanges, verstohlene, schlaue Blicke von der einen Seite erklären mir den Gedanken, der in dem Herzen dieses Volkes keimt; aber nur die Zeit und die Jugend, welche, wenn man sie auch verleumdet, für das Studium günstiger ist, als das reifere Alter, könnten mir eine genaue und bestimmte Kenntniß von allen Geheimnissen dieser Poesie des Schmerzes geben. Da mir positive Documente abgehen, so unterhalte ich mich, statt mich zu belehren; die Physiognomie des Volkes, feine halb orientalische, halb sinnische Tracht beschäftigen den Reisenden fortwährend, und ich wünsche mir Glück, zu diesem Feste gekommen zu sein, das so wenig lustig und so ganz verschieden ist von Allem, was ich anderswo ge-sehen habe. Die Kosaken befanden sich in großer Anzahl unter den Spaziergängern und Trinkenden, welche den Platz anfüllten. Sie bildeten schweigende Gruppen um einige Sanger her, deren gellende Stimmen melancholische Worte nach einer sehr sanften, obgleich scharf markirten Melodie sangen. Das ist der Nationalgesang der donischen Kosaken, und er hat einige Aehnlichkeit mit einer alten spanischen Melodie, nur daß sie trauriger, sanft und durchdringend ist, wie der langgehaltene Ton der Nachtigall, wenn man ilm in der Nacht, im Walde, in der Ferne hört. Einige Umstehende wiederholten die lchttn Worte der Strophe im Chor. 7,7 Ick theile hier eine prosaische Übersetzung Vers für Vers mit: Der junge Kosak. Sic erheben dm Lärmruf, Ich hörc mein Pferd scharren; Ich höre es wichern, Halt' mich nicht auf. Das Mädchen. Laß die andern zum Tode eilen, Du bist zu jung, zu sanft, Du bleibst diesmal noch bri uns Und gehst nicht über dm Don. DcrjungeKosak. Der Feind! Der Fcind! Zu dcn Waffen! Ich wcrde mich Magen für Euch. Ich bin sanft gcgcn Dich, stolz a,ca,cn dcn Fcind, Ich bin jung, aber ich habe Muth; Dcr alte Kosak würde erröthrn vor Scham und Zorn, Wenn er ohne mich fortzöge. Das Mädchen. Sich deine Mutter weinen, Sil: ihre Knie zittern; Sie und mich wird dcinc Lanze treffen, Ehe sie den Feind rrrcicht. Der junge Kosak. Wenn man von dcm Fcldzugc crzät'lt, Wlivde man mich dcn Fciszcn ncnmn; Wcnn ich stcibc, wird mcin Name vDn dcn Vrüdern gefeiert, Und Dich über meinen Tod trostm. Das Mädchen, Nein, ein Grab wird uns vcrcincn; Wenn Du stirbst, folge ich Dir nach; Du gehst allein, aber wir sterben beide. - i,'eb' wohl; ich habe kcine Thränen mehr. 58 Der Sinn dicser Worte kommt mir modern vor, aber dic Melodie giebt ihnen einen so großen Neiz der Alterthum-lichtn und Einfachheit, daß ich sie stundenlang singen hören könnte, ohne Langeweile zu empfinden. Vei jedem Refrain steigert sich der Effect. Sonst tanzte man in Paris ein russisches Pas, an das mich diese Musik erinnert. Ader an Ort und Stelle bringen die National mclodien einen ganz andern Eindruck hervor; nach einigen Strophen fühlt man sich unbeschreiblich bewegt und ergriffen. Es liegt in dem Gesänge der nordischen Völker mehr Melancholie als Leidenschaft; aber der Eindruck, den er bewirkt, ist unvergeßlich, wahrend eine lebhaftere Anregung bald schwindet; die Melancholie dauert langer als die Leidenschaft. Ich fand das Lied, nachdem ich es mehrmals gebort hatte, minder monoton und ausdrucksvoller, und diese Wirkung bringt die einfache Musik immer hervor; die Wie» derholung giebt ihr neue Kraft. Auch die Kosaken vom Ural haben eigenthümliche Gesänge und ich bedaure, daß ich sie nicht hören konnte. Dieser Menschenschlag verdiente ein eigenes Studium; aber diese Arbeit ist nicht leicht für einen flüchtig Reisenden gleich mir; die Kosaken, die meist verheirathet smd, bilden eine Militairfamilie, mehr eine gebändigte Horde als ein der Regimentsdisciplin unterworfenes Truppencorps. Sie hangen an ihrem äührcr, wie Hunde an ihrem Herrn, und gehorchen dem Befehle mit mehr Liebe und mit weniger Sclavensinn als die andern russischen Soldaten. In einem Lande, wo nichts klar und bestimmt ist, halten sie sich für die Bundesgenossen, nicht für die Sclaven der kaiserlichen Regierung. Ihre Gewandtheit, ihre nomadische Lebensweise, die Schnell-füßigkeit und Ausdauer ihrer Pferde, die Geduld und Gc-fchicklichkcit des Mannes und Thieres, dic gleichsam zu 59 einem Wesen werden und mit einander Strapazen und Entehrungen ertragen lernen, sind eine Macht. Man muß bewundern, wie ein gewisser geographischer Instinct diese wilden Tirailleurs der Armee auf den Straßen in den Ländern leitet, in welche sie einfallen, in den ödesten und unfruchtbarsten, wie in den civilisirtesten und bevölkerten. Verbreitet nicht im Kriege schon der bloße Name Kosak Schreckm unter den Feinden? Generale, die eine solche leichte Reiterei gut zu verwenden wissen, haben ein gewaltiges Werkzeug, das den Feldherrn der civilisirten Armeen abgeht. Die Kosaken sind, wie man sagt, sanft von Character, und besitzen mehr Gefühl, als man von einem so rohen Volke erwarten sollte; aber wegen ihrer außerordentlichen Unwissenheit bedaure ich sie und ihre Gebieter. Wenn ich daran denke, wie die Officiere hur die Leichtgläubigkeit des Soldaten benutzen, empört sich mein Gefühl gegen eine Regierung, die zu solchen Mitteln greift oder die ihre Diener nicht bestraft, welche sie in Anwendung zu bringen wagen. Ich weiß es aus guter Quelle, daß mehrere Kosakenführer, als sie ihre Leute in dem Kriege von 18l4 und 1815 aus dem Lande führten, zu ihnen sagten: „Tödtetvie! Feinde und erschlagt Eure Gegner ohne Scheu. Wenn Ihr m dem Kampfe bleibt, werdet Ihr noch vor drei Tagen wieder bei Euern Weibern und Kindern sein; Ihr steht mit Fleisch und Vein, mit Körper und Seele wieder auf; was habt Ihr also zu fürchten?" Menschen, welche die Stimme Gottes des Vaters in der ihrer Officiere zu erkennen gewohnt waren, nahmen die Versprechungen, die man ihnen machte, buchstäblich und schlugen sich mit dem bekannten Muth, d. h. sie ziehen plündernd umher, so lange sie der Gefahr entgeben können; ist aber der Tod unvermeidlich, so gehen sie ihm wi« Soldaten entgegen. W__ Ich würde nicht licht Tage ihr Ofsicier bleiben, wenn ick zu solchen oder ähnlichen Mitteln greifen müßte, um diese braven Menschen zu führen. Menschenzu hintergehen, »md wenn die Lüge Helden schassen sollte, würde ich immer für eine ihrer und meiner unwürdige Aufgabe halten; ich möchte wohl dcn Muth derer benutzen, die ich befehle, will ihn aber auch bewundern können, wenn ich Vortheil davon ziehe; durch rechtmäßige Mittel anzuregen, der Gefahr zu trohen, isi die Pflicht ihrcrs Führers; bestimmt man aber Menschen zu sterben, indem man ihnen den Tod verbirgt, so nimmt man ihrem Muthe das Verdienst, ihrer Aufopferung die moralische Würde; man handelt wie ein Seelen-escamoteur. Wer sollte den Krieg entschuldigen, wenn der Krieg Alles entschuldigt, wie manche Leute behaupten? Ader kann man sich ohne Entsetzen und ohne Widerwillen den moralischen Zustand einer Nation vorstellen, deren Heere, noch vor fünfundzwanzig Jahren auf diese Weise geleitet wurden? Was heute geschieht, weiß ich nicht und ich mag es auch nicht wissen. Dieser Zug ist zu meiner Kenntniß gekommen, Sie können sich aber denken, wie viele andre vielleicht noch schlimmere oder ahnliche Tauschungen mir unbekannt geblieben sind. Wo bort man auf, wenn man einmal zu kindischen Mitteln gegriffen hat, um Menschen zu regieren? Die Täuschung bat freilich nur eine beschrankte Wirkung, aber eine Lüge für einen Fcldzug und die Etaatsmaschine setzt sich in Bewegung. Jeder Krieg findet eine Lüge. Ich schließe mit einer Fabel, die geradezu gedichtet zu sein scheint, um meinen Zorn ',u rechtfertigen. Die Idee ist von einem Polen, dem Bischof von (Irmeland, der sich unter Friedrich ll. durch seinen Geist auszeichnete. Ich theile sie in vrosaiscker Uebers.'lxmg mit. ___lN Das Gespann. sEinc Fabel,) Ein geschickter Kutscher fuhr mit virr Pfcvdm, Die paarweise an dm Wagen gespannt waren; Nackdcm i^c''ckirvt, Hielt cr folgende Anrede an sie: Laßt Euch nickt ausstechcn. Sagte er zl, dem hintern Paar; kaßt Euch nicht überholen, Nicht lmmal erreichen im Laufe, Sprach er zu tnm vordern Paare. Ein Vorübergehender, der dies a/iMt, Sagte zu dem Kutscher: Du hintergehst die armcn Pfcrde. Es ist wahr, antwortete er, a'icr der Waocn kommt dcch vcn der stelle. Ncunundzwanzigstcr Brief. Moskau, den . . Auguft l 5.'w. ^eit zwei Tagen habe ich viel gesehen, zuerst die tatarische Moschee. Der Cultus der Besiegten wird jetzt in einem Winkel der Hauptstadt der Sieger geduldet, und zwar auch »ur unter der Bedingung, daß die Christen freien Eintritt in das mahomedanische Heiligthum haben. Di?se Moschee ist ein kleines Gebäude von ärmlichem Aussehen und die Menschen, denen man erlaubt, in dem: selben Gott und den Propheten anzubeten, sehen schmutzig, arm und furchtsam aus. Sie werfen sich in diesem Tempel jedcn Freitag auf einem schlachten Stücke wollenen Zeuges nieder, das jeder für sich mitbringt. Ihre schonen asiatischen Gewander sind Lumpen geworden, ihre Anmaßlichkeit ist zu nutzloser List, ihre Allmacht zur Unterwürfigkeit herabge-sunken. Sie leben so abgesondert als möglich von den Leuten, die sie umringen und erdrücken. Wenn man diese Bettlergestalten in dem jetzigen Rußland herumkriechen sieht, kann man kaum an die Tyrannei glauben, die ihre Vorfahren gegen die Moskowiter übten. Diese unglücklichen Kinder des Eroberer, die sich so viel als möglich in ihre religiösen Gebrauche zurückziehen, handeln in Moskau mit asiatischen Eß- und andern Waaren und um so mahomedanisch als möglich zu sein, enthalten sie li3^ sich des Weines und der starken Getränke, schließen ihre Frauen ein oder verhüllen sie wenigstens mit dem Schleier, um sie den Blicken der andern Manner zu entziehen, die aber nicht an sie denken, denn das mongolische Volk besitzt wenig Reize. Ich habe bei den Mannern dieses ausgearteten Geschlechts, so wie bei den wenigen Frauen, deren Züge ich sehen konnte, vorstehende Backenknochen, eingedrückte Nasen, kleine, schwarze, tiefliegende Augen, krauses Haar, eine bräunliche ölige Haut, einen Wuchs unter Mittelgröße, Armuth und Schmutz gefunden. Könnte man nickt sagen, die göttliche Gerechtigkeit, die so unbegreiflich ist, wenn man das Schicksal der einzelnen Menschen betrachtet, zeige sich klar und offenbar, wenn man das Schicksal der Völker überdenkt^ Das Leben eines jeden Menschen ist ein Drama, das auf einer Vühne geschürzt, auf einer andern gelöset wird; so ist es aber nicht mit dem Leben der Nationen. Diese belehrende Tragödie beginnt und endiget auf der Erde; deshalb ist die Geschichte ein heiliges Buch, denn sie enthalt die Rechtfertigung der Vorsehung. Der heilige Paulus hat gesagt: ,,Ehret die Obrigkeit, denn sie ist von Gott gesetzt." Die Kirche hat mit ihm vor bald zweitausend Jahren den Menschen aus seiner Abgeschiedenheit herausgezogen, indem sie ihn zum Bürgereines ewigen Staates machte, von dem alle andern nur unvollkommene Nachbildungen waien. Diese Wahrheiten werden durch die Erfahrung nicht Lügen gestraft, sondern bestätigt. Je mehr man den Character der verschiedenen Nationen studirt, welche sich in die Herrschaft dor Erde theilen, um so mehr erkennt man, daß ihr Geschick die Folge ihrer Religion ist; das religiöse Element «st nothwendig für die Dauer der Staaten, weil die Menschen einen übernatürlichen Glauben haben müssen, um sich aus dem sogenannten Naturzustände, m__ aus dem Zustande dcr Gewalt und Ungerechtigkeit, beraug-zubringe,,. Die Unglücksfälle der unterdrückten Stämme sind nur die Strafe für ihre Untreue oder für ihre freiwilligen Irrthümer in Glaubenssachen. Diesen Glauben habe ick mir auf meinen zahlreichen Wanderungen erworben. IVder Reisende muß Philosoph und mehr als Philosoph werden, denn er muß Christ sein, um ohne Schwindel den Zustand der verschiedenen über die Erde verstreuten Völker beobachten und ohne Verzweiflung über die Gerichte Gottes, die geheime Ursache alles Wechsels im Menschenleben, nachdenken zu können. Ich theile Ihnen die Gedanken mit, die mich wahrend des Gebetes der Kinder Batus beschäftigten, welche Parias bei ihren Sclaven geworden sind. — Der Zustand eines Tataren in Rußland kommt fetzt der Lage eines russischen Leibeigenen nicht gleich. Die Russen sind stolz auf die Duldung, welche sie dem Lullus ihrer ehemaligen Tyrannen gewahren-, ich finde dieselbe aber meln prahlend als philosophisch und sie ist für das Volk, dem sie bewilligt wird, eine Demüthigung mehr. Ich würde an der Stelle dieser unversöhnlichen Mongolen, welche so lange die Herren Rußlands und dcr Sckrecken der Welt waren, Gott lieber in der Stille meines Herzens anbeten als ln dem Schatten dcr Moschee, für die meinen ehemaligen Zinspflichtigen Dank gebührt. Der Zufall begünstigt mich immer, wenn ich zwecklos und ohne Führer Moskau durchwandere. Man kann schon unmöglich Langeweile bei einem Gange in einer Stadt fühlen, wo jede Straße, jedes Haus seine Aussicht auf eine andre Stadt hat, die durch Geister gebaut zu sein scheint auf eine Stadt, die von zackigen durchbrochenen Mauer:, starrt, welche eine Menge Warten, Thürme und Spitzen tragen, mit einem Worte auf den Kreml, die ihrem Aus-sehen nach poetische, ihrem Namen nach historische Feste. Ich kehre immer »rieder dahin zurück wegen des Reizes, den man für Alles fühlt, was die Phantasie lebhaft anspricht; aber man darf den unzusammenhängenden Haufen von Gebäuden, mit denen dieser bemaucrte Berg bedeckt ist, nicht im Einzelnen mustern. Den Russen fehlt der Kunstsinn, d. h. das Talent, den einzigen vollkommen richtigen Ausdruck für einen originellen Gedanken zu finden; wenn aber die Niesen copiren, besitzen ihre Nachkommen immer eine gewisse Schönheit. Die Schöpfungen des Genies sind großartig, die der materiellen Kraft sind groß, und das ist doch immer etwas. Der Kreml ist für mich ganz Moskau. Ich habe Unrecht, aber mein Verstand macht vergebens Einwendungen, ich interessire mich hier nur für diese ehrwürdige Citadelle, die Wurzel eines Reiches, das Herz einer Stadt. Der Verfasser des besten Führers in Moskau, den man hat, Lecointe Laveau, beschreibt die alte .Hauptstadt Rußlands also: ,,Moskau verdankt seine originelle Schönheit den Mauern „des Kitaigorod und des Kreml*), der seltsamen Bauart seiner ,,Kirchen, seinen vergoldeten Kuppeln und zahlreichen Garten. „Man verschwende Millionen, um den Palast Vascheanof „im Kreml zu erbauen, man nehme ihm seine Mauern"), „man baue regelmäßig schöne Kirchen an der Stelle der „fünf Kuppeln, die sich überall erheben; die Bauwuth mag *) Kitaiqorod ist die Stadt der Handelsleute, clnc Art Vazar mit bcdecttcn Straßen, lmd mit dem Krrml durch eine Mauer gllick der verbunden, welche die Feste selbst umgicbt. **) Dieser Plan wurde unter Katharina II. entworfen und er wird jctzt zum Theil ausgeführt. '". 5 60 „die Gärten in Hauser verwandeln, man wird dann für ,,Moskau eine der größten europäischen Städte erhalten, die ,,aber die Neugierde der Reisenden nicht mehr reizt." Diese Zeilen sprechen Ansichten aus, welche mit den meinigen vollkommen überstimmen und die ich folglich für vollkommen richtig erkläre. Um einen Augenblick den schrecklichen Kreml zu vergessen, besichtigte ich den Thurm Sukaref, der auf einer Anhöhe an einem der Eingänge der Stadt liegt. Das erste Stockwerk ist ein ungeheurer Bau, in dem man ein sehr großes Reservoir angebracht hat; man könnte in einem kleinen Boote auf diesem Bassin herumfahren, welches fast das sämmtliche Wasser, das Moskau trinkt, an die verschiedenen Stadttheile vertheilt. Der Anblick dieses ummauerten Teiches in einer bedeutenden Höhe bringt einen gan^ eigenthümlichen Eindruck hervor. Die Bauart des übrigens ziemlich modernen Gebäudes ist plump und traurig; das Ganze wird aber durch byzantinische Arcaden, durch dauerhafte Treppenrampen und durch Verzierungen im Style des oströmischen Reiches imposant gemacht. Dieser Styl erhält sich in Rußland und er würde, mit Verstand angewendet, die einzige bei den Russen mögliche Nationalarchitectur haben geben können. Er ist in einem gemäßigten Clima erfunden und paßt für die Bedürfnisse der Bewohner des Nordens, wie für die Lebensweise der Südlander. Das Innere der byzantinischen Gebäude gleicht so ziemlich verzierten Höhlen und man findet darin wegen der Dauerhaftigkeit der massiven Mauern und des Dunkels der Wölbungen eben so wohl Schutz vor der Kalte als vor der Hitze. Man zeigte mir die Universität, die Cadettenschule, das St. Katharine»-, das St. Alerander-und das alerandrinische Institut, das Fmdelhaus u. s. w. Alles dies ist groß und 67 prächtig. Die Russm sind stolz darauf, den Fremden eine so große Anzahl scköner öffentlicher Anstalten zeigen zu können; ich für meinen Theil würde mich aber mir geringerer Pracht in dieser Art begnügen, denn nichts ist langweiliger, als diese weißen, prächtig einförmigen Paläste zu durchwandern, in denen Alles militärisch zugeht und das menschliche Leben der Wirkung eines Uhrrades unterworfen zu sein scheint. Fragen Sie Andre nach dem, was ich in diesen nützlichen und prächtigen Schulen gesehen habe, aus denen Ofsiciere, Familienmütter und Lehrerinnen hervorgehen; ich kann es Ihnen nicht sagen; nur soviel will ich bemerken, daß diese halb politischen, halb milden Anstalten Muster an guter Ordnung, sorgfältiger Unterhaltung und Reinlichkeit zu sein scheinen, was dcn Vorstehern dieser verschiedenen Schulen, so wie dem Staatsoberhaupte zur Ehre gereicht. Man kann diesen einzigen Mann, durch den Rußland denkt, urtheilt und lebt, keinen Augenblick vergessen, jenen Mann, das Wissen und Bewußtsein seines Volkes, der Alles versieht, abmißt, anordnet und vertheilt, was den andern Menschen nothwendig und erlaubt ist, deren Verstand, Willen, Phantasie und Leidenschaft er vertritt, denn unter seiner drückenden Regierung darf kein Geschöpf athmen, leiden und lieben außerkalb der im Voraus durch die höchste Weisheit angeordneten Grenzen, die für alle Bedürfnisse der Individuen und des Staates sorgt oder die doch dafür gilt, daß sie sorge. Bei uns wird man durch die Freiheit und Mannich-faltigkeit ermüdet, hier durch die Einförmigkeit entmuthigt und durch die Pedanteric erkaltet, die man von der Idee der Ordnung nicht mehr trennen kann, weshalb man das haßt, was man lieben sollte. Rußland, diese Nation in der Kindheit, ist eine große Schule und Alles geht darin zu 5* wie in der Kriegsschule, nur mit der Ausnahme, daß die Schüler sie erst verlassen, wenn sie sterben. Das Deutsche, was in dem Geiste der russischen Negie-rung liegt, widerstrebt dem slawischen Character; dieses orientalische, nachlässige, launenhafte, poetische Volk würde, wenn es sagte, was es denkt, sich bitter über die deutsche Disciplin beklagen, die ihm seit Alexis, Peter dem Großen und Katharina ll. durch eine Familie fremder Eouveraine auf>,enöthigt wird. Was auch die kaiserliche Familie thun mag, sie wird immer zu deutsch sein, um die Russen ruhig lenken zu können und sich ftst und sicher bei denselben zu fühlen*); sie unterjocht die Nation, regiert sie aber nicht. Nur die Bauern erkennen das nicht. Ich habe die Gewissenhaftigkeit des Reisenden so weit getrieben, daß ich mich sogar in die Reitschule führen ließ, welche vielleicht die größte in der Welt ist; die Deck? wird durch leichte und kühne eiserne Voqen getragen; es ist ein in seiner Art siaunenswerthcs Gebäude. Der Adelsclub ist in der jetzigen Jahreszeit geschlossen, ich begab mich aber auch dahin, um mich mit meinem Gewissen abzufinden. In dem Hauptsaale sieht man eine Statue Katharinas ll. Dieser Saal ist mit Säulen verziert und endiget sich an der einen Seite in einer .Halbrotunde. Er kann ungefähr 3W0 Personen fasten und man giebt da, wie man mir sagt, im Winter sehr glänzende Feste. Ich glaube gern an die Pracht der Balle in Moskau, denn die russischen Großen verstehen die Kunst vortrefflich, die l^------- *) D?c Romanows waren ursprünglich Preußen und sie habcn sick, seit sic durch Wahl auf dcn Thron berufen wurden, mcist mit deutschm Fürstinnen vermählt — gcgen bkc Gewohnheit der sonstigen mostmvitischcn Fürsten. sty einmal nothwendigen einförmigen Vergnügungen mannich-faltig zu machen; sie vcrsparen ihren ^urus auf die Parade-Vergnügungen; ihre Phantasie sindct Gefallen daran; sie sehen den Glanz für Civilisation, den Flimmer für Eleganz an und das beweist mir, daß sie noch ungebildeter sind, als wir gewöhnlich glauben. Vor etwas mehr als hundert Jahren dictirte ihnen Peter der Große Höslichkeitsgcsetze für icde Classe der Gesellschaft und er bcfahl Zusammenkünfte gleich den Ballen und Afsemblcen in dem alten Europa. Er nöthigte die Nüssen, einander zu diesen Gesellschaften einzuladen, dann zwang cr sie, ihre Frauen in dieselben mitzubringen und crmahnte sie, die Hüte bei dem Eintritte in das Zimmer abzunehmen. Wahrend aber dieser große Lehrer seines Volkes die Bojaren und Handelsleute von Moskau in der kindischen Höflichkeit unterrichtete, erniedrigte er sich selbst zu der Ausübung der gemeinsten Gewerbe und zwar vor allen Dingen zu dem des Henkers. Man hat gesehen, daß cr an einem Abende zwanzig Köpfe eigenhändig abschlug, und rühmte sich seiner Geschicklichkeit in diesem Handwerke, das er mit Mener Nohheit ausübte, als er über die schuldigen, aber noch unglücklicheren Etrelitzen trium-phirt hatte. Eine solche Erziehung, solche Beispiele gab man den Nüssen vor etwa cmderthalbliundert Jahren, während man in Paris den „Menschenfeind" aufführte. Und den Mann, von welchem sie solche Lehren empfingen, diesen würdigen Erben der Iwan, haben sie zu ihrem Gott, zu dem Musterbilde des russischen Fürsten für ewige Zeiten gemacht! Auch heute noch haben diese neu für die Civilisation Bekehrten ihre Emporkömmlingsvorliebe für Alles, was glänzt und die Augen anzieht, nicht verloren. Die Kinder und die Wilden lieben das Glänzende; die Russen sind Kinder, welche an das Unglück gewöhnt, aber 70^ durch dasselbe noch nicht klug geworden sind. Das ist, im Vorbeigehen sei es gesagt, die Ursache der Mischung von Leichtfertigkeit und Bissigkeit, welche sie characteristic. Die Annehmlichkeit eines gleichförmigen, ruhigen Lebens, dns nur darauf berechnet ist, die Bedürfnisse des Herzens zu befriedigen und das Vergnügen der Konversation und geistige Genüsse zu gewähren, würde ihnen nicht lange genügen. Die Großen sind indeß für diese höhern, verfeinerten Vergnügen nicht ganz unempfänglich, aber es müssen lebendigere Interessen in das Spiel kommcn, wenn man die arrogante Frivolität dieser verkleideten Satrapen fesseln und ihre umherschweifende Phantasie festhalten will. Die Spielsucht, die Umnaßigkeit, die Ausschweifung und die Freuden der Eitelkeit können die Leere dieser blasirten Herzen kaum ausfüllen. Die Schöpfung Gottes reicht nicht hin, die Sorglosigkeit dieser durch Unfruchtbarkeit ermüdeten, durch Trägheit abgestumpften Geister zu beschäftigen und den Tag dieser unglücklichen Reichen auszufüllen; sie rufen in ihrem stolzen Elende den Geist der Zerstörung zu Hilfe. Das ganze moderne Europa langweilt sich; man sieht es an der Art, wie die jetzige Jugend lebt; Rußland aber leidet an diesem Uebel mehr als irgend ein andrer Staat, denn hier ist Alles übertrieben. Es dürfte eine schwere Aufgabe sein, Ihnen die Nachtkeile der Uebersattigung in einer Bevölkerung, wie die von Moskau ist, zu schildern. Nirgends sind mir die Krankheiten der Seele, welche durch die Langeweile, diese Leidenschaft der Menschen ohne Leidenschaft, so häufig, so ernst erschienen, wie in Nußland unter den Großen; es scheint, als hatte die Gesellschaft hier mit den Mißbrauchen angefangen. Wenn das Laster nicht mehr genügt, von dem Herzen des Menschen die Langeweile fern 71____ zu datten, die an ihm nagt, so wendet sich dieses Herz zum Verbrechen. Ich werde Ihnen dies später beweisen. Das Innere eines russischen Kaffeehauses siebt seltsam genug aus. Denken Sie sich einen großen, niedrigen und schlecht beleuchteten Saal, der sich gewöhnlich im ersten Stock eines Hauses befindet. Man wird da von Mannern in einem weißen Hemd bedient, das über den lüften zusammengebunden ist und tunicaanig, oder, um einen minder cdeln Ausdruck zu brauchen, blousenartig auf weite weiße Beinkleider fallt. Diese Kaffeehauskellner haben lange schlichte Haare, wie alle Manner aus dem Völkc in Nußland, und sie gleichen ihrer Tracht nach den Theophilanthropen der fran« zösischen Republik oder Opernpriestem aus der Zeit, als has Qeidellthum aus der Bühne Mode war. Sie bringen schwel-geno vortrefflichen Thee, wie man ihn in keinem andern Lande findet, Kaffee und Liqueure; aber diese Bedienung geschieht mit einer Feierlichkeit und Stille, die von der lärmenden Lustigkeit in den Pariser Kaffeehäusern gewaltig absticht. In Rußland ist jedes Volksvergnügen melancholisch; die Freude wird hier ein Privilegium und ich habe sie deshalb auch immei outrirt, affcccirt, verzerrt und schlimmer als die Traurigkeit gesunden. In Rußland ist der, welcher lacht, ein Schauspieler, ein Schmeichler, oder ein Betrunkener. Das erinnert mich an die Zeit, in welcher die russischen Leibeigenen in ihrem naiven Knechtsfinnc glaubten, der Himmel sei nur für ihre Herrn geschaffen. Schreckliche Demuth des Unglücks! Sie erkennen daraus, wie die griechische Kirche das Volk das Christenthum lehrt. 72 Fortgesetzt in Mootau, den <5. Aug. l8N9. Abends. Die Gesellschaft in Moskau ist angenehm; die Verschmelzung der patriarchalischen Traditionen der alten Welt und der leichten Manieren des modernen Europa bringt etwas Originelles hervor; die Gastfreundschaft des alten Asien und die zierliche Sprache des civilisirten Europa haben sich hier ein Stelldichein gegeben, um das Leben leicht und angenehm zu machen. Moskau, an der Grenze der beiden Festlander erbaut, bezeichnet, mitten im Lande, einen 3luhe-punkt zwischen London und Pekin. Der Nachahmungsgeist hat hier den Nationalcharactcr noch nicht ganz verwischt; wenn das Musterbild fehlt, wird die Eovie fast ein Original. In Moskau genügt cine geringe Anzahl von Empfehlungsbriefen, um einen Fremden in Verbindung mit vielen durch Vermögen, oder durch Nang, oder durch Geist ausgezeichneten Personen zu dringen. Das Debut eines Reisenden ist also an diesem Orte sehr leicht. Vor wenigen Tagen erhielt ich eine Einladung zum Diner in ein Landhaus. Es ist dies ein Pavillon im Umkreise von Moskau; um aber dahin zu gelangen, fahrt man eine Stunde lang an einsamen Teichen und über Felder hin, die Steppen gleichen; nähert man sich der Wohnung, so erblickt man über dem Garten hinaus einen dunkeln Tannenwald, der nicht zu dem Park, nicht einmal mehr zu de-r Stadt gehört, dessen äußere Grenze er nur berührt. Wer würde sich nicht gleich mir über diese dunkeln Tiefen, über diese majestätische Landschafr, über diese wahre Einsamkeit in einer Stadt gefreut haben? Wer würde da nicht an ein Lager, an eine herumziehende Horde, kurz an etwas ganz Andres als an eine Hauptstadt gedacht haben, in welcher sich der ganze Luxus, dic ganze moderne Zivilisation befinden? Solche Eontraste sind charakteristisch; man kann nirgends etwas Aehnliches finden. 73 Man empfing mich in einem hölzernen Hause . . Eine andere Seltsamkeit'. In Moskau gewähren Vreter dem Rei-chen wie dem Muschik ein Obdach; beide schlafen unter grobbchauenen, aufeinander gelegten Balken. Das Innere dieser großen Hütten dagegen erinnert an den Luxus der schönsten Palaste Europas. Ich möchte ein hölzernes HauS haben, wenn ich in Moskau lebte! Es ist dies die einzige Wohnung in einem Nationalstyle und, was in meinen Augen noch mehr Werth hat, die einzige in diesem Clima zweckmäßige. Das hölzerne Haus gilt unter den achten Moskowitern für gesunder und warmer als das steinerne. Dasjenige, in welchem man mich empfing, sah bequem und elegant aus-, doch wird es von dem Eigenthümer, der die Wintermonate in einem andern Theile der Stadt, mehr in der Mitte verbringt, nur im Sommer bewohnt. Wir speiseten mitten im Garten und damit der Originalität nichts abgehe, war die Tafel unter einem Zelte gedeckt. Das Gesprach war sehr anstandig, obgleich unter Mannern, sehr lebhaft und sehr frei, was eine Seltenheit bei den Völkern ist, die sich für Meister in der Civilisation halten. Es waren Personen anwesend, die viel gesehen und viel gelesen haben und deren Urtheile ich richtig und fein fand. Die Russen sind Assen in den Gewohnheiten des eleganten Lebens; die aber, welche denken (die sich freilich zahlen lassen), werden in vertraulichen Gesprächen sie selbst, d. h. Griechen mit erblicher Feinheit und erblichem Scharfsinne. Das Diner kam mir sehr kurz vor, obgleich «s sehr lange dauerte. Ich muß dabei bemerken, daß ich die Gäste, als wir an der Tafel Platz nahmen, zum ersten und den Herrn vom Hause zum zweiten Male sah. Es ist dies keine gleichgültige Bemerkung, denn ein Fremder kann sich nur bei großer und achter Artigkeit so ^74___ schnell wohl fühlen. Unter allen Erinnerungen von meiner Reise wird mir die an diesen Tag eine der angenehmsten bleiben. In dem Augenblick?, als ich Moskau verlassen will, um auf dem Rückwege nur hindurch zu reisen, hatte ich es für nicht unpassend, Ihnen den Character der Russen so zu schildern, wie ich ihn nach meinem, freilich kurzen Aufenthalte in ihrem Vaterlande gefunden habe. Ich habe indeß diesen meinen Aufenthalt unter ihnen fortwahrend benutzt, aufmerksam eine Menge Personen und Sachen zu beobachten und viele verschiedene Facta mit gewissenhafter Sorgfalt zu vergleichen. Die Mannichfaltigkeit der Gegenstande, die in den Gesichtskreis eines Reisenden kommen, der durch die Umstände so begünstigt wird, wie ich es war, und der so thatig ist, wie ick es bin, wenn meine Neugierde angeregt ist, ersetzt bis zu einem gewissen Punkte die Muße und die Zeit, dir mir fehlten. Sie wissen es und ich hade es Ihnen oft gesagt, daß ich gern bewundrc und dies muß meinen Urtheilen, wenn ich nicht bewundre, eine gewisse Bedeutung geben. Die Leute in diesem Lande scheinen mir im Allgemeinen keine Neigung zum Eoelmuthe zu haben; sie glauben nicht an denselben, sie würden ihn selbst laugncn, wenn sie es wagten, und wenn sie ihn nicht luignen, so verachten sie ihn, weil sie in sich selbst keine,n Maßstab dafür haben. Sie besitzen mehr Feinheit als Zartheit, mehr Weichheit als Empfänglichkeit, mehr Gewandtheit als Sichgehenlassm, mehr Grazie als Innigkeit, mehr Scharfsinn als Erfindungsgabe, mehr Geist als Phantasie, mehr Beobachtungsgabe als Geist, mehr Berechnung als Alles. Sie arbeiten nicht, um zu einem für Andere nützlichen Resultate zu gelangen, sondern um einen Lohn zu erhalten ', das schöpferische Feuer 73 ist ihnen versagt; cs fchlt ihnen die Begeisterung, welche das Erhabene erzeugt; die Quelle der Gefühle, die nur sich selbst als Richter und Vergelter wollen und bedürfen, ist ih-nm unbekannt. Nimmt man ihnen die Triebfeder des Interesses, der Furcht und der Eitelkeit, so nimmt man ihnc-n die Wirkungskraft; betreten sie das Gebiet der Künste, so sind sie wie Sclaven, die in einen Palaste dienen', das stille Allerheiligste des Genies bkibt ihnen unzugänglich; die keusche Liebe zum Schönen genügt ihnen nicht. Mit ihren Handlungen in dem practischen Leben ist es wie mit ihren Schöpfungen in der Äielt des Gedankens; wo die List triumpbirt, gilt die Großmuth für Dummheit. Die Großherzigkeit sucht ihren Lohn in sich selbst, ich weiß es; wenn sie aber auch nichts verlangt, so gebietet sie viel, denn sie will die Menschen besser machen; hier würde sie die Menschen schlechter machen, weil man sie nur für eine Maske halten würde. Die Milde heißt bei einem durch die Herrschaft des Schreckens verhärteten Volke Schwachheit; nichts entwaffnet dasselbe als die Furcht; unter rücksichtsloser Strenge beugt es die Knie, bei der Verzeihung würde es den Kopf emporrichten; man kann es nicht überzeugen, nur unterjochen; des Stolzes ist es nicht fähig, aber es kann kühn sein; es empört sich gegen die Sanftmuth und gehorcht der Rohheit, die es für Kraft hält. Dies erklärt mir das von dem Kaiser angenommene Regierungssnstem, wenn ich es auch nicht billigen kann. Dieser Fürst weiß und thut, was nöthig ist, um sich Gehorsam zu verschaffen! aber in der Politik bewundre ich das Nothwendige nicht. Hier ist die Disciplin der Zweck, an andern Orten das Mittel; sie ist die Tchule der Nationen, die ich von den Negierungen verlange. Kann man es einem Fürsten verzeihen, daß er den guten Regungen seines Herzens 7<; nicht folgt, weil er es für gefährlich hält, Ansichten und Gefühle zu zeigen, die zu hoch über denen seines Volkes stehen? In meinen Augen ist die schlimmste Schwäche die, welche unbarmherzig und hart macht. Wer sich der Großmuth schämt, gesteht, daß er der höchsten Macht nicht würbig ist. Man muß die Völker unaufhörlich an das erinnern, was mehr Werth hat als die Welt; wie sollen sie zu dem Glauben an Gott gebracht werden, wenn nicht durch die Vergebung? Die Klugheit wird nur dann erst eine Tugend, wenn sie eine höhere nicht ausschließt. Wenn der Kaiser nicht mehr Mi!de in seinem Herzen hat, als er in seiner Politik zeigt, dann beklage ich Rußland; sind seine Gesinnungen und Gefühle besser als seine Handlungen, dann beklage ich den Kaiser. Die Nüssen haben, wenn sie liebenswürdig sind, in ihrem ganzen Wesen etwas Anziehendes, Verführerisches, das sich auch bei dem größten Vorurtheile fühlbar macht, anfangs unbemcrklich, spater so, daß man sich ihm nicht entziehen mag und nicht entziehen kann. Einen solchen Einfluß dcsi-niren, hieße die Phantasie erklären, den Zauber in Regeln bringen; er ist ein unwiderstehlicher, obgleich unbemerklicher Reiz, eine souveraine Macht, die Folge der den Slawen angeborenen Grazie, jener Gabe, die in der Gesellschaft viele ander? ersetzt, aber durch nichts erseht werden kann, denn man kann die Grazie wohl gerade das nennen, was Alles das entbehrlich macht, was man nicht besitzt. Denken Sie sich die selig verstorbene französische Artigkeit wieder erstanden und wirklich das geworden, was sie zu sein schien; denken Sie sich die vollkommenste nicht studirte Freundlichkeit, das unwillkürliche nicht erlernte Selbstvergessen, die Natürlichkeit in dem guten Geschmacke, die elegante Aristocratic ohne mürrisches Wesen, die Ungezwungenheit, __77^ die Andern nicht lästig wird, den Instinct der Ueberlegenheit gemäßigt durch das Gefühl der Sicherheit, das die Größe immer begleitet', — doch ich bemühe mich vergebens, flüchtige Nuancen fest zu halten; es sind dics Feinheiten, die man fühlt; man muß sie errathen, und sich hüten ihre flüchtige Erscheinung durch das Wort zu siriren; man sindcr sie alle und noch andere in dem Benehmen und dcr Conversation der wahrhaft eleganten Russen und zwar häufiger vollständiger bei denen, welche keine Reisen machten, abec in Rußland mit einigen ausgezeichneten Reisenden in Berührung kamen. Diese Annehmlichkeit; dieser Zauber giebt ihnen eine unwiderstehliche Gewalt über die Herzen; solange man neben diesen bevorzugten Wesen bleibt, tragt man das Joch und der Zauber ist ein doppeller, denn man glaubt, für sie dasselbe zu sein, was sie für uns sind; das ist ihr Triumph. Die Zeit und die Welt existiren nicht mehr; Verabredungen, Geschäfte, Langeweile und Vergnügungen werden vergessen und die gesellschaftlichen Pflichten sind abgeschafft; es bleibt nur ein einziges Interesse, das des Augen-blickes, eine einzige Person, die anwesende, welche immer die geliebte Person ist. Das bis zu diesem Uebermaße getriebene Interesse zu gefallen gelingt unfehlbar; es ist das Erhabene des guten Geschmacks, die rafsmittesie Eleganz, und Alles dies natürlich wie der Instinct. Diese höchste Liebenswürdigkeit ist keineswegs Falschheit, sondern ein Talent, das nur geübt sein will; um die Illusion zu verlangern, brauchte man sich nur nicht zu entfernen; aber man entfernt sich und Alles ist verschwunden bis auf die Erinnerung, welche man mit sich nimmt. Man entferne sich aber, es ist dies immer das Sicherste. Die Russen sind die ersten Schauspieler in der Welt und brauchen, um Effect zu machen, nicht einmal die Illusion d" Bühne. ^ 78 Alle Reisende haben ihnen ihre Flüchtigkeit und Unbeständigkeit vcrgeworfen und dieser Vorwurf ist nur zu sehr begründe:. Sobald man Abschied von ihnen nimmt, ist man vergessen. Ich schreibe dies der Leichtfertigkeit ihres Characters, dcr Unbeständigkeit ihreS Herzens, aber auch dem Mangel an solider Bildung zu. Eie sehen es gern, daß man sie verlaßt, weil sie fürchten durchschaut zu werden, wenn sie sich cinc Zeillang ununterbrochen beobachten lassen müssen-, deshalb folgen Uebevolle Anhänglichkeit und Gleichgültigkeit bei ihnen rasch auseinander. Diese scheinbare Unbeständigkeit ist nicht als eine wohlverstandene Vorsicht der Eitelkeit, die man bei den Personen der großen Welt in a!lm Landern ziemlich hausig findet. Man verbirgt so sorgfältig nicht das Vose, sondern die Leere; man schämt sich nicht, schlecht zu sein, sondern fürchtet, nichtig zu erscheinen. Nach diesem Princip zeigen die Russen der großen Welt gern Geist und Character, was im Anfange recht wohl gefällt und auf einige Stunden die Konversation belebt; versucht man aber, hinter die Decoration zu blicken, die anfangs blendete, so wird man zurückgehalten wie ein Neugieriger, der den Schirm in ihrem Schlafzimmer bei Seite rücken wollte, dessen Eleganz auch eine blos äußerliche ist. Eie nehmen den Fremden aus Nmgierde auf und weisen ihn dann aus Klugheit zurück. Dies gilc von der Freundschaft wie von der Liebe, von der Gesellschaft der Herren, wie von der der Frauen. Wenn man das Portrait eines Russen entwirft, malt man die Nation, wie ein Soldat unter den Waffen ein Bild von seinem ganzen Regiments giebt. Nirgends tritt der Einfluß der Einheit in der Regierung und in der Erziehung deutlicher hervor als hier. Alle Gelster trag.n in Rußland Uniform. Ist man jung und lncht beweglich, so muß man viel leiden, 7!) wmn man die Einfachheit der andern Völker zu diesem Volke mit dem kalten Herzen und dem durch die Natur und die sociale Erziehung geschärften Geiste bringt! Ich denke mir die deutsche Gemüthlichkeit, die vertrauensvolle Natürlichkeit der Franzosen, die Beständigkeit der Spanier, die Leidenschaft der Englander, die Hingebung, die Gut-müthigü'it der ächten und alten Italiener im Kampfe mit der angebornen Koketterie der Nüssen und beklage die armen Fremden, die einen Augenblick glauben, in dem Schauspiele, das sie hier erwartet, mitwirkend auftreten zu können. In Herzensangelegenheiten sind die Russen' die sanftesten wilden Thiere von der Welt und ihre eingezogenen Klauen benehmen leider ihren Annehmlichkeiten nichts. Ich habe mich nie unter einem solchen Zauber befunden, als etwa in der polnischen Gesellschaft, — eine neue Aehn-lichkeit, die zwischen den beiden Familien besteht! Wenn auch der bürgerliche Haß diese Völker trennt, die Natur vereinigt sie ihnen zum Troh. Wcnn die Politik das eine nicht nöthigte, das andre zu unterdrücken, würden sie einander näher kennen lernen und lieben. Die Polen sind ritterliche und katholische Russen mit dem Unterschiede, daß in Polen die Frauen leben oder, richtiger ausgedrückt, herrschen, in Nußland dagegen die Männer. Aber dieselben Menschen, die so natürlich liebenswürdig, so begabt sind, diese so reizenden Personen verfallen bisweilen in Seltsamkeiten, die von Leuten von dcm gemeinsten Character vermieden worden sein würden. Sie können sich keine Vorstellung von dem Leben mehrerer der ausgezeichnetsten jungen Manner in Moskau Machen. Diese jungen Herren, welche Namen führen und Familien angehören, die in ganz Europa bekannt sind, überlassen sich Ausschweifungen, die gar mchr genauer zu be> zeichnen sind; man sieht sie bis zum Tode zwischen dem Scroll zu Eonstantinopel und der Halle zu Paris hin- und liersclnranken. Man begreift nicht, wie sie sechs Monate lang die Le« bensweise aushalten können, die sie bis an ihr Ende fortsetzen und mit einer Ausdauer, die des Himmels würdig sein würde, wenn sie der Tugend gälte. Es sind Temperamente, welche für die anticipate Hölle ausdrücklich geschaffen worden zu sein schienen; und anticipirte Hölle nenne ich das Leben eines Wüstlings von Profession in Moskau. Alles Schwache wird hier dem Körperlichen nach durch das Elima, dem Geistigen nach durch die Regierung im Keime erstickt; was nicht kraftig und dumm ist, unterliegt gleich bei der Geburt; nur das Vieh und die im Guten n'ie im Schlechten starken Naturen erhalten sich. Nußland «st das Vaterland der zügellosen Leidenschaften oder der schwachen Character?, der Empörer oder der Automaten, der Verschwörer oder der Maschinen; ein Mittelwescn zwischen dem Tyrannen und dem Sclaven, zwischen dem Wahnsinnigen und dem Vieh giebt es hier nicht; die rechte Mitte ist hier zu Lande unbekannt, die Natur will sie nicht; die übermaßige Kalte und Hitze treiben den Menschen zu dm Extremen. Ich will damit nicht sagen, daß starke Seelen in Rußland minder selten waren als sonst wo, im Gegen-lkeil, sie sind seltener wegen der Apathie der großen Mehrzahl; die Uebertreibung ist ein Symptom der Schwache. Die Nüssen besitzen nicht alle Fähigkeiten, die ihrem Ehrgeize entsprechen. Trotz den Contrasten, die ich angedeutet habe, sind in einer Hinsicht Alle einander gleich; Alle sind leichtsinnig. Diese Menschen des Augenblickes vergessen jeden Morgen einen Plan vom vorigen Abende. Das Herz scheint bei 51 ibnen die Herrschaft dcs Zufalls zu sein; sie greifen leicht AlleS auf, lassen es aber auch eben so leicht wieder fahrm. Sie sind kein ursprüngliches, sondern ein reflectirtes Licht; sie träumen und erregen Träume; sie weiden nicht geboren, sondern erscheinen; sie leben und sterben, ohne die ernste Seite des Lebens erkannt und gekannt zu haben. Nichts ist bei ihnen Wirklichkeit, weder das Gute, noch das Böse-, sie können weinen, aber nicht unglücklich sein. 'Paläste Berge, Riesen, Sylphen, Leidenschaften. Einsamkeit, glänzende Menge, höchstes Glück, unbegrenzter Schmerz, eine ganze Welt führt eine viertelstündige Unterredung mit ihnen vor dem geistigen Auge vorüber. Ihr schneller wegwerfender Blick streift, ohne etwas zu bewundern, über die Erzengnisse des menschlichen Verstandes, welche in Jahrhunderten hervorgebracht worden sind; sie glauben sich über Alles zu stellen, wenn sie Alles verachten; ihre Lobeserhebungen sind Beleidigungen; sie loben wie Neidische, und werfen sich, aber stets ungern, vor dem nieder, was sie für den Götzen der Mode halten. Bei dem ersten Windstoße aber folgt die Wolke dem Bilde, und die Wolke verschwindet ihrerseits. Aus diesen unbeständigen Köpfen kann mchcs hervorgehen als Staub und Nauch, Chaos und Nichts. In einem so sehr beweglichen Boden kann Nichts Wurzel fasten. Alles verwischt sich, Alles wird gleich gemacht, und die Nebelwllt, in der sie leben und uns leben lassen, erscheint und verschwindet, wie es ihre Gebrechlichkeit wünscht. Dagegen endigtt auch Nichts in diesem flüssigen Elemente; die Freundschaft, die Liebe, die man für verloren hielt, werden durch einen Blick, durch ein Wort wieder in's Lcben gerufen, wenn man es gar nicht erwartet; freilich schwinden sie auch so schnell wieder, als sie von Neuem erschienen. Unter dem fortwährend bewegten Zauberstabe dieser Zauberer 52 ist das Leben eine ununterbrochene Phantasmagorie, cm ermüdendes Spiel allerdings, bei dem aber nur die Unge-schickten unterliegen, denn wo Jedermann betrügt, wird Niemand , hintergingen. Sie sind, mit einem Worte, falsch wie das Wasser, nach dem poetischen Ausdrucke Shakespeares, dessen breite kraftige Pinselstriche, Offenbarungen der Natur sind. Dies erklart mir, warum sie bis jetzt durch die Vorsehung da;u bestimmt worden zu sein scheinen, despotisch regiert zu werden; man tyrannisirt sie eben so wohl aus Mitleiden als aus Gewohnheit. Wenn ich nur an einen Philosophen, wie Sie einer sind, schriebe, so wäre hier der Ort, EinzewlMttn über die Sitten mitzutheilen, welche keine Aehnlichkeit mit etwas haben, was Sie jemals gelesen haben, selbst in Frankreich, wo man so viel schreibt und beschreibt; aber ich sehe hinter Ihnen das Publikum, und dies hält mich ab; Sie werden sich das denken, was ich Ihnen nicht sage, ober vielmehr, Sie werden es sich niemals vorstellen können. Da die Uc-bergriffe des Despotismus, die allein eine solche moralische Anarchie veranlassen können, wie ich sie hier herrschen sehe, nur vom Hörensagen bekannt sind, so werden Ihnen die Folgen unglaublich erscheinen. Wo die gesetzliche Freiheit fehlt, fehlt nie die ungesetzliche; wo der Gebrauch untersagt ist, stellt sich der Mißbrauch ein; wo man das Recht laugnet, ruft man den Betrug hervor-. wo man Gerechtigkeit versagt, öffnet man dem Verbrechen Thor und Thüre. Es ist mit gewissen politischen Konstitutionen und gewissen socialen strengen Bestimmungen wie mit der Censur, die von den Zollwaclnern ausgeübt wird, welche auch nur die verderblichen Bücher passiren lassen, weil man 83^ sich nicht die Mühe giebt, sie wegen unschuldiger Bücher zu hintergehen. Es folgt daraus, daß Moskau diejenige Stadt in Europa ist, wo sich der vornehme Liederliche am freicstm bewegen kann. Die Regieiung des Landes ist zu aufgeklärt, als daß sie nickt wissen sollte, daß unter der absoluten Gewalt die Empörung irgendwo ausbrechen muß, und sie sieht dieselbe, lieber in den Sitten als in der Politik. Das erklart die Freiheit der Einen und die Duldung der Andern. Die Sittenverderbniß hat indeß hier noch mehrere andere Ursachen, doch fehlt es mir an Zeit und Mitteln, dieselben genau zu ermitteln. Auf eine nur will und muß ich Sie aufmerksam machen, nuf die große Zahl der übelberüchtigten Personen von gutem Herkommen, welche in Ungnade gefallen sind, und in Mos-kau sich niederlassen. Nach den Orgien, welche unsere moderne Literatur uns so wohlgefällig geschildert hat, wissen Sie, mit welchen Details, aber aus moralischen Zwecken, wcnn man unsern Schriftstellern glauben darf, wir in Hinsicht auf ein liederliches Leben vertraut sein sollten. Ich verdamme dcn sogenannten nützlichen Zweck nicht, dulde ihve Predigten, lege ihnen aber sehr wenig Werth bei, dcnn in der Litcratur giebt es noch etwas Schlimmeres als das Unmoralische, — das Un^ edle, das Gemein? nämlich; wcnn man unter dem Vorwande, heilsame Reformen unter den untersten blassen der Gesellschaft hervorzurufen, den Geschmack dcr höhern blassen verdirbt, so thut man auch Böses. Wenn man die Frauen die Sprache der gemeinen Schenken reden oder nur hören laßt, wenn man bei den Männern aus d.n hohem Scändm die Vorliebe für die Rohheit weckt, so fügt man dcn S'ttm lin.'r Naiwn einen Schaden zu, den leine gesetzliche Reform 0" ___84 ^ ausgleichen kann. Die Literatur ist bei uns verloren, weil unsere geistreichsten Schriftsteller alles poetische Gefühl, jede Achtung für das Echöne bei Seite sehen, für die Leute schreiben, die in dem Omnibus fahren und vor den Barrieren sich herum treiben, und statt diese neuen Nichter zu den An: sichten zartfühlender und edeler Geister zu erheben, sich zu dem herablassen, was den Neigungen der ungebildetsten Geister entspricht, die auf diese Weise im Voraus für alle höhern Genüsse abgestumpft werden. Man liefert Scheidewasserliteratur, weil man mit dem feineren Gefühle auch die Fähigkeit verloren hat, sich für einfache Dinge zu intercssiren. Dies ist ein weit ernsteres Uebel, als alle die Inconsequenzen in den Gesetzen und den Sitten der alten Gesellschaften, die man nachweifet, und auch eine Folge des modernen Materialismus, der Alles auf den Nutzen reducirt, und den Nutzen nur in dttl unmittelbarsten positivsten Resultaten des Wortes sieht. Wehe dem Lande, in welchem die Meister in der Kunst zu Dienern der Polizei sich herabwürdigen! Wenn ein Schriftsteller sich genöthigt sieht, das Laster zu schildern, so muß er doppelt Rücksicht auf den guten Geschmack nehmen, und die ideale Wahrheit zum Typus selbst der gemeinsten Gestalten machen. Leider erkennt man aber in den Betheue-mngen unserer Moral-Romandichter, oder vielmehr morali-sirendm Nomandichter nur zu oft weniger die Liebe zur Tugend, als Gleichgültigkeit gegen den guten Geschmack. Es fehlt ihren Werken die Poesie, weil es ihrem Herzen an Glauben Mt. Das Laster zu veredeln, wie es Richardson im ,,Lovelace" gethan hat, heißt keineswegs die Seelen verderben, sondern von der Phantasie den Schmutz fernhalten, und die Gemüther vor Entwürdigung bewahren. Darin liegt, von künstlerischer Scire betrachtet, eine moralische Absicht, und diese Achtung vor dem Zartgefühle des Lesers scheint mir für die civilisirte Gesellschaft weit wesentlicher zu sein, als die genaue Kenntniß der Schlechtigkeiten ihrer Banditen, und der Tugenden und Naivetät ihrer Freudenmädchen. Man verzeihe mir diese Abschweifung auf das Gebiet der Kritik unserer Tage; ich kehre sogleich wieder zu den begrenzten und beschwerlichen Pflichten eines wahrheitsliebenden Reisenden zurück, die leider nur zu oft mit den Gesetzen der literarischen Werke, an die ich Sie aus Achtung vor meiner Muttersprache und meinem Vaterland erinnert habe, in Widerspruch gerathen. D>e Schriften unserer kühnsten Sittenmaler sind nur schwache Kopien der Originale, welche ich täglich vor Augen sehe, seit ick in Rußland bin. Unredlichkeit ist überall, nachtheilig, besonders in Handels-angelegenheiten; hier erstreckt sie sich nrch weiter; sie h^mmt sogar die Wüstling? in der Ausführung ihrer geheimsten Contract?. Die fortwährenden Münzanderungen begünstigen in Moskau alle Ausflüchte-, in dem Munde eines Russen ist nichts bestimmt; er giebt kein versprechen unumwunden und verbürgt, und bei dieser Unbestimmtheit der Rede gewinnt sein Beutel stets etwas. Diese allgemeine Verwirrung ist sogar ein Hinderniß bei den Liebesverhältnissen, weil jede der beiden Parteien die Doppelzüngigkeit der andern kennt, und voraus bezahlt sein will; die Folge dieses gegenseitigen Mißtrauens ist die Unmöglichkeit, trotz dem guten Willen der Contrahi-»enden, zu einem bestimmten Uebereinkommen zu gelangen. Die Madchen vom Lande sind schlauer als die Städterinnen; diese doppelt verdorbenen jungen Wilden verstoßen bisweilen sogar gegen die ersten Regeln der Prostitution, und entfliehen mit ihrem Lohn, ehe sie die entehrende Schuld abgetragen haben. __86 In andern Ländern hallen die Vandiccn ibre Schwüre, und sind Räuber von Treu und Glauben; die russischen Courtisanen dagegen, und die Frauen, welche mit diesen Geschöpfen wetteifern, kennen nichts .heiliges, nicht einmal die Ehrlichkeit der Ausschweifung, die nothwendige Garantie bei der Ausübung ihres Gewerbes. Selbst das schmachvollste Gewerbe kann die Ehrlichkeit nicht entbehren. Ein Affilier, ein Mann mit berühmtem Namen und von vielem Geist, erzählte mir diesen Morgen, daß ihn seit den Lehren, die er erhalten und die er theuer babe bezahlen müssen, keine Schöne vom Lande, wie unwissend und einfaltig sie ihm auch scheinen möge, bewegen könne, mehr als ein Versprechen zu geben; „wenn Du mir nicht traust, traue ich Dir nicht," — diese Worte setze cr unerschütterlich allen Anforderungen entgegen. Die Civilisation, die anderwärts die Herzm erhebt, zieht sie hier tiefer herunter. Die Russen würden besser sein, wenn sie roher blieben; wenn man die Sclaven gebildet macht, versündiget man sich an der Gesellschaft, Der Mensch muß eine gewisse Tugend besitzen, um die Bildung crcragen zu können. Das russische Volk ist durch seine N,a>rung schweigsam und hinterlistig geworden, wahrend es sonst sanft, heiter, gehorsam, friedlich und schön war. Das sind gewiß groß« Gaben, aber wo die Redlichkeit fehlt', fehlt Alles. Die mongolische Habgier dieses Volkes, und das nicht 511 beseitigende Mißtrauen äußern sich in den geringsten Lebensumstanden, wie bei den wichtigsten Angelegenheiten. In den lateinischen Landern wird das Versprechen für etwas .heiliges gehalten, und das Wort ist ein Pfand zwischen dem, der es giebt, und jcncm, der es empfangt. Vei den Griechen 87 dagcgm und deren Schülern, den Russen, ist das Wort eines Mannes nur der Nachschlüssel eines Diebes; es dient da;u, bei andern Eingang zu finden. Man lehrt von der griechischen Religion weiter nichts, als bei jeder Gelegenheit auf der Straße vor einem Bilde sich zu bekreuzigen, und dasselbe zu thun, wenn man Platz bei Tische nimmt, und wenn man vom Tische aufsteht (selbst bei den vornehmen Leuten)-, das Uebrige mag man errathen. Die Unmaßigkeit sich spreche nicht blos von der Trunksucht der gemeinen Leute) wird hier so weit getrieben, daß einer der beliebtesten Manner in Moskau, einer der Tonan-gebcr der Gesellschaft, jedes Jahr regelmäßig sechs Wochen lang verschwindet. Fragt man, was aus ihm geworden, so erhält man die Antwort: ,,er betrinkc sich." Diese Antwort stellt Jedermann zufrieden. Die Russen sind zu leichtsinnig, als baß sie rachsüchtig sein könnten; sie sind elegante Verschwender. Ich wiederhole es gern, sic sind im höchsten Grade liebenswürdig, aber ihre Artigkeit artet bisweilen, so einschmeichelnd sie auch ist, in eine lastige Uebertreibung aus. Da sehne ich mich nach ihrer Grobheit, die doch wenigstens das Verdienst hatte, natürlich zu sein. Das erste Gesetz bei der Artigkeit besteht darin, sich nur solche Lobeserhebungen zu gestatten, die angenommen werden können, die andern sind Beleidigungen. Die achte Artigkeit ist nichts als eine Reihe gut verhüllter Schmeicheleien; es giebt aber nichts, was eben so schmeichelhaft ware, als die Herzlichkeit, denn diese muß man fühlen, wenn man sie äußern will. Wenn es sehr artige Russen giebt, so giebt es aber auch sehr unartige; diese sind empörend neugierig; sie fragen wie Wilde nach den wichtigsten Dingen wir nach den uninterls-santesten Kleinigkeiten; sie stellen dem Fremden Kinder- und Epionenfragen zu gleicher Zeit, denn sie wollen Alles wissen. Die Slawen, die von Natur neugierig sind, unterdrücken diese Neugierde nur durch die gute Erziehung und durch ihren Umgang mit der vornehmen Welt; Diejenigen aber, welche diese Vorzüge nicht besitzen, werden mit Aussragen nicht fertig; sic wollen den Zweck und das Resultat der Reise wissen', sie fragen keck und b!s zum Ucberdruße, ob man Rußland den andern Landern vorziehe, ob man Moskau schöner finde als Paris, den Winterpalast in Petersburg prächtiger als die Tuilerien, und (Izarskoje Selo größer als Versailles, und mit jeder neuen Person, der man vorgestellt wird, muß man diese Katechismuskapitel von Neuem aufsagen, in denen die Nationaleitelkeit sich heuchlerisch an die Höflichkeit des Fremden wendet. Diese schlecht verhüllte Eitelkeit bringt mich um so mehr auf, als sie immer in einer Maske von Bescheidenheit erscheint, die verleiten soll. Man hat micb mit einem Manne bekannt gemacht, den man mir als ein beachtenswerihes Musterbild geschildert hatte-, es ist ein junger Mann mit berühmtem Namen, der Fürst*""', der einzige Sohn eines sehr reichen Mannes, aber dieser Sohn braucht noch einmal so viel, als er hat, und bebandelt seinen Weist und seine Gesundheit wie sein Vermögen. Das Wirthshausleben nimmt ihn täglich achtzehn Stunden in 'Anspruch, und das Wirthshaus ist sein Königreich; hier herrscht er; auf dieser unedeln Bühne entfaltet «r ganz natürlich und ohne es zu wollen, große und edle Eigenschaften; er besitzt ein geistreiches und schönes Gesicht, was überall ein Vortheil ist, selbst in diesen Kreisen, wo das Schönheitsgefühl nicht vorherrscht; er ist gut und schalthaft; 89 man erzahlt von ihm mehrere Züge seltener Dienstbereit-willigkeit, selbst eines rührenden Mitgefühls. Da sein Lehrer ein sehr ausgezeichneter Minn, ein alter ausgewanderter französischer Abb«' war, so ist er sehr gebildet; sein lebhafter Geist besitzt großen Scharfsinn; er scherzt auf eine nur ihm eigene Wcise, aber seine Sprache und seine Handlungen sind so roh, daß sic eben nur in Moskau geduldet werden können; sein angenehmes aber unruhiges Gesicht verrath den Zwiespalt zwischen seiner Natur und seiner Lebensweise; er ist durch Ausschweifung geschwächt, ehe er gelebt hat, und muthig in einem unwürdigen Leben, das doch den Muth beeinträchtigt. Seine ausschweifende Lebensweise hat seinem Gesichte Spuren eines frühzeitigen Alters aufgedrückt, gleichwohl haben diese Zerstörungen der Thorheit, nickt der Zeit, den fast kindlichen Ausdruck seiner edeln und regelmäßigen Züge nicht zu ändern vermocht. Die angeborne Grazie schwindet erst mit dem Leben, und wie der Mensch, der sie besitzt, sich auch bemühen möge, sie zu verlieren, sie bleibt ihm unwillkürlich treu. Man wird in keinem andern Lande einen Mann finden, welcher dem jungen Fürsten *** gleicht; hier giebt es mehr als einen dergleichen. Er ist von einer Menge junger Leute, seiner Schüler und Nacheiferer, umringt, die ihm an Geist und Gemüth nicht gleich kommen, aber alle eine gewisse Familienähnlichkeit unter einander haben; es sind — Nüssen und man erkennt es auf den ersten Blick, daß es eben nur Russen sein können. Deshalb möchte ich Ihnen gern einige Details über das Leben geben, das sie führen . ., aber leider entfällt schon hier die Feder meiner Hand, da ich Ihnen die Verbmoungen dieser Wüstlinge, nicht mit Freudenmädchen, sondern mit jungen Nonnen entdecken muß, welche nicht 90 streng beobachtet sind, wie Sie sogleich sehen werden; es widerstrebt mir, Ihnen diese Dinge zu erzählen, welche etwas zu stark an unsre Nevolutionsliteratur von 1793 erinnern. Warum, werden Sie fragen, den Schleier lüften, da man im Gegentheile solche Ausschweifungen sorgfältig verhüllen sollte? Vielleicht verblendet mich meine Vorliede für die Wahrheit, aber ich glaube, das Schlechte triumphirt, wenn es verborgen bleibt, wahrend es halb überwunden ist, sobald es an das Licht der Oessentlichkeit gebogen wird; und habe ich mir nicht vorgenommen, das Land zu schildern wie ich es sehe? Ich gebe keine Compilation, sondern eine wahrhafte und möglichst vollständige Schilderung. Ich reise, um die Gesellschaften zu schildern wie sie sind, nicht um sie darzustellen, wie sie sein sollten. Aus Zartgefühl lege ich mir nur das eine Gesetz auf, die «Personen nicht zu bezeichnen, die unbekannt zu bleiben wünschen. Der Mann, denn ich als Musterbild der schamlosesten liederlichen Personen in Moskau herausgreife, treibt die Mißachtung des Tadels so weit, daß er, wie er mir gesagt hat, selbst wünscht, von mir so dargestellt zu werden wie ich ihn sehe. Ich erwähne mehrere Dinge, die er mir erzählt hat, aber nur weil sie mir durch Andere bestätigt wurden. Sie sollen nicht an die patriotischen Lügen der guten Russen glauben, denn Sie würden ihnen sonst zugestehen, daß die Disciplin der griechischen Kirche strenger und wirksamer sei, als es sonst in Frankreich und an andern Orten die der katholischen Kirche gewesen. Wenn ich zufallig eine schandliche Handlung erfahre wie die, welche Sie nachstehend lesen werden, so halte ich mich nicht für verbunden, Ihnen das ungeheure Verbrechen zu verschweigen. Erfahren Sie also, daß es sich um nichts weniger als um den Tod eines jungen Mannes handelt, 91 der in dem Kloster * * durch die Nonnen selbst umgebracht wurde. Der Vorfall wurde mir gestern frei an der Table d'hnte vor mehreren bejahrten ernsten Personen, vor Beamten und Angestellten erzählt, welche mit außerordentlicher Geduld diese (^schichtr und mehrere andere derselben Art anhörten, die alle sehr gegcn dir Men Citten sind; sie würden sicherlich auch nicht den leisesten für ihre Würde beleidigenden Scherz geduldet haben. Ich halte deshalb die Sache für wahr, zumal sie auch durch mehrere Personen von dem Gefolge des Fürsien " * bestätigt wurde. Ich habe diesen merkwürdigen jungen Mann den Don Juan des alten Testaments genannt, so sehr scheint mir seine Tollheit und Keckheit die gewöhnlichen Grenzen der Schamlosigkeit bei den neuern Nationen zu überschreiten . . Ich k»mn es Ihnen nicht oft genug wiederholen, in Rußland ist nichts klein oder gemäßigt; wenn das Land auch nicht das Land der Wunder ist, wie mein italienischer Cicerone sich ausdrückt, so ist es doch ein Land von Niesen. Die Sache wurde mir auf folgende Weise erzahlt. Ein junger Mann, der einen ganzen Monat in dem Nonnenkloster *" versteckt zugebracht hatte, wurde endlich seines übergroßen Glückes dermaßen überdrüßig, daß er auch die heiligen Jungfrauen langweilte, denen er seine Freude und Genüsse so wie die darauf folgende Uebersattigung verdankte. Er war ganz matt geworden und die Nonnen, die ihn bei Seite schassen wollten, aber doch das Aergerniß scheuten, wenn sie ihn aus dem Kloster entließen und er draußen stürbe, kamen zu der Ansicht, daß es besser sei, er beschließe sein Leben bei ihnen, weil er doch einmal sterben müsie. Gedacht, gethan; nach einigen Tagen fand man den Leichnam des Unglücklichen in Stücke zerschnitten in einer Grube. Die Eache wurde nicht untersucht. Wenn man sich auf dieselben Gewährsmänner berufen darf, so wird in mehrern Klöstern in Moskau die Rcgel nicht geachtet, daß die Nonnen ihr Kloster nicht verlassen dürfen; ein Freund des jungen Fürsten zeigte gestern in meiner Gegenwart der ganzen Gesellschaft von Wüstlingen den Rosenkranz einer Novize, die ihn, wie er versicherte, diesen Morgen in seinem Zimmer vergessen hatte; ein andrer zeigte als Trophäe ein Gebetbuch vor und behauptete, dasselbe habe einer Nonne in dem Kloster * * gebort, welche für außerordentlich fromm gelte, und alle Anwesenden klat-schm Beifall. Ich würde nicht zu Ende kommen, wenn ich Ihnen alle derartige Erzählungen mittheilen wollte, die ich an der Table d'h<»te mit anhörte; jeder hatte eine Anekdote aus dieser elirunissue scunlinl«««« hinzuzufügen und alle erreg-ten lautes Lachen; die Lustigkeit, welche durch den Champagner immer höher getrieben wurde, der in Strömen stoß und aus Glasern getrunken wurde, welche die russische Unmäßigkeit eher befriedigten als unsere Spitzgläser, ging endlich in Trunkenheit über. Nur der junge Fürst *** und ich blieben bei der allgemeinen Confusion bei Verstande, er, weil er mehr trinken konnte als Alle, ich, weil ich garnicht trinken kann und folglich auch hier nicht getrunken hatte. Mit einem Male erhob sich der Lovelace des Kremls mit feierlicher Miene, gebot mit dem Einflüsse, den ihm seen Vermögen, sein großer Name, sein hübsches Gesicht, vor Allem aber seine geistige und Characterüberlegenheit geben, der Gesellschaft Schweigen und erlangte auch wirklich zu meiner großen Verwunderung Ruhe. Ich glaubte die poetische Schilderung eines Sturmes zu lesen, der durch die Stimme irgmd eines heidnischen Gottes besänftigt wird. Der junge Gott machte seinen plötzlich ruhig gewordenen ft3 Freunden den Vorschlag, ein Gesuch an die kompetenten Behörden im Namen aller Freudenmädchen Moskaus zu entwerfen und darin ehrerbietigst vorzustellen, wie die alten Nonnenklöster auf die tadelnswürdigste Wcise mit den profanen Genossenschaften rwalisirten und diese in ihrem Gewerbe beeinträchtigten, und wie die ehrerbietigst unterzeichneten Freudenmädchen von der Gerechligkeitsliebe der Herren So und So hofften, daß sie von den Einkünften der genannten Klöster eine für sie, die Bittstellerinnen, nothwendig gewordene Beisteuer erHeden möchten, wenn sie nicht wollten, baß die öffentlichen Freudenmädchen durch die Nonnen in den Klöstern ganz verdrängt würden. Der Vorschlag wurde mit Acclamation angenommen; man verlangte Papier, Feder und Tinte und der junge Wüstling entwarf sofort mit richterlichem gravitätischen Ernst in sehr gutem Französisch eine Bittschrift, die zu scandalös burlesk war, als daß ich sie hier mittheilen könnte. Ich besitze eine Abschrift davon, aber für Sie und für mich genügt der eben im Allgemeinen mitgetheilte Inhalt. Der Verfasserdieser Bittschrift las sie zu dreien Malen mit lauter und vernehmlicher Stimme vor der ganzen Gesellschaft vor und gewann damit den schmeichelhaftesten Beifall. Das geschah, das sah und hörte ich gestern in dem Gasthause . < ., einem der besuchtesten in Moskau. Es war den Tag nach dem angenehmen Diner in dem hübschen Landhause des Herrn .. Sie sehen daraus, daß wenn auch die Gleichförmigkeit ein Staatsgest'h ist, die Natur doch Mannichfaltigkeit verlangt und ihre Reckte vertheidigt. Eic können wohl glauben, daß ich Ihnen viele Details erspar? und daß ich die, welch? ich Ihnen mittheile, sehr wildem. Wärc ich wahrer, so würde man mich nicht lesen; Montaigne, Rabelais, Shakespeare und so viele andere große Maler würden anders schreiben, wenn sie für unsere Zeit schrieben; um wie vielmehr müssen diejenigen, welche nicht dieselben Rechte auf Unabhängigkeit haben, auf ihre Ausdrücke achten! Bei der Erzählung schlechter Dinge findet die Unwissenheit gewisse Worte unschuldig, die Leuten, wie wir sind, entschlüpfen, und die Prüderie der jetzigen Zeit ist wenigstens zu fürchten, wenn nicht zu achten. Die Tugend erröther, die Heuchelei dagegen erbebt ein lautes Wehgeschrei. Der Vorsteher der Gesellschaft von Wüstlingen, welche ibr Lager in dem Gasthause . . . aufgeschlagen haben, denn man laiin nicht sagen, daß sie da wohnen, besitzt eine so vollkommene Eleganz, ein so ausgezeichnetes Aeußere, soviel guten Geschmack selbst in seinen Tollheiten, so viel Edel-muth in seinen Zügen, so viel Adel in seiner ganzen .Haltung und selbst in ftinen kecksten Reden, kurz er ist so ganz ein inlmvnis «i^<'t aus vornehmer Familie, baß man ihn mehr beklagt als tadelt. Er beherrscht seine wüsten Genossen vollkommen, er scheint durchaus nicht für die schlechte Gesellschaft geschaffen zu stin und man interefsirt sich unwillkürlich für ihn, ob er gleich zum größten Theil für die Ausschweifungen seiner Nachahmer verantwortlich ist; die Ueberlegenheit, selbst im Schlechten, übt stets eine Art Zauber aus. Welche Talente, welche Gaben sind hier verloren! dachte ich, als ich ihn hörte. Er hatte mich für heute zu einer Landpartie eingeladen, welche zwei Tage dauern sollte, aber ich begab mich in sein Bivouac, um mein gegebenes Versprechen zurückzunehmen. Ich schützte die Nothwendigkeit vor, meine Reise nach Nischnri zu beschleunigen und er entließ mich meines Versprechen?. Ehe ich ihn aber der Tollheit überlasse, die ihn fortreißt, 93 will ich ihn schildern, wie er mir erschien. Ich mußte ihn in den Hof des Wirthshauses begleiten, um dem 'Aufbruche der Wüstlingsschaar beizuwohnen. Dieser Aufbruch war ein wahres Bacchanten fest. Denken Sie sich ein Dutzend schon überhalb betrunkener junger Manner, die sich lärmend um die Plätze in drei Kaleschen streiten, von denen jede mit vier Pferden bespannt ist. Eine Anzahl Neugieriger, der Wirth an der Spitze mit allen Kellnern und Stalldienern, bewunderten, beneideten, schmaheten den Anführer dieser Schaar, aber den Spott äußerten s Auch französisches Theater ist in Moskau und Herr Hervet, dessen Mutter in Paris bekannt war, spielt dort die Rollen VouU's sehr natürlich. Ich sah „Michel Perrin" von ihm vortrefflich darstellen. Ist ein Stück wirklich geist' reich, so läßt es sich auf verschiedene Art spielen; die Werke, welche im Auslande Alles verlieren, sind die, welche allen Geist in dem Darsteller suchen. Ich weiß nicht, bis zu welchem Grade die Nüssen unser Theater verstehen; ich traue dem Vergnügen nicht recht, das ihnen die Aufführung franzosischer Lustspiele zu machen scheint-, sie haben einen so feinen Tact, daß sie die Mode errathen, ehe sie noch proclamirt ist, was ihnen das demüthigende Gesiandniß erspart, daß sie ihr folgen. Ihr feines Ohr und die verschiedenen Klänge der Vokale, die Menge der Konsonanten und die mannichfachen Arten des Pfeifens, an die man sich gewöhnen muß, um ihre Sprache sprechen zu ill. 8 N4 lernen, gewöhnen sie von Kindheit an, alle Schwierigkeiten der Aussprache zu überwinden. Selbst diejenigen, welche nur wenige französische Worte sprechen können, sprechen dieselben wie ächte Franzosen aus. Dadurch verleiten sie uns zu einer Tauschung; wir glauben, sie verstehen unsere Sprache so gut, als sie dieselbe sprechen, aber da irren wir. Nur die kleine Zahl von denen, welche Reisen machten oder in einem Stande geboren wurden, wo die Erziehung nothwendig sehr sorgfaltig ist, verstehen die Feinheit des Pariser Esprit; der Meng? entgehen unsere Scherze und Feinheiten. Wir trauen den andern Fremden nicht, weil ihr Accent uns unangenehm ist oder uns lacherlich erscheint, und doch verstehen diese trotz der Mühe, die es ihnen macht, unsere Sprache zu sprechen, uns im Grunde besser als die Nüssen, deren undemerkliches und liebliches singende Sprechen uns gleich anfangs auffallt, wahrend sie meist nur den Schein von den Gedanken und Gefühlen haben, die wir ihnen zuschreiben. Sobald sie eine Geschichte erzählen, einen persönlichen Ein: druck schildern sollen, schwindet die Täuschung und der Betrug kommt zu Tage. Aber sie verstehen es besser als irqend Jemand, ihre Beschränktheit zu verbergen. Im vertraulichen Umgänge wird dieses diplomatische Talent freilich lastig. Ein Russe zeigte mir gestern in seinem Cabinet cine kleine tragbare Bibliothek, die ein Muster von gutem Geschmacke zu sein schien. Ich trat naher an diese Sammlung, um einen Vand aufzuschlagen; es war ein arabisches Manuscript in altem Pergamentband. „Sie sind sehr glücklich/' s.We ich zu dem Besitzer; „Sie verstehen arabisch?" — .,Nem," antwortete er mir, „aber ich habe gern alle Arten von Büchern um mich; das putzt ein Zimmer." Kaum war ihm diese naive Antwort entschlüpft, so merkte er an dem unwillkürlichen Ausdrucke meines Gcsich- 11» tes, daß er sich vergessen hatte. Da er meiner Unkenncniß sicher war, übersehte er mir — aus dem Stegreife — sofort einige Stellen aus dem Manuscript? und zwar mit außerordentlicher Geläufigkeit und Zungenfertigkeit; seine Gewandtheit würde mich getauscht haben, wenn ich nicht auf meiner Hut gewesen wäre; da ihn aber seine Verlegenheit, die er im Anfange nicht hatte bergen können, verrathen hatte, so sah ich deutlich, daß er seine Offenheit wieder gut machen und mich zu der Meinung bringen wollte, das Geständniß, das er mir vorher gemacht, sei nur ein Scherz gewesen. Seine Mühe war aber vergeblich. Zu solchen kindischen Spielen kommen die Völker, wenn ihre Eitelkeit sie veranlaßt, in Civilisation mit altern Nationen zu wetteifern.. Ihre Eitelkeit ist jeder List und Lüge fähig, sobald sie hoffen können, daß wir nach unserer Rückkehr in die Heimath sagen werden: ,,Man thut doch sehr Unrecht daran, solche Leute die nordischen Barbaren zu nennen." Diese Benennung können sie nie vergessen; sie erinnern die Fremden bei jeder Gelegenheit mit ironischer Demuth daran und bemerken nicht, daß sie gerade durch diese Empfindlichkeit ihren Wert'leinerern und Verläumdern Waffen in die Hände geben. In der kleinen Scene, die Sie eben gelesen haben, staunte ich vorzugsweise über die unverwüstliche Kaltblütigkeit des Mannes, der sie spielte. Auf dem Gesichte eines Nüssen, der auf sich achtet, verrath sich nichts, und jeder Nuffe achtet fast immer auf sich. Sein Gesicht wurde frühzeitig für das gan^e Leben in der Furcht und im Eigennutz geformt; durch seinen fast immer bleifarbigen oder selbst kupferfarbigen Teint — ich spreche von vornehmen Russen — dringt keine Seelenreguna,; auf der Stirn, die unveränderlich ist, als wäre sie von Erz, liesct man nie, was in dem Herzen 8" N6 vorgeht. So weiß man nie, ob man von dem Manne, mit dem man spricht, geliebt oder gehaßt wird, ob er mit Vergnügen zuhört oder über das spottet, was man ihm sagt. Ich fordere den erfahrensten Beobachter heraus, auf solchen Zügen, die den unwillkürlichen Bewegungen völlig unzugänglich, bald starr und stumm wie der Tod, bald lügnerisch sind wie ein Bild, mehr zu erkennen, als der Besitzer eben erkennen lassen will. Er laßt aber nie so viel erkennen, daß man etwas von dem, was er verbergen will, ahnen kann, ja daß man ahnen kann, er verberge überhaupt etwas. Er verheimlicht das Gute und verheimlicht das Schlechte und nichts kommt seiner Versttllungskunst gleich als die Kunst, durch die er zu verbergen weiß, daß er sich verstellt. Diese ganze Arbeit vollbringt er übrigens mit einer reizenden Anmuth; die Sanftmuth und Liebenswürdigkeit geht bei ihm bis zu überflüssigen Vorsichtsmaßregeln, als wenn eine Katze sich in Acht nehmen wollte, die Mäuse, die sie verzehrt, zu kratzen. Sie werden sich nun nicht mehr wundern, daß dieses Volk mit solchen angebornen Talenten fortwahrend geschickte Diplomaten zweiten Ranges liefert. Ich habe einen inlandischen Wagen zur Neise nach Nischnei gemiethet, um den meinigen zu schonen; aber er ist nicht dauerhafter als der meinige, wie eben ein Einhei: Mischer bemerkte, der bei den Vorbereitungen zu meiner Abreise zugegen war. „Sie beunruhigen mich," antwortete ich, „denn ich bin es müde, auf jeder Station etwas zu zerbrechen." „Für eine lange Neise würde ich Ihnen allerdings rathen, einen andern zu nehmen, vorausgesetzt, daß Sie zu dieser Zeit in Moskau einen fanden; aber die Neise ist so kurz, daß dieser aushalten wird." n? Diese kurz? Reift hin und zurück betragt mit dem Umwege über Troizkoi und Paroslaw, den ich zu machen ge« denke, ^!l) Stunden; unter diesen 4W Wegstunden giebt es, wie man mir gesagt hat, <5>0 Stunden abscheuliche Wege: Knüppel, Baumstämme, die man in den Koth ge, senkt hat, tiefen Sand:c. ic. Man merkt es an der Art, wie die Nuffen über Entfernungen denken, daß sie ein i!and bewohnen, das so groß ist wie Europa, Sibirien ungerechnet. Einer der bestechendsten Züge in ihrem Character ist meil ner Meinung nach ihr Widerwille gegen Einwürfe; sie kennen weder Schwierigkeiten noch Hindernisse. Sie verstehen zu wollen; darin theilt der Mann aus dem Volke den einigermaßen gascognischen Sinn der Großen; mit seinem Beile, das er nie ablegt, beseitigt der russische Bauer eine Menge Hemmnisse, welche die Landleute bei uns aufhalten würden, und er sagt zu Allem, was man von ihm verlangt, ja. Dreißigster Brief. Im Kloster 2roizkoi, «0 St. von Moskau, . den l?. August l^W. klaubt man den Russen, so sind bei ihnen im Sommer alle Wege gut, selbst die, welche nicht für eigentliche Straßen galten i ich finde aber alle schlecht. Ein ungleicher Pfad, der bisweilen breit ist wie ein Feld, dann wieder sehr schmal, zieht sich im Sande hin, in welchem die Pferde bis über die Kniee einsinken, den Athem verlieren, die Strange zerreißen, und alle zwanzig Schritte ausruhen wollen. Kommt man aus dem Sande heraus, so gerath man in Koch, in dem große Steine und ungeheure Baumstämme lkgcn, die unter den Radern schaukeln und die Reisenden besprühen. So sind die Wege hier zu Lande in allen Jahreszeiten, die Winter ausgenommen, in denen sie wegen der übergroßen Kalte, deren Strenge das Reisen gefährlich macht, oder wegen des Aufthauens und der Überschwemmungen ganz unfahrbar werden, welche die Niederungen zwei bis drei Monate des Jahres, sechs Wochen nach dem Winter, und eben so viele nach dem Sommer, in Seen verwandeln ; das übrige Jahr sind sie Moraste. Diese einander völlig ahnlichen Straßen- ziehen sich durch völlig gleiche Gegenden. Zwei Reihen kleiner hölzerner Häuser, die mehr oder minder mit bemalten Schnitzereien verziert sind, und ihren Giebel stets N9 der Straße zukehren, wie ein Soldat, der das Gewehr prä-sentirt, neben jedem Flause ein anderes Gebäude, eine Att bedeckten Hofes oder großen an drei Seiten geschlossenen Schuppens, — das ist ein russisches Dorf, und dies sieht man immer und überall. Die Gemeinden liegen mehr oder Minder nahe an einander, je nachdem die Provinz mehr oder weniger bevölkert ist; aber sie mögen selten oder zahlreich sein, ahnlich sind sie einander stets. Eben so ist es mit der Gegend; eine wellenförmige, bald sumpfige, bald sandige Ebene; einige Felder, einige Weideplatze, die von bald entfernten, bald nahen Fichtenwäldern begrenzt werden,— das ist die Natur in diesem weitgestreckten Lande. Nur hier und da erblickt man einige Landhauser, einige ziemlich gut aussehende Meiereien, und zu diesen Wohnungen, diesen Herrenhäusern, welche der Reisende als Oasen begrüßt, führen zwei große Birkenreihen. In einigen Provinzen sind die Vauerhauser von Lehm gebaut, aber sie haben doch auch die Gestalt der hölzernen, nur daß sie noch ärmlicher ausseben; die größte Anzahl auf dem Lande von einem Ende des Reiches bis zum andern ist von langen dicken Balken aufgeführt, die schlecht bchauen, aber sorgfältig mit Moos und Pech verstopft sind. Die Krimm, ein ganz südliches Land, macht davon eine Ausnahme; sie ist aber, mit der Ausdehnung des Landes verglichen, nur ein Pünktchen in dein unermeßlichen Raume. Die Einförmigkeit ist die Gottheit Nußlands; nichtsdestoweniger hat auch diese Einförmigkeit für die Gemüther, welche Genuß in der Einsamkeit finden, einen gewissen Neiz; es herrscht in diesen unveränderlichen Gegenden eine tiefe Stille, die in der öden Ebene, welche sich unabsehbar ausdehnt, bisweilen selbst erhaben wird. Der ferne Wald ändert sich nicht, und er ist nicht schön 120 aber wer kann ihn ergründen? Wenn man bedenkt, daß er an der chinesischen Mauer endigt, wird man von einer gewissen Ehrfurcht ergriffen; die Natur weiß, wie die Musik, einen Theil ihrer Gewalt aus Wiederholungen zu schöpfen. Seltsames Geheimniß! Sie macht die Eindrücke durch die Einförmigkeit vielfaltig. Durch zu häufiges Wiederholen der Effecte verfallt man in das Fade und Schwerfällige, und dies geschieht den modernen Musikern, wenn es ihnen an Geist gebricht; wenn dagegen der Künstler der Gefahr der Einfachheit trotzt, wird die Kunst erhaben wie die Natur. Der classische Styl, — ich brauche diesen Ausdruck hier in seiner alten Bedeutung, ist nicht mannichfaltig. Das Landleben hat immer einen gewissen Reiz; die ruhigen und regelmäßigen Beschäftigungen paffen für den unverdorbenen Naturmenschen, und bewahren die Jugend der Völker lange. Die Hirten, die sich nie von ihrem Geburtsorte entfernen, sind ohne Zweifel in Rußland am wenigsten zu beklagen. Ihre Schönheit, die auffallender wird, wenn man sich dem Gouvernement Mroslaw nähert, ist ein günstiges Zeugniß für ihre Lebensweise. Ich traf, was mir in Rußland etwas Neues war, einige sehr hübsche Vauermädchen mit goldblondem Haar, weißem Teint, zarter kaum gefärbter Haut und blaßblauen Augen, die aber durch ihren asiatischen Schnitt und ihre schmachtenden Blicke ausdrucksvoll waren. Wenn diese Jungfrauen, mit ihren Zügen gleich jenen der griechischen Madonnen, die Haltung und die lebhafte Bewegung der Spanierinnen hätten, würden sie die reizendsten Geschöpfe auf der Erde sein. Viele Frauen dieses Gouvernements waren auch gut gekleidet. Sie tragen über ihrem Tuchrocke einen kleine:, Oberrock, der mit Pelz besetzt ist. Dieses kurze Wamms, das über dem 121 Knie endigt, faßt die Taille gut zusammen und giebt der ganzen Person etwas Graziöses. In keinem Lande habe ich so viele schöne kahle Stirnen oder schönes weißes Haar gesehen, als in diesem Theile Ruß, lands. Die Iehovaköpfe, jene Meisterwerke des ersten Schülers Leonardo's da Vinci sind nicht so ideal als ich glaubte, als ich die Fresken Luinis in Lainate, Lugano und Mailand bewunderte. Hier findet man diese Köpfe lebend; auf der Schwelle ^eder Hütte erscheinen schöne Greise mit frischer Gesichtsfarbe, vollen Wangen, blauen glanzenden Augen, ruhigem Ausdrucke und silbernem Barte, der in der Sonne um einen Mund her glänzt, dessen wohlwollendes und ruhiges Lächeln er erhöht, und sie gleichen Schutzgöttern der Dörfer. Der Reisende wird von diesen edeln Gestalten begrüßt, die majestätisch auf dem Boden sitzen, auf welchem sie geboren wurden; sie sind wahre antike Statuen, Sinnbilder der Gastfreundschaft, und ein Heide würde sie anbeten; die Christen bewundern sie mit unwillkürlicher Ehrfurcht, denn in dem Alter ist die Schönheit nicht mehr körperlich, sondern der Triumphgesang der Seele nach dem errungenen Siege. Zu den russischen Bauern muß man kommen, um das reine Bild der patriarchalischen Gesellschaft zu finden, und Gott für das glückliche Leben zu danken, das er, trotz den Fehlern der Regierungen, jenen schuldlosen Geschöpfen Mr-theilt hat, deren Geburt und Tod nur durch eine lange Reihe von Iakren ohne Schuld geschieden sind. Ach — möge der Engel oder Teufel dcr Industrie und Aufklärung mir verzeihen! — ich finde unwillkürlich großen Reiz in der Unwissenheit, wenn ich die Frucht derselben in dem himmlischen Gesichte der alten russischen Bauern sehe. Diese modernen Patriarchen ruhen am Ende ihres Lebens aus; sie sind am Ziele ihrer Tage frei von der Frohnarbeit, 122 legen ihre Last ab, und setzen sich würdevoll auf der Schwelle der Hütte nieder, die sie vielleicht mehrmals aufgebaut haben, denn das Haus des Menschen dauert in diesem strengen Clima nicht so lange als sein Leben. Wenn ich auch von meiner russischen Neise nichts zurückbrächte, als die Erinnerung an diese Greise ohne Gcwissenspein, die an ihren schlösserlosen Thüren lehnen, so würde ich die Mühe nicht beklagen, die ich mir gab, Geschöpfe zu sehen, welche von allen andern Bauern in der Welt so ganz verschieden sind. Der Adel der Hütte flößt mir stets hohe Achtung ein. », Jede feste Negierung, wie schlecht sie übrigens auch sein mag, hat ihre gute Folge, und jedes gebildete Volk besitzt etwas, das es für die Opfer tröstet, die es dem socialen Le-ben bringt. Aber —- bei dieser Ruhe, die ich theile und bewundere, welche Unordnung l welche Gewaltthätigkeit! welche trügerische Sicherheit! — *) ») Seit die erste Auflage dleses Buches erschienen, ist mir fol-gcndc Thatsache bekannt geworden. Sie ist wohl geeignet, die Bewunterung zu mäßigen, welche mir die patriarchalischen Tugenden der russischen Bauern einflößten. In der Zeitung von Petersburg vom ^^ März 1837 liefet man: „Der Beamte, welcher die Functioncn eines CivilgouverncurS von Riazan bekleidet, hat an den Herrn Minister des Innern berichtet, daß Marie Nitiforof, eine Bäuerin aus dem Dorfe Ons-holof im B>zirk Aaja, der Behörde einen Brief von ihrem Sohnc Johann Nikiforof, Soldat in dcm Bataillon Tambof, übergeben habe, in welchem er ihr meldc, er gedenke zu desertiren, weil «r die Strenge des Militairlcbens nicht länger ertragen konnc. Da er auch scin Vorhaben ausführt?, so meldete Marie Nikiforof der Behörde des Dorfes die Ankunft ihres Sohnes. Der Minister des Innern hat dies dem Krngsmmistcr, mitaetheüt, welcher über diese Handlung der Bauerfrau Niklsovof an Se. Kais. Maj. Be.- 123^ So weit war ich mit meinem Briefe, als ein Mann, ben ich kannte, dessen Aussprüchen man Glauben schenken kann, der einige Stunden mich mir aus Moskau abgereist war, in Troizkoi ankam. Da er wußte, daß ich die Nacht hier zubringen wollte, so ließ er sich wahrend des Umspannens zu mir führen. Er bestätigte das, was ich schon wußte, daß nämlich achtzig Dörfer in dem Gouvernement Simbirsk in Folge des Bauernaufstandes eingeäschert worden sind. Die Russen schreiben diese Unruhen den Intriguen der Polen zu. „Welches Interesse haben aber die Polen dabei, Rußland zu verbrennen?" fragte ich die Person, die mir dies erzählte. ^ „Keines," antwortete der Herr, „außer etwa die Hoffnung, den Zorn der russischen Regierung auf sich zu ziehen, denn sie fürchten nichts mehr, als daß man sie in Ruhe lasse." — ,,Sie erinnern mich," entgegnete ich, „an die Mordbrennerbanden, welche im Anfange unserer ersten Revolution die Aristocraten beschuldigten, dieselben zündeten ihre eigenen Schlösser an." — „Sie glauben nicht, was ich Ihnen sage/' fuhr der Russe fort, „ich beobachte aber Alles in der Nähe, und weiß aus Erfahrung, daß die Polen neue Complotte schmieden, sobald sie sehen, daß der Kaiser sich zur Milde neigt; sie schicken dann verkleidete Emissäre zu uns, und schützen Verschwörungen vor, wenn es an wirklichen Verbrechen fehlt, Alles blos, um den Haß der Russen anzuschüren, und neue Verurtheilungen gegen ihre Mitbürger hervorzurufen. Sie fürchten, mit einem Worte, nichts mehr richt erstattete, worauf Se. Maj. der Kaiser zu befehlen geruhte, die Nitiforof solle für diese so lobenswerthe Handlung durch eine silberne Medaille mit der Inschrift belohnt werden: „für ihren Eifer". Diese Medaille befindet sich an dem Gt. Annen« Vandc, um auf der Brust getragen zu werden." Man ß«ht hieraus, wozu die Orden in Rußland dienen müssi«. !24 als die Verzeihung und Begnadigung, weil die Milde der russischen Regierung die Stimmung ihrer Bauern ändern würde, die gewiß dm Feind liebten, wenn sie Wohlthaten von ihm empfingen." — „DaS erscheint mir als heroischer Macchiavellianismus," erwiederte ich, „aber ich glaube nicht daran. Und übrigens, warum verzeihen Sie ihnen nicht, um sie zu strafen? Sie würden dann zugleich schlauer und größer sein als sie. Aber Sie hassen sie, und ich glaube weit eher, daß die Russen, um ihren Groll zu rechtfertigen, die Opfer anklagen, und in allem Unglück, daß sie betrifft, irgend einen Vorwand suchen, ihr Joch drückender auf den Gegnern lasten zu lassen, deren ehemaliger Nuhm ein unverzeihliches Verbrechen ist; bescheiden war der polnische Ruhm nicht, so viel muß man gestehen." — „Eben so wenig als der französische," entgegncte mein Freund boshaft (ich kannte ihn von Paris her)-> ,,aber Sie beurtheilen unsere Politik falsch, weil Sie weder die Russen noch die Polen kennen." — „Das ist die gewöhnliche Antwort Ihrer Landsleute, wenn man ihnen unangenehme Wahrheiten zu sagen wagt» die Polen sind leicht kennen zu lernen» sie sprechen immer, und ich vertraue weit leichter Schwatzern als Leuten, die nur das sagen, was man nicht wissen mag." — „Zu mir müssen Sie aber doch Vertrauen haben." — „Zu Ihnen persönlich ja; wenn ich aber daran denke, daß Sie Russe sind, so mache ich mir, ob ich Sie gleich seit zehn Jahren kenne, doch wegen meiner Unvorsichtigkeit, d. h. wegen meiner Freimüthigkeit, Vorwürfe." — „Ich sehe im Voraus, daß Sie uns nach Ihrer Rückkehr übel mitspielen werden." — „Vielleicht, wenn ich schriebe, aber ich kenne die Russen nicht, wie Sie eben sagten, und werde mich wohl hüten, auf Geradewohl über dieses uncrforschliche Volk zu sprechen." — „Das ist auch daS Beste, was Sie thun können." — „Sehr wohl, aber vergessen Sie nicht, daß die Zurückhaltendsten, sobald man die Verstellung erkannt hat, so beurtheilt werden, als hätten sie die Maske abgelegt." — ,,Sie sind für Barbaren, wie wir es sind, zu satyrisch und scharfsinnig." Nach diesen Worten stieg mein Freund wieder, in den Wagen, und fukr im Galopp davon, wahrend ich in mein Zimmer zurückkehrte, um unser Gesprach aufzuschreiben. Ich verstecke meine neuen Briefe unter Emballage-Papieren, denn ich fürchte noch immer eine geheime oder selbst eine gewaltsame Durchsuchung, um meine eigentlichen Gedanken zu erfahren; aber ich denke, man würde sich wohl beruhigen, wenn man in meinem Portefeuille nichts fände. Auch habe ich Ihnen schon gesagt, wie sorgfaltig ich den Feldjäger fern halte, wenn ich schreibe; er darf in mein Zimmer nicht eintreten, ohne durch Antonio um die Erlaubniß gebeten zu haben. Ein Italiener kann es an Schlauheit wohl mit einem Russen aufnehmen. Dieser ist seit fünfzehn Jahren als Bedienter bei mir, und er befitzt den politischen Kopf der modernen Römer, wie das edle Herz der Alten. Mit einem gewöhnlichen Diener würde ich mich nicht in dieses Land gewagt, wenigstens mich nicht unterfangen haben, da zuschreiben; Antonio sichert mir einige Freiheit, indem er das Spioniren des Feldjägers contreminirt. Fortgesetzt m Uroizkoi den l8. August' l 5N9. Wenn ich mich wegen der Wiederholungen und der Einförmigkeit entschuldigen sollte, müßte ich überhaupt wegen der Reise in Rußland um Verzeihung bitten. Die häufige Wie-derkrbr derselben Eindrücke ist bei allen gewissenhaften Reisen unvermeidlich, bei dieser mehr noch als bei jeder andern. Um Ihnen eine möglichst genaue Vorstellung von dem Lande zu geben, das ich bereise, muß ich Stunde für Stunde sa- 12« gm, was ich empfinde; es ist dies das einzige Mittel, das zu rechtfertigen, was ich spater denken werde Uebrigens beweist mir jeder neue Gegenstand, der in mir dieselben Gedanken erregt, baß diese Gedanken richtig sind; das Unzusammen-hangende der Wahrheit ist bei Reiseberichten etwas Wesentliches. Wollte ich methodischer verfahren, so würde ich mir wohl Tadel ersparen, aber auch die Leser vertreiben. Troizkoi ist nach Kiew der berühmteste und besuchteste Wallfahrtsort Rußlands, und dieses zwanzig Stunden von Moskau liegende historische Kloster schien die Mühe zu lohnen, einen Tag da zu bleiben und die Nacht da zuzubringen, um die verehrten Heiligthümer der russischen Christen genau zu sehen. Ich mußte aber diesen Morgen meinen ganzen Verstand aufbieten, um mich zur Ausdauer in meiner Aufgabe zu bereden; nach einer Nacht gleich der, welche ich verbracht, ist man durchaus nicht mehr neugierig; der körperliche Widerwille und Ueberdruß beseitigt Alles. Personen, die in Moskau für unpartheiisch gelten, hatten mir die Versicherung gegeben, daß ich in Troizkoi ein sehr ertragliches Nachtquartier finden würde. Das Gel'äude, in welchem man die Fremden aufnimmt, eine Art Gasthaus, welches dem Kloster geHort, aber außerhalb der heiligen Mauern liegt, ist allerdings auch sehr geräumig und enthält scheinbar vollkommen bewohnbare Gemacher; kaum aber hatte ich mich niedergelegt, als ich bemerkte, daß meine gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln hier nicht ausreichten. Ich hatte wie gewöhnlich das Licht brennen lassen und verbrachte die Nacht im Kampfe mit Insectenschaaren; es gab schwarze und braune, von allen Gestalten, und ich glaube, von allen Arten. Sie brachten mir Fieber und Krieg; der Tod eines dieser Geschöpfe schim mir die Rache des ganzen Volkes zu- _ l27 _ pichen, das sich an der Stelle auf mich stürzte, wo das Blut geflossen war; ich wehrte mich wie ein Verzweifelter UNd lief in meiner Wuth aus: „es fehlten ihnen nur Flügel, um den Aufenthalt hier zur Hölle zu machen." Diese Insecten, welche von den Pilgern da gelassen werden, die aus allen Theilen des Reiches nach Troizkoi strömen, gedeihen in üppigster Fruchtbarkeit unter dem Schirme des heiligen Gründers dieses berühmten Klosters. Der Segen des Himmels breitet sich über ihre Nachkommen aus, welche an diesem heiligen Orte besser gedeihen, als an irgend einer Stelle der Welt. Da ich die Legionen, welche ich zu bekämpfen hatte, sich fortwährend erneuern sah, so verlor ich endlich den Muth, und die Furcht wurde zuletzt schlimmer als das wirkliche Uebel, denn ich war überzeugt, daß noch unsichtbare Geschwader im Hinterhalte lagen, die erst bei Tageslicht zum Vorscheine kommen würden. Der Gedanke, daß diese durch ihre Farbe vor meinen Nachstellungen geschützt würden, machte mich fast wahnsinnig; meine Haut brannte, mein Blut kochte, es war mir, als würde ich von unbemerklichen Feinden gefoltert; wenn man mir in diesem Augenblicke die Wahl gelassen hatte, statt mit diesen Insectenschaaren mich Mit Tigern zu schlagen, ich würde mich nicht lang« besonnen und die Tiger jenen Milizen der Bettler vorgezogen haben, denn man wirft dem Armen Geld zu, aus Furcht ',or Geschenken m «nwi-», welche der Arme, würde er abgewiesen, dem ihn geringschätzenden Reichen machen könnte. Diese Miliztruppen sind auch oft der Reichthum der Heiligen, denn die äußerste Sittenstrenge geht nicht selten Hand M Hand mit Nnrcinlichkeit; eine Verbmdung, gegen welche bie wahren Verehrer Gottes nicht laut genug donnern können. Was sMe nun gar aus mir Sünd.r werden, der ich durch das Ungeziefer der Buße ohne Gewinn für den 128 Himmel gepeinigt wurde? dachte ich bei mir mit einer Verzweiflung, die mir an einem Andern gewiß komisch vorgekommen wäre; ich stand auf, ging in der Mitte des Zim-merS hin und her und öffnete die Fenster; das half einen Augenblick, aber die Feinde verfolgten mich überall hin. Die Stühle, die Tische, die Decke, der Fußboden, die Wände waren lebendig geworden; ich wagte mich an kein Geräthe, um nicht Alles, was mir angehörte, anzustecken. Mein Bedienter kam vor der verabredeten Stunde zu mir, denn er hatte dieselbe und noch größere Noth gelitten, weil der Unglückliche unser Gepäck nicht hatte vergrößern können und mögen und deshalb kein ^ett besaß; er legt seinen Stroh-fack auf die Dielen, um dem Canapee und den andern Ge-räthen mit den gewöhnlichen Bewohnern derselben zu entgehen. Ich erwähne diese lastigen Unannehmlichkeiten, weil sie uns einen Maßstab für die Ruhmredigkeiten der Russen und für den Grad der materiellen Civilisation geben, zu welcher die Bewohner des schönsten Theiles dieseö Reiches gelangt sind. Als ich den armen Antonio mit kleinen Augen und aufgeschwollenem Gesichte eintreten sah, brauchte ich ihn nicht erst zu fragen; er sagte auch nichts, sondern zeigte schweigend auf seinen blauen Mantel, der völlig braun geworden war. Dieser Mantel schien, als er über einen Stuhl gebreitet wurde, zu leben; er sah wie gestickt aus. Wir erschraken beide darüber und griffen zur Luft, zum Waffer, zum Feuer, kurz zu allen Elementen, die wir zur Rettung anwenden konnten, aber bei einem solchen Kampfe ist selbst der Sieg noch ein Schmerz. Nachdem ich mich endlich so gut als möglich gereinigt und angekleidet hatte, that ich, als frühstücke ich und begab mich in das Kloster, wo mich ein andres Heer von Feinden erwartete. Die leichte Laval-lerie, welche in dcn Falten der Kutten der griechischen Mönche 129 einquartiert war, versetzte mich aber durchaus nicht mchr m Schrecken, ich hatte ja den Angriff ganz anderer Soldaten ausgehalten; nach den Riesenkämpfen in der Nacht kämm mir der Krieg am hellen Tage und die Scharmützel Mit ben Tirailleurs als Spiel vor; mit cmdem Worten: der Biß der Wanzen und ^die Furcht vor den Läusen hatte Mich so gleichgültig gegen die Flöhe gemacht, daß ich auf die Wolken dieser Geschöpfe, die unsere Tritte in den Kirchen und um die Klosterschatze her hervorriefen, nicht mehr achtete, als auf den Staub auf der Straße. Meine Gleichgültigkeit war so groß, daß ich mich ihrer selbst schämte; es giebt Uebel, in die man sich erröchend fügt, denn man gesteht dadurch fast, daß man sie verdiene. Dieser Morgen und diese Nacht weckten mein höchstes Mitleiden mit den armen Franzosen, die als Gefangene in Nußland nach dem Brande Moskaus und dem Rückzüge der Armee zurückbleiben mußten. Das Ungeziefer, das unvermeidliche Erzeugniß der Armuth, ist von allen körperlichen Uebeln dasjenige, welches in mir das höchste Mitleiden erregt. Wenn ich von Jemandem sagen höre: er ist so unglücklich, daß er schmutzig davon geworden, so zerreißt es mein Herz. Die Unreinlichkeit ist mehr als sie zu sein scheint; sie emliüllt den Augen des aufmerksamen Beobachters eine moralische Erniedrigung, die schlimmer ist als die körperlichen Leiden; dieser Aussatz, der gewissermaßen doch willkürlich ist, wird eben dadurch um so ekelhafter; er ist eine Erscheinung, die aus unsern beiden Naturen hervorgeht; es liegt in ihm etwas Geistiges und etwas Körperliches; cr ist das Resultat eines gleichzeitigen Gebrechens der Seele und des Leibes, er ist ein Laster und eine Krankheit. Ich habe bei meinen Neism häufig Gelegenheit gehabt, mich an dir scharfsinnigen Bemerkungen Pesialozzi's, des großen practischen Philosophen, des Lehrers der Armen lange vor Fourier und den Eaint-Simonistcn, zu erinnern', es geht aus seinen Beobachtungen über die Lebensweise der Leute aus dem Volke hervor, daß von zwei Menschen, welche dieselbe Lebensweise haben, der eine schmutzig, der andere reinlich sein kann. Die Reinlichkeit des Körpers aber hangt von der Gesundheit und dem Temperamente des Menschen eben so sehr ab, als von der Pflege, die er seiner Person widmet. Sieht man nicht auch in höhern Kreisen Personen, die sehr modisch gekleidet und noch sehr unreinlich sind? Sei dem nun wie ihm wolle, unter den Nüssen herrscht eine schmutzige Nachlässigkeit; ein gebildetes Volk sollte sich nicht so tief sinken lass.n; ich glaube, die Nuffen behalten Ungeziefer trotz den Badern, die sie brauchen. Trotz meiner Übeln Laune ließ ich mir das Innere des patriotischen Klosters der Dreieinigkeit ganz im Detail zeigen. Sein Aeußercs hat nicht das imposante Aussehen unserer alten gothischen Klöster. Wenn man auch sagt, man dürfe an einem heiligen Orte nicht nach der Architectur sehen, diese berühmten Heiligthümer würden, wenn sie der Mühe werth waren, genau betrachtet zu werden, weder an ihrer Heiligkeit, noch die Pilger, die sie besuchen, an ihrer verdienstlichen Handlung etwas verlieren. Auf einer Anhöhe erhebt sich eine von starken Mauern um^bene Ecadt; das ist das Kloster. Es hat, wie die Kloster in Moskau, vergoldete Spitzen und Kuppeln, die !n der Sonne glänzn, besonders gegen Abend, und die den Pilgern schon von weitem das Ziel ihrer frommen Wanderschaft anzeigen. In der schönen Jahreszeit sind die Wege in der Umgegend mit Reisenden bedeckt, welche in Prozession daherzieh/'n, und in den Dörfern essen oder schlafen Gruppen von Glau- 12!^ btgrn unter Virken; bei jedem Schritte trifft man auf einen Bauer, der Sandalen von Lindenbast an den Füßrn tragt u^d oft neben einer Frau qelu, die ibre Säulbe in der Hand hält, während sie si6) durch einen Sonnenschirm vor den Strahlen der Sonne schuht, welche die Russen im Sommer Mehr fürchten, als die Bewobner der südlichen Länder. Eine Kibitka mit einem Pferde folgt im Schritte dem Paare, das auf dem Wagen das hat, was es zum Schlafen und ;ur Bereitung des Tbees braucht. Die Kibitka muß dem Fubr-werke der alten Sarmaten ssleichen, denn dieser Wagen ist patriarchalisch einfach; die Hälfte erner in der Mitte durch-gescknilttnen Tonne liegt auf zwei Stanzn mit'Achsen, die einer Kanonenlafette gleichen, das ist der Rumpf des Wagens, der bisweilen auck noch eine Decke oder vielmehr einen Deckel hat. Diese Decke von plumpem Ausseben liegt der Lange an der Seite auf dcn Stangen und schließt die eine Seite des Wagens. Die Männer und Frauen vom Lande, die überall schlafen können, nur nicht im Vett, liegen der Lange lang ausgestreckt in diesem leichten und malerischen Wagen; bisweilen scht sich Einer, während die Andern schlafen, mit herab-hangenden Beinen auf den Nand der Kibitka und wiegt seine schlafenden G.fährten mit patriotischen Gesängen. Cr fingt klägliche melancholische Lieder, in dmen die Sehnsucht lauter spricht als die Hoffnung, die traurige, nie leidenschafc-tiche Sehnsucht. Alles ist gedrückt und umsichtig bei diesem von Namr leichtblütigen und heitern Volk.', das durch seme Erziehung still und schweigsam geworden ist. Wenn das Geschick der Völker nicht im Himmel geschrieben wäre, so würde ich sagen, die Slawen wären bestimmt, ein besseres Land zu bevölkern als das, was sie bewohnen, seit sie Asien, die große Wiege der Nationen, verlassen haben. 1W Der eiste Bedrücker der Russen ist daS Elima; Montesquieu möge mir es nicht übel nehmen, aber die übergroße Kälte scheint mir dem Despotismus noch günstiger zu sein als die Hitze; sind nicht die Araber die freiesten Menschen auf der Erde? Die rauhe Natur macht auch den Menschen rauh und grausam. Aber warum eine Regel aufstellen, da fast alle Thatsachen in der Ausnahme lieqen? Wenn man das Gasthaus des Klosters verlaßt, geht man über einen Platz und gelangt in den heiligen Raum. Hier findet man zuerst eine Baumallee, dann einige kleine Kirchen, die man Kathedralen nennt, hohe Thürme, die von den Kirchen getrennt sind, zu denen sie gehören, und mehrere Kapellen, ungerechnet die zahlreichen Gebäude, die ohne Ordnung und Plan umher gebaut sind; in diesen Gebäuden ohne Styl und Character wohnen die Mönche, die Schüler des heiligen Sergiew. Dieser berühmte Einsiedler gründete 1338 das Kloster Troizkoi, dessen Geschichte oftmals mit der des ganzen Rußlands zusammenfällt. In dem Kriege gegen den Khan Mama',' unterstützte der heilige Mann mit seinem Rathe Dimi-iry Iwanowitsch und der Sieg des dankbaren Fürsten bereicherte die politischen Mönche. Später wurde ihr Kloster durch neue Tartarenhorden zerstört, aber der Leichnam des Heiligen, der wunderbarer Weise uncer den Trümmern wiedergefunden wurde, gab diesem Asyl des Gebetes einen neuen Ruf. Es wurde von Nicon mit Beihilfe frommer Gaben der (5zaren wieder aufgebaut. Noch spater, lt»U!), belagerten dle Polen dieses Kloster, das damals der Zufluchtsort der Vertheidiger des Vaterlandes geworden war, sechszehn Menace lang, sie konnten aber die heilige Feste nicht mit Sturm nehmen, sondern mußten die Belagerung aufheben zum Ruhme des Heiligen und zur Freude seiner Nachfolger, 133 welche die Wirksamkeit ihrer Gebete recht wohl zu denuhen wußten. Ueber den Mauern hin zieht sich eine bedeckte Ga-lerie; ich ging rund herum; der Umfang beträgt fast eine, halbe Stunde und hier und da stehen Thürmchen. Die interessanteste aller patriotischen Erinnerungen aber ist meiner Meinung nach die an die Flucht Peters des Großen, der durch seine Mutter vor dem Zorne der Strelitzen gerettet wurde, welche ihn von Moskau bis in die Kathedrale der Dreieinigkeit bis an den Altar verfolgten, wo die Haltung des jungen Helden von zehn Jahren die empörten Krieger vermochte, die Waffen zu strecken. Alle griechischen Kirchen sind einander gleich; die Malereien, die sie enthalten, sind immer bn'.annnisck, d. h. unnatürlich, ohne Leben und deshalb ohne Wahrhen; die Bildhauerei fehlt überall und wird durch Vergoldungen und Eise-lirungen ohne Styl ersetzt; das ist nun zwar reich, aber nicht schön; kurz ich sehe nichts als Nahmen, in denen die Gemälde verschwinden; das ist eben so geschmacklos als prächtig. Alle in der Geschichte Nußlands ausgezeichneten Personen haben ein Vergnügen daran gefunden, dieses Kloster zu bereichern, dessen Schatz von Gold, Diamanten und Perlen strotzt; die ganze Welt ist in Contribution gesetzt worden, um diesen Haufen von Schätzen zu vergrößern, die für ein Wunder gelten, die ich aber mehr mit Staunen und Verwunderung als mit Bewunderung betrachte. Die Czaren, die Kaiserinnen, die frommen Großen, die Wüstlinge, selbst die ächten Heiligen haben an Freigebigkeit gewetteifert, um, ieder nach seiner Art, den Schah von Troizkoi zu bereichern. In dieser historischen Sammlung zeichnen sich die einfachen Gewänder und die Holzbecher des keiligen Sergiew durch ihre Plumpheit unter o«n prachtvollsten Geschenken aus und stechen würdevoll von dem pomphaften Kirchcnschmucke ab, der durch den Fürsten Potemkin geschenl't wurde, welcher Troizkoi auch nicht verachtete. Das Grab des Heiligen in der DreieimqMs-Kalbedrale ist blendend kostbar. Dieses Kloster würde den Franzosen eine reiche Beute geboten haben, aber es ist scit dem 14. Jahrhundert nicht erobert worden. C's enthalt neun Kirchen, die mit ihren Thürmen und Kuppeln hell glänzen, aber sie sind klein und verlieren sich in dem weiten Raume, in dem sie verstreut sind. Der Schrein des Heiligen ist von vergoldetem Silber; silberne Eaulen und ein Baldachin von demselben Metalle, ein Geschenk der Kaiserin Anna, schirmen ihn. Das Bild des Heiligen gilt für wunderthätig', Peter der Große hatt? es auf seinem Feldzuge gegen Karl Xll. bei sich. Nicht weit von diesem Heiligmschrein, unter dem Schirme der Tugenden des Einsiedlers, ruht der Leichnam des ermordeten Usurpators, Boris Kudunoff, umgeben von den Uebcrresten mehrerer Personen seiner Familie. Auch viele andere berühmte Krader enthalt dieses Kloster, aber sie sind unförmig; die Kunst zeigt sich hier zugleich in der Kindheit und im Verfalle. Ich sah das Haus des Archimandriten und den Palast der Ezaren. Beide Gebäude haben nichts Merkwürdiges. Die Zahl der Mönche betragt gegenwärtig, wie man mir sagt?, nur hundert; sonst belief sie sich über dreihundert. Trotz meinen langen und dringenden Bitten mochte man-mir. die Bibliothek nicht zeigen; der Dollmetscher gab mir immer zur Antwort: ,,es ist verboten." Diese Scham der Mönche, welche die Schähe der Wissenschaft verbergen, während sie die der Eitelkeit zeigen, kam mir seltsam vor und ich schloß daraus, daß auf ihren Iu-welcn weniger Staub liege als auf ihren Büchern. Foitssfsetzt denselben T>ig, Abends, in Tevnicli, rinrm Dorft z>v> sckm P,reslawl. ei»l'r klriiu» E!>'dt, und Mroslaw, h« Havplstad! des gllibmlwigl'n Gouunni'ments. Man muß gestehen, daß es höchst seltsam ist, blos zum Vergnügen in einem Lande zu reisen, das keine Straßen'), keine Gasthäuser, keine Beucn, nicht einmal Stroh hat, auf dem man schlafen könnte (denn ich muß meine Matratze, so wie die meines Bedienten, mit Heu stopfen lassen), kein weißes Vrod, keinen Wein, kein Trinkwasser, kcinc der Betrachtung werthe Landschaft, in den Städten kein Kunstwerk; in einem Lande, wo man im Winter, wenn man nicht aufmerksam ist, die Backen, die Nase, die Ohren, die Füße erfriert, wo man im holden Sommer den Tag über bratet und die Nacht hindurch vor Frost zittert» das sind die Annehmlichkeiten, die ich im Innern Rußlands finde. Müßte ich meine Klagen rechtfertigen, so ware dies sehr bald geschehen. Wir wollen diesmal den schlechten Geschmack, der in den Künsten herrscht, bei Seite lassen. Ich habe von dem byzantinischen Style und dem Joche gesprochen, das derselbe der Phantasie der Maler auferlegt, die er ,u Handwerkern macht; jetzt will ich mich blos mit dem Materiellen des Lcbens beschäftigen. Eine Straße kann man doch unmöglich ein geackertes Feld, einen holperigen Rasen, cinen Pfad im Sande, einen Abgrund von Koth nennen, neben dem sich magere, ärmliche Wälder hinziehen, und wo hier und da in den sogenannten Wegen eine Reihe von Knütteln liegt, auf denen man die Wagen und seine Glieder bricht und auf denen man in die Höhe geschnellt *> Was man in dem übrigen Europa so ncimt, besteht m Rußland nur zwischen Petersburg und Moskau und zum Theil zwischen Petersburg und Riga. I3S und in die Tiefe getaucht wird wie alls einer Schaukel, so elastisch sind sie. Das sind die Wege. Kommen wir nun zu den Wirthshäusern. Kcmn man ein Insectennest, einen Schmutzhaufen ein Wirthshaus nennen? Die Hauser, welche man an dieser Straße findet, sind nichts Anderes; aus den Wanden schwitzt gleichsam Ungeziefer aus; am Tage wird man von Fliegen fast aufkehrt, da Jalousien und Laden cm südlicher Luxus sind, den man in einem Lande kaum kennt, wo man nur das nachahmt, was glänzt; in der Nacht, — nun Sie wissen, welche Feinde da den Reisenden erwarten, der nicht im Wagen schlafen will. — Das Stroh ist eine Seltenheit unter einem Clima, wo die Getreidefelder Wunder sind und wo aus demselben Grunde das weiße Brod in den Dörfern noch unbekannt ist. Der Wein in den Wirthshausern, der meist weiß ist und Sau-tcrne genannt wirb, ist selten, schlecht und theuer, und das Wasser ist fast in allen Theilen Nußlands ungesund; man kommt um seine Gesundheit, wenn man den Vetheucrungen der Bewohner glaubt, die einen auffordern, ihr Waffer ohne Brausepulver zu trinkcn. Man findet deshalb auch in allen großen Städten Seltzerwasser, ein auslandisches Lurus-Getränk, welcbes das bestätigt, was ich von dem inlandischen, Wasser gesagt habe. Die Nothwendigkeit, sich für eine lange Reise mit Scltzerwasser zu versehen, ist freilich ein sehr lästiger Uebelstand. ,,Warum halten Sie an?" sagen die Russen; ,, machen Sie es wie wir und reisen Sie olme Aufenthalt." Ein angenehmes Vergnügen, hundert-undfunfzig, zweihundert, dreihundert Stunden auf Wegen zu machen, wie ich sie beschrieben habe, ohne aus dem Wagen N» steigen! Die Landschaften sind wenig verschieden und die Häuser so einförmig, daß cs in ganz Rußland nur e,n Dorf, nur kin Bauerhaus zu geben scheint. Die Entfernungen sind Unmeßbar, aber die Russen verringern sie durch die Art, wie s>e reisen; da sie aus ihrem Wagen erst an dem Ort ihrer Bestimmung steigen, so bilden sie sich ein, sie hatten zu Hause die ganze Dauer der Reise über geschlafen und wundern sich, wenn Andre ihre Art, im Schlaft zu reisen, die sie ihren Ahnen, den Scythen, entlehnt haben, nicht theilen wollen. Man darf nicht glauben, daß die Pferde immer außerordentlich schnell laufen; die Gaslogner des Nordens sagen bei der Ankunft nicht Alles, was sie unterwegs aufgehalten hat. Die Postillone fahren schnell, wenn sie es können, aber sie werden häusig durch unübelsieiglicde Hindernisse aufgehalten oder doch wenigstens gehemmt, was aber die Nüssen nicht Hinbert, uns die Annehmlichkeiten einer Neise in ihrem Vaterland? zu rühmen. Das ist eine National-Verschwörung ; sie wetteifern in lügnerischen Lobeserhebungen, um die Reisenden zu blenden und ihr Vaterland in der Meinung der entfernten Nationen höher zu stellen. Ich habe mich selbst auf der Chaussee von Peterburg nach Moskau überzeugt, daß man ungleich gefahren wird, so daß man nach Beendigung einer Neise doch nicht mehr Zeit erspart hat, als in einem andern Lande. Auf Wegen, die nicht Chaussee sind, verhundertfachen sich die Unannehmlichkeiten; die Pferde werden selten und die Wege so schlecht, daß man Alles darauf zerbrechen kann; Abends bittet man um Gnade, und wenn man keinen andern Zweck hat, als das Land zu sehen, halt man sich für einen Thoren, weil man sich nutzlos so viele Unannehmlichkeiten aufbürdet; man fragt sich mit einer Art Scham, was man eigentlich in einem wilden Lande suche, dem doch die poetische Großartigkeit der Einöde abgeht. Diese Frage habe ich mir auch diesen Abend vorgelegt. Die Nacht übersiel mich auf einem 138 doppelt unbequemen Wege, weil er zur Hälfte wegen einer noch unvollendeten Chaussee verlassen war, die all? fünfzig Schritte einmal darüber hingeht; jeden Augenblick verlaßt man diese erst skizzirte Straße und kehrt im nächsten wieder darauf zurück und zwar auf provisorischen Knüppelbrücken, welche wanken wie das Clavier eines alten Pianos und eben so holperig als gefahrlich sind, denn es fehlen oft die wesentlichsten Holzstücke. Eine innere Stimme gab mir auf meine Frage folgende Antwort: wer, wie Du es gethan hast, ohne bestimmten Zweck und ohne Noth hierher kommt, muß einen eisernen Körper und eine höllische Phantasie haben. Diese Antwort bewog mich anzuhalten und zum großen Aergerniß meines Postillons und Feldjägers wählte ich mein Nachtlager in einem Hauschen, in welchem ich jetzt an Eie schreibe. Ja, dieses Asyl ist minder ekelhaft als ein wirkliches Wirthshaus; kein Reisender kehrt in einem solchen Dorfe ein und das .Holz der Hütten ist deshalb bcr Zufluchtsort nur der Insecten, die aus dem Walde mitgebracht werden; mein Gemach, das eine Bodenkammer ist, zu welcher man auf einem Dutzend hölzerner Stufen hinaufsteigt, gleicht einem Kasten und hat 9 bis 10 Fuß im Quadrat, so wie 6 bis 7 in der Höhe. Es hat eine auffallende Achn-lichkeit mit dem Zwischendeck einen kleinen Schlff^s und er-innert an die Hütte des Geisteskranken in der Geschichte Thelenefs. Das ganze Gebäude besteht aus Fichtenstämmen, deren Zwischenraume wie eine Schaluppe mit in Pech getauchtem Werg ausgestopft sind; der Geruch, der daraus entsteht, in Verbindung mit dem Gestank von Sauerkraut und dem Iuchtengeruch belästigt mich allerdings, aber ich will immer noch lieber Kopfweh als Ekel ertragen und ziehe dieses Kammerchrn der großen Halle weit vor, in welcher ich in dem Gasthause zu Troizkoi wohnte. 139^ Betten giebt es in diesem Häuschen eben so wenig als anderswo; die Bauern schlafen, in ihre Schlafpelze gehüllt, auf Bänken, die in der Stube unten sich an den Wanden hinziehen. Ich habe in meinem Kästchen mein eisernes Bett aufschlagen lassen, das man mit frischem Heu ssestopft hat, dessen Geruch meinen Kopfschmerz noch mehr steigert. Antonio schlaft in meinem Wagen, der durch ihn und den Feldjäger bewacht wird, welcher seinen Sitz nicht verlassen hat. Die Menschen sind auf den Straßen in Rußland ziemlich sicher, die Wagen aber und was dazu gehört, werden von den slawischen Bauern für gute Prise gehalten, und ohne die größte Vorsicht könnte ich am nächsten Morgen meinen Wagen rein ausgeräumt, von allem Lederwerke befreit, als wahre Telega wiederfinden, ohne daß irgend eine Seele in dem Dorfe wissen würbe, wohin das Leder gekommen sein möchte; fände man es vielleicht nach langem Suchen in irgend einem Schuppen, so würde der Spitzbube sagen, er habe es gefunden und nur deshalb daher getragen. Das ist die allgemein gebräuchliche Entschuldigung in Rußland; der Diebstahl ist da in die Sitten übergegangen und die Diebe behalten deshalb auch vollkommene Gewissensruhe und einen Gesichtsausdruck, der bis an das Ende ihres Lebens eine Seelenhciterkeit verräth, an welcher die Engel irre werden könnten. ,,Unser Herr Jesus würde auch stehlen," sagen sie, ,,wenn ihm die Hände nicht zerstochen wären!" Dieses naive und charakteristische Sprichwort führen sie stets im Munde. Glauben Sie nicht, daß der Diebstahl blos von Bauern betrieben werde; es giebt eben so viele Arten von Diebstahl als Stufen in der gesellschaftlichen Rangordnung. Ein Pro-vinzialgouverneur weiß, daß er wie die meisten seiner College« von der Gefahr bedroht ist, sein Leben in Sibirien zu be- schließen; besitzt er aber in der Zeit, die man ihn im Amte laßt, die Klugheit und das Geschick, genug zu stehlen, um sich in dem Prozesse vertheidigen zu können, den man ihm macht, ehe man ihn verbannt, so wird er sich aus der Ver« legcnheit ziehen-, ist er dagegen unmöglicher Weise ein ehrlicher und armer Mann geblieben, so ist er verleren. Diese Bemerkung rührt nicht von mir her, ich habe sie aus dem Munde mehrerer Russen, die ich für glaubwürdig halte, die icl, Ihnen aber nicht nennen will. Sie mögen beurtheilen, welches Vertrauen diese Erzählungen verdienen. Die Kriegscommissarien betrügen die Soldaten und bereichern sich, indem sie dieselben hungern lassen» mit einem Worte, man sagt, Ehrlichkeit in der Verwaltung ware hier 'gefährlich als eine Satire und lacherlich als eine Dummheit. Morgen hoff? ich in Paroslaw anzukommen. Es ist dies eine Centralstadt und ich werde einen oder ein paar Tage da bleiben, um endlich im Innern des Landes Russen, achte Russm zu finden; ich habe mir deshalb auch in Moskau mehrere Empfehlungsschreiben für diese Hauptstadt eines der durch seine Lage, wie durch die Industrie der Bewohner interessantesten Gouvernements geben lassen. Ci n u n d d r c iß i g st cr Brief. Yaloslaw. ben <8. August «»39. H^)ie Propbezeibung, die man mir in Moskau machte, geht bereits in Erfüllung-, ich habe kaum ein Viertel meiner Reise zurückgelegt und kam in Varoslaw in einem Wagen an, an dem kein Stück mehr ganz war; man wird ihn ausbessern, aber ich zweifele, daß er mich an das Ziel bringt. Es ist Herbstwetter und man behauptet hier, es fei ganz der Jahreszeit angemessen; ein kalter Regen hat uns die HundSlagshihe in einem Tage genommen. Der Sommer wird sich, heißt cs weiter, erst im nächsten Jahre wieder einstellen', ich bin aber so sehr an die Unannehmlichkeiten der Warme gewöhnt, an den Staub, die Fliegen, die Mücken, daß ich nicht glauben kann, durch ein Gewitter uon allcn diesen Plagen befreit worden zu sein; es ware Zauberei. Das jetzige Jahr zeichnet sich durch Dürre aus und ich rede mir ein, daß wir noch glühend und erstickend heiße Tage baden werden; die nordische Hitze ist mehr drückend als stark. Paroslow ist ein wichtiger Stapelplatz für den Binnenhandel Rußlands. Durch diese Stadt steht auch Petersburg wit Pcrsien, dem caspischen Meere und ganz Asien in Verbindung, Die Wolga, diese große natürliche und lebendige Straße, geht durch Yaroslaw, den Hauptort der National- 142 schissfahrt, die klug geleitet wird, ein Gegenstand des Stolzes für die Russen und eine der Hauptquellen ihres Wohlstandes ist. Auf die Wolga bezieht sich das ungeheuere Eanalsysiem, welches dcn Reichthum Rußlands ausmacht. Die Stadt Paroslaw, Hauptort eines der interessantesten Gouvernements des Reiches, kündigt sich von weitem als eine Vorstadt Moskaus an. Sie ist, wie alle Provinzial-städte in Rußland, groß und sieht leer aus. Sie ist groß weniger durch die Zahl ihrer Bewohner und Häuser als wegen der ungeheuren Weite der Straßen, der Ausdehnung der Platze und der Verstreuung der Gebäude, die meist durch große Räume von einander getrennt sind, auf denen sich die Bevölkerung verliert. Ein und derselbe Baustyl herrscht von einem Ende des Reiches bis zum andern. Das nachstehende Gespräch wird Ihnen zeigen, welchen Werth die Russen auf ihre sogenannten classischen Hauser legen. Ein geistreicher Mann sagte in Moskau zu mir, er habe in Italien nichts gesehen, was ihm neu erschienen sei. „Ist das Ihr Ernst?" fragte ich. „Vollkommen," antwortete cr. „Ich bin doch der Meinung," cntgegnete ich, ,,daß Niemand das erste Mal am südlichen Abhänge der Alpen hinabsteigen kann, ohne daß das Aussehen des Landes eine völlige Umwandlung in ihm hervordringe." „Warum das 4" sagte der Ruffe mit dem Tone und der Miene des Spottes, die man hier nur zu oft für einen Beweis von Civilisation hält. „Was!" rief ich aus, „die Neuheit der Landschaften, welche drr Architccmr ihren Hauptreiz verdanken; die Hügel, deren regelmäßige Hange, auf denen Wcmstockc, Maulbeer-und Olivenbaume wachsen, auf Klöster, Paläste und Dörfer folgen i die langen Rampen weißer Säulen, welche die Lauben 143 Nagen, die man per^n!« nennt, und die Wunder der Bauart bis in die rauhestm Gebirge bringen; dieses ganze herrliche Aussehen, das mehr einen von Lenutre gezeichneten Garten, die Promenade von Fürsten, als ein Land verrath, das Bauern Brod geben soll; alle diese Schöpfungen des menschlichen Gedanken, dcr den Gedanken Gottes zu verschönern suchte, sind Ihnen nicht neu vorgekommen? Die Kirchen Mit ihrer zierlichen Form, mit ihren Thürmen, an denen Man den durch feudale Lebensweise umgeänderten classischen Geschmack erkennt, so viele seltsame und großartige Gebäude, die in dem herrlichen natürlichen Garten wie absichtlich zur Hebung der Schönheiten verstreut sind, haben Sie nicht überrascht? — An diesen Bildern allein könnte man die Geschichte errathen; überall verrathen ungeheuere Straßcnbauten, die auf eben so festen als leicht aussehenden Arcadcn ruhen*); überall verrathen Berge, die als Basis vonHlöstern, Dörfern und Palasten dienen, ein Land, wo die Kunst die Nacur völlig beherrscht. Wehe dem, welcher Italien betreten kann, ohne an der Majestät der Landschaften wie jener der Gebäude zu erkennen, daß dies Land die Wiege der Civilisation ist." ,,Ich wünsche mir Glück," fuhr mein Gegner ironisch fort, „von Allem dem nichts gesehen zu haben, weil meine Blindheit die Veranlassung zu Ihrer Veredtsamkeic ist." „Es würde mir ziemlich gleichgültig sein," sagte ich kälter, ,,ob meine Begeisterung Ihnen lacherlich vorkommt, wenn ich nur das Schönheitsgefühl in Ihnen weckte. Schon die Wahl der Gegenden', in welchen die Dörfer, die Klöster Und die meisten Städte Italiens glänzen, enthüllt mir den *) Zum Beispiel dic Stadt Bergamo, dcr Üago Maggiorc, dcr Comer See «., und allc südlichen Alpenthättr. 144 Geist eines für die Künste gebornen Volkes; welchen Gebrauch haben in den Ländern, wo der Handel Reichthümer aufhäufte, wie in Genua, in Venedig und am Fuße aller großen Uebergänge über die Alpen, die Leute von ihren Schätzen gemacht? Sie bauten an den Seen, den Flüssen, dem Meere, den Abgründen zauberhafte Palaste, eine Art phantastischer Kaien, gleichsam von Feen gebaute Marmorwälle. Und nicht blos an dem Ufer der Brenta staunt man diese Wunder an, man findet auf allen Stufen der Verge neue Wunderwerke. So viele über einander aufgethürmtl.-Kirchen ziehen die Neugierigen durch ihre Zierlichkeit und den großartigen Styl ihrer Malereien an; so viele Brücken setzen durch ihre Kühnheit und ihre Festigkeit in Erstaunen; der Luxus der Architectur, der in allen Klöstern, in allen Städten, in allen Schlössern, Dörfern, Villen, in allen Einsiedeleien, in-den Zufluchtsorten der Buße wie in den Wohnungen des Vergnügens, des Luxus und der Ueppigkeit glänzt, macht einen solchen Eindruck auf die Phantasie, daß der Gedanke des Reisenden in diesem unter allen Landern der Welt berühmten Lande eben so entzückt wird wie seine Augen. Das Großartige der Massen, die Harmoni« der Linien, Alles ist für einen Nordländer neu und wenn die Kenntniß der Geschichte das Vergnügen der Fremden in Italien erhöht, so erregt doch schon der bloße Anblick der Orte das Interesse. Selbst Griechenland seht trotz seiner erhabenen aber seltenen Ueberreste die große Zahl der Pilger nicht so in Erstaunen, weil Griechenland so, wie es durch die Jahrhunderte der Barbarei geworden ist, leer erscheint und weil eS siudirt werden muß, um recht gewürdigt zu werden; Italien dagegen braucht man nur anzusehen." ,,Wie können wir Bewohner von Petersburg und Moskau," M der Russe ungeduldig ein, „gleich Andern über 148 b" italienische Bauart erstaunen? Sehen Sie nicht die Musterbilder bei iedem Schritte, den Sie in den kleinsten unserer Städte thun?" Nach diesem Ausspruche der Nationaleitelkeit schwieg ich-, lch war in Moskau, die Lachlust beschlich mich und es ware gefährlich gewesen, mich ihr zu überlassen; es wurde mir schwer, klug zu sein, — ebenfalls eine Einwirkung dieser Regierung, selbst auf den Fremden, der auf Unabhängigkeit Anspruch macht. Es ist gerade, dachte ich, ohne es auszusprechen, als wenn man den Apoll von Belvedere in Rom nicht ansehen wollte, weil man an andern Orten Gipsfiguren gesehen, oder die Loggien Rafaels nicht, weil man den Vatican irgend wo als ein Theaterdecoration benutzt hat. Ach, der Einfluß der Mongolen dauert bei Euch länger als ihre Herrschaft! Habt Ihr sie nur vertrieben, um sie nachzuahmen? Durch Verlaumdung und Herabsetzung kommt man in den Künsten, wie allgemein in der Civilisation nicht weiter. So lange Ihr Eure Musterbilder beneidet, werdet Ihr ihnen nicht gleich kommen. Euer Reich ist unermeßlich groß; aber was enthalt es, das meine Bewunderung zu erregen verdiente? Das Niesenbild eines Assen bewundere ich nicht. Es ist Schade für Eure Künstler, daß der liebe Gott etwas Anderes als Gehorsam und Herrschaft zur Grundlage der Staaten gemacht hat, welche die Bestimmung haben, das menschliche Geschlecht aufzuklaren. Diesen Zorn unterdrückte ich, aber was man lebhaft denkt, giebt sich unwillkürlich in dem Gesichte kund; mein spöttischer Reisender errieth ihn, glaube ich, denn er sprach weiter nicht mit mir, außer um mir so hingeworfen zu sagen, er habe Olivenbaume in der Krimm und Maulbeer-bäume bei Kiew gesehen. Ick meines Theils wünsche mir Glück, »ur für kurze Zeit nack Rußland gekommen zu sein; ein langer Aufenthalt m diesem Lande würde mir nicht nur dm Much, sondern auch die Lust benebmcn, über das, was ich scde und höre, die Wahrheit zu sagen. Der Despotismus flößt Gleichgültigkeit und Entmuthigung selbst denen ein, welche fest entschlossen waren, die schreienden Mißbrauche zu bekämpfen. Die Verachtung dessen, was sie nicht kennen, scheint ein vorherrschender Zug in dem Character der Russen zu sein. Statt sich Mühe zu geben, etwas zu versieben und zu begreifen, bemühen sie sich, darüber zu spotten. Gelingt es ihnen jemals, ihren wahren Geist und Sinn zu Tage zu bringen, so wird die Welt nicht ohne Verwunderung sehen, daß es ein Caricaturgeist ist. Seit ich den Geist der Nüssen studire, und Rusiland durchwandere, diesen Staat, der zuletzt in das große Buch der europäischen Geschichte eingetragen worden ist, sehe ich, daß die Lächerlichkeiten eines Emporkömmlings in Masse eristiren und eine ganze Nation charac-terisiren können. Die bemalten und vergoldeten Thürme, die in Varoslaw fast so zahlreich sind als die Hauser, glänzen von weitem wie die von Moskau i aber die Stadt ist minder malerisch, als die alte Hauptstadt des Reiches. Die Wolga begrenzt sie, und an der Seite dieses Flusses endigt sie in einer hohen mit Bäumen bepflanzten Terrasse; unter diesem breiten Walle führt ein Weg hin, von der Stadt zu dem Flusse herab, dessen Leinpfad er im rechten Winkel durchschneidet. Diese nothwendige Communication unterbricht die Terrasse Nicht, welche durch eine schöne Brücke fortgesetzt wird über dem für die Bedürfnisse des Handels eröffneten Wege. Die untcr der 'Promenade verhüllte Brücke siebt man nur von unten, und das Ganze macht einen Mm Eindruck; es fehlt N7 ber Scenerie, um imposant zu erscheinen, nur Bewegung und Licht, aber die Stadt sieht trotz ihrer Wichtigkeit für dkn Handel todt aus, ist traurig, öde und still, nur etwas weniger traurig, öde und still als die Gegend, die man von ihrer Terrasse überblickt. Ich habe mir die Verpflichtung aufgelegt, Ihnen zu beschreiben, was ich sehe, ich mußte Ihnen also auch dieses Bild schildern, obgleich Sic Langeweile dabei fühlen werden gleich mir. Die Wolga ist ein sehr großer grauer Fluß mit steilen aber sandigen und nicht sehr hohen Ufern, die in ungeheure graue Ebenen übergehen, in welchen sich hier und da Wal» der von Fichten und Birken bemcrklich machen, die einzige Vegetation in diesem kalten Voden; darüber spannt sich ein metallischer grauer Himmel, an welchem einige Silbersiachen die Eintönigkeit der bleiernen Wolken unterbrechen, die sich in einem cisengrauen Wasser spiegeln. Das sind die kalten harten Landschaften, welche mich in der Umgegend von Va-roslaw erwarteten. Uebrigens ist das Land hier so gut als möglich bebaut und die Russen rühmen es als das reichste und lachendste ihres Reiches, die Krimni ausgenommen, die aber nach der Versicherung glaubwürdiger Reisenden den Küsten Genuas und Calabriens nicht gleichkommt. Und in welchem Verhältnisse steht die Größe und Bedeutung der Krimm im Vergleich mit den Ebenen dieses großen Welttheiles? Die Steppen bei Kiew haben einen schönen Character, wie man sagt, aber man wird dieser Schönheit bald müde. Die innere Einrichtung der russischen Wohnungen ist verständig, ihr äußeres Aussehen aber und der allgemeine Plan der Städte ist es nicht. Hat nicht Varoslaw seine Säule wie Petersburg und gegenüber einige Gebäude, die k'nen Triumphbogen in der Gestalt eines großen Thores o:l-dln, zur Nachahmung dcs Generalstabes in der Hauptstadt? 1Ü* Alles dies ist sehr geschmacklos und sticht seltsam von der Bauart der Kirchen und Tkürme ad. Diese Gebäude scheinen zu ganz andern Städten als denen zu gehören, für welch« sie errichtet wurden. Je näher man Baroslaw kommt, um so mehr fällt die Schönheil der Menschen auf; die Dörfer sind wohlhabend und gut gebaut, ich habe selbst einige steinerne Hauser gesehen, aber diese sind zu wenig zahlreich, als daß sie das Aussehen des Landes ändern könnten, dessen Einförmigkeit durch nichts unterbrochen wird. Die Wolga ist die Loire Nußlands, nur daß man statt unserer lachenden Hügel der Touraine, die stolz die schönsten Schlösser des Mittelalters und der Renaissance tragen, hier nichts als flache Ufer findet, die natürliche Kais bilden, Flachen mit grauen Hausern, welche wie Zelte aufgestellt sind und ihres ärmlichen, einförmigen Aussehens und ihrer Kleinheit wegen die Landschaft mehr verkümmern als beleben. Und diese Gegend empfehlen die Russen unserer Bewunderung. Ich hatte, wenn ich an der Wolga hin ging, bald mit dem Nordwinde zu kämpfen, der allmachtig in diesem Lande ist, wo er durch die Zerstörung herrscht und drei Monate lang den Staub, das übrige Jahr hindurch den Schnee vor sich hertreibt. Abends, in den Pausen des Sturmes, in welchem der Feind Athem zu schöpfen schien, drangen die Lieder der Schisser auf dem Flusse aus der Ferne zu meinem Ohre. In dieser Ferne verloren sich die näselnden Töne, welche den Volksgesang der Russen verunzieren, in dem Raume und ich vernahm nur einen unbestimmten Klaqelaut, deren Sinn mein Herz errieth. Auf einem langen Holzsioß, der geschickt geleitet wird, fuhren einige Menschen auf der Wolga, ihrem Heimathsflusse, hinab; vor Mroslaw wollten 14^ sie ausstcigm und ich blieb stehen, als ich diese Eingebornm 'br Floß anhalten sah; sie gingen vor dem Fremden vorüber, ohne ihn anzusehen, selbst ohne unter einander zu sprechen. Die Russen sind schweigsam und nicht neugierig-, ich kann Mir es denken, das, was sie wissen, verleidet thnen das, Was ihnen unbekannt ist. Ich bewundere ihre feine Gesichtsbildung und ihre edeln Züge. Die Russm sind, ich wiederhole es oft, vollkommen schön, mit Ausnahme der Menschen von kalmückischer Abstammung mit eingedrückter Nase und vorspringenden Backenknochen. Ein andrer Neiz, der ihnen angeboren, ist die Weichheit ihrer Stimme. Sie wissen eine Sprache wohllautend zu machen, die, von Andern gesprochen, hart und pfeifend sein würde. Die russische Sprache ist die einzige unter den Sprachen Europas, welche in dem Munde gebildeter Personen etwas zu verlieren scheint. Mein Ohr zieht das Russische der Straßen dem Russischen in den Salons vor; in den Straßen ist das Russische die natürliche Sprache, in den Salons aber und an dem Hofe eine erst kürzlich eingeführte, welche die Politik des Gebieters den Höflingen aufnöthigt. Die Melancholie, welche sich unter der Ironie versteckt, ist hier zu Lande die gewöhnlichste Gemüthsstimmung, namentlich in den Salons, denn hier muß man mchr als anderswo die Traurigkeit verheimlichen. Die Folge davon 'st ein sarkastischer, persiflirendcr Ton und ein gezwungenes Wesen, das für Alle peinlich ist. Die Leute aus dem Volke "sticken ihre Traurigkeit in stillem Rausche, die Großen in lärmender Trunkenheit. So nimmt ein und dasselbe Laster vnschisd^c Gestalten bei dem Leibeigenen und dem Herrn ""> Der Ledere hat überdies noch ein andres Mittel gegen 130 die Langeweile, den Ehrgeiz, die Trunkenheit des Geistes. Trotzdem ist nicht zu verkennen, daß bei diesem Volke, in allen Gassen, eine angeborne Eleganz, ein natürliches Zartgefühl herrscht und daß ihm dieser ursprüngliche Vorzug weder durch die Barbarei, noch durch die Civilisation, nicht einmal die affectirte, genommen werden kann. Eine wesentlichere Eigenschaft geht ihm freilich ab: die Fähigkeit zu lieben. Diese ist in dem Herzen der Russen nichts weniger als vorherrschend, und sie besitzen deshalb in gewöhnlichen Umstanden, in Kleinigkeiten, durchaus keine Gutmüthigkeit, in großen und wichtigen wedcr Treue noch Glauben; man findet in ihnen, wenn man sie in der Nähe betrachtet, einen graziösen Egoismus, eine höfliche Gleichgültigkeit, weiter Nichts. Diese Herzlosigkeit erstreckt sich auf alle Classen und zeigt sich unter verschiedenen Formen je nach dem Nange der Personen, die man beobachtet; die Grundlage ist bei Allen dieselbe. Die Fähigkeit, gerührt zu werden und sich innig anzuschließen, die unter den Russen so selten ist, herrscht dagegen unter den Deutschen vor und wird von diesen Gemüth nannt. Die feine und naive französische Scherzhaftigkeit wird durch ein feindseliges Auf-derhutsein, durch eine beobachtende Böswilligkeit, durch eine neidische Bitterkeit, durch eine satyrische Traurigkeit ersetzt, die weit mehr zu fürchten zu sein scheint als unsere lachende Frivolität. Die Strenge des (Zlimas, die den Menschen zu einem fortwahrenden Kampfe nöthigt, die Harte der Regie: rung und die gewöhnliche Spionirerei machen hier die Cha-ractere melancholisch und die Eitelkeit mißtrauisch. Man fürchtet immer Jemanden und Etwas und das Schlimmste dabei ist, daß diese Furcht begründet ist. Man gesteht sie nicht ein, aber sie wird auch nicht verheimlicht, namentlich nicht vor den Blicken eines etwas aufmerksamen und geüb- 151^ t'N Beobachters, der, gleich mir, verschiedene Nationen un? ^r einander zu vergleichen gewöhnt ist. Die den Fremden im Allgemeinen nicht günstige Ge-Müthsstimmung der Russen scheint sich bis zu einem gewissen Punkte entschuldigen zu lassen. Ehe sie uns kennen, kommen sie uns mit scheinbarer Beeiferung entgegen, weil sie gastlich sind wie die Orientalen und sich langweilen wie die Europäer; aber wahrend sie uns mit einer Zuvorkommenheit aufnehmen, in welcher mehr Schein als Herzlichkeit liegt, achten sie auf unsere unbedeutendsten Worte, unterwerfen sie unsere geringfügigsten Handlungen einer kritischen Prüfung , und da sie dabei natürlich viel zu tadeln finden, so triumphiren sie innerlich und denken: „das also sind die Leute, welche uns in Allem überlegen zu sein glauben!" Dieses Prüfen und Studiren gefallt ihnen, denn da sie von Natur mehr schlau als weich sind, so wird es ihnen nicht schwer, Fremden gegenüber auf der Defensive zu verharren. Diese Stimmung schließt weder eine gewisse Höflichkeit, noch eine Art Anmuth aus, aber sie widerspricht der eigentlichen Liebenswürdigkeit. Vielleicht gelange es mit der Zeit und durch viele Mühe, ihnen einiges Vertrauen einzuflößen, aber ich zweifle doch, ob ich durch alle meine Bemühungen diesen Zweck erreichen könnte, denn die russische Nation ist eine der leichtsinnigsten und dabei verschlossensten in der Welt. Was hat sie für den Fortschritt des menschlichen Geistes gethan? Noch hat sie keine Philosophen, keine Moralisten, keine Gesehgeber, keine Gelehrten gehabt, deren Namen gleich Marksteinen in der Geschichte stehen; bagegen hat es ihr nie an guten Diplomaten und schlauen politischen Köpfen gefehlt und es wird ihr nie daran fehlen; wenn die untern blassen keine erfinderischen Arbeiter liefern, so besitzen sie doch vortreffliche Nachahmer; giebt es auch 1X2 keine Diener, die ihren Stand durch erhabene Gesinnungen zu veredeln wissen, so findet man wenigstens vortreffliche Spione. Ich führe Sie in das Labyrinth der Widersprüche ein, das heißt ich zeige Ihnen die Dinge dieser Nclt, wie sie mir bei dem ersten und zweiten Anblicke erschienen-, Sie mögen meine Bemerkungen ordnen und zusammenfassen, um aus meinen persönlichen Meinungen zu einer allgemlinen Ansicht zu gelangen. Mein Ehrgeiz ist erfüllt, wenn Sie sich durch Vergleichen und Ausscheiden einer Menge gewagter und übereilter Aussprüche eine feste, unparteiische und reife Meinung bilden können. Ich selbst habe es nicht gethan, weil ich lieber reise als arbeite'» ein Schriftsteller ist nicht frei, wcchl aber ist es ein Reisender; ich erzähle die Reise und überlasse es Ihnen, das Buch zu vervollständigen. Die neuen Reflexionen über den russischen Character,, die Sie eben gelesen haben, wurden durch mehrere Besuche veranlaßt, die ich nach meiner Ankunft in Paroslaw machte. Ich hielt diesen Centralpunkt für einen der interessantesten meiner Reise und deshalb hatte ich mich vor meiner Abreise aus Moskau mit mehreren Empfehlungsschreiben für diese Stadt versehen. Morgen sollen Eie das Resultat meines Besuchs bei der Hauptperson der Gegend erfahren, denn ich habe eben meinen Brief an den Gouverneur gesandt. In den verschiedenen Häusern, die ich diesen Vormittag besuchte, erzählte man mir viel Schlechtes von ihm, oder, um mich richtiger auszudrücken, man ließ mich viel Schlechtes von ihm errathen. Der Haß, den er einstößt, erregt in mir ein wohlwollende Neugierde. Die vorurteilsfreien Fremden müssen die Individuen gerechter beurtheilen als die Einheimischen. Morgen werde ich eine Meinung über die erste Person im Gou- 133 verneint von stiaroslaw haben und Ihnen dieselbe frei und unverholen mittheilen. Bis dahin wollen wir uns mit bm beuten aus dem Volke beschäftigen. Die russischen Bäuerinnen gehen meist barfuß; die Männer tragen öflcrs eine Art Schuhe von grob geflochtenen Binsen und diese Fußbekleidung gleicht von weitem den antiken Sandalen. Das Bein ist von weiten Beinkleidern verhüllt, die am Knöchel zusammengebunden werden, so daß sich die Falten in den Schuh verlieren. Diese Tracht erinnert ganz und gar an die Statuen der Scythen, welche römische Bildhauer lieferten. Daß diese Künstler Barbaren-Frauen in deren Tracht dargestellt haben, glaube ich nicht. Ich schreibe an Sie in einem schlechten Wirthshause; es giebt in ganz Nußland nur zwei gute Gasthauser und diese werden von Fremden gehalten, das englische Haus in Petersburg und das der Madame Howard in Moskau. Selbst in vielen Privathäusern setze ich mich nur mit Zittern auf einen Divan nieder. Ich habe in Petersburg und Moskau viele öffentliche Bader gesehen; man badet da auf verschiedene Art. Einige gehen in Gemächer hinein, die zu einem mir unerträglichen Grade geheizt sind-, ein durchdringender Dampf benimmt Einem da den Athem; an andern Orten werden nackte Menschen auf glühenden Brettern von andern Nackten geseift und gewaschen; die Vornehmen haben Badewannen wie überall, aber es strömen so viele Personen in diese Ansialten, die warme Feuchtigkeit, die stets da herrscht, nährt so viele Insekten, die Kleider, welche man da niederlegt, dienen so vielem Ungeziefer als Zufluchtsstätten, daß man biese Bader selten verläßt, ohne lebendige Btweise von der schmutzigen Nachlässigkeit dcr gemeinen Russen mit hinweg 184 zu nchmcn. Schon diese einige Erinnerung und die fortwährende Angst, in der ich deshalb schwebe, würde mir das Land verhaßt machen. Die Leute, welche die öffentlichen Bäder gebrauchen, sollten, bevor sie sich selbst reinigen, die Bäder, die Vade-diener, die Vreter, die Wäsche, kurz Alles reinigen lassen, was man berührt, sieht und athmet in diesen Höhlen, in denen die achten Moskowiter ihre sogenannte Reinlichkeit pflegen und durch den Mißbrauch des Dampfes und des Schweißes, den derselbe veranlaßt, das Altern beschleunigen. Es ist zehn Uhr Abends; der Gouverneur ließ mir sagen, sein Sohn und sein Wagen würden mich abholen; ich antwortete durch Entschuldigungen und Danksagungen; ich schriebe im Bett und könne dicsen Abend von der Güte des Gouverneurs keinen Gebrauch machen, würde dagegen den nächsten ganzen Tag in Varoslaw bleiben und ihm da für seine Güte danken. Es ist mir nickt unangenehm, eine Gelegenheit zu erhalten, die russische Gastlichkeit in der Provinz genau kennen zu lcmen. Morgm also. Fortgesetzt in Yaroilaw, den iß, Aug. 1869 nach Mitternacht, Diesen Vormittag um elf Uhr erschien der Eohn des Gouverneurs, der noch ein Knabe ist, in großer Uniform, um mich in einem vierspännigen Wagen mit Kutscher und Vorreilcr abzuholen. Diese elegante Erscheinung vor der Thüre meines Gasthauses brachte mich in Verlegenheit; ich fühlte sogleich, daß ich es nicht mit alten Russen zu thun haben würbe und daß ich mich in meiner Erwartung getäuscht hätte, da ich nicht zu reinen Moskowitern, zu achten Bojaren käme. Ich fürchtete, noch einmal zu reisenden 18» Europäern, zu 5)oflingcn des Kaisers Alexander, unter cos-luopolitische große 5)errcn zu gelangen. ,,Mein Vater tennt Paris," sagte der junge Herr, „und er wird sich sehr freuen, einen Franzosen bei sich zu sehen/" ,,3u welcher Zeit hat er Frankreich gesehen?" Der junge Nüsse schwieg und schien durch meine Frage, die ich doch für sehr einfach hielt, in Verlegenheit gebracht worden zu sein; Anfangs konnte ich mir diese Verlegenheit nicht erklären, später aber wurde sie mir deutlich und ich wußte ihm für seinen Beweis von großem Zartgefühle, das man in jedem Lande und jedem Alter so selten findet, wahrhaft Dank. Herr", Gouverneur von Varoslaw, hatte im Gefolge des Kaisers Alexander die Feldzüge von 1813 und 1814 in Frankreich mitgemacht und daran wollte mich der Sohn nicht erinnern. Dieser Beweis von Tatt «innert mich an einen ganz verschiedenen Zug; eines Tages speiset« ich in einer kleinen Stadt Deutschlands bei dem Gesandten eines andern kleinen deutschen Landes; der Herr vom Hause stellte mich seiner Frau vor und sagte ihr, daß ich eine Franzose sei. „Also ein Feind," unterbrach in sein Sohn, der dreizehn bis vierzehn Jahre alt zu sein schien. Das Kind war nicht in Nußland in die Echule gegangen. Als ich in das große, glänzende Zimmer trat, in welchem mich der Gouverneur, dessen Gemahlin und zahlreiche Familie erwarteten, glaubte ich nach London oder vielmedr nach Petersburg versetzt zu sein, denn die Frau vom Hause befand sich nach russischer Sitte in dem kleinen Cabinet mit vergoldetem Gitter, welches eine Ecke des Zimmers einnimmt und Altan genannt wird. Es erhebt um sich einige Stufen und dient den russischen Wohnungen zur Zierde; man 156 könnte es ein durch Gitterwerk abgesondertes Licbhaberthea-ter nennen. Ich habe Ihnen diese (Cabinets, die eden so elegant als originell aussehen, schon früher beschrieben. Der Gouverneur empfing mich sehr artiq, dann ging ?r durch das Zimmer vor mehreren Frauen und Herren, seinen Verwandten, vorbei, die sich versammelt hatten, und führte'mich in das grüne Cabinet, wo ich endlich seine Frau erblickte. Kaum hatte ich auf ihre Aufforderung neben ihr in diesem Heiligthume Platz genommen, als sie lächelnd zu mir sagte: ,, macht Eleazar noch immer Fabeln, Herr von Custine?" Der Graf Eleazar von Sabran, mein Oheim, hatte sich von Jugend auf in der Gesellschaft zu Versailles durch sein poetisches Talent ausgezeichnet und er würde auch in dem Publikum Ansehen erworben haben, wenn ihn seine Freunde und Verwandten hätten vermögen können, seine Fabeln herauszugeben, welche durch leichte, elegante Versification, so wie durch geistreiche und pikante Gedanken sich über das Gewöhnliche erhoben. Ich dachte, als ich bei dem Gouverneur von Mroslaw erschien, an nichts weniger als an diesen poetischen Oheim, da mich die nur zu selten befriedigte Hoffnung beschäftigte, endlich wahre Russen in Rußland zu finden. Ich antwortete der Gemahlin des Gouverneurs durch ein verwundertes Lächeln, das etwa sagen wollte: ,,das gleicht ja einem Mährchen; erklären Eie mir dies Räthsel." Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten. ,,Ich wurde/' fuhr die Dame fort, ,,durch eine Freundin der Frau von Eabran, Ihrer Großmutter, erzogen, und diese Freundin sprach oftmals von der natürlichen Anmuth und dem Geiste der Frau von Sabran, so wie von dem Talent Ihres Oheims und Ihrer Mutter; sie sprach sogar nicht IK7 selben von Ihnen, ob sie gleich Frankreich vor Ihrer Geburt verlassen hatte. Sie folgte der Familie Polignac bei der Auswanderung derselben nach Nußland, und hat mich seit dem Tode der Herzogin von Polignac nickt verlassen." Nach diesen Worten stellte sie mich ihrer Gouvernante, einer bejahrten Frau, vor, die besser französisch sprach als ich, und deren Gesichtsbildung Sanftmuth und Geist verrieth. Ich fühlte, daß ich diesmal meinem Traume von Bojaren entsagen mußte, was mir doch einigermaßen leid that; aber ich fand dafür reichliche Entschädigung. Madame**, die Gemahlin des Gouverneurs, stammt aus einer vornehmen Familie Litthauens und ist eine geborne Fürstin von**. Außer der Artigkeit, die fast allen Personen dieses Ranges in allen Ländern eigen ist, hat sie den Ton und Geschmack der französischen Gesellschaft der besten Zeit angenommen, und sie erinnert mich, trotz ihrer Jugend, durch die edle Einfachheit ihrer Haltung an das Benehmen der bejahrten Personen, die ich in meiner Jugend gekannt habe, — an die Traditionen von dem alten Hofe, die Rücksicht auf Schicklichkeit und den guten Geschmack in seiner Vollkommenheit, da er sich bis zur Natürlichkeit erhebt, mit einem Worte an die große Welt von Paris und das Reizendste, was sie zu der Zeit besaß, als unsere Ueberlegenheit von Niemandem bestritten wurde, zu jener Zeit, als die Frau von Marsan sich auf einen bescheidenm Iahrgehalt beschrankte, sich in eine kleine Wohnung zurückzog, und ihre ungeheuren Einkünfte auf zehn Jahre verpfändete, damit ihr Bruder, der Fürst von Gul'Men^e, seine Schulden bezahlen, und, so viel es von ihr abhinge, durch dieses edle Opfer das Aergerniß eines Bankerottes eines großen Herrn abwenden könnte. Alles dies, dachte ich, wird mich freilich nichts Neues von dem Lande kennen lehren, das ich bereise, aber ich sinbe 138 doch darin ein Vergnügen, das ich mir nicht gern versage, da es vielleicht seltener geworden ist, als die Befriedigung der bloßen Neugierdc, die mich hierher führte. Ich glaube in das Zimmer meiner Großmutter*) versetzt zu sein, freilich nicht in der Zeit, wo der Chevalier von Bousslers, die Frau von Coaslin und die Frau vom Hause zugegen waren, denn diese glänzenden Musterbilder jener Art Esprit, der sich sonst in der Conversation kund gab, sind unwiederbringlich verschwunden, selbst in Rußland, — aber doch in einem gewählten Kreise ihrer Freunde und Schüler, die sich bei ihnen versammelten, um sie an den Tagen zu erwarten, an denen sie hatten ausgehen müssen. Es ist mir, als müßten sie jeden Augenblick erscheinen. Ich war für diese Art Gefühle durchaus nicht vorbereitet, und von allen Ueberraschungen der Reise kam mir diese am unerwartetsten. Die Frau vom Hause, welche meine Ueberraschung theilte, erzählte mir, wie sie sich verwundert, als sie am Abend vorher meinen Namen unter dem Briefchen gesehen, mit welchem ich die Empfehlungsschreiben aus Moskau an den Gouverneur übersandt hatte. Dieses seltsame Zusammentressen in einem Lande, wo ich so unbekannt zu sein glaubte wie ein Chinese, machte die Unterhaltung, die allgemein wurde, ohne daß sie aufhörte angenehm zu sein, sogleich vertraulich, fast freundschaftlich. Alles das kam mir höchst originell vor» es schien durchaus nichts Gemachtes, nichts Assectirles in dem Vergnügen zu liegen, mit dem man mich aufnahm. Die Ucberraschung war gegenseitig gewesen, ein wahrer Theatercoup. Niemand erwartete mich in Varoslaw; *) Die Gräsin von Sabran, später Marquise vcn Boufflcrs, stqrb in Paris 1827 in ihrem 78. Jahre. 159 ich entschloß mich zu dieser Straße erst am Tage vor meiner Abreise aus Moskau, und trotz der kleinlichen russischen Eitelkeit war ich doch keineswegs eine so wichtige Person, daß der Mann, den ich im letzten Augenblicke um einige Empfehlungsbriefe gebeten hatte, einen (5ourrier hätte vor mir her schicken können. Der Bruder der Gemahlin des Gouverneurs ist ein Fürst . . -, der unsere Sprache vollkommen schreibt. Er hat Schriften in französischen Versen herausgegeben, und schenkt« mir eine seiner Gedichtsammlungen. Als ich das Buch aufschlug, fand ich folgenden gefühlvollen Vers in einem Gedichte: Trost an eine Mutter. 1^8 ^l^ül« XNlic III s!!'<> >1m. Domestiken bringen auf Prasentir-tellern kleine Teller mit frischem Caviar, wie man ihn nur hier zu Lande ißt, mit geräuchertem Fisch, Käse, Salzfleisch, Schissszwieback und anderm Gebäck mit und ohne Zucker; auch bittere Liqueure, französischer Branntwein, Londoner Porter, Ungar-Wein und Danziger Goldwasser wird herumgereicht und man ißt und trinkt im Stehen und Herumgehen. Ein Fremder, welcher die Landesgewohnheitm nicht kennt und dessen Hunger bald zu stillen ist, könnte sich leicht hierbei sättigen und bei dem eigentlichen Diner unthätiger Zuschauer 11' 164 bleiben muffen. Man ißt in Nußland viel und in guten Häusern auch gut; aber man liebt die Haches, die Farce, die Fleisch- und Fischklöschm in den deutschen und italienischen Pasteten zu sehr. In der Wolga wird einer der wohlschmeckendsten Fische in der Welt (der Sterlet) gefangen» er hat etwas von dem See- und etwas von dem Süßwasserfisch, ohne indeß einen von denen zu gleichen, die ich andftswo gegessen habe; er ist groß, sein Fleisch aber fein und leicht, seine Haut von vortrefflichem Geschmacke und sein spitzer ganz aus Knorpel bestehender Kopf gilt für eine Delicatesse. Man richtet dieses Ungethüm sehr gut zu und ohne zu viel Gewürz; die Sauce, in welcher er gegeben wird, schmeckt nach Wem, Fleischbrühe und Citronensaft. Ich ziehe dieses Nationalgericht allen andern Ragouts des Landes, besonders der kalten scharfen Suppe, einer Art Fischbouillon mit Eis, weit vor. Auch Suppen mit versüßtem Essig hat man hier, die ich einmal gekostet habe, um sie nie wieder anzurühren. Das Diner des Gouverneurs war gut, ohne Ueberfluß und ohne nutzlose Pracht. Die Menge und Vortrefsiichkei, der Wassermelonen sehte mich in Erstaunen; sie komment wie man sagt, aus der Gegend von Moskau, wahrend ich glaubte, man hole sie viel weiter her, vielleicht aus der Krimm. Es ist hier gebrauchlich, das Dessert gleich bei Beginn des Diners auf der Tafel aufzustellen und dasselbe einzeln zu prasentiren. Diese Methode hat Vorzüge und Unannehmlichkeiten, scheint mir aber nur für große Diners zu passen. Die russischen Diners haben eine verständige Dauer und die Gaste entfernen sich fast alle, nachdrm man von der Tafel aufgestanden ist. Einige Personen pflegen nach orientalischer Art Siesta zu halten, andere begeben sich auf die Promenade oder gehen an ihre Geschäfte, nachdem sie den lß3 Kaffee getrunken l'aben. Das Diner ist hier nicht die Mahlzeit, welche die Ta^esarbeit beschließt, und alv ich von der Frau vom Hause Abschied nahm, hatte sie die (hüte mich zu ersuchen, wiederzukommen und den Abend bei ihr zu verbringen. Ich nahm die Einladung an, da ich sie nicht abweisen konnte, ohne unartig zu erscheinen. Alles wird mir hier mit so viel Geschmack geboten, daß weder die Ermüdung noch die Lust, an Sie zu schreiben, mir meine Freiheit verschaffen kann. Eine solche Gastfreundschaft ist eine süße Tyrannei und ich fühle, daß es undelicat sein würde, sie nicht anzunehmen; man stellt einen vierspännigen Wagen, ein Haus zu meiner Verfügung, eine ganze Familie beeifert sich mich zu zerstreuen und mir die Gegend zu zeigen, und alles dies geschieht ohne affectirte Komplimente, ohne überflüssige Betheuerungen, ohne lästige Zudringlichkeit, mit der höchsten Einfachheit und Natürlichkeit; so vieler Anmuth vermag ich nicht zu widerstehen, so viele Eleganz vermag ich nicht zu verschmähen; ich würde nachgeben, wäre es auch nur aus patriotischem Instinct; denn in diesem so angenehmen Benehmen liegt eine Erinnerung an das ehema-liche Frankreich, die mich ergreift und verführt; es ist mir, als sei ich an die Grenze der civilisirten Welt gekommen, um da einen Theil des Erbes des französischen Geistes im 18. Jahrhundert zu erheben, der bei uns selbst langst verloren gegangen ist. Dieser unbeschreibliche Neiz der guten Manieren und der einfachen Sprache erinnert mich an den paradoxen Ausspruch eines der geistreichsten Menschen, die ich gekannt habe: ,,jede schlechte Handlung," sagte er. „jedes schlechte Gefühl entsteht aus einem Mangel an Lebensart; deshalb ist die wahre Artigkeit die Tugend, eine Vereinigung von alien Tugenden." Er ging sogar noch weiter und sagte, es gebe kein andres Laster, als die Grobheit. ___Kitt Diesen Abend um neun Uhr kehrte ich in das Haus des Gouverneurs zurück. Anfangs wurde Musik gemacht, dann cme Lotterie gezogen. Ein Bruder der Frau vom Hause spielt vortrefflich auf dem Vivloncell, seine Frau begleitete ihn auf dem Piano. Durch dieses Duett und Nationallieder, die geschmackvoll gesungen wurden, verging der Abend sehr schnell. Auch die Unterhaltung mit der Frau von .., der ehemaligen Freundin meiner Großmutter und der Frau von Po-lignac, trug nicht wenig dazu bei, mir die Zeit zu verkürzen. Diese Dame lebt seit 47 Jahren in Rußland, hat das Land mit Scharfsinn betrachtet und beurtheilt und erzählt die Wahrheit ohn? Feindseligkeit, aber auch ohne rednerische Vorsicht; das war mir neu; ihre Offenheit contrastirt mit der allgemeinen Heuchelei und Verstellung der Russen. Eine geistreiche Französin, die ihr Leben unter den Russen verbrachte, muß sie, glaube ich, besser kennen, als sie sich selbst kennen; denn sie verbinden sich selbst die Augen, um besser zu lügen. Frau von ... sagte mir wiederholt, das Gefühl dcr Ehre sei hier zu Lande nur bei den Frauen stark; sie halten treu ihr Wort, verabscheuen die Lüge, sind zartfühlend in Geldangelegenheiten und unabhängig in der Politik, kurz die meisten beschen, nach der Frau von ..., gerade das, was den meisten Männer fehlt: die Rechtschassenheit im Leben, selbst bei den geringfügigsten Angelegenheiten. Im Allgemeinen denken die Frauen in Rußland mehr als die Männer, weil sie nicht handeln. Die Muße, dieser von der Lebensweise der Frauen unzertrennliche Vorzug, kommt ihrem Character eben so zu Gute als ihrem Geiste; sse sind gebildeter, minder knechtisch und energischer in ihren Ansichten als dic Männer. Oft erscheint ihnen selbst dcr Heroismus natürlich und wird ihnen leicht. Die Fürstin Trubetzkoi ist IN?___ nickt die einzige Frau, welche ihrem Manne nach Sibirm folgte; viele verbannte Männer haben von idren Fraucn diesen hochherzigen Beweis von Hingebung empfangen, der Nichts von feinem Werthe verliert, wenn er euch seltener ist als ich glaube; leider kenne ich ihre Namen nicht. We werden sie einen Geschichtschreiber und Dichter fmden? Die unbekannt bleibenden Tugenden nöthigen vorzugsweise, an das jüngste Gericht zu glauben. Man kann sich wohl die Vergebung des Allmachtigen, nicht aber seine Gleichgültigkeit denken. Die Tugend ist nur Tugend, weil sie durch die Menschen nicht belohnt werden kann. Sie würde von ihrer Vollkommenheit verlieren und eine servile Berechnung wer: den, wenn sie die Gewißheit hätte, auf der Erde stets gewürdigt und belohnt zu werden; die Tugend, welche nicht bis -zum Uebernatürllchen, zum Erhabenen ginge, würde unvollständig sein. Würde es Heilige geben, wenn das Böse nicht wärei Der Kampf gehört nothwendig zum Siege und der Sieg nöthigt selbst Gott, den Sieger zu krönen. Dieses schöne Schauspiel rechtfertigt die Vorsehung, welche, um dasselbe dem aufmerkenden Himmel zu verschaffen, die Verirrungen der Welt duldet. Gegen das Ende des Abends, ehe man mir erlaubte, mich zu verabschieden, nahm man, mir zu Ehren, eine Feierlichkeit vor, die erst in einigen Tagen statmnden sollte und die in der Familie seit einem halben Jahre erwartet wurde, nämlich die Ziehung einer Lotterie zum Besten der Armen; alle Gewinne, die in Arbeiten der Frau vom 5?ause, ihrer Verwandten und Freunde bestanden, waren geschmackvoll auf Tischen aufgestellt; derjenige, welcher mir zufiel, ich wage nicht zu sagen durch Zufall, denn man hatte meine Billets sorgfältig gcwahlt, ist ein hübsches kleines Notizbuch mi: einem Einband in Lack. Ich schrieb sogleich das Datum und das Jahr hinein und fügte einige Worte zur Erinnerung hinzu Zur Zeit unserer Väter würde man in einem solchen Falle Verse improvisirt haben'; heut zu Tag aber ist die Mode der Impromptus in Gesellschaften vergangen, weil die öffentliche Improvisation so sehr um sich gegriffen hat. Man sucht jetzt in der Gesellschaft nur geistige Ruhe und sie findet sich auch da. Die Neben, die ephemere Literatur und die Politik haben das Lied und das Sonnett entthront. 'Ich kann keine einzige Strophe schreiben, bin mir aber die Gerechtigkeit schuldig, hinzuzufügen, daß ich es nicht bedauere. Nachdem ich von meinen liebenswürdigen Wirthen, die ich auf der Messe zu Nischnei wiederfinden soll, Abschied genommen hatte, kehrte ich in mein Wirthshaus zurück, sehr zufrieden mit dem Tage, den ich Ihnen beschrieben habe. Das Bauerhaus von vorgestern, in welchem ich blieb, Sie wissen wie, und der Salon heute, Kamtschatka und Versailles drei Stunden auseinander, das ist Nußland. Ich opfere Ihnen meine Nachte, um Ihnen das Land zu schildern, wie ich es sehe. Mein Vlicf ist noch nicht beendigt und schon erscheint die Morgendämmerung. Die Kontraste wechseln schnell in diesem Lande, so daß der Bauer und der Herr nicht demselben Boden anzugehören scheinen. Es giebt ein Vaterland für den Leibeigenen und ein Vaterland für den Herrn. Erinnern Sie sich, daß die russischen Bauern lange glaubten, dcr Himmel sei nur für ihre Herren bestimmt. Der Staat ist hier in sich selbst getheilt und die Einheit nur scheinbar; die Großen besitzen einen gebildeten Geist, als wenn sie in einem andern Lande leben sollten und der Bauer ist roh und unwissend, als wenn er unter Herren stände, die ihm glichen. ^N9 Ich mach«' der russischen Regierung weniger den Mißbrauch der Aristocratic zum Vorwürfe, als den Mangel einer autorisirten arisiocratischen Mach:, deren Befugnisse scharf und konstitutionell bestimmt und begrenzt sind. Die politisch anerkannten Aristocratic,: sind mir immer wohlthatig erschienen, wahrend die Aristocratie, die keinen andern Grund hat als die Chimären und Ungerechtigkcittn der Bevorzugten, verderblich ist, weil ihre Befugnisse unbestimmt und ungeordnet sind. Die russischen Großen sind Herren und nur zu unbeschrankte .Herren auf ilMN Besitzungen, und daraus foigen die Neberschreitungen, welche die'Furcht und die Heuchelei unter süßlich gesprochenen Humaniratspbrascn verhüllen, die den Reisenden und oft selbst die Häupter der Negierung tauschen; eigentlich sind aber dech diese Leute, obschon unbeschrankt aus ihren von dem polischen Mittelpunkte entfernten Besitzungen, in dem Staate gar nichts; zu Hause mißbrauchen sie Alles und spotten des Kaisers, weil sie die untergeordneten Diener der rechtmäßigen Gewalt bestechen oder einschüchtern; sie sind allmächtig in dem Bösen, das im Kleinen und ohne Vorwissen der obern Ve-hörde geübt wird, haben aber bei der allgemeinen lining des Landes weder Macht noch Ansehen. Ein Mann mit dem größten Namen reprasentirt in Rußland eigentlich nur sich selbst und hat kein Ansehen ohne sein individuelles Verdienst, dessen einziger Richter der Kaiser ist, und so großer Herr er auch ist, er hat keine Macht außer dcr, welche er sich zu 5)ause anmaßt. Ansehen erlangt er und dies kann unermeßlich werden, wenn er es geltend zu machen und am Hofe und in dem Tfchinn vorwärts zu kommen weiß. Die Schmeichelei ist eine Industrie wie ein? andere, sie giebt aber wie eine andere und mehr als eine andere, nur eine precare Eristenz. Dieses Hösimgslcbcn schließt die Erhabenheit der Gefüdle, die Nnabdängigkeit des Geistes, die wahrhaft hu-, manen und patriotischen Ansichten und die großen politischen Plane aus, welche recht eigentlich den aristocrattschcn Cor-poranonm zugehören, die gesetzlich constituirt sind. Auf der andern Snte schließt es den gerechten Stolz des Mannes aus, welcher sein Glück durch seine Arbeit macht; es verei5 mqt also die Nachtheile der Dcmocratie und des Despotismus, wahrend eS das Gute ausschließt, was diese beiden Regierungsformen haben. Es giebt hier eine Classe von Menschen, welche unserm Vürgeistande entspricht mit Ausnahme der Charactersicstigkeit, welche durch eine unabhängige Stellung möglich wird, und der Erfahrung, welche eine Folge der Gedankenfreiheit und der Geistesbildung ist, — die Nasse ber Subalternbeamten oder dcs zweiten Adels nämlich. Die Ideen dieser Leute sind meist dm Neuerungen zugewendet, während ihre Hand? lungen die despotischsten unter dem Despotismus sind. Sie gingen aus den öffentlichen Schulen hervor, um in den Staatsdienst zu treten, und diese Classe regiert das Land dem Kaiser zum Trotze,. Ein jeder dieser Leute, meist Sohn eines aus dem Auslande gekommenen Vaters, ist von Adel, sobald er ein Kreuz im Knopsioche trägt. Man vergesse dabei nicht, daß nicht der Kaiser allein diese Orden giebt. Mit diesem magischen Zeichen werden sie Grundbesitzer und als solche deschen sie Land und — Menschen. Diese neuen Herren, die zur Gewalt gelangt sind, ohne die Hochherzigkeit einer FannUe geerbt zu haben, die lange schon an das Herrschen und Befrhlen gewöhnt war, benutzen ihre Gewalt wie Empor-tömmlinge. Sie wollen das Volk aufklären und dienen vor der Hand den Großen und Geringen zur Unterhaltung; ihre Lächerlichkeiten sind sprichwörtlich geworden; Jeder-mann, der diese erst kürzlich durch ihre Aemter oder ihren 171 Rang in dem Tschinn zu der Ehre des Grundbesitzes erhobenen halben Herren braucht, entschädigt sich für ihr ge-spreiz gravitätisches Wesen durch bittern Spott. Sie üben ihr Gutshcrrenrecht mir einer Strenge aus, die sie für ihre unglücklichen Bauern zu einem Gegenstande der Verwünschung macht. Seltsame sociale Erscheinung! Das liberale oder bewegliche Element in dem Systeme der despotischen Regierung macht bier diese Regierung unerträglich! „Wenn es nur alte Herren gäbe," sagen die Vauecn, „würden wir uns nicht beklagen." Diese von der geringen An: zahl ihrer Leibeigenen so sehr gehaßten neuen Menschen sind auch die Herren des höäisten Äerrn, denn sie führen bei sehr vielen Gelegenheiten dem Kaiser die Hand mit Gewalt oder sie bereiten Rußland eine Revolution auf zwei Wegen vor, auf dem directen durch ihre Ideen oder auf dem indirecten durch den Haß und die Verachtung, die sie in dem Volte gegen die Aristocratie, zu deren .>)öhe solche Menschen empor-gelanq.'n können, und gegen Leibeigenschaft erregen, welche in Rußland definitiv ;u der Zeit eingeführt wurde, als das alte Europa bei sich das Fcudalgebäude einzureißen begann. Eine Subalternenherrschaft, eine republikanische Tyrannei unter der autocratischen Tyrannei, welche Verbindung von Uebeln! Das sind die Feinde, welche sich die Kaiser von Nußland durch ihr Mißtrauen gegen ihren alten Adel geschaffen haben', wäre eine eingestandene, ftic lange in dem Lande eingewurzelte, ab.-r durch die Fortschritte der Sitten und die Milderung d>'r Gewohnheiten gemäßigte Aristocratie ein Ei-vllisationsmittel gew.'fen, das den Vorzug verdiente vor dem heuchlerischen Gehorsame und dem auflösenden Einflüsse ei-"er Ech^ar von Schreibern, die meist aus dem Auslande stammen, die alle mehr oder weniger im Her«M von revolutionären Ideen angesteckt und alle im Gedanken eben so 172 insolent, als in ihren Werken und Gewohnheiten hmgebenb und fügsam sind? Diese unsichtbaren Despoten, diese Zwerg-Tyrannen unterdrücken von ihren Kanzleien aus das Land unbestraft und hemmen selbst den Kaiser, der wohl bemerkt, daß er nicht so mächtig ist, als man ihm sagt, der aber in seiner Verwunderung, die er sich selbst verheimlichen möchte, nicht immer weiß, wo die Grenze seiner Gewalt ist. Er füdlt sie und leidet darunter, ohne daß er wagt, sich darübcr zu beklagen; diese Schranke ist die Büreaucratie, eine Macht, die überall schrecklich ist, weil der Mißbrauch, den man mit ihr treibt, Ordnungsliebe heißt, die in Nußland aber am allerschrecklichstcn ist. Sieht man die Admi-nisirativ-Tvrannei an der Stelle des kaiserlichen Despotismus, so zittert man für ein Land, wo sich dieses Ilegierungs-system, das unter dem französischen Kaiserreiche in Europa verbreitet wurde, ohne Gegengewicht festgesetzt hat. Nußland hatte weder die democratischen Sitten, die Frucht der Revolutionen, welche Frankreich erfahren, noch die Presse, die Frucht und den Keim der politischen Freiheit, die sic fortpflanzt, nachdem sie durch dieselbe erzeugt ist< Die Kaiser von Rußland, die in ihrem Mißtrauen wie in ihrem Vertrauen gleich übel berathen waren, sahcn in den Adeligen nur Nebenbuhler und wollten in den Männern, die sie zu Ministern wählten, nur Sclaven finden ', so haben sie, doppelt verblendet, den Leitern der Verwaltung und deren Beamten, gegm die sie kein Mißtrauen hatten, die Freiheit gelassen, ihre Netze über das schutzlose Land auszuwerfen. So ist eine Schaar untergeordneter Agenten entstanden, welche das Land nach Ido?n regieren, die nicht aus ihm selbst hervorgegangen sind und die also seine wirklichen Bedürfnisse nicht befriedigen können. Diese Gaffe von Beamten, di< i>n Grunde des Herzens der Ordnung dcr Dinge, die sie handhaben, feindselig gesinnt sind, recrutirt sich zum größten Theile unter den Söhnen der Geistlichen, gemeinen Ehrgeizigen, Emporkömmlingen ohne Talent, weil sie kein Verdienst zu besinn brauchen, um doch den Staat zu nöthigen, sich ihrer anzunehmen, unter Leuten, die jedem Range nahe stehen und doch keinen Rang haben, Menschen, die alle Vorurtheil? des gemeinen Volks und zugleich die der Aristokraten theilen, aber nicht die Energie der einen und die Weisheit der andern, kurz, um es mir wenigen Wortm zu sagen, aus den Söhnen der Geistliclu'!^ Revolutionären, denen man aufträgt, die bestehende Ordnung zu erhalten. Sie sehen ein, daß solche Beamte die Geißel Rußlands sein müssen. Diese Menschen, die halb aufgeklärt sind, liberal wie Ehrgeizige, despotisch wie Sclaven, von schlecht verdaueten philosophischen Ideen durchdrungen, die in dem Lande, das sie ihr Vaterland nennen, keine Anwendung finden können, die- alle ihre Ansichten und ihre dalbe AMIanma. aus rcm Auslande entnommen haben, treiben die Nation nach einem Ziele hin, das sie vielleicht selbst nicht kmnen, das dem Kaiser unbekannt und das jedenfalls dasjenige nicht ist, nach welchem die wahren Russen, die wahren Freunde der Menschheit, streben müssen. Diese permanente Verschwörung geht, wie man sagt, bis zur Zeit Napoleons zurück. Der italienische Staatsmann hatte die Gefahr der russischen Macht geahnt und um den Feind des revolutionären Europas zu schwacher», nahm er seine Zuflucht zuerst zu der Macht der Ideen. Er bemühe sein freundschaftliches Verhältniß mit dem Kaiser 'lllerander und die angcbome Vorliebe dieses Fürsten für Unräte Institutionen, um, unter dem verwände, bei der 174 Ausführung der Pläne des Kaisers behilflich zu sein, eine gloße Anzahl Staacsarbeitcr nach Petersburg zu senden, ein maskirtes 5)eer, welches unsern Soldaten im Stillen den Weg bereiten sollte. Diese geschickten Intriganten hatten den Aufcrag, sich in die Regierung einzuschleichen, sich besonders der öffentlichen Erziehung zu bemächtigen und dem Geiste der Jugend Lehren einzustoßen, die dem polilischen Glaubensbekenntnisse des Landes entgegenstanden. So streute der große Krieger, der Erbe der französischen Revolution, der Feind der Freiheit in der Welt, in der Ferne den Samen der Unruhen aus, weil er in der despotischen Einheit eine gefährliche Triebfeder erkannte, die von der MUitair-regicrung des Landes benutzt werden konnte. Aus jener Zeit schreibt sich die Bildung der geheimen Gesellschaften her, die sich über Rußland seit den französischen Feldzügcn und seit dem hausigen Verkehre der Russen mit Europa dermaßen ausgebreitet haben, daß viele Leuce diese geheime Macht für eine unvermeidliche Ursache zur Revolution halten. Dieses Reich erntet nun die Frucht der langsamen und tiefsinnigen Politik des Gegners, den es besiegt zu haben glaubte, dessen Macchiavellianismus aber selbst die in der Geschichte menschlicher Kriege unerhörten Unfälle überlebt. Ich schreibe zum großen Theile dem geheimen Einflüsse jener Tirailleurs unserer Armee und dem ihrer Kinder und Schüler die revolutionären Ideen zu, welche in vielen Familien und selbst in den russischen Regimentern keimen und deren Ausbruch die Verschwörungen veranlaßt hat, die wir bis jetzt an der Starke der bestehenden Regierung scheitern sahen. Ich irre mich vielleicht, aber ich rede mir ein, daß der jetzige Kaiser diese Ideen besiegen wird, indem er alle Personen, die sie vertheidigten, bis auf den letzten Mann zermalmt oder entfernt. ^173 Ich war weit entfemt, in Rußland diese Spuren unserer Politik zu finden und aus dem Munde von Nüssen ähnliche Vorwürfe zu hören, wie sie uns die Spanier seit fünf und dreißig Jahren machen. Wenn die böswilligen Absichten, welche die Russen Napoleon zuschreiben, wirklich begründet waren, so kann sie kein Interesse, kein Patriotismus rechtfertigen. Man rettet nicht einen Th?il der Wclt, indem man einen andern betrügt. So erhaben unsere religiöse Propaganda ist, weil die Regierung der katholischen Kirche zu jeder Negierungsform und zu jedem Civilisations-grade paßt, den sie mit der ganzen Ucberlegenheic der Seele über dm Körper überragt, so verhaßt ist mir die politische Proselytenmacherei, d. h. der beschränkte Eroberungs- oder, um es vielleicht noch besser auszudrücken, Raubgeist, der durch einen zu geschickten Sophisten, dm Nuhm, gerechtfertigt wird. Dieser engherzige Ehrgeiz theilt das Menschengeschlecht, statt es zu vereinigen; die Einheit kann nur aus der Großartigkeit und UmfangUchkeit der Ideen hervorgehen, und die Politik des Auslandes ist stets kleinlich, seine Li^'-ralitat heuchlerisch oder tyrannisch; seine Wohlthaten sind stets trügerisch. Jede Nation muß auS sich selbst die Mittel der Vervollkommnung schöpfen, deren sie bedarf. Die Kenntniß der Geschichte der andern Völker ist als Wissenschaft nützlich, wird aber verderblich, wenn sie die Annahme eines politischen Glaubenssymbols hervorruft-, das heißt an die Stelle eines wahren Cultus einen abergläubischen stellen. Jedem russischen Kaiser ist, nicht durch die Menschen, sondern durch die Ereignisse, durch die Verkettung der Umstand? die Aufgabe gestellt, unter der Nation die fortschritte der Wlssenschaft zu begünstigm, um die Befreiung der Leibeigenen zu beschleunigen, durch Milderung der Sitten, durch ^U'be zur Humanität und gesetzlichen Freiheit nach M"" 176 Zwecke zu streben, mit einem Worte die Herzen zu bessern, um die Zustande zu mildem. Das ist die Bedingung, ohne welche jetzt kein Mensch mehr regieren kann, nicht einmal in Moskau. In der Aufgabe der russischen Kaiser liegt aber übeidies noch das Eigenthümliche, daß sie auf dem Wege nach jenem Ziele aus der einen Seite der stummen und wohlorganisirten Tyrannei einer revolutionairen Verwaltung, auf der andern der Arroganz und den Verschwörungen einer Acistocrane auszuweichen haben, die um so mißtrauischer und furchtbarer ist, als ihre Macht unbestimmt ist. Man muß gestehen, noch hat kein Souverain diese schwere Aufgabe mit so viel Festigkeit, Talent und Glück gelöst, als der Kaiser Nicolaus. Er ist der erste unter den Fürsten des modernen Nußlands, der endlich ?ingeseh«n hat, daß man Nüsse sein muß, um den Russen Gutes thun zu können. Ohne Zweifel wird die Geschichte sagen: er war ein großer Fürst. Es ist nicht mehr Zeit zu schlafen, die Pferde sind bercitS angespannt; ich fahre nach Nischnci weiter. Zwciltnddreißigstcr Vricf. Vuiewetscki-Pcwolskoi, eine kleine Stadt zwischcn Varoblaw und Nischnei-Nowgorod, den 2l. August l!^i>. Nnser Weg zieht sich an der Wolga hin. Ich bin gestern zu Varoslaw über diesen Fluß gekommen und heute wieder zu Kunitscha. An vielen Stellen sind die beiden User des-selbcn von einander verschieden; auf der einen Seite breitet sich eine unermeßliche Ebene aus, die am Wasserspiegel endigt, wahrend sich auf der andern eine steile Uferwand er-hebt. Dieser natürliche Damm ist bisweilen hundert bis hunderlundfunfzig Fuß hoch, bildet nach dem Flusse zu eine Mauer und ist nach dem Lande hin ein Plateau, das sich ziemlich weit hin in das Gebüsch des Innern des Landes erstreckt, wo es allmalig abfallt. Dieser von Weiden und Birken starrende Wall ist hier und da von Veifiüssen dcs großen Stromes zerrissen. Diese Flüsse bilden gleichsam tiefe Furchen in dem Ufer, das sie durchschneiden, um zu der Wolga zu gelangen. Dieses Ufer ist, wie ich bereits er-wahnt habe, so breit, baß es einem wahren Gebirgsplateau gleicht, einem hohen und bewaldeten Landstriche, und die Einschnitte, welche die Beiflüsse des Stromes in demselben bilden, sind wahre Thaler neben dem Hauptbette der Wolga. Man kann diese Abgründe nicht vermeiden, wenn man an dem großen Flusse hinreisen will, denn, wenn man sie nm-'"- 12 178 geben wollt?, müßte man Umwege von einer Stunde und darüber machen; deshalb hat man es bequemer gefunden, die Strasse so anzulegen, daß sie von der Höhe des Ufcrs in die Tiefe der Seitenschluchten hinabsteigt. Ist die Straße üvcr den kleinen Fluß hinweg, der durch dieselben strömt, so steigt sie an der entgegengesetzten Seite wieder hinauf, welche die Fortsetzung des Dammes ausmacht, den die Natur längs dem Hauvtflusse Rußlands aufgebaut hat. Die Postillone oder, um richtiger zu sprechen, die russischen Kutscher, die in der Ebene so gewandt sind, werden auf bergigen Wegen die gefahrlichsten Wagenlcnker von der Welt. Der Weg, dem wir an der Wolga hin folgen, setzt ihre Kluglieit und meine Kaltblütigkeit auf die Probe. Die-sts fortwahrende Bergauf- und Bergabfahrcn würde, wenn cs langer dauerte, bei der Art, wie diese Leute zu Werke gehen, gefährlich werden. Der Kutscher beginnt im Schritt;, ist er ein Drittel des Abhangs hinunter, was gewöhnlich die steilste Stelle ist, so fühlen Mann und Pferde, die an Zurückhalten nicht gewöhnt sind, Langeweile, der Wagen rollt mit immer zunehmender schwindelnder Geschwindigkeit hinab bis auf die Mitte einer Brücke von schwachen, ungleichen,, beweglichen Balken — denn sie liegen unbefestigt auf den Unterlagen-, von da an setzt dann der Wagen, wenn Kasten, Nader, Federn noch ganz sind sum die Menschen kümmert man sich nicht), seinen holpernden Weg fort. In der Tiefe jcdes Abgrundes findet sich eine solche Brücke; wenn die ga-loppirenden Pferde nicht gerade auf sie gelangten, würde der Wagen umgeworfen werden; es ist dies ein Kunststück, von d.'m das Leben der Reisenden abhängt. Strauchelt cin Pferd, springt ein Nagel ab, reißt cin Riemen, so ist Alles verlo-rcn. Das Leben des Reisenden berubt auf den Beinen von vier muthigen, aber schwachen und ermüdeten Thieren. 179^ Vei der dritten Wiederholung dieses Hasardspiels verlangte ich, daß emgchemmt werde; aber der Wagen, den ich in Moskau gemiethet, hatte, wie sich ergab, keinen Hemmschuh; man hatte mir bei der Abfahrt die Versicherung gegeben, in Nußland sei das Einhemmen nirgends nöthig. Um den Hemmschuh zu ersetzen, mußte man eines der vier Pferde abspannen und die Stränge des einen Augenblick freigelassenen Thieres nehmen. Diese Operation ließ ich zur großen Verwunderung der Postillone jedesmal vornehmen, wenn dl'e Länge und Steilheit des Abhanges die Sicherheit des Wagens zu gefährden schien, dessen geringe Dauerhaftigkeit ich schon kennen gelernt hatte. So verwundert auch die Postillone zu sein scheinen, so machen sie doch gegen meine seltsamen Einfalle keine Einwürfe und srtzm den Befehlen, die ich ilMN durch meinen Feldjäger geben lasse, keinen Widerspruch entgegen; auf ihren Gesichtern aber lese ich ihre Gedanken. Die Gegenwart eines Negicrungsbe-amten bringt mir an allen Orten Zeichen der Demuth und Ehrfurcht ein; man achtet m mir den Willen, der mir diesen Beschützer gegeben Hai. Ein solches Zeichen der Gunst von Seiten der Behörde macht mich zum Gegenstande der Achtung. Ich möchce jedem Fremden, der so wenig Erfahrung hat, als ich sie besaß, rathen, sich nicht ohne einen solchen Führer auf die russischen Straßen zu wagen, namentlich wenn er Gouvernements besuchen will, welche von. der Hauptstadt entfernt sind. Ist man in der Tiefe der Abgründe angelangt, so muß man an der entgegengesetzten Seite wieder hinauft'ammen; der Kutscher setzt sein Geschirr in Stand und treibt die Pferde mit Gewalt gegen das neue Hinderniß. Die russischen Pferde kennen nur den Galopp; ist die steile Stelle nicht sehr lang und der Wagen leicht, so kommt man mit einein Nucke 12' 18ft hinauf; ist dagegen der Hang sandig, was hausig der Fall ist, oder langer als der Raum, den die Pferde in einem Athem durchlaufen können, so bleiben sie bald keuchend auf dem Wege stehen, schlagen unter den Peitschenhieben aus und weichen unfehlbar zurück auf die Gefahr hin, den Wagen in den Abgrund hinunterzustürzen, aber bei jeder Verlegenheit wiederholte ich spottend bei mir, was die Russen zu behaupten pflegen: in Nußland giebt es keine Entfernung. Diese Art, ruckweise vorwärts zukommen, paßt zu dem Character der Menschen und dem Temperamente der Thiere, auch fast immer zu der Beschaffenheit des Bodens. Ist dieser dagegen zufallig sehr uneben, ticf eingefchnitten, so sieht man sich jeden Augenblick durch das Feuer der Thiere und dmch die Unerfahrenheit der Menschen aufgehalten. Die lehtern sind gewandt und geschickt, aber ihre Klugheit kann die ihnen mangelnde Kenntniß nicht ersehen» sie sind für die Ebene geboren und kennen die rechte Art nicht, die Pferde zum Reisen im Gebirge abzurichten. Vci dem ersten Zeichen von Zcgerung steigen Alle ab, die Dienstleute schieben an den Rädern; alle drei Schritte muß man das Gespann verschnaufen lassen; dann halt man den Wagen mit einem großen Holzstücke an, das man hinter die Rader wirft, und um weiter zu gelangen, treibt man die Pferde durch den Zügel, mit der Stimme, mit den Handen an, man nimmt sie am Kopfe, reibt ihnen die Nüstern mit Essig, um ibnen das Athmen zu erleichtern, und mit allen diesen Vorsichtsmaßregeln, durch wildes Geschrei und Peitschenhiebe, die immer so wirksam gegeben werden, daß ich sie unwillkürlich bewundern muß, kommt man mit großer Mühe diese furchtbaren Anliöhen lunauf, die man in einem andern Lande gar nicht bemerken würde. Der Weg von Varoslaw nach Nischnei ist einer der bergigsten in dem Innern Rußlands; aber auch an denTbcilen, welche am tiefsten eingeschnitten sind, dürfte die zu ersteigende Erhöhung schwerlich die Höhe eineS fünf- bis sechsstöckigen Hauses in Paris übersteigen. Der Anblick dieses natürlichen Kais der Wolga, den die Beiflüsse des Stromes durchbrechen, ist imposant aber traurig; er könnte die Unterlage einer prächtigen Straße werden; da man aber diese Schluchten nicht umgehen kann, so müßte man über dieselben Bogenbrücken schlagen, die so kostspielig sein würden wie Wasserleilunqsbogen, oder wenigstens die Seiten der Hange minder steil machen; dies hat man nicht gethan und deshalb ist die Fahrt da bisweilen gefahrlich. Die Russen hatten mir die Landschaft an dem Ufer der Wolga hin als lachend und manm'chfaltig beschrieben; es ist aber immer die Umgegend von Varoslaw und immer dieselbe Temperatur. Wenn es bei einer Reise in Rußland etwas Unerwartetes giebt, so ist es sicherlich nicht das Aussehen des Landes, sondern eine Gefahr, die wir nicht ahnen konnten und die ich Ihnen bezeichnen will: die Gefahr, sich den Kopf ander Decke der Calesche einzustoßen. Lachen Sie nicht; die Gefahr besteht und ist ernstlich; die Knüppel, aus denen man hier dic Brücken baut, und oft auch die Wege, geben dcn Wagen solche Stöße, daß die nicht aufmerksamen Reisenden aus dem offenen Wagen geworfen werden würden, oder an der Decke sich den Kopf cinrcnnen müßten. Es ist demnach gerathen, in Nußland sich sehr hoher Wagen zu bedienen. Ein Krug mit Seltcr-Wasser (Sie wissen, daß diese sehr fest sind), der gut in Heu gepackt war, wurde in dem Kasten meines Sitzes durch die Heftigkeit der Stöße zertrümmert. M Gestern schlief ich in einem PostHause, wo es an Allem fehlte; mein Wagen ist so hatt und die Wege sind so holperig, daß ich nicht über vierund;wan^ig Stunden hinter einander reisen kann, ohne heftige Kopfschmerzen zu erhallen; bann halte ich an, da mir ein schlechtes Nachtlager noch ,mmer lieber ist, als ein Gehirnsieder. Das Seltenste in diesm improvisirten Nachtquartieren und in ganz Rußland überhaupt ist weiße Wäsche. Sie wissen, daß ich mit meinem Bett reise, aber ich konnte nich: sehr viel Wasche mitnehmen und die Servietten, die man nur in den Posthausern giebt, sind immer schon gebraucht; wer die Ehre hat. sie schmukig zu machen, weiß ich nicht. Gestern um elf Uhr Abends ließ der Postmeister aus einem über eine Stunde entfernten Dorfe Wäsche für mich holen. Ich hatte gegen diesen übertriebenen Eifer des Feldjägers protestirr, aber ich erfuhr es erst am andern Morgen. Durch das Fenster meines Hundestalles konnte ich in dem Halbdunkel, das man in Rußland Nacht nennt, mit'Muße den unvermeidlichen römischen Peristyl mit dem hölzernen und geweißten Fronton, sowie die Mörtelsaulen bewundern, die an der Stallseite die Facade der russischen Posthauser zieren. Diese ungeschickte Architecmr ist der Alp, der mich von einem Ende des Reiches bis zum andern verfolgen wird. Die classische Säule ist der Stempel des öffentlichen Gebäudes in Rußland geworden. Eine durchaus nothwendige Vorsichtsmaßregel bei dem Reisen in diesem Lande, die Sie nicht erwarten, ist ein russisches Schloß mit seinen zwei Ringen. Das russische Schloß ist so einfach als sinnreich. Man kommt in einem Gasthause an, in welchem sich Leute aller Art befinden; man weiß, daß alle slawischen Bauern stehlen, wmn nicht auf der Straße, so doch in den Häusern; man laßt sein Gepäck in sein Zimmer bringen und dann will man ans- 183 gehen. Ehc man wegaeht, will man aber doch seine Thüre verschließen und dm Schlüssel abgeben. Es giebt keinen Schlüssel, — es giebt nicht einmal ein Schloß, kaum eine Klinke, einen Nagel, einen Bindfaden, mit einem Worte nichts. Es ist das goldene Zeitalter in einer Höhle. Ein Diener bewacht den Wagen; will man nicht den andern an der Thür des Zimmers Schildwache stehen lassen, was weder sehr sicher ware, da eine sitzende Schildwache lcicht einschlaft, noch sehr menschlich, so schraubt man einen großen eisernen Ring in die Thürsaule, einen andern eben so großen in die Thüre, so nahe als möglich an dem ersten und zieht durch diese beiden Ringe den Hals eines Vorlegeschlosses, das ebenfalls eine Schraube hat, welche das Schloß öffnet und schließt; sie nimmt man mit und die Thüre ist fest verschlossen, denn die Ninge, wenn sie einmal angeschraubt sind, können nicht abgenommen werden, wenn man sie nicht abdreht, was nicht möglich ist, wenn das Schloß sie zusammenhält. Das Zuschließen geht sehr schnell und leicht; in der Nacht, in einem verdächtigen .Hause, kann man sich mit einem solchen Schlosse sogleich einschließen, das eine des Landes, in welchem es von Lecken und geschickten Dieben wimmelt, ganz würdige Erfindung ist. Die Dicbstahle kommen so häufig vor, daß die Justiz nicht streng zu sein wagt, und dann geschieht hier Alles nach Ausnahmen, ruckweise. Gestern früh besuchte ich das Kloster Kostroma, wo man mir die Gcmächar des Alexis Romanow und der Mutter desselben zeigte. Von hier aus bestieg Alexis den Thron und gründete die jetzt herrschende Dynastie. Das Kloster gleicht allen andern; ein junger Mönch, der nicht nüchtern war und von weitem nach Wein roch, zeigte mir das Haus im Einzelnen; die alten Mönche mit weißem Bart und die Popen mit kahlen Köpfen sind mir lieber, als die jung.'n wohlge- 185 nährten Einsiedler. Auch der Schah hier gleicht allen dcnen, die man mir an andern Orten gezeigt hat. Wollen Sie mit zwei Worten »rissen, was Rußland ist? Rußland ist ein Land, wo man überall dieselbe Sache und dieselben Leute findet und sieht. Das ist so wahr, daß man, ist man an einem Orte angekommen, die Personen wieder zu sehen glaubt, welche man an einem andern verließ. In Kunitscha ist die Fähre, die uns über die Wolga brachte, nicht eben beruhigend; sie könnte, sehr leicht umschlagen. Nichts ist mir so traurig vorgekommen, als diese kleine Stadt bei einem grauen Himmel, einer feuchten und kalten Temperatur und bei Negen, der die Leute in ihren Hausem gefangen hielt; es wehte ein heftiger Wind; wenn der Sturm zugenommen hatte, würden wir ernstlich in Gefahr gekommen sein. Ich erinnerte mich, daß in Petersburg Niemand sich rührt, um die Leute zu retten, welche in die Newa fallen, und ich dachte bei mir; wenn Du in der Wolga bei Kunitscha ertrinkst, springt Niemand in das Wasser, um Dich herauszuziehen; kein Nuf wird sich Deinetwegen an diesen Ufcrn erheben, die volkreich sind, aber ganz öde zu sein scheinen, so traurig sehen die Städte, der Boden, dcr Himmel und die Bewohner aus. Das Menschenleben hat in den Augen dcr Nüssen wenig Werth und sie sehen so melancholisch aus, daß sie wahrscheinlich auf ihr eigenes Leben nicht mehr Werth legen, als auf das dcr Andern. Das Gefühl seiner Würde, die Freiheit knüpft den Menschen an sich selbst, an das Vaterland, an Alles; hier aber ist das Leben von so vielen Hemmnissen begleitet, daß Jeder im Stillen den Wunsch zu hegen scheint, einen andern Plah sich zu suchen, ohne daß er es vermag. Die Großcn erkalten keinen Paß, die Armen haben kein Geld und so bleibt der Mensch wie er ist, geduld^ auö Vcvzweiflung, d. h. eben so gleichgültig gegen sein Leben, als gegen seinen Tod. Die Resignation, die doch überall eine Tugend ist, wird in Rußland eine Sünde, weil sie die erzwungene Unbeweglichkeit der Dinge dauernd erhalt. Es Handel: sich hier nickt um politische Freiheit, fondern um persönliche UnablKigiMt, um Leichtigkeit der Bewegung und selbst um den willkürlichen Ausdruck eines natürlichen Gefühls, aber alles dies steht in Rußland Niemand zu, außer dem Gebieter. Die Sclaven streiten und zanken sich nur mit leiser Stimme, denn der Zorn ist ein Vorrecht der Gewalt. Iemehr ich die Leute den Schein von Ruhe unter dieser Regierung behaupten sehe, uni so mehr beclage ich sie; die Ruhe oder die Knute! — Das ist hier die Lebensbedingung. Die Knute der Großen ist Sibirien und Slbirien selbst ist nur der Comparativ von Nußland. l^' _______. Fortgesetzt an demsel'en Tage Abends mitten im W>,lde. Da bin ich aufgehalten auf einem Sand- und Knüppel: wege', der Sand ist so tief, daß selbst die großen HolMcke darin versinken. Wir sitzen mitten in einem Walde fest, mehrere Stunden von irgend einer Wohnung. Ein Unfall, der meinem Wagen begegnet ist, der doch ein inlandischer, halt uns in dieser Einöde auf und während mein Diener mit Hilfe eines Bauern, den uns der Himmel sendet, den Schaden wieder ausbessert, schreibe ich, beschämt wegen der wenigen Hilfsmittel, die ich bei dieser Gelegenheit in mir sinde, und weil ich fühle, daß ich die Arbeiter sogar nur hindern würde, wenn ich mit helfen wollte. Ich schreibe an ^>e, um Ihnen die Nutzlosigkeit der Ausbildung des Geistes darzuchun, wenn der Mensch, von allem Zubehör der Civilisation entblößt, oh,ne andere Hilfsmittel außer seiner eigenen 1«« Kraft, mit einer rohen Natur kämpfen muß, welche noch die ganze »ursprüngliche Macht'besitzt, die sie von Gott empfangen hat. Sie wissen dies besser als ich, aber Sie fühlen es nicht so, wie ick es in diesem Augenblicke fühle. Die hübschen Vauermadchen sind in Rußland selten, das Wiederhole ich jeden Tag, dagegen sind die, welche schön sind, auch vollendet schön. Ihre mandelförmigen Augen haben einen ganz eigenthümlichen Ausdruck; der Schnitt ihrer Lider ist rein und scharf, aber das Vlau des Auges eft trübe, was an die Sanierung der Earmaten durch Ta-litus erinnert, der ibncn weißblaue Augen zuschreibt. Diese Farbe giebt ihrem Blick eine Sanftmuth und Unschuld, deren Neiz unwiderstehlich ist. Sie besitzen zu gleicher Zeit das Zarte der duftigen Schönheiten des Nordens und das Wollüstige der Orientalinnen. Der Ausdruck von Gutmüthigkeit bei diesen reizenden Geschöpfen flößt ein eigenthümliches Gefühl ein, eine Mischung von Achtung und Vertrauen. Man muß in das Innere Nußlands kommen, um zu erfahren, was eigentlich der ursprüngliche Mensch war und was er in dem Raffinement der Gesellschaft verloren hat. Ich habe es schon gesagt, ich wiederhole es und werbe es vielleicht noch mit manchem Philosophen wiederholen: in diesem patriarchalischen Lande verdirbt die Civilisation den Menschen. Der Slawe war von Natur geistreich, musikalisch, fast mitfühlend; der Russe jetzt ist falsch, unterdrückend, nachäffend und eitel. Es wird mehr als ein Jahrhundert dazu gehören, um hier die Nationalsitten mit den neuen europäischen Ideen in Einklang zu bringen, wobei aber angenommen werden muß, daß die Nüssen in dieser langen Zeit nur durch aufgeklärte Fürsten regiert werden, die Freunde des Fortschrittes sind, wie man jetzt sagt. Bis dieses glückliche Resultat eintritt, macht die vollständige Trennung der Gassen das ___187^ gesellschaftliche Leben in Rußland zu etwas Gewaltsamen und Unmoralischen; man könnte sagen, Rousseau habe in diesem Lande die erste Idee zu seinem System? gesucht, denn es ist nicht einmal nöthig, seine zauberische Beredtsam-keit aufzubieten, um zu beweisen, daß die Künste und Nissen« schafcen den Slawen mehr Uebles als Gutes gebracht haben. Die Zukunft wird der Welt sagen, ob der militamsche und politische Ruhm die russische Nation für das Glück entschädigen soll, das sie in Folge ihrer specialen Organisation und ihrer fortwahrenden Entlehnungen von dem Aus-lnnde entbehrt. Die Zierlichkeit ist den Menschen von reiner slawischer Race angeboren. Ihr Character ist eine Mischung von Einfalt, Sanftmuth und Gefühl, das die Herzen gewinnt; damit verbindet sich oft viel Ironie und etwas Falschheit, aber bei den guten Natureis sind diese Mangel Grazie geworden und es ist nur eine Gesichtsbildung mit unvergleichlich schlauem Ausdrucke übrig geblieben. Man fühlt einen unbekannten Zauber, eine weiche Melancholie, die nichts Bitteres hat, line leidende Milde, die fast immer die Folge eines geheimen Wehs ist, das man sich selbst verheimlicht, um es den Andern besser verbergen zu können. Kurz die Nüssen sind eine resignirte Nation, ^ dieser einfache Ausdruck sagt Alles. Der Mensch, dem die Freiheit fehlt — das Wort bezeichnet hier natürliche Neckte, wirkliche Bedürfnisse — ist wie eine Pflanze, der man die Luft entzogen hat, wenn er sonst auch alle Güter besitzt; wenn man auch die Wurzel begießt, der Stengel treibt traurig einige Blätter ohne Blüthen. Die achten Russen haben etwas Eigenthümliches in ihrem Geiste, in dem Ausdrucke ihrcs Gesichts und in ihrer Hallung. Ihr Gang ist leicht und alle ihre Bewegungen verrathen eine ausgezeichnete Natur. Sie haben sehr gespaltene Augen, die nicht sehr weit offen sind und ein längliches Oval bilden; der ihnen fast Allen eigene Zug indem Blicke giebt ihrem Gesicht ei-ncn ungemein angenebmen Ausdruck von Gefühl und Schalkhaftigkeit. Die Griechen nannten in ibrer schöpferischen Sprache die Bewohner dieser Gegenden Cidi'chsenaugige (Syromeden); das lateinische Wort Sarma-ten ist davon abgelotet. Dieser Zug im Auge ist also allen aufmerksamen Beobachtern aufgefallen. Die Etirn der Russen ist weder sehr hoch noch sehr breit, sie hat alxr eine reine anmuthige Form. In ihrem Character liegt gleichzeitig Mißtrauen und Leichtgläubigkeit, Hinterlist und Zärtlichkeit und alle diese Contrast? haben einen gewissm Neiz; ihre verhüllte Gefühlsseligst geht mehr auf Andere über, als daß sie ausgesprochen würde, die Seele theilt sich der Seele mit, denn sie erwerben sich Liebe, ohne baß sie es wollen, ohne daß sie daran denken, ohne Worte. Sie sind weder plump noch npatlnsch wie die meisten Nordlander. Sie sind poetisch wie die Natur, und ihre Pbantasie mischt sich in alle ihre Neigungen ', die ?iebe hnc bei ihnen etwas von dem Aberglauben-, ibre Zuneigung ist mehr innig als lebhaft; sie bleiben immer schlau, selbst bei der Leidenschaft, so daß man sagen könnte, in ihrem Gefühl liege Geist. Alle diese flüchtigen Nuancen drückt ihrVlick aus, bln die Kriechen so gut characterise haben. Die alten (kriechen besaßen das ausgezeichnete Talent, die Menschen und die Dinge reckt zu würdigen, und dieselben durch die Benennung zu malen, eine Fähigkeit, welche ihre Sprache unter allen europaischen Sprachen fruchtbar, und ihre Poesie vor allen göttlich gemacht hat. Die leidenschaftliche Vorliebe der russischen Bauern für den Thee beweiset die Eleganz ihrer Natur, und paßt vollkommen zu der Schilderung ihres Characters, die ich Ihnen ebcn entworfen habe. Der Thee ist ein raffinittes Getränk 159 und in Rußland ein unumgängliches Bedürfniß geworden. Wenn die gemeinen Leute höflich um ein Trinkgeld bitten wollen, so sagen sie: zum Tkee, »u l^e Natur vergessen. Das ist, bis auf einige Unebenheiten, die Clxne, welche ich seit meiner Abreise von Petersburg gesehen habe: ewige Sümpfe mit einigen Hafer- oder Roggenfeldern, die in gleicher Höhe mit den Binsen liegen, einige Mit Gurken, Melonen und verschiedenem Gemüse bepflanzte Feldstückchen in der Nahe von Moskau, dann in der Ferne halbvcrkrüppelce Fichten und einige knocige dürre Birken, längs der Straße. Dörfer von grauen Brerern und alle zwanzig, dreißig oder fündig Stunden Städte, die so flach sind wie die Dörfer, oder doch nur wenig höher, Städte, in deren weiten Räumen die Menschen verschwinden, Straßm, welche Kasernen für einen Manövertag gleichen, — zum hundersten Male, das ist Nußland. — Denken Sie sich dazu einige Decorationen, einige Vergoldungen, viele Menschen mit schmeichelnden Worten und spöttischen Gedanken, und Sie werden es so vor sich sehen, wie man es uns zeigen will. Man sieht, wenn man es aussprechen soll, prächtige Revuen. Wissen Sie, was die russischen Manö: ver sind? Diese Truppenbewegungen gleichen dem Kriege, nur daß der Ruhm dabei fehlt; die Kosten sind noch größer, denn die Armee kann nicht auf Kosten des Feindes leben. In diesem Lande ohne Landschaften fließen ungeheuere, aber farblose Ströme; sie stießen durch ein graues Land in sandigem Boden und verschwinden unter Hügeln, die nicht höher sind als Dämme und durch sumpfige Wälder eine dunkle Farbe erhalten. Die nordischen Flüsse sind traurig und trübe wie der Himmel, der sich in ihnen spiegelt; die Wolga sieht an manchen Stellen an ihren Ufern Dörfer, die man ziemlich wohlhabend nennen könnte; aber diese Hauser von grauen Bretern mit moosbewachsenen Dächern 13' geben der Gegend kein Leben. Man fühlt es, daß der Winter und der Tob über allen diesen Länderstrecken schwebt; das Licht und das Clima des Nordens geben den Gegenständen eine düstere Farbe; nach einigen Wochen glaubt der Reisende mit Entsetzen, lebendig begraben zu sein-, er möchte sein Leichentuch zerreißen und diesem unbegrenzten Gottesacker entfliehen, der sich unabsehbar in die Ferne zieht; er strengt alle seine Kräfte an, um den bleiernen Schleier zu heben, der ihn von den Lebenden scheidet. Sehen Sie nie nach dem Norden, wenn Sie Unterhaltung suchen. Ei« müßten denn die Unterhaltung im Stubiren finden, denn zu lernen giebt es hier viel. Ich fuhr also, völlig entzaubert, auf der großen Straße nach Sibirien hin, als ich von fern eine Anzahl Be, wassncter auf einem Nebenwege der Straße bemerkte. ,,Was thun diese Soldaten hier?" fragte ich meinen Feldjäger. „Es sind Kosaken," antwortete er mir, „die Verbannte nach Sibirien bringen." Es ist also kein Traum, kein Zeitungsmärchen; ich sehe da wirtliche Unglückliche, wahrhaftige Deportirte, die mühselig zu Fuße wandern, um das Land aufzusuchen, wo sie, vergessen von der Welt, fern von Allem, was ihnen theuer war, allein mit Gott, der sie zu einer solchen Strafe nicht geschaffen hatte, sterben sollen. Vielleicht sah ich ihre Mütter und Frauen schon, oder ich sehe sie noch» es sind keine Verbrecher, im Gegentheil, es sind Polen, Helden von Unglück und Aufopferung. Die Thränen traten mir in die Augen, als ich mich diesen Unglücklichen näherte, bei denen ich nicht anzuhalten wagte, um meinem Argus nicht selbst verdächtig zu werden. Ach, vor solchem Unglück demüthigte mich daS Gefühl meines machtlosen Mitleides und der Un- 197 Wille drängte die Rührung in meinem Herzen zurück. Ich wäre gern fern von einem Lande gewesen, wo der Elende, der mir als Courrier diente, mir so furchtbar werden konnte, baß er mich durch seine Anwesenheit zu zwingen vermochte, die natürlichsten Gefühle meines Herzens zu verheimlich?,,. Vergebens redete ich mir vor, daß unsere Galeerensträflinge vielleicht mehr zu beklagen wären als diese — sibirischen Ansiedler; es liegt in diesem fernen Exil eine gewisse Poesie, welche der Strenge des Gesetzes die ganze Gewalt der Phantasie hinzufügt, und diese unmenschliche Verdindmig bringt ein schreckliches Resultat hervor. Uebrigens sind unsre Sträflinge mit Ernst gerichtet und verunheilt, wahrend man in Rußland, nach einem Aufenthalt von einigen Monaten da» selbst, nicht mehr an die Gesetze glaubt. Es waren sechs Verbannte und diese Vermthcilten waren, obgleich mit Ketten belastet, in meinen Augen unschuldig, da es unter dem Despotismus keinen andern Verbrecher giebt als den Menschen der straft. Diese sechs Vcrbamucn wurden durch zwölf Reiter, durch zwölf Kosaken geleic?:. Mein Wagen w^r zu und je naher wir der Gruppe kamen, um so aufmerksamer betrachtete mein Feldjäger, was in meinem Gesichte vorging. Einen eigenthümlichen Eindruck machten seine Bemühungen auf mich, mich zu überzeugen, daß die Leute, an denen wir vorüberkamen, ge, wohnliche Uebelthäter waren und daß sich kein politischer Verbrecher unter ihnen befände. Ich schwieg still; seine Bestrebungen, auf meine Gedanken zu antworten, kamen mir sehr bedeutungsvoll vor. Er liefet also in meinem Gesicht, dachte ich, oder er fühlt, was ich fühle. Schrecklicher Scharfblick der Unterthanen des Despotis-wus! Alle sind Spione und spioniren, geschähe es auch aus Dilettantismus und ohne Lohn. 198 ^ Die letzten Stationen auf der Straße nach Nischnei find lang und beschwerlich wegen des Sandes, der immer tiefer wird, so daß man fast versinkt*), und in diesem Sande bewegen sich ungeheuere Holzblöcke und Steine unter den Rädern der Nagen und den Füßen der Pferde. Man könnte glauben, auf einem mit Trümmern bestreuten Strande zu sein. An diesem Theile des Weges ziehen sich Wäldern hin, wo von halber Stunde zu halber Stunde Kosakenposten liegen, welche die zur Messe ziehenden Handelsleute schützen sollen. Diese Vorsichtsmaßrcgrl ist nicht eben beruhigend. Man glaubt im Mittelalttr zu sein. Mein Wagenrad ist wieder in Stand geseht und ich hoffe deshalb vor dem Abende in Nischnn anzukommen. Die letzte Station betragt acht Stunden und der Weg lst so, wie ich ihn eben beschrieben habe. Ich erwähne diese Uebelstande mehrmals, weil die Worte, die sie schildern, zu schnell im Verhältniß zu der Zeit verklingen, die man darüber verliert. *) Man baut jeht cmc Chaussee von Moskau nach Rischnei, die bald vollendet stin wird. Drcillnddveißigstcr Brief. N, scknei Nowogo rod, d<-n 2?. Angilst ^8!w, Abends, -<)ie Lage Nischneis ist die schönste, die ich in Rußland gesehen habe; es sind nicht mehr halbhohe Ufer und niedrige Dämme, die sich an dem großen Flusse hingehen, nicht Erhöhungen mitten in einer Eben?, welche man Hügel nennt, es ist ein wirklicher Verg, cm Vorgcbin;? in b^m Zusammenflüsse der Wolga und Oka, der zwei gleich imposanten Flüsse, denn die Oka sieht bei idrer Einmündung eben so groß aus als die Wolga, und sie verliert nur ilnen Name:?, weil sie uicht so weit herkommt. Die Oberstadt Nischu.'is, die auf diesem Berge liegt, beherrscht «ine Ebene, die so groß ist wie das Meer; eine grenzenlose Welt öffnet sich ;n den Füßen dieser Bucht, vor welcher die größte Mcsse in der Welt gehalten wird. Sechs Wochen im Jahre' giebt sich der Handel der beiden reichsten Welttheile ein Rendezvous am Znsammcnsiusse der Wolga und Oka. Es ist ein Ort zum Malen; bis jetzt hatte ich in Rußland keine wM-haft malerischen Ansichten bewundert, als in den Straßen Moskaus und auf den Kais Petersburgs, unt> diese Ansichten waren überdies von Menschen geschaffen; hier ist die Gegend "n sich schön; freilich bleibt die Altstadt, statt nach den Flüssen hin zu seben und die Mittel des Reichthums ;u benutzen, die sie ihr bitten, gan^ich hinter dem Verge versteckt; 200 sie scheint, im Innern des Landes verloren, das zu fliehen, was ihren Ruhm und ihr Glück bilden würde', dieses Ungeschick siel auch dem Kaiser Nicolaus auf, der ausrief, als er diesen Ort zum ersten Male sah: ,,in Nischnei hat die Natur Alles gethan und die Menschen haben Alles verdorben." Um den Irrthum der Gründer Nischnei Nowogorods zu verbessern, wird jetzt eine Vorstadt in der Gestalt eines Kais an einer der beiden Landspitzen gebaut, welche die Wolga von der Oka trennen. Diese Vorstadt vergrößert sich jährlich und wird wichtiger und volkreicher als die Stadt selbst; der alte Kreml von Nischnei (jede russische Stadt hat den ihrigen) trennt das alte von dem neuen Nischnci am rechten Ufer der Oka. Die Messe wird an der andern Seite dieses Flusses in einer Niederung gehalten, die ein Dreieck zwischen der Oka und der Wolga bildet. Dieses angeschwemmte Land bezeichnet den Punkt, wo die beiden Flüsse sich vereinigen, und dient folglich auf der einen Seite der Oka, auf der andern der Wolga als Ufer, wie das Vorgebirge von Nischnei auf dem rechten Ufer der Oka. Die beiden Ufer dieses Flusses sind durch eine Schiffbrücke verbunden, welche von der Stadt zu dem Meßplatze führt und mir so lang vorkam, wie die über den Rhein vor Mainz. Diese beiden Landecken sind, obgleich nur durch einen Fluß getrennt, ganz und gar von einander verschieden; die eine überragt mit der ganzen Höhe eines Berges den stachen Voden der Ebene, die man Rußland nennt, und gleicht einer riesigen Grenzsäule, einer natürlichen Pyramide-, eS ist das Vorgebirge von Nischnei, das sich majestätisch mitten in dieser weiten Flache erhebt; die andere Ecke, die, wo die Messe geballen wird, erhebt sich kaum über den Wasserspiegel und ist einen Theil des Jahres hindurch überschwemmt; die seltme Schönheit dieses Con- trasses entging dem Auge des Kaisers Nicoles nicht, der mit dem ihm eigenen Scharfsinne fühlte, daß Nischnei einer der wichtigsten Punkte seines Reiches ist. Er liebt Vorzugs-weise diesen Centralpunkt, der von der Natur begünstigt und der Sammelplatz der entferntesten Völker geworden ist, d>e von allen Seiten her des Handels wegen hier zusammenströmen. Der Kaiser vernachlässigt in seiner in's Kleinste gehenden Aufmerksamkeit ni^ts, um diese Stadt zu verschönern, zu vergrößern, zu bereichern; er hat Terrasiirungen und die Anlegung von Kais angeordnet, für l7 Millionen Arbeicen befohlen, die nur durch ihn controlirt werden. Die Messe von Makarieff, die sonst auf den Besitzungen eines Bojaren, zwanzig Stunden weiter an der Wolga hin, nach Asien zu, gehalten wurde, ist zu Gunsten der Krone und des Landes eingezogen worden; dann verlegte sie der Kaiser Alexander nach Nischnei. Ich bedaure, daß diese asiatische Messe auf dem Grund und Boden eines alten russischen Fürsten nicht mehr besteht; sie muß malerischer und origineller, wenn auch minder großartig und minder regelmäßig gewesen sein als die, welche ich hier finde. Ich sagte, jede russische Stadt habe ihren Kreml, wie jede spanische ihren Alcazar hat. Der Kreml von Nischnei mit seinen Thürmen von verschiedenem 'Aussehn und seinen zackigen Mauern, die sich über einen Berg schlangeln, welcher weit höher ist als der Kremlhügel in Moskau, hat ungefähr eine halbe Stunde im Umfange. Der Reisende staunt, wenn er diese Feste von der Ebene aus erblickt; es zeigen sich ihm von Znt zu Zeit über den Gipfci der verkrüppelten Fichten die ^Ian>«iden Spitzen und die weißen Linien diessr Citadelle, die der Pharus ist, nacft welch?«, er über die sandigen Einöden steuert, welche den Zugang zu Nischnei auf der Straße von '^aioelaw so de- 202 schwerlich machen. Der Eindruck dieser Nationalarchitectur ist immer ein gewaltiger, und hier sind die seltsamen Thürme, die christlichen Minarets, die nothwendigen Verzierungen aller Kreml, noch durch die ungewöhnliche Bodenbildung verschönert, die an manchen Stellen den Schöpfungen des Baumeisters wirkliche Abgründe entgegenstellt. In diesen dicken Mauern hat man, wie in Moskau, Treppen angebracht, auf denen man von Zinne zu Zinne bis auf die Spitze des Berges und der hohen Walle steigt, die ihn krönen. Diese imposanten Stufen mit den Thürmen, von denen sie siankirt sind, mit den Rampen, den Gewölben und Arcaden, die sie tragen, geben ein Bild, von welcher Seite aus man sie auch betrachten möge. Die Messe von Nischnei, jetzt die großartigste in dcr Welt, ist der Sammelplatz der Völker, die einander völlig fremd, und folglich von einander in Aussehen, Kleidung, Sprache, Religion und Sitten durchaus verschieben sind, Manner aus Thibet, aus der Vucharei, den Gren^ländern Chinas, treffen hier Perser, Finnen, Griechen, Engländer, Pariser; cs ist der jüngste Tag der Kaufleute. Die Zahl der Fn'mden, die in Nischnci wahrend der Dauer der Messe fortwahrend gegenwärtig sind, beläuft sich auf zweimalhun« derttausend; die Menschen, welche diese Menge bilden, erneuern sich mehrmals, die Zahl aber bleibt so ziemlich im-mer dieselbe, an gewissen Tagen dieses Handelscongresses steigt sie wohl gar auf dreimalhunderttauscnd. Es werben taglich im Durchschnitt in diesem friedlichen Lager 400,000 Pfund Brod verbraucht. Sind diese Saturnalien der Industrie und des Handels vorüber, so ist die Stadt todt. Denken Sie sich den Eindruck, den dieser plötzliche Uebergang machen muß! Nischnci hat kaum 20,000 Einwohner, die sich in den weiten Straßen und kahlen Plagen verlieren, während der Meßplatz neun Monate im Jahre gänzlich verlassen ist. 203 Diese Messe veranlaßt wenige Unordnungen; in Rußland >st die Unordnung etwas Unbekanntes', sie würde ein Fortschritt sein, denn sie ist die Tochter der Freiheit-, die Gewinnsucht und die Bedürfnisse des Lurus, die immer höher sieigen, selbst bei den rohen Völkern, sind die Ursachen, daß selbst halbwilde Menschen, wie die, welche aus Persien und der Vucharei hierher kommen, in der Ruhe und EbrlichlVit einen Gewinn sehen', übrigens muß man auch gestehen, daß die Mahomedaner im Allgemeinen in Geldsachen ehrlich sind. Ich bin erst seit wenigen Stunden in dieser Stadt, und schon habe ich den Gouverneur gesehen.. Man hat mir mehrere sehr dringende Empfehlungsschreiben an ihn mitgegeben, und er kam mir gastfreundlich, für einen Russen sogar mittheilend vor. Die Messe von Nischnei, in seiner Begleitung und aus seinem Gesichtspunkte gesehen, wird für mich ein doppeltes Interesse haben, das Interesse an den Sachen selbst, die für einen Franzosen fast alle neu sind, und das Interesse, das ich dabei finde, den Gedanken der Regienmgsbeamten zu erkennen. Dieser Gouverneur hat einen langst in der Geschichte Rußlands berühmten Namen; er heißt Vuturlin. Die Bu-turlin sind eine alte Bojarenfamilie. Morgen werbe ich Ihnen meine Ankunft in Nischnei, die Noth, welche ich hatte, um ein Unterkommen zu finden, und die Art erzählen, wie ich endlich mich einrichtete. Fortgesetzt am 23, August «8.W. früh. Eine Volksmenge habe ich in Rußland nur in Nischnei Wf der Oka-Brücke gefunden; dies ist der einzige Weg, welcher von der Stadt zur Messe führt, so wie der, auf welchem man von Varoslaw her in Nifchnei ankommt. 2lN Bei dem Beginne des Meßplatzes wendet man sick rechts, um über die Brücke zu gelangen, und laßt zur Linken alle Buden der Messe, so wie den Tagespalast des Gouverneurs, der sich alle Morgen aus seinem .hause in der Oberstadt hierher in dieses Administrativ-Observatorium begicbt, von wo er alle Straßen, alle Budenreihen und alle Meßange^ legenheiten überblickt und beobachtet. Der Staub, welcher blendet, der Lärm, welcher betäubt, die Wagen, die Fußgänger, die Soldaten, welche die Ordnung aufrecht zu erhalten haben, alles dies Hemmt die Vrückenpassage, und da das Wasser unter der Menge von Böten ganz verschwindet, so fragt man sich, wozu diese Brücke nöchig sei, denn bei dem ersten Anblick glaubt man der Fluß fei ausgetrocknet. Die Böte sind bei dem Zusammenflüsse der Wolga und Oka so dicht gedrängt, daß man den letzter« Fluß trocknen Fußes überschreiten könnte, wenn man aus einer Dschonke in die andere stiege. Ich bediene mich dieses chinesischen Namens, weil viele der Fahrzeuge, die nach Nischnci kommen, Waaren aus China und namentlich Thee bringen. Alles dies beschäftigt die Phantasie, aber ich kann nicht behaupten, daß auch die Augen befriedigt würden. Es fehlt dieser Messe, wo alle Gebäude neu sind, an malerischen Bildern. Gestern, bei meiner Ankunft, glaubte ich, unsere Pferde würden zwanzig Menschen niedertreten, ehe wir den Oka-Kai erreichten. Dieser Kai ist das neue Nischnci, die Vorstadt, welche binnen wenigen Jahren bedeutend werden wird. Es «st eine lange Reihe von Häusern, zusammengedrängt zwischen der Oka, die ihrer Einmündung in die Wolga sich nähert, und zwischen dem Hügel, der auf dieser Seite ihr Bett verengt; oben auf diesem Hügel oder dobem Ufer laufen die Mauern hin, welche die äußere Umwallung des Kremls von Nischnei 205 bilden. Die Oberstadt verschwindet hinter diesen Mauern und hinter dem Berge. Als ich endlich dieses erscbnte Ziel erreicht hatte, stieß ich auf viele Schwierigkeiten; vor allen Dingen mußte ich ein Unterkommen haben und die Gasthäuser waren gcfüllt. Mein Feldjäger klopfte an alle Thüren und kam iedesmal wieder, um mir mit einem gewissen Lächeln zu sagen, er habe kein einziges Zimmer finden können. Er riech mir die Gastfreundschaft des Gouverneurs in Anspruch zu nehmen, aber das mochte ich nicht chun. Endlich, am Ende dieser langen Straße, am Fuße des Weges, der steil zu der Altstadt hinaufsteigt und unter einem dunkeln Mauerbogen hingeht, bemerkten wir an einer Stelle, wo die Straße sich senkt und verengt, zwischen dem Flußdamme und den Gebäuden, ein Kaffeehaus, das le^te der Stadt nach der Wolga zu. Die Zugänge zu dem Kaffeehause sind durch einen Marktplatz versperrt, eine Art bedeckter Halle, aus welcher Gerüche hervorströmen, die nichtS weniger als angenehm sind. Hier stieg ich aus und ließ mich nach dem Kaffeehause bringen, das nicht einen einzigen Saal hat, sondern in einer Art Markt besieht, welcher eine ganze Zimmerrcihe einnimmt. Der Bescher begleitete mich artig durch die lärmende Menge hindurch, welche diese lange Zimmerreihe füllte -, als er mit mir an das letzte gekommen, das wie alle übrigen voll von Tischen und bepelzten Trinkern war, welche Thee und andere Getränke genossen, bewies er mir, daß kein einziger Raum frei sei. ,,Dieses Zimmer macht die Eckc Ihres Hauses," sagte ich zu ihm; „hac es einen besondern Eingang?" „Nun wohl; verschließen Eie die Thüre, welche dieses Zimmer von den andern Ihres Kaffeehauses trennt, und geben Sie mir dasselbe als Schlafzimmer." __2W Die Luft, welche ich da athmet?, erstickte mich schon fast-, es war eine ekelhafte Mischung der verfchi^denartigsim Gerüche, nach Schafpelzen, Juchten, Stieftlschmiere, Sauerkraut, Kaffee, Thee und Branntwein. Man athmete Gift ein-, aber was konnte ich thun? es war mein letztes Mittel. Ich hoffte übrigens, wenn das Zimmer gescheuert und gelüftet worden, würden die Übeln Gerüche verschwinden. Ich bestand also darauf, daß mein Feldjäger dem Besitzer des Kaffeehauses meine Forderung genau angebe. „Dabei würde ich einbüßen," antwortete der Mann. ,,Ich zahle Ihnen, was Sie verlangen, unter der Bedingung aber, daß Sie für meinen Diener und meinen Feldjäger irgendwo ein Plätzchen finden." Der Handel wurde geschlossen und ich war ganz stolz darauf, ein stinkendes Wirthshaus mit Sturm genommen zu haben, wo ich mehr bezahlen muß als für die schönste Wohnung in dem Fürstenhotel in Paris. Ich tröstete mich indeß über diese Ausgabe mit dem Gedanken an den Sieg, den ich errungen. Man muß in Nußland sein, in einem Lande, wo die Einfalle der Menschen, die man für machtig hält, keine Hindernisse kennen, um ein Kaffeehauszimmer sofort in ein Schlafzimmer umzuwandeln. Mein Feldjäger forderte die Trinker auf sich zu entfernen; sie gingen, ohne die geringste Einwendung zu machen und suchten sich, so gut es gehen wollte, Platz in dem Nebenzimmer, wahrend man die Thüre mit einem Schlosse, wie ich es beschrieben habe, verschließt. Es standen etwa zwanzig Tische in dem großen Zimmer; ein Schwärm von Priestern in Gewändern, oder mit andern Worten ein Schwärm von Kellnern in Hemden stürzte sich nun herein, um alle Meubles sofort hinweg zu schassen. Aber was seh' ich? Unter jedem Tische, unter jedem Sttchle kommen Schaarcn von Thieren 307 hervor, die ich noch nirgends gesehen habe, schwarze, einen halben Zoll lange, ziemlich dicke, weiche, kriechende, glänzende, stinkende, sich ziemlich schnell bewegende Insccten. DiescS stinkende Thier ist in einem Theile des östlichen Europa, in Volhynien, der Ukmine, Rußland und, wie ich glaube, auch in Großpolen bekannt, wo man es zx'!-«!^ nennt, weil es aus Asien mitgebracht worden sein soll. Den Namen, welchen ibm die Kellner in dem Gasthause zu Nischnei gaben, konnte ich nicht verstehen. Als ich den Fußboden meines Quartiers von diesen kriechenden Thieren, die man unwillkürlich mit jedem Schritte zertrat, nicht -zu Hunderten, sondern zu Tausenden bedeckt, ganz marmorirt sah, als ich be: sonders den neuen Geruch bemerkte, der durch die Tödtung der Thiere hervorgebracht wurde, erfaßte mich die Verzweiflung; ich eilte aus dem Zimmer und aus der Straße fort, zu dem Gouverneur. In mein abscheuliches Nachtlager kam ich erst zurück, als man mir gesagt und versichert hatte, daß es so rein als möglich sei. Mein, wie man mir sagte, mit frischem Heu ausgestopftes Bett stand mitten in dem Zim-mer, die vier Beine in vier Gefäßen mit Wasser und ich umgab mich mit Licht für die Nacht. Trotz allen diesen Vorsichtsmaßregeln fand ich nichtsdestoweniger bei dem jedesmaligen Erwachen aus einem unruhigen Schlafe ein Paar Persica auf meinem Kopfcissm. Die Thiere sind unschädlich und unschuldig, aber ich kann ihnen nicht sagen, welchen Ekel sie in mir erregten. Die Umeinlichkeit, die Apathie, welche die Anwesenheit solcher Insecten in den menschlichen Wohnungen verrath, lassen mich bedauern, meine Reise bis hierher ausgedehnt zu haben. Ich halte es für eine geistige Entwürdigung, sich solche unreine Tbiere nahe kommen zu lassen > mancher physische Ekel widersteht allen Vernunftgründen. Nachdem ich Ihnen meine Noth gestanden und mein 208 ^ Unglück geschildert habe, werde ich nichts wieder davon erwähnen. Damit aber die Schilderung des Zimmers, das ich hier dem Kaffeehause adgednmgen habe, vollständig werde, muß ich noch hinzufügen, daß man mir Vorhänge von Tischtüchern gemacht hat, deren Zipfeln mit eisernen Gabeln an die Fenster angesteckt sind; Bindfaden nehmen diese Draperien zusammen; zwei Kasten unter einem persischen Teppicbe vertreten die Stelle des Sofas. Ein Kaufmann von Moskau, der das prachtvollst? und bedeutendste Lager von Seidenwaaren auf der Messe hat, soll mich diesen Morgen abholen, um mir Alles in gehört ger Ordnung und im Einzelnen zu zeigen. Das Resultat dieser Musterung, werde ich Ihnen mittheilen. Fortgesetzt am 2i. August <8,W, Abends. Ich sinde hier einen südlichen Staub und eine erstickende Hihe; man riech mir deshalb auch die Messe nur zu Wagen 5U befugen; aber der Zufluß von Fremden ist in diesem Augenblicke in Nischnei so groff, daß ich keinen Miethwagen fand; ich mußte mich also desjenigen bedienen, in welchem ich von Moskau hergereis't bin, konnte aber nur zwei Pferde anspannen, was mir so unangenehm war wie einem Russen; man hat hier nicht aus Eitelkeit vier Pferde; sie besitzen Feuer, aber keine Kraft; sie laufen lange, wenn sie nichts zu ziehen haben; bei dem Ziehen ermüden sie bald. Mein Fuhrwerk war also mehr bequem als elegant und ich fuhr den ganzen Tag lang darin auf der Messe und m der Stadt herum. Als ich mit dem Kaufmanne, der mein Führer sein wollte, und dessen Bruder in meinen Wagen stieg, sag:e ich meinem Feldjäger, er möge uns folgen, und ohne Zögern, 209 ohne um Erlaubniß zu fragen, stieg er in die Calesche, wo er neben dem Bruder des Kaufmannes Platz nahm. Es ist hier zu Lande nicht selten, den Besitzer eine« Wagens im Fond desselben sitzen zu sehen, selbst wrnn er seine Frau nicht bei sich hat, wahrend seine Freunde auf dem Vordersitze Platz nehmen. Dieser Mangel an Artigkeit, den man sich bei uns nur mit genauen Bekanntm erlaubt, setzt hier Niemanden in Verwunderung. Da ich fürchtete, die Zudringlichkeit des Mourners könne meinen geselligen Führern lastig erscheinen, so glaubte ich den Mann aussteigen lassen und ihm andeuten zu müssen, er möge neben dem Kittscher Platz nehmen. „Das werde ich nicht thun," antwortete mir der Feldjäger mit unveränderlicher Ruhe. „Warum gehorchen Sie mir nicht?" entgegnete ich noch ruhiger, denn ich weiß, daß man bei diesem halb orientalischen Volke so ruhig als möglich sein muß, wenn man seine Autorität behaupten will. Wir sprachen deutsch. ,,Ich würde mir etwas vergeben," antwortete mir der Russe immer in demselben Tone. Dies erinnerte mich an die Vorrangsstreitigkeiten der Bojaren, deren Folgen unter Iwan lV. oft so ernst wurden, daß sie viele Seiten in der Geschichte jener Regierungszeit füllen. „Was verstehen Sie unter „sich etwas vergeben?" fuhr ich fort. „Haben Sie nicht feit unsrer Abreise von Moskau da gesessen?" „Allerdings ist es mein Plah auf der Reise; auf der Promenade aber muß ich im Wagen sitzen. Ich trage di» Uniform." Die Uniform ist die eines Briefträgers. .,Ich trage die Uniform," fuhr er fcrt; „ich habe meinen 210 Rang in dem Tschinn, bin kein Bedienter, sondern der Diener des Kaisers." ,,Was Sie sind, ist mir sehr gleichgültig', ich habe Ihnen nicht gesagt, daß Sie ein Bedienter wären/' „Ich würde aber so aussehen, wenn ich mich neben den Kutscher setzte, während der Herr in der Stadt umhcr fährt. Ich habe schon viele Jahre gedient und man hat mir wegen meines guten Verhaltens Aussicht auf den Adel gemacht; ich gedenke ihn auch zu erhalten, denn ich bin ehrgeizig." Diese Vermengung unsrer atten aristocratischen Ideen und der neuen Eitelkeit, welche argwöhnische Despoten neidkranken Völkern eingeflößt haben, erschreckt mich. Ich hatt« vor mir eine Probe der schlechten Art Nacheiferung, der eines Emporstr^bcnden, welcher sich für einen Emporgekommenen ausgeben möchte. Nach einer kurzen Pause fuhr ich fort: „Ich billige ganz Ihren Stol;, wenn er begründet ist, da ich aber die Gebrauche in Ihrem Vattrlande nicht gcnau kenne, so werde ich Ihr Verlangen dem Herrn Gouverneur mittheilen, bevor ich Eie in meinem Wagen sihen lasse. Ich will durchaus nicht mehr von Ihnen verlangen, als Sie nach den Befth-len, die man Ihnen ertheilt hat, mir zu leisten verpflichtet sind. Für heute entlass» ich Sie Ihres Dienstes; ich werde die Fahrt ohne Sie machen." Ich hätte gern über den wichtigen Ton gelackt, in welchem ich sprach, ich hielt aber diese Comödienwürdc zu meiner Sicherheit wahrend des übrigen Theils meiner Reise nöthig. Durch die unvermeidlichen Folgen des Despotismus wird iede Lächerlichkeit verzeihlich. Dieser Adelscandidat, der die Etikette der Landstraße so gewissenhaft beobachtet, kostet mich trotz seinem Stolze monatlich ^W Frcs. Gehalt; ich sah ihn über meine letzten 2N Worte errathen; er stieg endlich, ohne ein Wort zu entgegnen, von dem Wagen herunter, und ging schweigend nach Hause. Ich werde nicht verfehlen, den Gouverneur von diesem kur^n Zwiegespräche zu unterrichten. Der Meßplatz ist sehr groß und ich wohne sehr weit von der Brücke, welche zu dieser Stadt von emmonatlicher Dauer führt. Ich hatt« deshalb Ursache, mir Glück dazu zu wünschen, daß ich Pferde genommen, denn bei der Hitze würde meine Kraft vor der Ankunft auf der Messe zu Ende gewesen sein, wenn ich zu Fuße über diese staubigen Straßen an einem schattenlosen Kai und über «ine Brücke hatte geben sollen, wo die Sonne ibre glübenden Strahlen noch immer una/sabr fünfzehn Emnben des Tages aussallen laßt, ob sie gleich in der jetzigen vorgerückten Jahreszeit rasch abzunehmen anfangen. Leute aus allen Landern der Welt, hauptfachlich aber von den äußersten Ende des Orients, kommen auf dieser Messe zusammen, aber diese Leute sind merkwürdiger ihrem Namen, als ihrem Aussehen nach. Alle Asiaten gleichen einander, oder man kann sie wenigstens in zwei Classen theilen, in die Menschen mit Affeng» ficht: die Kalmücken, Mongolen, Baschkiren, Chinesen, und die mit griechischem Profil: die (^lrcassier, Persier, Georgier, Hindus lc. Die Messe zu Nischnei wird, wie ich bereits gesagt habe, auf einein ungeheuern Dreieck sandigen und vollkommen ebenen Bodens gehalten, der eine Spitze zwischen der Oka, in der Nahe ihrer Einmündung in die Wolga, und diesem Flusse bildet. Dieser Raum ist also auf jrdcr Seite durch einen der beiden Flüsse begrenzt. Der Boden, auf welchem so vicle Reichthümer liegen, erhebt sich kaum über den Was-ferspi^'l-, >iuch sieht man an den Ufern der Oka und Wolga nur Schuppen, Baracken und Waarmnirderlagen, wahrend 14' 212^ die eigentliche Meßstadt ziemlich weit vorwärts an der Basis des durch die Helden Flüsse gebildeten Dreiecks liegt. Sie hat keine andern Grenzen als die, welche man ihr auf der Seite der dürren Ebene angeben wollte, die sich im Westen und Nordwesten nach Varoslaw und Moskau hinzieht. Diese Handelsstadt ist eine große Menge langer und breiter nach der Schnur gezogener Straßen, was dem malerischen Aussehen des Ganzen schadet; ein Dutzend sogenannter chinesischer Pavillons überragt die Buden, aber ihr phantastischer Styl genügt nicht zur Entfernung der Einförmigkeit des allgemeinen Aussehens des Meßplahes. Es ist ein länglich viereckiger Bazar, der menschenleer aussieht, so groß ist er; man bemerkt kein Volksgewühl mehr, sobald man in das Innere der Linie gelangt ist, wo die Buden stehen, während sich an den Zugangen Volksmassen drängen. Die Budenstadt ist, wie all? andern modernen russischen Städte, zu groß für ihre Bevölkerung und doch haben Sie bereits gesehen, daß diese Bevölkerung im Durchschnitt täglich 200M0 Seelen beträgt. Allerdings sind unter dieser ungeheuern Fremdenzahl alle die mitbegrissen, welche sich zerstreut auf den Flüssen in den Böten befinden, die als Asyl für ein ganzes Amphibien-Volk dienen, und in den fliegenden Lagern, welche die eigentliche Messe umgeben. Die Hauser der Kaufleute ruhen auf «iner unterirdischen Stadt, einer prachtigen gewölbten Kloake, einem ungeheuern Labyrinthe, in dem man sich verirren würde, wenn man sich ohne einen erfahrenen Führer hineinwagte. Jede Straße der Messt wird durch eine andere Galerie verdoppelt, welche ihr unter der Erde in ihrer ganzen Lange folgt und den Schmutz und den Unrath ableitet. Diese von hehauenen Steinen erbauten Kloak.n werden mehrere Male des Jahres durch eine Menge Pumpen gereinigt, welche das Wasser aus den nahen Flüssen hineinschütten. Man gelangt ouf breiten, schönen, steinernen Treppen st, sobald die Sonne ein wenig scheint oder ein wenig Regen fällt. Ungesund ist er in jeder Zeit, was für die Kaufleute ein großer Uebelstand ist, da sie sechs Wochen über ln ibren Lagern schlafen müssen. Trotz der Vorliebe der Nüssen für die gerade Linie denken viele Leute hier wie ich, daß es besser gewesen fein würde, die, Messe neben der Altstadt, auf den Kamm des Verges zu verlegen, dessen Gipfel man durch allmalig aufsteigende Rampen, einen Schmuck der Landschaft., hätte leickt zuganglich machen können, wabrend die zu schweren oder ^u umfänglichen Gegenstände, welche nicht bequem auf den Berg hinaufzubringen waren, am Ufer der Oka bleiben konnten. Das Wen, das Hol^, die Wolle, die Lumpen, der Thee würdcn so !N der Nähe d?r Voce geblichen sein, welche sic herdei-brachten, während die glänzende Mtsse auf einem ge-räumig»'!, Plateau vor dem Thore der Oberstadt gehalten worden war?, — eine in jeder Hinsicht zweckmäßigere Em-richnmg als die jehige. Können Sie sich eine von den Repräsentanten aller'Nationen Asiens und Europas bewohnte Höhe vorstellen? Der so bevölkerte Nerg würde bewunderungswürdig aussehen, während der Sumpf, wo die Menschenmenge sich jetzt bewegt, kein besonderes Vild gewahrt. Die modernen Ingenieurs, die in allen Landern so geschickt sind, würden hier ihr Talent haben üben können-, die Bewunderer der Mechanik hätten hier sicherlich Gegenstande gefunden, die ibre Aufmerksamkeit verdienten, denn man würde Maschinen erfunden haben, das Hinaufschaffen der Waaren "uf den Berg zu erleichtern; die Dichter, die Maler, die Liebhaber schöner Ansichten und pittoresker Effecte, die Neugierigen, die ein Volk geworden sind in unserm IahrM- 22^ derte, wo der Mißbrauch der Thätigkeit fanatische Verehrer des Nichtsthun hervorbringt, alle diese Leute, die nützlich sind durch das Geld, welches sie ausgeben, würden sine herrliche, weit interessantere Promenade haben als die ist, welche man ihnen in einem ebenen Bazar gewahrt hat, wo man keine Aussicht findet und wo man eine mephitische Luft athmet. In jedem Falle verdient alles dies Berücksichtigung. Dieses Resultat würde dem Kaiser viel weniger Geld gekostet haben, als er für stine Waffer-Messe aufwendete, für die Stadt, die einen Monat dauert, flach wie ein Tisch, im Sommer warm wie eine Savanne, und im Winter feucht wie eine Niederung. Die russischen Bauern sind die Haupthand«lsag?nten dieser bewundernswürdigen Messe. Das Gesetz verbietet freilich einem Leibeigenen, einen Credit von mehr als fünf Rubeln zu verlangen, und den Freien, ihm einen höhern zu bewilligen; gleichwohl macht man mit mehreren dieser Leute auf Ehrenwort Geschäfte in Betrag von zweimalhunderttausend, von einer halben Million Francs mit weit in die Fcrne gerückten Zahlungsterminen. Diese Slaven, die Millionen besitzen, diese an die Scholle gefesselten Aguados könnm nicht lesen. So bietet der Mensch in Nußland großen Verstand auf, um seine Unwissenheit auszugleichen. In den gebildeten Landern wissen die Thiere mit zehn Jahren, was in den zurückgebliebenen Landern nur besonders begabte Menschen lernen, aber auch erst in dreißig Jahren. In Nußland weiß das Volk von Zahlenrechnen nichts; es macht seine Rechnungen seit Jahrhunderten mit Nahmen, die Reihen beweglicher Kugeln enthalten. Jede Linie hat ihre Farbe und die eine bezeichnet die Einer, die andere die Zehner, die dritte die Hunderte «. Diese Art zu rechnen ist sichcr und geht schnell von statten. 323 Vergessen Sie dabei nicht, daß der Herr dieser Millie-nair - Leibeigenen ihnen morgen Alles nehmen kann, was sie besitzen, wenn er nur ihre Person schont. Allerdings sind solche gewaltthatige Handlungen selten, aber sie sind doch möglich. Man erinnert sich nicht, daß je ein Kaufmann in seinem Vertrauen auf die Redlichkeit der Bauern getauscht worden sei, mit dcnen er Geschäfte machte; so wahr ist es, daß in jedem Staate, sobald er stabil ist, der Fortschritt der Sitten die Mängel der Einrichtungen ausgleicht. Man hat mir indeß erzahlt, daß der Vater eines heute noch lebenden, ich hätte beinahe gesagt regierenden, Grafen Tscheremitschcff, einst einer Baucrfamilie die Freiheit für die ungeheure Summe von funfzigtausend Rubeln versprochen hatte. Er empfing das Geld, behielt aber dann die beraubte Familie doch unter seinen Leibeigenen. In dieser Schule der Ehrlichkeit und Rechtlichkeit erhalten die russischen Bauern Unterricht unter dem aristocratischen Despotismus, der sie zu Voden drückt, trotz dem autocrati-schen Despotismus, der sie regiert', der letztere ist freilich oft machtlos gegen seinen Nebenbuhler. Der kaiserliche Stolz begnügt sich mit den Worten, Formen und Zahlen; der aristokratische Ehrgeiz strebt nach den Dingen selbst und auf Worte legt er keinen großen Werth. Nirgends fand ein mehr geschmeichelter Gebieter geringern Gehorsam, nirgends wurde ein solcher mehr hintergangen, als der sogenannte absolute Beherrscher des russischen Neichcs. Allerdings ist der Ungehorsam gefährlich, ^cr das Land ist groß und die Einsamkeit stumm. Der Gouverneur von Nischnei, Vuturlin, ersuchte mich mit großer Artigkeit, alle Tage während meines Aufenthalts in Nifchnei bei ihm zu speisen; morgen wird er mir klaren, warum solche Dinge, wie das nicht gehaltene Ver- ll». 15 22ll sprechen dcs Grafen Tscheremiischeff, die überall und jederzeit selten sind, in Nußland jetzt nicht mehr vorkommen können. Ich werde Ihnen diese Unterredung mittheilen, wenn ich etwas daraus abnehmen kann; bis jetzt habe ich aus dem Munde der Nüssen nur verworrene Reden vernommen. Liegt cs an einem Mangel an Logik, oder wollen sie absichtlich die Gedanken der Fremden verwirren? Ich glaube beides. Wenn man sich lange bemüht, die Wahrheit vor den Augen Andrer zu verbergen, erblickt man sie endlich selbst durch einen Schleier hindurch, der jeden Tag dichter wird. Die alten Russen hintergehen und täuschen unschuldig, ohne daß sie es wissen; die Lüge geht über ihre Lippen wie ein Gc-siändniß. Ich möchte wohl wissen, in welchem Alter die Tauschung in ihren Augen aufhört, eine Sünde zu sein. Das falsche Gewissen beginnt frühzeitig bei dm Menschen, die von der Furcht leben. Auf der Messe zu Nischnei ist nichts wohlfeil als etwa das, was Niemand kaufen mag. Die Zeit der, nach den verschiedenen Orten, großen Preisdifferenzen ist vorüber-, man kennt überall den Werth aller Dinge, selbst die Tataren, welche tief aus Asien nach Nischnei kommen, um, weil sie nicht anders können, die aus Paris oder London daher geschickten Gegenstände theuer zu bezahlen, bringen zum Tausche Waaren mit, deren Werth ihnen sehr genau bekannt ist. Die Kaufleute können die Lage noch mißbrauchen, in denen sich die Käufer befinden, aber sie nicht mehr täuschen. Sie schlagen nickt vor und lassen nicht abhandeln-, sie fordern keck und ruhig cinen hohen Preis und ihre Ehrlichkeit besteht darin, daß sie auch von ihren übertriebensten Forderungen nicht abstehen. Ich habe in Nischnci keinen asiatischen Seidenstoff ge. fundm, außer einigen Rollen schlvchteu chimsischcw Atlas 227 von falscher Farbe und nicht sehr dichtem Gewebe, der zerdrückt war wie altes Seidcnzeug. Schöneres halte ich in Holland gesehen und diese Rollen werden hier theurer verkauft, als die schönsten Lyoner Zeuge. Die Wichtigkeit dieser Messe in finanzieller .Hinsicht steigt alle Jahre, wahrend das Interesse an der Seltsamkeit dcr Waaren und dem seltsamen Aussehen der Menschn abnimmt. Im Allgemeinen entspricht die Messe zu Nlschnei der Erwartung der Neugierigen in malerischer und unterhaltender Hinsicht nicht; Alles ist ja in Rußland still und steif; selbst die Geister sind nach der Schnur gestellt, ausgenommen an Tagen, an welchen sie über die Schnur schlagen. In solchen Augenblicken bricht der so lange niedergehaltene Frciheitstrieb mit Gewalt aus; die Bauern stecken dann ihren Herrn an den Spieß und braten ihn an gelindem Feuer oder der Herr heirathet eine Leibeigene; es ist wie am jüngsten Gerichte, aber diese seltenen Umwälzungen bringen in der Ferne keinen tiefen Eindruck hervor; Niemand spricht davon; die Entfernungen und die Thätigkeit der Polizei lassen die einzelnen Thatsachen nicht zur Kenntniß der Massen gelangen; die gewöhnliche Ordnung wird nur durch ohnmächtige Aufstande gestört; sie beruht auf allgemeiner Vorsicht und Stille, welche gleichbedeutend sind mit Langeweile und Unterdrückung. Ich sah auf meiner Promenade unter den Buden der eigentlichen Messe auch Vucharen. Dieses Volk bewohnt ?mcn Winkel von Thibet an der Grenze von G)ina. Die bucharischen Handelsleute kommen nach Nischnei, um da Edelsteine zu verkaufen. Die Türküen, welche ich von ihnen gekauft habe, sind so theuer, wie in Paris und man lM nicht einmal die Gewißheit, ob sie ächt sind. Alle 15* 228 Steine von einigem Werthe erreichen hier sehr hohe Preise. Diese Männer bringen ein Jahr mit der Reise zu, denn sie brauchen, wie sie sagen, blos zur Her- und Hinreise acht Monate. Weder ihre Gesichtsbildung noch ihre Kleidung kam mir besonders bemerkenswerth vor. An die Acchtheit der Chinesen in Nischnei glaube ich nicht, aber die Tataren, die Perser, die Kilgism und Kalmücken genügen schon für die Neugierde. Die Kirgisen und Kalmücken bringen aus ihren Steppen Heerden kleiner wilder Pferde hierher, um sie auf der Messe zu Nischnei zu verkaufen. Diese Thiere haben viele gute Eigenschaften, sehcn aber mcht hübsch aus; zum Reiten sind sie ganz vortrefflich und ihr Character macht sie schätzenswert!). Die armen Thiere haben ein besseres Herz, als viele Menschen; sie lieben sich unter einander mit einer Innigkeit, daß sie unzertrennlich sind. So lange sie bei einander bleiben, vergessen sie die Verbannung und Sclaverei, weil sie noch immer in ihrer Heimat!) zu sein glauben; wird aber eines verkauft, so muß es niedergeworfen und mit Gewalt mit Stricken aus der Einzäunung gezogen werden, in welcher sich feine Brüder befinden, die wahrend dieser Operation fortwährend zu entfliehen oder sich zu empören versuchen, ächzen, schmerzlich wiehern und hin und her laufen. Solche Beweise von Gefühl haben, so viel ich weiß, die Pferde in unsern Gegenden nie gegeben. Selten wurde ich so crgrif: fen, wie gestern durch die Verzweiflung eines dieser unglücklichen, der Wüstenfreiheit entrissenen Thiere. Spotten Sie immerhin darüber, ich bin doch überzeugt, daß Sie meine Rührung getheilt haben würden, wenn Sie Zeuge dieser grausamen Verkaufe gewesen wären, die an die schändlichsten erinnern. Das von den Gesetzen als solches anerkannte Verbrechen hat Richter in der Welt; die erlaubte Grau- 229 samkeir aber wird nur durch das Mitleiden rechtlicher Leute mit den Opfern und, wie ich hoffe, durch die göttliche Gerechtigkeit gestraft. Bei dieser geduldeten Barbarei bedauere ^'l), daß es mir an Beredsamkeit fehlt; ein Rousseau, selbst ein Sterne würde Sie zu Thränen rühren über das Schicksal meiner armen Kirgisen-Pferde, die nach Europa gebracht werden, um da Menschen zu traben, die Sclaven smd wie sie, deren Lage aber nicht immer gleich großes Mitleid verdient, wie die der Thiere, wenn sie der Freiheit beraubt sind. Gegen Abend wird das Aussehen der Ebene imposant. Der Horizont verschleiert sich leicht unter dem Nebel, dcr spater in Thau niederfallt, und unter dem Staube des Bodens von Nischnei, einer Art braunen Sandes. Der Himmel erhält davon eine röthliche Farbe und diese Lichteffelte erhöhen den Eindruck der Landschaft, die großartig und imposant ist. Aus dem Schatten treten fantastische Lichter hervor-, in den Bivouacs um die Meffe her werden zahlreiche Lampen angezündcn; Alles spricht; Alles murmelt; der ferne Wald erhält eine Stimme und selbst von den bewohnten Flüssen schlagen Töne des Lebens an das aufmerksame Ohr. Welche imposante Vereinigung .von Menschen! Welche Eprachenverwirmng! welche verschiedene Lebensweisen! — und welche Gleichfovmigkeit in den Ansichten und Ideen; Jeder hat in dieser ungeheuren Versammlung den Zweck, Geld zu verdienen. An andern Orten verschleiert die Lustigkeit des Volkes die Habsucht; hier sieht man den Handel nackt und kahl und die unfruchtbare Raub- und Gewinnsucht des .Handelsmannes herrscht über die Frivolität bes Spaziergängers, über die Verthierung der Sclaven vor; Nichts ist poetisch. Alles verrath das Streben nach Gewinn. Doch — jch ine mich; in diesem Lande liegt übe:^ü die HM Poesie der Furcht und des Schmeres; aber welche Stimme wagt sie auszudrücken? Einige malerische Bilder erquicken indeß doch die Phantasie und das Auge. Auf den Wegen, welche die verschiedenen Handelslager mit einander verbinden, auf den Brücken, längs der Ufer, trifft man auf unermeßliche Reihen seltsamer Fuhrwerke. Diese durch eine Achse verbundenen Rader kommen aus den Niederlagen, wohin sie lange Bauhölzer brachten. Die Baumstamme wurden auf vier, bisweilen auf sechs Rädern getragen; wann aber das Fuhrwerk zurückkommt, ist jede Achse mit ihren beiden Nadern von dem übrigen getrennt und wird allein von einem Pferde gezogen, das ein Mann lenkt. Dieser Kutscher steht auf d^eftr Achse, hält sich da :m Gleichgewichte und leitet sein kaum geschirrtes Pferd mit einer wilden Anmuth, mit einer Gewandtheit, die ich nur bei den Russen gefunden habe. Diese rohen Franconis erinnern mich an die Kutscher in dem Circus zu Byzanz; sie tragen das griechische Hemd, eine Art Tunica, die ich Ihnen schon beschrieben habe, die unsern Blousen gleicht und wahrhaft antik ist. In Rußland erinnert man sich immer und überall an das oströmische Neich, wie in Spa-nien an Afrika und in Italien an das alt? Rom und an Athen. Die russischen Bauern sind, glaube ich, die einzigen Manner, die ihr Hemd über den Beinkleidern tragen, wie die russischen Bäuerinnen die einzigen Frauen auf der Erde sind, welche den Gürtel über dem Busen anlegen. Das ist, ich muß es wiederholen, die ungraziöseste Sitte unter der Sonne. Wenn man in der Nacht um den Meßplatz herumgeht, fällt von weitem der Glanz der Buden mit Eßwaarcn, der der kleinen Theater, der Wirths- und Kaffeehäuser auf. 23l ^lber in dieser 5)elle hört man nur dumpfes Geräusch und ber Contrast der Beleuchtung der Oerter und der Schweige samkm der Menschen grenzt an das Zauberhafte. Man glaubt umer Menschen zu sein, welche der Zauberstab eines Magiers berührte. Die einsten und schweigsamen Asiaten bleiben selbst bei ihren Unterhaltungen ernsthaft, die Nüssen sind halbgebildete Asiaten. Ich werbe nicht müde, ihre Volksgesänge anzuhören, welche sich dmch die Traurigkeit der Accorde, durch die Schönheit der Komposition, so wie durch das Feuer und das Ensemble des Vortrags auszeichnend Die Musik hat einen doppelten Werth an einem 3)rte, wo hundert verschiedene Völker durch ein gemeinsames Interesse verrimqt, durch ihre Sprachen und Religion aber getrennt sind. Wo das Wort nur da>,u dient, die Menschen zu scheiden, sinqen sie, um sich einander verständlich zu machen. Die Musik ist das beste Mittel gegen Sophismen und daher kommt die immer zunehmende Vorliebe sür diese Kunst in Europa. Es liegt in diesen von den Muschiks der Wolga gesungenen Chören etwas Außerordentliches, Harmonitcssecte, die wir trotz oder vielleicht wegen ihrer Rohheit in einem Theater oder einer Kirche gelehrt nennen würden; es sind keine lieblichen Melodien, aber diese Stimmmassen bringen, von weitem gehört, einen tiefen und für uns Abendlander neuen Eindruck hervor. Die Traurigkeit der Töne wird durch dle örtliche Umgebung nicht gemildert. Ein tiefer Wald von Schisssmastcn begrenzt die Aussicht auf beiden Seiten und verhüllt an manchen Stellen einen Theil des Himmels; das übrige Bild ist nichts als eine einsame von einem endlosen Fichtenwalde eingeschlossene Ebene; allmälig nehmen die Lichter ab, dann erlöschen sie und die Dunkel- 232 hcit, in welchem das ewige Schweigen in diesen bleichen Landern noch zunimmt, erregt in der Seele eine neue Ueber-raschung; die Nacht ist die Mutter des Staunens. Alle Scenen, welche noch wenige Augenblicke vorher die Wüste belebten, schwinden und werden vergessen, sobald der Tag verschwindet; auf die Bewegung des Lebens folgen unklare Erinnerungen und der Reisende bleibt allein mit der russischen Polizei, welche das Dunkel doppelt schrecklich macht; man glaubt geträumt zu haben und kehrt in seine Wohnung zurück, den Geist erfüllt von Poesie, d. h. von unklarer Furcht und schmerzlichen Ahnungen. Vierunddrcißigstcr Brief. Ni schnei, den «5». August l5l,». ^)ei dem Beginne der diesjährigen Messe berief der Gouverneur die ausgezeichnetsten Kaufleute Nußlands, die in Nischnei versammelt waren, zu sich, und sehte ihnen im Detail die seit lange anerkannten und beklagten Uebelst,inde des in dem Lande bestehenden Geldsystems auseinander. Sie wissen, daß es in Rußland zwei Werthzeichen giebt, Papirr und gemünztes Geld; vielleicht wissen Sie aber nicht, daß der Werth des lehtern, in Folge einer in der Finanzgeschichte der Staaten wahrscheinlich einzigen Seltsamkeit, fortwahrend schwankt, wahrend der des Papiergeldes fest bleibt. Aus dieser Seltsamkeit, die nur durch ^in tiefgehendes Studium der Geschichte und Staatswirthschaft des Landes zn erklären wäre, ergiebt sich eine außerordentliche Thatsache; daß nämlich das Geld das Papier vertritt, obgleich das letztere nur eingeführt worden ist und wsteht, um das Geld zu vertreten. Nachdem der Gouverneur seinen Zuhörern diese Abirrung, erläutert, und alle traurigen Folgen angeführt hatte, welche, daraus hervorgehen, setzte er hinzu, der Kaiser habe in seiner fortwährenden Sorge für das Glück seiner Völker und die gute Ordnung in feinem Reiche, eine Unordnung endlich beseitigt, deren Wcitergreifen den innern Handel aus eine 234 furchtbare Weise zu hemmen drohe. Das einzige wirksame Mittel sei die definitive und unwiderrufliche Bestimmung des Werthes des gemünzten Rubels. Die Verordnung, welche Sie am Schlüsse dieses Briefes lesen werden, denn ich habe mir die Nummer des Journals von Petersburg aufbewahrt, in welcher sie erschien, bewerkstelligte diese Umwandlung in einem Tage, wenigstens mit Worten; um aber die Reform in's Werk zu setzen, schloß der Gouverneur seine Nede, befehle der Kaiser, daß die Ukase sofort in Ausführung gebracht werde. Die höhern Verwaltungsbeamten und er selbst, der Gouverneur von Nischmi, hofften, daß keine Rücksicht persönlichen Interesses gegen die Pflicht etwas vermögen werde, ohne Zögern dem höchsten Willen des Staatsoberhauptes Gehorsam ;u leisten. Die bei dieser ernsten Frage zu Nathe gezogenen Sachverständigen antworteten, die an sich ganz gute Maßregcl würde die festesten und wol,I!)abendsten Handelshauser erschüttern, wemi man sie auf früher a^schlosMc Geschäfte anwende, die erst in der jetzigen Messe zur Ausführung gebracht werden sollten. Sie segneten und bewunderten die hohe Weisheit des Kaifers, stellten aber dem Gouverneur demüthig vor, daß diejenigen Kaufleute, welche Waaren für eincn nach dem sonstigen Geldwerthe bestimmten Preise und dem V.'chaltmssc des Papierrul'els zu dem Eilberrubel m der vorigen Messe verkauft hatten, betrügerischen, wenn auch durch das Gesetz erlaubten Zahlungen ausgesetzt sein, um ihren Gewinn kommen, oder denselben doch sehr geschmälert sehen würden. Sie sahen also ihren Ruin vor Augen, wenn man der Verordnung eine rückwirkende Kraft beilege, welch? eine Mem,e kleiner partieller Bankerotte herbeiführen würde, die dann sicher andere und totale veranlaßten. 2^__ Der Gouverneur entgegnete mit der Ruhe und Sanft-luuth, welche in Rußland bci allen administrativen, finanziellen "nd politischen Erörterungen vorwalten, er gehe vollkommen in die Ansichten der Herren.Handelsleute ein. indessen bedrohe doch das traurige Resultat, welches die .Herren fürchteten, nur einige Personen, d enen überdies die Strenge der bestehenden Gesetze gegen d>e Bankerottire r als Bürgschaft bleibe, wahrend eine Verzögerung immer einigermaßen wie Widerstand aussehen, und das Beispiel des wichtigsten Handelsplatzes im Reiche für das ^and weit schlimmere Unannehmlichkeiten haben würde, als einige Bankerotte, die doch nur einigen wenigen Personen Nachtheil brachten, während der Ungehorsam, der durch Personen ge-billigt und gerechtfertigt werde, die bis dahin das Vertrauen der Regierung besaßen, eine Nichtachtung der dem Kaistr schuldigen Edrfurckt und ein Angriff gegen die administrative und finanzielle Einheit Rußlands, folglich a^-n das Lebensprincip des Reiches, sein würde. Nach diesen Betrachtungen, setzte er hin^u, zweifle er nicht, daß die Herren sich beeilen würden, dem ungeheuren Vorwurfe zu entgehen, das Staatsintecesse ihrem Priuatvortheile aufzuopfern, da sie gewiß einen Schatten von Verbrechen gegen den Staat mehr fürchteten als alle Geldopfer, denen sie sich durch ihren freiwilligen Gehorsam und ihren patriotischen Elfer glorreich aussetzen würden. Die Folge dieser friedlichen Conferenz war, daß am andern Tage die Messe unter der rückwirkenden Kraft der neuen Ukase begann, deren feierliche Bekanntmachung nach der Zustimmung und den Versprechungen der ersten Kaufleute des Reichs erfolgte. Dies wurde mir, ich wiederhole es Ihnen, durch den Gouverneur selbst in der Absicht «zahlt, um mir zu be- 236 weisen, wie sanft die Maschine der despotischen Regierung gehe, welche von den Völkern mit liberalen Institutionen so arg geschmäht werde. Ich erlaubte mir, meinen gefälligen und interessanten Lehrer in der orientalischen Politik zu fragen, welche Folge die Negierungsmaßregel und die Art gehabt habe, wie sie in Ausführung gebracht worden sei. „Das Resultat hat meine Hoffnungen Übertrossen," entgegnete der Gouverneur mit zufriedener Miene. ,,Nicht ein Bankerott; Alle neuen Geschäfte wurden nach dem neuen Geldsysteme abgeschlossen; erstaunen aber werden Sie, daß kein Schuldner bei der Bezahlung alter Schulden die ihm durch das Gesetz gegebene Erlaubniß, seine Gläubiger zu betrügen, benutzt hat." Ich gestehe, daß im Anfange dieses Resultat mich überraschte, als ich aber weiter darüber nachdachte, erkannte ich die Schlauheit dvr Nüssen; ist das Gesetz erlassen, so gehorcht man ihm — auf dem Papiere und damit ist die Regierung zufrieden. Sie ist leicht zufrieden zu stellen, denn sie verlangt vor Allem um jeden Preis Schweigen. Man> kann den poUti-fchen Zustand Nußlands so erklären: es ist ein Land, in welchem die Regierung spricht wie sie will, weil sie allein ein Rechr zu sprechen hat. So sagt denn auch in dem vorliegenden Fall? die Regierung ° das Geseh lM seine Kraft be: wahrt, wahrend das Uebereinkommen der dabei Bctheil'.gttn das ausgleicht, was unbillig, ware, wenn das Gesetz auf frühere Schulden angewandt werden sollte. In einem Lande, wo die Gewalt geduldig ist, würde die Regierung dm ehrlichen Mann nicht der Gefahr ausgesetzt haben, durch Unehrliche um einen Theil dessen gebracht zu werden, was er zu fordern hat; bei guter Justiz würde das Gesetz nur die Zukunft geregelt haben. Hier wurde dasselbe Resultat durch andere Mittel erreicht; es mußte aber die Gewandtheit und 2lt7 Klughei: der Unterthanen das blinde Zutappen der Regierung ausgleichen, um die Uebel zu vermeiden, welche aus dem ^gmsinne der höchsten Gewalt für das Land hervorgehen konnten. In jeder Regierung mit übertriebenen Theorien liegt eine geheime Kraft, eine Thatsache, die sich fast immer dem Unsinnigen dieser Theorie widersetzt. Die Nüssen besitzen in hohem Grade Handelsa/ist und die Handelsleute der Messe fühlten deshalb, daß die wahren Geschäftsleute, die nur vom Vertrauen leben, hundert Procent gewinnen, wenn sie ihrem (Credit ein ^pfer bringen. Aber auch noch ein anderer Einfluß würde der Gewinnsucht Schweigen geboten und die Unehrlichkeit zurückgehalten haben. Die Absicht, Bankerott zu machen, ist einfach durch die Furcht verhindert worden, die eigentliche Herrscherin in Nußland. Die Leute werden bedacht haben, daß wenn sie sich jetzt einem Prozesse oder nur scandalösen Klagen aussetzten, die Richter oder die Polizei gegcn sie verfahren würden, daß das, was man hier Gesetz nennt, streng angewendet werden würde. Sie fürchteten die Einsperrung, die Prügel im Gefängniß, wer weiß was noch Schlimmeres. Nach allen diesen Gründen, welche in dem allgemeinen Schweigen, dem Normalzustande Rußlands, von doppelter Bedeutung sind, gaben sie dieses schöne Beispiel von kommerzieller Rechtlichkeit, mit welcher der Gouverneur von Nischnei mich blenden wollte. Ich wurde freilich nur einen Augenblick geblendet, denn ich erkannte bald, daß wenn die russischen Kaufleute einander nicht mimren, dies aus derselben Quelle stammt, wie die Fügsamkeit der Schisser auf dem Ladoga-See, die der Fiacrekucscher in Petersburg und so vieler andrer Leute aus dem Volke, die ihren Zorn nicht aus Humanitacsgründen, sondern durch die Bcsorgniß zum Schweigen bringen, die höhrre Behörde könnte sich m ihre Angelegenheiten mischen. Da ich schwieg, so weidete sich Herr Bmmlin an meiner Ueberraschung. „Man kennt die Größe des Kaisers nicht Miz," fuhr er fort, ,,wenn man ihn nickt in Thätigkeit gesehen hat, namentlich in Nischmi, wo er Wunder schasst." „Ich bewundre den Scharssinn des Kaisers sehr," antwortete ich. ,,Wenn wir mit einander die von Sr. Majestät angeordneten Arbeiten besichtigen werden," erwiederte der Gouverneur, ,,werden Sie ihn noch weit mehr bewundern. Durch die Energie seines Characters und seine richtigen Ansichten ist, wie Sie sehen, dte Münzordnung, welche an andern Orten endlose Vorsichtsmaßregeln erfordert haben würde, bei uns wie durch em^n Zauberschlag bewirkt worden." Der hofmannische Beamte hatte die Bescheidenheit, feine eigene Schlauheit nicht voranzustellen; er ließ mir auch keine Zeit ihm zu sagen, was die bösen Zungen mir fortwahrend aber leise wiederholen, daß nämlich jede Finanzmaßregel wie die, welche die russische Regierung ergrissen hat, der höchsten Behörde wohlbekannte Gewinnmlttel gebe, über die man sich aber unter einer autocratischen Regierung nicht laut zu beklagen wage. Ich kenne die geheimen Manöver nicht, zu denen man diesmal gegriffen hat; um mir aber eine Idee davon zu machen, denke ich mir die Lage eines Depositumsinhabers dem Manne gegenüber, der ihm eine bedeutende Summe anvertraute. Wenn der, welcher sie empfangen hat, die Kraft besitzt, willkürlich den Werth jedes der Geldstücke zu verdreifachen, aus denen die Summe besteht, so kann er offenbar das ihm Anvertraute zurückgeben und doch zwei Drittel davon für sich behalten. Ich sage nicht, daß dies das Resultat der von dem Kaiser angeordneten Maß-regcl gewesen; ich setze nur den Fall, um mir die Andeu- 239 ^ tunqen der bösen Zungen oder, wenn man will, die Ver-laumdungen der Unzufriedenen begreiflich zu machen. Sie setzen hinzu, daß durch den Gewinn von dieser so plötzlich ausgeführten Operation, durch welche mittelst eines Decrees dcrn Papiere ein Theil seines ehemaligen Werthes genommen wird, um in demselben Verhältnisse den des Silber-rubcls zu steigern, die Priualkasse des Fürsten für die Sum-Men entschädigt werden soll, die er daraus entnehmen Mußte, um auf seine Kosten seinen Wimerpalast wieder aufzubauen und mit der Großmuth, die Europa und Rußland bewundert haben, die Anerbietungen der Städte, mehrerer Privatpersonen und der ersten Kausieute abweisen zu können, die sich beciferten, zum Wiederaufbau eines Nationalgebäudes — weil die Wohnung des Herrschers— beizutragen. Cie können nach der ausführlichen Erörterung dieser tyrannischen Charlatanterie, welche ich Ihnen vorlegen zu müssen glaubte, den Werth beurtheilen, dn m-an hier auf die Wahrheit kgt, den geringen Werth der edelsten Gesinnungen und schönsten Phrasen, kurz die Ideenvcrwirrung, welche die Folge dieser ewigen Comödie sein muß. Um in Rußland zu leben, reicht die Verstellung nichc aus, man muß auch heucheln können. Verbergen ist nützlich, heucheln ist nothwendig. Mögen Sie nun die Bemühungen würdigen, welche sich die edeln Seelen und die unabhängigen Geister auferlegen, um sich unter eine Regierungswelse zu fügen, bei welcher der Frieden und die Ordnung mit der Nichtachtung des menschlichen Wortes erkauft werden, der beigsten aller Himmclsgaben für den Menschen, der etwas Heiliges kennt. — In den gewöhnlichen Staaten treibt das Volk und die Negierung hemmt; hier treibt die Regie-rung und das Volk halt zurück, denn der Geist der Er-hallung muß doch irgendwo sein, wenn die Etaatsmaschine 240 bestehen soll. Die Ideenversetzung, die ich hier anführe, ist eine politische Erscheinung, die ich bis jetzt nur in Rußland gefunden habe. Unter dem absoluten Despotismus ist die Negierung revolutionär, weil Revolution gleich bedeutend ist mit Willkür- und Gewaltherrschaft. Der Gouverneur hat sein Versprechen gehalten; er zeigte mir ganz im Detail die Arbeiten, welche der Kaiser angeordnet hat, um aus Nischnei Alles zu machen, was aus dieser Stadt gemacht werden kann und um das Versehen ihrer Gründer auszugleichen. Eine prächtige Straße wird von dem Ufer der Oka in die Oberstadt hinaufführen, die, wie bereits erwähnt, von der Unterstadt durch einen sehr hohen Berg getrennt ist', es werden 'Abgründe ausgefüllt und Rampen angelegt; man will selbst Durchstiche in dem Berge bewerkstelligen; ungeheuere Unterbauten sollen Platze, Straßen und Gebäude tragen. Diese Arbeiten sind einer großen Handelsstadt würdig. Die Durchstiche in dem hohen Ufer, die Brücken, die Esplanaden, die Terrassen werden Nischnei eines Tages in eine der schönsten Städte des Reiches umwarb deln. Alles dies ist groß, aber das folgende wird Ihnen kleinlich erscheinen. Da Se. Majestät die Stadt Nischnei in besondern Schutz genommen hat, muß der Gouverneur jedesmal, wenn sich eine leichte Schwierigkeit über die Fortsetzung der begonnenen Bauten erhebt oder wenn man die Facade eines alten Hauses ausbessert oder wenn man ein neues in irgend einer Straße oder auf einem der Kais Nischnci's bauen will, einen besondern Plan entwerfen lassen und denselben dem Kaiser vorlegen. „Welcher Mann!" rufen die Russen aus. „Welches Land!" würde ich ausrufen, wenn ich zu sprechen wagte. Unterwegs macht« mir der Gouverneur, dessen Gefallig: keit und Gastfreundschaft ich nicht genug rühmen kann, 24^ inttressantc Mittheilungen über die russische Verwaltung und b'c Verbesserung, welche die Fortschritte der Sitten jeden ^ag in der Lage der Bauern bewirken. Jetzt kann ein Leibeigener sogar Grund und Boden unter ^M Namen seines Herrn besitzen, ohne daß dieser die moralische Bürgschaft abzulehnen wag:, die er seinem reichen Sclaven schuldig ist. Diesem Manne die Frucht seiner Arbeit und seines Fleißes zu entgehen, würdc ein Mißbrauch ber Gewalt sein, die sich auch der tyrannischeste Vojar unter der Regierung des Kaisers Nicolaus nicht zu erlauben wagt; aber wer bürgt dafür, daß er sich dieselbe auch unter einem andern Souverain nicht erlaubt? Wer bürgt dafür, daß sich notz der Rückkehr zu Recht und Gerechtigkeit, dem ruhmvollen characteristischen Kennzeichen der jetzigen Regie-rung, nicht auch habsüchtige und arme Herren finden, die, ohne ihre Vasallen geradezu zu berauben, geschickt abwechselnd die Drohung und die Milde anzuwenden wissen, um den Handen des Sclaven allmalig einen Theil der Reichthümer zu entziehen, die sie ihm nicht mit einem Male zu nehmen wagen? Man muß nach Rußland kommen, um den Werth der Institutionen würdigen zu lernen, welche die Freiheit der Völker ohne Rücksicht auf den Character der Fürsten verbürgen. Ein verarmter Bojar kann allerdings den Besitzungen seines reich gewordenen Vasallen den Schirm seines Namens geben, da jenem der Staat das Recht nicht gewahrt, einen Zoll breit Boden, nichl einmal das Geld zu ^sitzen, was er verdient; aber dieser zweideutige Schutz, der "'Hl einmal durch das Gesetz autorisirt wird, hängt einzig von dcn saunen des Beschützers ab. Sesame Verhältnisse zwischen dem Herrn und dem Leibeignen l Es liegt dann etwas Beunruhigendes. Man kann 252 schwerlich auf die Dauer von Institutionen rechnen, welche cine solche sociale Seltsamkeit hervorbringen konnten; gleich? wohl sind sie dauerhaft. In Rußland wird nichts durch das rechte Worte bezeichnet; die Redaction ist eine fortwährende Täuschung, vor der man sich sorgfaltig hüten muß. Dem Principe nach ist Alles so absolut, daß man sich sagen muß, unter einer solchen Regierung ist das Leben unmöglich; in der Praris kommen aber so viele Ausnahmen vor, daß man zu sich sagt: bei der Velwtrrung durch so widersprechende Sitten und Gebräuche ist jede Regierung unmöglich. Man muß die Lösung dieses doppelten Problems gefunden haben, nämlich den Punkt, wo das Princip und die Anwendung, die Theorie und die Praxis zusammenfallen, um sich eine richtige Verstellung von den Zustande der Gesellschaft in Rußland machen zu können. Glaubt man dem vortrefflichen Gouverneur von Nischnci, so kann es nichts Einfacheres geben; die Gewohnheit, die Gewalt auszuüben, macht die Befehlsformen leicht und mild. Der Zorn, die Mißhandlungen, die Gewaltmißlnäuche sind außerordentlich selten geworden, gerade weil die sociale 3rd-nung auf außerordentlich strengen Gesetzen beruht; Jedermann fühlt, daß, um solchen Gesehen die Achtung zu erhalten, ohne welche der Staat zusammenstürzen müßte, dieselben nur selten und vorsichtig angewendet werden dürfen. Man muß die Wirkung der despotischen Regierung in der Nähe sehen, um ihre ganze Milde zu begreifen (Sie errathen, daß der Gouverneur von Niscknci also spricht); die Gewalt behält in Rußland durch die Mäßigung der Männer Kraft, welche sie anzuwenden haben. Die Gebietenden, welche fort-während zwischen einer Aristocatie stehen, die ihre Gewalt um so leichter mißbraucht, je weniger ihre Vorrechte klar 243 bestimmt sind, und zwischen einem Volke, das seine Pflicht um so lieber verkennt, je weniger sein Gedorsam durch die moralische Gesinnung geadelt wird, können der Souverainetät ^ren Glanz und ihre Macht nur dadurch erhalten, daß sie ^ selten als möglich gewaltsame Mittel anwenden. Diese Kittel würden den Maßstab der Kraft der Regierung abgeben Und sic halt es für zweckmäßiger, ihre Hülfsmittel lieber zu verbergen als zu enthüllen. Wenn ein Herr irgend etwas Tadelnswerthcs begeht, so wird er mehrmals insgeheim von dem Gouverneur der Provinz gewarnt, bevor man ihn officiell ermähnt-, reichte die Warnung und der Tadel nicht aus, so droht ihm das Adelsgericht mit der Vormundschaft und spater wird die Drohung ausgeführt, wenn sie ohne Folgen blieb- Dieser ganze Luxus von Vorsichtsmaßregeln erscheint mir nicht sehr beruhigend für den Leibeigenen, der Zeit ha:, hundert Mal unter der Knute seines Herrn zu sterben, ehe dieser, klug gewarnt und gebührend ermahnt, Rechenschaft von seinen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten geben muß. Allerdings können von heute bis zu morgen Herr, Gouverneur und Richter gestürzt und nach Sibirien geschickt werden, aber ich sehe darin eher einen Trost für die Phantasie des armen Volkes, als ein wirksames wlrklicheS Schutzmittel gegen die willkürlichen Handlungen der Subaltern-Behörden, die immer geneigt sind, die ihnen übertragene Macht zu Mißbrauchen. Die Leute aus dem Volke wenden sich in ihren Privat-strcitigkeitcn sehr selten an die Gerichte und dieser Instinct scheint mir ein sicherer Fingerzeig der geringen Gerechngkeit ber Richter zu sein. Die Seltenheit der Prozesse kann zwei Ursachen haben: das Billigkeitsgefühl des Volkes, und den ^eist der Ungerechtigkeit der Richter. In Rußland werden fast atte Prozesse durch eine Entscheidung der Verwalmngs- 254 behorde erstickt, die meist den beiden Parteien einen lästigen Vergleich an räth; aber diese ziehen das gegenseitige ^pfer eines Tdeils ihrer Forderungen und selbst ihrer bestbegrün-deten Rechte der Gefahr vor, gegen die Meinung eines Mannes zu kämpfen, den der Kaiser mit der Gewalt bekleidet hat. Sie sehen, warum die Russen Ursache haben, sich zu rühmen, daß in ihrem Vaterlandc so wenige Prozesse vorkamen. Die Furcht bringt überall dasselbe Gut hervor-den Frieden ohne Nuhe. Werden Sie aber den Reisenden nicht bemitleiden, der in einen Staat gerathen ist, in welchem die Thatsachen nicht mehr beweisen als die Worte? Die Prahlerei der Russen macht auf mich gerade den entgegengesehen Eindruck altz sie erwarten; ich erkenne sogleich die Absicht, mich zu tauschen und bin nun auf meiner Hut; die Folge davon ist, das ich aus dem unparteiischen Zuschauer, der ich ohne ibre Großsprechereien gewesen sein würde, unwillkürlich ein feindseliger Beobachter werde. Der Gouverneur wollte mir die ganze Messe zeigen, diesmal fuhren wir aber schnell hindurch. Ich bewunderte dabei eine Aussicht, die als Panorama aufgenommen zu werden verdient, ein herrliches Bild. Um dasselbe genießen zu können, muß man auf die Spitz? eines der chinesischen Pavillons hinaufsteigen, welche diese Stadt von einmonatlicher Dauer überragen. Besonders fiel mir die ungeheuere Menge der Reichthümer auf, die jährlich auf diesem Punkte aufgehäuft werden, einem Herde der Industrie, der um so bemerkenswerther ist, als er gleichsam inmitten von Einöden, die ihn unabsehbar umgeben, verloren liegt. Nach den Aussagen des Gouverneurs betragt der Werth der Waaren, welche dieses Jahr zur Messe n^ch Nischnei gebracht worden sind, über 150 Millionen nacy der Angabe 255 d" Kaufleute selbst, welche nach dem den Orientalen eigen-thümltchln Mißtrauen immer eincn Theil des Werthes dessen ""heimlichen, was sie mit sich bringen. Obgleich alle Länder der Welt den Tribut ihres Vodens oder ihrer Industrie Zur Messe nach Nischnei senden, so wird dieser jährliche Markt doch hauptsachlich durch die Waaren, die Edelsteine, die Stosse, das Rauchwerk aus Asien bedeutend. Die Menge Von Tataren, Persern und Bucharen fallt also der Phantasie der Fremden zumeist auf, welche durch den Ruf dieser Messe herbeigelockt werden; dennoch und trotz ihrem kommerziellen Resultate fand ich, ein bloßer Neugieriger, die Messe ihrem Rufe nicht entsprechend. Man antwortet mir daraus, der Kaiser Alexander habe sie in malerischer und unterhaltender Hinsicht verdorben, und er hat allerdings die Straßen, welche die Buben trennen, geräumiger und regelmäßiger gemacht und diese steife Regelmäßigkeit ist traurig. Uebrigms ist in Rußland Alles still und düster und überall wird die Freude durch das gegenseitige Mißnauen der Regierung und der Unterthanen verscheucht. Selbst die Geister werden hier nach der Schnur gestellt und die Gesinnungen gewogen, als wenn jedes Gefühl, jedes Vergnügen für seine Folgen einem strenger Beichtiger in der Gestalt eines Polizeidieners Rechenschaft schuldig wäre. Jeder Russe ist ein Schüler, der die Ruthe bekommen kann. In dieser großen Schule, welche Nußland heißt, gelu Alles in geiegcltcm Tacte bis zu dem Tage, an welchem die Belästigung und die Langeweile unertraglicli werden und Alles darunter und darüber geht. An einem solchen ^"qe ficht man polinsche Saturnalien. Aber noch einmal, diese vereinzelten Monstrositäten stören die allgemeine Ordnung nicht. Diese Ordnung ist um so beständiger und scheint um so fester begründet zu sein, da sie dem Tode glicht; man tobtet nur das, was Lebm hat. In Rußland 256 verschmilzt die Achtung vor dem Despotismus mit dem Gedanken an die Ewigkeit. Ich finde in dicsem Augenblicke mehrere Franzosen in Nischmi. Trotz meiner leidenschaftlichen Liebe für Frankreich, für dieses Land, das ich aus Verdruß über die Aus-schweifungm seiner Bewohner so oft mit dem Schwüre verlassen habe, nie wieder dahin zurückzukehren, zu dem ich aber immer wieber zurückkomme und wo ich zu sterben hoffe; trotz dieser blinden Vaterlandsliebe, trotz diesem Pflanzen-instmcte, der meinen Verstand beherrscht, habe ich immer, so lange ich reise und so oft ich in der Ferne eine Menge von Landsleuten erkenne, die Lächerlichkeiten der jungen Franzosen hervorgehoben und mich über das Grelle gewundert, das unsere Fehler in dem Auslande erhalten. Ich spreche ausschließlich von der Jugend, weil in diesem Alter der Stempel der Seele in dem Reiben mit den Umständen weniger abgenutzt ist und die Character schärfer hervortreten. Ich muß also gestehen, daß man über die Ehrlichkeit unserer jungen Landsleute lacht, mit welcher sie die unverdorbenen Menschen der andern Nationen zu blenden suchen. Die französische Ueberlegcnhcit, die in ihren Augen so fest steht, daß gar kein Zweifel dagegen aufkommen könne, wird von ihnen für ein Axiom gehalten, auf das man sich stützen dürfe, ohne nöthig zu haben, dasselbe zu beweisen; dieser unerschütterliche Glaube an das persönliche Verdienst; dies« Eigenliebe, die so vollständig selbstzufrieden ist, daß sie naiv erscheinen könnte, wenn so große Leichtgläubigkeit nicht häufig mit einem gewissen Esprit verbunden wäre, — eine schreckliche Verbindung, welche die Selbstgenügsamkeit, die Persiflage und Verhöhnung hervorbringt; diese Vildung, der meist die Phantasie abgeht und die aus dem Verstande einen Haufen von Daten macht, die mehr odcr minder gut geordnet sind, 2^ "ber immer mit einer Trockenheit citirt werden, welche der Wahrheit ihren ganzen Werth nimmt, denn ohne Seele kann man nicht wahr, nur genau sein; diese fortwährende Aufsicht der Eitelkeit, der vorgeschobenen Wache der Conversation, die jeden Gedanken belauscht, der von Andern ausgesprochen wird oder nicht, um Vortheil aus demselben zu ziehen, eine Art Jagd auf Lob ganz zum Vortheile dessen, der sich am schamlosesten zu rühmen wagt, ohne jemals etwas zu saqen oder sagen zu lassen, etwas zu thun oder thun zu lassen, was nicht zu seinem Vortheile umschlüge; diese Mißachtung der Andern, die so weit getrieben wird, daß sie Andere schuldlos demüthigt und nicht bemerkt, daß die Meinung, welche man von sich selbst hat und die man leise oder laut Gerechtigkeit nennt, auf die man Anspruch habe, beleidigend für Andere ist; diese fortwahrende Berufung an die Artigkeit der Nebenmenschen, welche doch nichts weiter ist als eine Nichtachtung der Rücksicht, die man ihm schuldet; der gänzliche Mangel an Gefühl, der nur die Empfindlichkeit stachclt; die bittere Feindseligkeit, welche man zu einer patriotischen Pflicht macht; die Unmöglichkeit, bei jedcr Gelegenheit durch eine Bevorzugung, deren Gegenstand man ist, verletzt, oder durch eine Lehre, die man erhalt, gebessert zu werden; durch Eitelkeit, welche der Thorheit als Schild gegen die Wahrheit dient; alle diese Züge und noch viele andere, die Sie besser hinzufügen können, als ich es vermag, scheinen mir die Franzosen zu characterisiren, die vor zehn Jahren jung waren und die jetzt Männer sind. Diese Eigenschaften schaden unserem Ansehen unter den Fremden; sie fallen in Paris wenig auf, wo die Anzahl der Muster dieser Art von Lächerlichkeit so groß ist, daß wan aus sie nicht achtet; sie verschwinden in der Menge 'hres Gleichen, wie einzelne Instrumente in einem Orchester verschwinden; wenn sie aber einzeln erscheinen und die Individuen in einer Gesellschaft hervortreten, wo andere Leidenschaften und andere Gewohnheiten herrschen als die, welche die französische Welt bewegen, können sie den Reisenden zur Verzweiflung bringen, der sein Vaterland liebt wie ich. Denken Sie sich also meine Freude, als ich hier bei dem Diner bei dem Gouverneur Herrn ** fand, Einen der Manner des Augenblickes, welche am besten geeignet sind, den Fremden eine gute Meinung von dem jungen Frankreich beizubringen. Er gebort allerdings durch seine Familie dem alten an, und verdankt eben der Mischung der neuen Ideen mit den alten Traditionen die Eleganz seines Venchmcns und die geistige Sicherheit, welche ihn auszeichnen. Er hat das, was er gesehen, gut gesehen und spricht gut davon-, dann denkt er von sich selbst nicht besser als die Andern, vielleicht nicht einmal so gut, und er hat mich, als wir von der Tafel aufstanden, durch die Erzählung dessen sehr unterhalten, was er taglich bei seinem Aufenthalte in Nußland lernt. Er wurde in Petersburg durch eine Kokette hinter-gangen und tröstete sich über diese Tauschung dadurch, daß er das Land mit doppelttr Aufmerksamkeit studirt. Er be-sHt einen hellen Geist, beobachtet gut, und erzahlt richtig, was ihn nicht hindert, Andere ebenfalls anzuhören und ihnen selbst — das erinnert an die schönen Tagender französischen Gesellschaft— Lust zum Sprechen zu machen. We>m man mit ihm spricht, giebt man sich einer Illusion din; man glaubt, die Conversation sei noch immer ein Austausch von Gedanken, die elegante Gesellschaft beruhe bei uns noch immer auf gcgenftitigem Vergnügen, kurz man vergißt das Eindringen der brutalen unuerhüllten Selbstsucht in unsere modernen Salons, und man bildet sich ein, das gesellige Leben sei wie sonst ein für Alle vortheilhafter Verkehr, - ___2W "n verjährter Irrthum, der bei dem ersten Nachdenken schwindet und traurige Wirklichkeit zurückläßt, nämlich die Plünderung der Ideen und Bonmots, den literarischen Ver-l"th, kurz die Kriegsgesehe, die seit dem Frieden allein noch in der eleganten Welt anerkannt werden. Dieser trostlosen, Vergleichung kann ich mich nicht entziehen, wenn ich die angenehme Conversation des Herrn " höre und sie mir i/ner, sttner Zeitgenossen vergleiche. Man kann von der Konversation mit noch größerem Rechte als von dem Style der Bücher sagen, sie sei der Mensch selbst. Seine Schriften ordnet und feilt man, nicht aber seine Antworten, und wenn man sie ordnet und feilt, verliert man mehr dabei als man gewinnt-, denn bei der Unterhaltung ist die Affec-t«tion kein Schleier mc1)r, sie wird ein Wahrzeichen. Die Gesellschaft, welche gestern bei dem Gouverneur versammelt, war aus den entgegengesetztesten Elementen gebildet; außer dem jungen **, den ich geschildert habe, befand sich daselbst noch ein anderer Franzose, ein Doctor R., der, wie man sagt, auf einem Staatsschiffe zur Polexpedition abgegangen, in Lappland aber, ich weiß nicht warum, an's Land gestiegen und von Archangel gerade nach Nischne, gekommen war, ohne über Petersburg zu reisen, — eine ermüdende und mchlose Reise, die nur ein Mensch von Eisen ertragen kann; er sieht auch wirklich wie von Erz aus. Er soll ein gelehrter Naturforscher sein. Sein Gesicht hat etwas Bemerkcnswerthes, etwas Unbewegliches und zugleich Geheimnißvolles, was die Phantasie beschäftigt. Er sprach 9"r nicht. Die Russen sind darin geschickler; sie sagm im-mer etwas, freilich immer das Gegentheil von dem, was man von ihnen erwartct, aber doch so viel, baß ihr Schweifn nicht auffällt. Endlich befand sich bei diesem Diner "°ch eine Familie junger englischer Elegants vom höchsten 250 Range, die ich seit meiner Ankunft in Rußland gleichsam verfolge, da ich sic überall Ness?, sic nicht vermeiden kann und doch nie Gelegenheit finde, direct mit ihnen Bekanntschaft zu machen. Alle diese Personen saßen an der Tafel des Gouverneurs, ungerechnet einige Beamte und verschiedene Einheimische, welche den Mund nur zum Essen öffneten. Ich brauche nicht hinzuzusetzen, daß in einem solchen Kreise die Unterhaltung nicht allgemein sein konnte. Man mußte sich begnügen, die bunte Seltsamkeit der Namen, der Physiognomien und der Nationen zu beobachten. In der russischen Gesellschaft gelangen die Frauen erst bei hoher Bildung zur Natürlichkeit; ihre Sprache ist eine angelernte, aus den Büchern geschöpfte, und es gehört eine reife Erfahrung dazu, um die Pedanterie zu überwinden. Die Gemahlin des Gouverneurs ist zu sehr provinziell, zu sehr sie selbst, zu russisch, mit einem Worte zu wahr geblieben, als daß sie einfach erscheinen könnte, wie die Damen am Hofe; übrigens wird ihr das Französischsprechen nickt leicht. Ihr Einfluß in ihrem Salon beschrankte sich gestern darauf, daß sie ihre Gaste mit der lobenswerthesten Artigkeit empfing; aber sie that nichts,, um ihnen den Aufenthalt angenehm zu machen. Ich war deshalb sehr froh, als ich nach aufgehobener Tafel in einer Ecke mit Herrn * * sprechen konnte. Unsere Unterhaltung ging zu Ende, denn alle Gäste des Gouverneurs schickten sich zum Fortgehen an, als der junge ^!ord * *, der meinm ^andsmann kannte, ceremonies zu demselben trat und ihn bat, uns einander vorzustellen. Dieses sein schmeichelhaftes Entgegenkommen geschah mit der englischen Artigkeit, die ohne anmuthig zu sein oder vielleicht gerade weil sie nicht anmuthig ist, eines gewissen Adels nicht entbehrt. ,,Ich wünschte schon lange, Mvlord," enlgegnete ich, „eine Gelegenheit zu finden, Ihre Bekanntschaft ;u machen 231 und ich danke Ihnen, daß Sie mir dieselbe geboten haben. Wir haben, wir es scheint, die Bestimmung, in diesem Jahre einander öfters zu begegnen, und ich hoffe in Zukunft diesen Zufall besser zu benutzen, als es mir bisher möglich war." „Ich bedaure sehr, Sie verlassen zu müssen," entgcg-Nete der Engländer, „aber ich reise eben ab." „Wir werden einander in Moskau wieder sehen." „Nein, ich reise nach Polen; mein Wagen steht bereits an der Thüre und ich werde ihn erst in Wilna wieder verlassen." Ich hatte Lust zu lachen, als ich in dem Gesichte des Herrn * * sah, daß er gleich mir dachte der junge Lord, der drei Monate gewartet, am Hofe, in Peterhof, in Moskau, kurz überall, wo wir einander gesehen hatten, ohne mit einander zu sprechen, hatte drei Personen recht wohl die Langeweile des Vorstellens ersparen können, da dasselbe ihm und uns nichts nützte. Da wir an einer Tafel gespeist hatten, so konnte er sich, auch ohne vorgestellt zu sein, in unser Gespräch mischen, wenn er nur eine Viertelstunde mit plaudern wollte. Wir staunten über die spate, lästige, überflüssige Höflichkeit dieses förmlichen und gewissenhaften Engländers; als er sich entfernte, schien er eben so erfreut zu sein, Bekanntschaft mit mir gemacht zu haben und keinen Nutzen aus diesem Vortheile zu ziehen, wenn es seinVortheil war. Dieses linkische Benehmen erinnert mich an einen ähnlichen Vorfall, der einer Dame begegnete. Es war in London. Eine polnische Dame von Gcist hatte die erste Rolle in der Geschichte gespielt, die sie mir selbst erzählte. Die Anmuth ihrer Unterhaltung und il,rc solide Bildung würden sie in der großen Welt gesucht machen, wenn sie auch nicht berufen wäre, trotz dem Unglücke ihres Vaterlandes m,d ihrer Familie m derseltm obenan zu stehen. Ich sage absichtlich „trotz", denn was auch die Phrasenmacher dcukcn oder sagen mögen, das Unglück bringt keinen Vortheil in der Gesellschaft, auch nicht in der besten. Die Person, von welcher ich hier spreche, gilt für eine der ausgezeichnetsten und liebenswürdigsten Fraum unserer Zeit in London wie in Paris. Sie war zu einem großen ccrcmo-niösen Diner geladen, saß neben dem Hausherrn und einem Unbekannten und langweilte sich-, sie langweilte sich lange, denn obgleich die Sitte der ewigdaucrnden Diners in England zu schwinden anfangt, so sind sie doch dort noch immer langer als irgendwo. Die Dame ertrug ihr Leiden mit Geduld, suchte die Konversation mannichfaltig zu machen und wendete sich, sobald der Hausherr ihr einen freien Augenblick ließ, an ihren Nachbar zur Rechten; aber sie fand da immer ein steinkaltes Gesicht und diese Unbeweglichkeit brachte sie trotz ihrer Lebendigkeit als geistreiche Frau und trotz ihrer Gewandtheit als vornehme Dame aus der Fassung. So verging das Diner, es folgte ein ernstes Schweigen; die Trübsinnigkeit ist für die englischen Gesichter, was die Uniform für die Soldaten ist. Abends, als alle Herren wieder bei den Damen in dem Salon sich befanden, hatte die, welche mir diese Geschichte erzählte, ihren Nachbar, den steinernen Gast an der Tafel, kaum bemerkt, als dieser, bevor er ihr in das Gesicht blickte, den Herrn vom Hause am andern Ende des Zimmers aufsuchte, um ihn feierlich zu ersuchen, ihn der liebenswürdigen Fremden vorzustellen. Nachdem alle erforderlichen Ceremonien in der gehörigen Form durchgemacht wären, nahm der Nachbar endlich das Wort, holte tief Athem und sagte mit einer tiefen Verbeugung: ,,ich habe mich sehr becifert, Ihre Bekanntschaft zu machen." Die Dame hatte Mühe, über dicse Ve eiferung nicht 25!t llNtt aufzulachen, sie fand aber endlich in dem ceremoniösen Mensche sintt, gebildeten, selbst interessanten Mann, so wenig bedeutet der Schein in einem Lande, wo der Stolz ble meisten Menschen blöde und zurückhaltend macht. Dies beweist, das! das ungezwungene Benehmen, die Gewandtheit in der Konversation, mit einem Worte die wahre Eleganz, die darin besteht, Jedermann in einem Salon sich so behaglich fühlen zu lassen wie zu Hause, durchaus nichts Gleichgültiges und Frivoles ist, wie gewisse Leute meinen, welche die Welt nur nach Hörensagen beurtheilen, sondern nützlich und selbst nothwendig in den höhern Standen der Gesellschaft, in welcher jeden Augenblick Leute zusammentreffen, die einander nie vorher gesehen haben. Wenn man immer, um mit neuen Gesichtern Bekanntschaft zu machen, so viel Geduld haben müßte, als die polnische Dame und ich, so würde man es lieber ganz aufgeben und dabei häufig kostbare Gelegenheiten verlieren, sich zu unterhalten oder zu belehren. Diesen Morgen frühzeitig holte mich der Gouverneur, dessen Gefälligkeit ich noch nicht ermüden konnte, ab, um Mir die Merkwürdigkeiten der Altstadt zu zeigen. Er hatte seine Leute bei sich, was es unnöthig machte, die Nachgiebigkeit meines Feldjägers, dessen Ansprüche dieser Gouverneur achtet, nochmals auf die Probe zu setzen. Mein Courricr, welcher sein Handwerk nicht mehr treiben mag, weil er die Vorrechte des Adels ahnt, nach dem er strebt, ist der hochkomische Typus einer Art von Menschen, die ich oben beschrieben habe und die sich nur in Nußland ssnden kann. Ich möchte Ihnen die schlanke Taille und den Anzug schildern, der sorgsam reinlich gehalten wird, nicht um besser darin auszusehen, sondern damit man daran den Mann er- kenne, welcher zu einem achtbaren Range gelangt ist; — die schlaue, unbarmherzige, trockene und niederträchtige Gesichtsbildung, kurz den Typus eines Thoren in einem Lande, wo die Thorheit nicht unschuldig ist wie bei uns, denn in Rußland gelangt die Thorheit sicherlich an ihr Ziel, wenn sie die servile Gesinnung einigermaßen zu Hülfe nimmt; aber dieser Mensch entschlüpft den Worten, wie die Natter den Augen. — Dieser Mensch erregt Furcht in mir, wie ein Ungeheuer; er ist das Erzeugnis; der beiden scheinbar vollkommen entgegengesetzten politischen Kräfte, die aber doch viel Aehnlichkeit unter einander haben und die die abscheulichsten werden, wenn sie sich mit einander verbinden: des Despotismus und der Revolution. — Ich kann ihn nicht ansehen, sein trübblaues Auge mit den blonden fast weißen Wimpern, und seine Gesichtsfarbe nicht betrachten, die zart sein würde, wenn sie nicht durch die Strahlen der Sonne und durch das innere Aufwallen eines immer niedergehaltenen Zorns gebräunt würde; ich kann die bleichen dünnen Lippen nicht sehen, die süßliche, aber barsch abgestoßene Sprache nicht hören, deren Ton gerade das Gegentheil der Worte sagt, otme zu denken, daß man mir in ihm einen schützenden Spion gegeben hat und daß dieser Spion selbst von dem Gouverneur von Nischnei geachtet wird. Bei diesen Gedanken fühle ich mich versucht, Postpfcrde zu nehmen, aus Rußland zu entfliehen und erst jenseits der Grenze wieder anzuhalten. Der mächtige Gouverneur von Nischnei wagt diesen ehrgeizigen Courrier nicht zu zwingen, auf den Bock meines Wagens zu steigen, und als ich mich bei diesem Manne beklagte, der die höchste Gewalt vertritt, forderte er mich auf, Geduld zu haben. — Wo liegt in einem so eingerichteten ^ande die Starke? Sie werden gleich sehen, daß selbst der Tod keine Bürgschaft der Nuhe in diesem ^ande ist, das fortwährend durch die ilaunen des Despotismus unterwühlt wird. Minin, der Befreier Rußlands, dieser helbcnmüthige Bauer, dessen Andenken besonders seit dem Einfalle der Franzosen berühmt geworden, ist in Nischnei beerdigt. Man sieht sein Grab in der Kathedrale unter denen der Großfürstm von Nischnei. Von Nischnei aus erschallte der Freiheitsruf zur Zeit, als die Polen das Land beseht hielten. Minin, ein gewöhnlicher Leibeigener, begab sich zu Po-jarski, einem russischen Edelmann; die Worte des Bauers athmeten Begeisterung und Hoffnung. Pojarski wurde durch die Beredtsamt'eit Minins elettrisirt, und sammelte einige Mannschaft; der Muth dieser großherzigen Manner ging auf andere über, man rückte gegen Moskau, und Rußland war befreit. Seit dem Rückzüge der Polen war die Fahne Pojarskis und Minins bei den Russen stets ein Gegenstand hober Verehrung; Bauern in einem Dorfe zwischen Paroslaw und Nischnei bewahrten sie als Nationalreliquie auf. Bei dem Kriege von 1812 fühlte man das Bedürfniß, die Soldaten zu enthusiasmiren; es mußten die geschichtlichen Erinnerungen, besonders die an Minin, wieder geweckt werden, und man ersuchte die Hüter der Fahne, dieses Palladium den neuen Befreiern des Vaterlandes zu leihen, und sie der Armee vorantragen zu lassen. Die Vewahrer dieses Nationalschatzes willigten in die Trennung von demselben nur aus Vaterlandsliebe und nach dem feierlich befchworenen Versprechen, nach dem Siege die Fahne zurück zu erhalten, wenn sie durch neue Siege neuen Glanz erhalten haben würde. So verfolgte die Fahne Minins unser Heer auf dem Nüchuge desselben; später aber wurde sie nach Moskau zurückgebracht 25« und ihren rechtmäßigen Besitzern nicht zurückgegeben. Man legte sie in dem Schatze des Kremls nieder, trotz den feierlichsten Versprechungen, und um die gerechten Forderungen der beraubten Bauern zu befriedigen, sandte man ihnen eine Copie ihres wunderbaren Banners, eine Copie, die, wie man mit spottender Herablassung hinzusetzte, dem Original völlig gleich sei. Solche Lehren der Moral und Ehrlichkeit giebt die Regierung dem ruffischen Volke. Freilich würde sich dieselbe Regierung anderswo nicht ebenso benehmen; man weiß, mit wem man es zu thun hat; zwischen dem Betrogenen und dem Betrügenden herrscht völlige Gleichbeit, nur die Macht bewirkt einen Unterschied. Das ist noch wenig; Sie werden sehen, daß die historische Wahrheit in diesem Lande eben so wenig geachtet wird, als die Heiligkeit des Eides; die Aecht-heit der Steine ist hier eben so schwer nachzuweisen, als die Autorität der Worte oder Schriften. Unter jeder neuen Regierung werden die Gebäude nach der Laune des Herrschers umgestaltet, und nach der absurden Manie, welcher man den schönen Namen: fortschreitende Bewegung der Civilisation, beilegt, bleibt kein Gebäude an dem Platze, an den es der Gründer gestellt hat; selbst die Graber sind vor dem Sturme der kaiserlichen Laune nicht gesichert. Selbst die Todten stehen in Rußland unter der Willkür des Mannes, welcher die Lebenden beherrscht und selbst die Asche der Gräber aufregt , wie der Sturm einen Staubwirbel. Der Kaiser Ni-colaus, der gegenwärtig in Moskau den Baumeister spielt, um den Kreml umzugestalten, macht damit nicht seinen ersten Versuch dieser Art; Nischnei hat dies bereits erfahren. Als ich diesen Morgen in die Kathedrale eintrat, fühlte ich mich durch den Anblick des Alters dieses Gebäudes ergriffen; da cs das Grab Minins enthalt, so hat man es doch we- 2^ mgstens ftit mehr als zweihundert Iahrm schonen müssen, und deshalb kam es mir erhabener vor. Der Gouverneur ließ mich an das Grab des Helden tre-ten, das sich unter den Denkmälern der alten Fürsten von Nischmi befindet. Als der Kaiser Nicolaus hier war, stieg er patriotisch selbst in das Grabgewölbe hinab, in welchem der Leichnam ruht. „Das ist eine der schönsten und interessantesten Kirchen, die ich in Ihrem Vaterlande gesehen hade," sagte ich zu dem Gouverneur. ,,Ich habe sie gebaut," antwortete mir Herr Vuturlin. „Wie so? Was meinen Sie damit? Sie haben sie ohne Zweifel wieder herstellen lassen?" „Nein; die alte Kirche drohte einzustürzen, und der Kaiser wollte sie lieber völlig neu aufbauen, als ausbessern las-sen; vor zwei Jahren stand sie fun fz ig Schritte weiter hin, und bildete einen Vorsprung, welcher der Regelmäßigkeit des Innern unsers Kremls schadete." „Aber die Ueberreste Minins?" fragte ich. „Man grub sie nebst denen dcr Großfürsten aus, und Alle befinden sich jetzt in dem neu?n Grabe, dessen Stein Sie hier ftben." Ich würde keine Antwort haben geben können, ohne eine völlige Umwälzung in dem Geiste einls Gouverneurs hervorzubringen, der so streng an den Pflichten seines Amtes hält, wie der von Nischnn; ich folgte ihm also schweigend zu dem kleinen Obelisken auf dem Marktplatz und zu den ungeheuren Mauern deö Kremls von Nischnei. Sie haben geseben, wie man hier die Ehrfurcht vor den todten, die Achtung vor den historischen Gebäuden und den Cultus der schönen Künste versteht. Dennoch verlangt der lll. 17 238 Kaiser, der wohl weiß, daß das Alte ehrwürdig ist, eine erst gestcrn erbaute Kirche solle verehrt werden, wie cine alte. Wie geht er dabei zu Werke? Er sagt. sie sei alt und sie wird cs. Diese Macht streift an das Göttliche. Die neue Kirche Minins in Nischnei ist die alte, und wer daran zweifelt, ist ein Aufwiegler, ein unruhiger Kopf. Die einige Kunst, in welcher die Nufsen sich auszeichnen, ist die Kunst, die Archttecmr und die Malerei von Vyzanz nachzuahmen; sie machen Altes besser, als irgend ein modernes Volk, und deshalb haben sie keines. Es ist immer und überall dasselbe System, das Peters des Großen, das durch seine Nachfolger fortgesetzt wird, welche nur seine Schüler sind. Dieser Mann von Eisen glaubte und bewies, daß man den Willen eines Ezarm von Nußland an die Stelle der Gesetze der Natur und der Ne, qeln der Kunst, an die Stelle der Wahrheit, der Geschichte, der Bande des Blutes, der Religion setzen könnte. Die Russen verehren heute noch diesen so unmenschlichen Mann, weil sie mehr Eitelkeit als Urtheilskraft besitzen. ,,Sehen Sie nur," sagen sie, ,,was Rußland in Europa vor der Thronbesteigung dieses großen Fürsten war, und was es seit seiner Negierung geworden ist; das kann ein genialer Fürst bewirken! " Dieser stolze Einfluß auf das Ausland ist politischer Materialismus. Ich sehe unter den civilisirtesten Landern der Welt Staaten, die nur über ihre eigenen Unterthanen Macht haben, welche überdies nur gering an Zahl sind; diese Staaten zahlen in der allgemeinen Politik nicht-, ihre Neuerungen erlangen weder durch den Stolz der Eroberung, noch durch die politische Tyrannei gegen die Fremden Nechte auf allgemeine Anerkennung, sondern durch gute Beispiele, durch weise Gesetze, durch eine aufgeklarte Verwaltung. Mit solchen Vorzügen kann ein kleines Volk nicht ein Eroberer, 25^ nicht ein Unterdrücker, aber die Leuchte der Welt werden, was gewiß lnindertmal vorzugehen ist. Es betrübt mich ungemein, wenn ich bemerken muß, b^ß diese so einfachen, aber so vernünftigen Gedanken selbst bei sehr vielen ausgezeichneten Geistern, nicht blos in Nuß: land, sondern in allen Ländern, namentlich auch in Frankreich, noch keinen Eingang gefunden haben. Bei uns dauert die Zauberkraft des Krieges und der Eroberung noch immer fort, trotz den Lehren, die wir von Gott im Himmel, und vom Gott auf Erden, dem Interesse, erhalten haben. Ich liosse indeß noch immer, da wir trotz den Abirrungen unserer Philosophen, trotz dem Egoismus unserer Sprache und trotz unserer Gewohnheit, uns selbst zu verläumdcn, ein wescnt-lich religiöses Volk sind. Das ist keine paradoxe Behauptung; wir geben uns den Ideen mit vollerm Herzen hin, als irgend ein Volk der Erbe, und sind nicht die Ideen die Götzen der christlichen Völker? Leider geht uns Unterscheibungskraft und Selbststandigkeit in unsern Wahlen ab; wir unterscheiden nicht zwischen dem Götzen vom vorigen Tage, der heule verächtlich geworben ist, und dem, welcher alle unsere Ü^pfer verdient. Ich hoffe noch so lange zu leben, um bei uns den blutigen Götzen des Krieges, die rohe Gewalt, zertrümmern zu sehen. Man ist immer eine machtige Nation, man besitzt immer ein großes Gebiet, wenn man den Muth hat, für die Wahrheit zu leben und zu sterben, wenn man den Irrthum auf's Aeußersie verfolgt, wenn man sein Blut vergießt, um die Lüge und die Ungerechtigkeiten zu vernichten, und wenn man mit Recht den Ruhm so vieler und so hoher Tugenden genießt. Athen war ein Pünktchen auf der Erde, und dieses Pünktchen ist die Sonne der Civilisation geworden; wieviele Nationen, die mächtig waren durch ihre Zahl und den Um- 17' 2N0 ^, fang ihrer Besitzungen, lebten, kriegten, eroberten und starben erschöpft, nutzlos und unbeachtet, während sie in ihrem ganzen Glänze strahlte. Wie stände es mit Deutschland bei dem Systeme der Eroberungspolitik Deutschland steht trotz seiner Zerrissenheit, trotz der materiellen Schwäche der kleinen Staaten, aus denen es besteht, mit seinen Dichtern, seinen Denkern, seinen (belehrten, seinen verschiedenen Souveraine-täten, seinen Republiken und Fürsten, die nicht in Macht wetteifern, sondern in der Bildung des Geistes, in der Erhöhung der Gesinnung, in dem Scharfsinne des Denkens, in gleicher (5ivilisationshöhe mit den am weitesten vorgeschrittenen Ländern der Welt. Nicht dadurch, daß sie begehrlich nach Außen blicken, gewinnen die Völker Ansprüche auf die Dankbarkeit des Menschengeschlechtes, sondern wenn sie ihre Kräfte auf sich selbst wenden und ganz das werden, was sie in der geistigen und materiellen Civilisation werden können. Diese Art Verdienst ist d.r Propaganda des Schweröles so überlegen, wie die Tua/nd dem Ruhme. Der verjährte Ausdruck: Macht ersten Ranges wird, auf die Politik angewandt, noch lange das Unglück der Welt sein. Die Eigenlicbe ist das Gemeinste im Menschen, und der Gott, welcher seine Lehre auf die Demuth gründete, ist der einzige wahrhaftige Gott, selbst von dem Gesichtspunkte einer gesunden Politik aus betrachtet, denn er allem kannte den Pfad des unendlichen Fortschrittes, des ganz geistigen, d- h. ganz innern Fortschrittes; dennoch zweifelt die Welt seit achtzchnhundert Jahren an seinem Worte, das, wie bestritten, wie vielfach erörtert es auch sein mag, wirklich Leben giebt. Was würde es für diese undankbare Welt thun, wenn es allgemein gläubig angenommen wäre! Die Moral des Evangeliums, auf die Poliiik der Nationen angewendet, 261 ist die Aufgabe der Zukunft. Europa mit seinen alten hoch-ciuilisirten Nationen ist das Heiligchum, von dem aus das religiose Licht sich über die Welt verbreiten wird. Die dicken Mauern des Kremls von Nischnei schlangeln slch nach einer weit höhern und weit steilern Höhe hin, als die von Moskau. Die Mauern, die Zinnen, die Gewölbe dieser Feste geben malerische Ansichten, aber trotz der Schönheit der Gegend würde man sich doch tauschen, wenn man erwartete, hier eben so ergrissen zu werden, wie bei dem Anblicke des Kremls von Moskau. Der Kreml von Moskau ist einzig in Nußland und in der Welt. Bei dieser Gelegenheit will ich etwas anführen, was ich in meinen frühern Briefen vergessen habe. Sie erinnern sich des alten Ezarenvalastes im Kreml und wissen, daß er mit seinen zurücktretenden Stockwerken, mit seinen Reliefuerzievungm und seinen asiatischen Malereien wie eine indische Pyramide aussieht. Die Meublcs in diesem Palaste waren schmukig und abgenutzt; man schickte also geschickte Tischler und Tapezierer nach Moskau, welche nach diesen alten Mcubles ganz ähnliche neue gearbeitet haben. So ist das Mobiliar, das dasselbe bleibt, ob es gleich ein ganz andres ist, der Schmuck des restaurirten, neu ge-weißten, neu gemalten, obgleich immer alten Palastes geworden. Ist das nicht ein Wunder? Seit aber die neuen alten Meubles den neugebauten alten Palast schmücken, sind die wirtlichen Ueberreste der alten in Moskau selbst öffentlich versteigert worden. Und in diesem 5!ande, wo die Ehrfurcht vor der Herrscherwürde eine Religion ist, fand sich Niemand, welcher die königlichen Trümmer vor dem Schicksale der gemeinsten Meubles bewahren oder gegen ein solches empörendes Verfahren protestiren mochte. Was man hier Altes erhalten nennt, heißt Ncues mit altcn Namen belegen; be- 2ft2 wahren und pflegen, heißt neue Werke aus Trümmern auf« bauen, eine Bewahrung, die meiner Meinung nach mit Barbarei gleichbedeutend ist. Wir haben ein hübsches Nonnenkloster besucht; die Nonnen sind arm, aber ihr Haus zeichnet sich durch höchst wohlgefällige Reinlichkeit aus. Von diesem Hause aus führte mich der Gouverneur zu seinem Lager; die Sucht für Manöver, Revuen und Bivouaks ist hier allgemein. Die Gou-verneure der Provinzen verbringen ihr Leben wie der Kaiser, — sie spielen Soldaten, lassen Regimenter exerciren, und je zahlreicher die Truppen sind, um so stolzer sind die Gouver-neurs in dem Gefühle, dem Gebieter ahnlich zu sein. Die Regimenter, welche das Lager von Nischnei bilden, bestehen aus Soloatenkindern. Wir kamen des Abends bei ibren Zelten an, welche in einer Ebene, der Fortsetzung des Plateaus, auf welchem Nischnei sieht, aufgeschlagen waren. Sechshundert Mann sangen das Gebet und dieser religiöse militairische Ehor brachte von fern, unter freiem .Himmel eine außerordentliche Wirkung hervor; es war gleichsam eine Duftwolke, die majestätisch unter einem tiefen reinen Himmel emporstieg. Das Gebet, welches aus dem Herzen des Menschen, dieser Tiefe voll Leidenschaften und Schmerzen, kommt, laßt sich mit der Feuer- und Rauchsäule vergleichen, die sich zwischen dem zerrissenen Krater des Vulkans und dem Gewölbe des Firmamentes erhebt. Und wer weiß, ob dies die Säule der Israeliten nicht bedeutet, die so lange in der Wüste umherirrten? Die Stimmen der armen slawischen Soldaten, welche durch die Ferne gedampft wurden, schienen von oben herabzukommen; als die ersten Töne uns erreichten, verdeckte eine kleine Anhöhe die Zelte. Die schwachen Echos der Erde antworteten diesen himmlischen Stimmen und die Musik wurde durch fernes Kleingewehrfeuer, 2«3 ein kriegerisches Orchester, unterbrochen, das mir nicht geräuschvoller vorkam, als die großen Pauken in der Oper und mehr an seinem Platze zu sein schien. Als die Zelte, aus omen so viele harmonische Töne hervordrangen, vor unsern Blicken erschienen, fügte noch der Sonnenuntergang, der die Zelte mit seinem glänzenden Widerscheine übergoß, den Zauber der Farben zu dem der Töne. Der Gouverneur, der bemerkte, mit welchem Vergnügen ich diese Musik unter freiem Himmel anhörte, störte mich in dem Genusse nicht und erfreute sich selbst lange daran, denn nichts macht diesem wahrhaft gastlichen Manne grösiere Freude, als die Unterhaltung, die er seinen Gasten gewahrt. Man kann ihm den Dank auf keine bessere Weise zu erkennen geben, als wenn man ihm sehen laßt, daß man befriedigt ist. Ntr hatten unsere Wanderung mit der Dämmerung beendigt und waren in die Unterstadt zurückgekommen, wo wir vor einer Kirche anhielten, die meine Aufmerksamkeit erregt hat, so lange ich in Nischnei bin. Sie ist ein wahres Muster von russischer Bauart, weder in antik-griechischem, noch in oströmischem Style, sondern in dem des Kremls oder der Kirche Wassili Vlaschenno'l, nur mit weniger Man-nichfaltigkeit in den Farben und Formen. Die schönste Straße in Nischnei, die untere Straße, wird durch dieses Gebäude halb von Gips und halb von gebrannten Steinen geschmückt. Dieser Gips ist nach so seltsamen Mustern geformt und bildet so viele Saulchen, Rosetten u. dgl,, daß man bei dem Anblicke einer solchen Kirche unwillkürlich an einen Tafelaufsatz von altem Meißner Porzellan denken muß. Dieses kleine Meisterwerk in dem bizarren Genre ist übrigens nicht alt; man verdankt es der Freigebigkeit der Familie Stroganow, die von den ersten Kaufleuten abstammt, zu deren Vortheile 2 Indem wir die Bestimmungen des Manifestes des hoch-seligen Kaisers Alerander l. glorreichen Andenkens vom 20. Imn 1800 wieder in Kraft seyen, soll das Silbcrgeld .Nußlands von nun an als das Haupt-(^ourantgcld des Reiches und der Silber: rubel, so wie er jcht eristirt, mit seinen jetzigen Abtheilungen, als dic gesetzliche und unveränderliche Einheit des im deiche coui-firenden Geldes angesehen werden. Demnach müssrn >,Ile Steuern und Abgaben an den Staat, so wie die Ausgaben und ^hlungln drs Schahcs in Zukunft in Silber berechnet werden. „2. Da so dcr Silbcrrubcl die Haupt-Courant-Münze geworden ist, so werden die Bankaffignatiorien, ihrer ursprüngliche» Bestimmung gemäß, ein stellvcrlrettndls Wtrthzeiclien bleiben. Von diesem Tage an ist ihnen an fur alle.na! ein bestimmter >md 2,lN unveränderlicher Cours gegeben, brr auf 3 Rudel und 50 Kope-tcn in ?lssignationen für cinm Silbcrrubel, sowohl in Siücten v^'n cincm Rubel und darüber, als in kleiner Münze festgesetzt wird. „3. Es ist cincm Jeden freigestellt, nach diesem bestimmten und unvcrändcrlicden Cours, in Sübcrgcld oder in Ajsignationcn zu bezahlen n) alle Steuern und Abgaben an den Staat, die Localadgaben und im Allgemeinen alle Abgaben, welche von der Krone auferlegt und von ihr erhoben werden; >i) alle nach speziellen Taren geregelten Abgaben, z. B. das Porto für Briefe und Packet?, die Tan der Postpfcrbe, die Salzaccise, den Branntweinpacht, das Stempclpapicr, die Pässe ?c.; <) alle Zahlungen an die Crcditanstalt.n, an die Directionen milder Anstalten und an die von dcr Regierung sanctionirtcn Privatbanken. „4. Eben so werden alle Staatsausgabcn und im Allacmci-ncn alle Zahlungen dcr Crcbitanstaitcn, 8-w für die Erhcbung der erwähnten Steuern und Abgaben, sowie für die Zahlung aller geregelten Ausgaben des Staatts und andrer ähnlicher Zahlungen beibehalten werden. Der für die Erhebung der Zollabgaben bestimmte Caurs soll ebenfalls unverändert bleiben bis zum Jahre 1840, wcil «ine Abänderung mitten im Jahre Störungen im Handel veranlassen würde. „) diese Münze wird von der Krone in jeder Quantität bei Steuern und andern Abgaben an-gcnommen, wenn nicht die Quantität der Zahlungen in Kupfer contractlich festgestellt ist; bei den Kreditanstalten darf dicse Mcngc nie zehn Kopeken in Silber übersteigen, und w^s die Zahlungen unttr Privatpersonen betrifft, so hängen sie von den unter ihnen darüber verabredeten Bestimmungen ab. „Geacbcn in St. Petersburg am ersten Tage des Monats Juli im Jahre der Gnade 1839, in unsercr Regierung im 14. „Nicola us." Fünfunddrcißigstcr Brief. Wladrmir, zwifcben Nischnei und Moslau^ den H. September l84.'j. ^'in Äerr Iament erwählte mir in Nischnei, ein Deutscher, der neue Herr eines Dorfes, ein sehr erfahrner Oekcmom, sei auf seinen Besitzungen ermordet worden, welche an die eines Herrn Merline grenzen, auch eines Fremden, durch den die Sache -,u unserer Kenntniß gekommen ist. Es erschienen bei jenem deutschen Herrn zwei Männer unter dem Vorwande, Pftrdc von ihm ^u kaufen. Abends drangen sie m sein Zimmer ein und erschlugen ihn. Dies geschah, wie man versichert, in Folge einer Verschwörung der Bauern des Unglücklichen, die sich wegen der Neuerungen rächen wollten, die er in der Bearbeitung des Bodens einzuführen versucht hatte. Das Volk hat hier zu Lande eine Abneigung gegen Alles, was nicht russisch ist. Ich höre oft bebaupten, man würde eines Tages alle Männer ohne Bart von einem Ende des Reiches- bis zu dem andern ermorden sehen. An dem Barte erkennen die Nüssen "nander. In den AlMN der Bauern ist ein Nüsse mit rasirtem Kinne ein von h^ Fremden erkaufter Verräther, der das ^cb'cksal derselben ;u theilen verdiene. Welche Straft wol-lm die Ueberlebenden dann den Urhebern jener moskowitischen Vesper zuerkennen? Man kann doch unmöglich ganz Rußland nach Sibirien schicken. Dörfer dcponirt man wohl, Provinzen aber verbannt man nicht. Uebrigcns fühlen die Bauern diese Strafe nicht, welche man gegen sie anwendet. Ein Russe findet überall da sein Vaterland wieder, wo es langdaucrnde Winter gibt', der Schnee hat immer ein und dasselbe Aussehen; das Leichentuch der Natur ist immer weiß, es mag sechs Zoll oder sechs Fuß dick sein; wenn man also den Russen seinen Schlitten und seine Hütte wieder bauen läßt, ist er überall zu Hause, wohin man ihn auch verbannt haben mag. In den nordischen Einöden kann man sich mit geringen Kosten ein Vaterland schassen. Für einen Menschen, der nie etwas Anderes gesehen hat, als eisige Ebenen mit einigen mehr oder weniger verkrüppelten Bäumen, ist jedes kalte öde Land die Heimath. Uebrigcns sind die Bewohner dieser Breiten stets geneigt, ihren Geburtsort zu verlassen. Die Auftritte von Unordnung vervielfältigen sich auf dem Lande; jeden Tag hört man von einer neuen Schandthat erzählen, aber wenn man das Verbrechen erfährt, ist es bereits alt, was den Eindruck schwächt, und trotz so vielen einzelnen Verbrechen wird die Ruhe des Landes nicht fühlbar erschüttert. Ich habe übrigens bereits gesagt, daß bei diesem Volke die Ruhe durch die Langsamkeit und Schwierigkeit der Communication, so wie durch das geheime und eingestandene Wirken der Regierung erhalten wird, welche das Uebel aus Liebe zur bestehenden Ordnung fortpflanzt. 3u diesen Ursachen der Sicherheit kommt noch der blinde Gehorsam der Truppen, welcher hauptsächlich eine Folge der ganzlichen Unwissenheit der Leuce vom Lande ist. Aber dieses Heilmittel ist merkwürdiger Weise zugleich die erste Ursache des Uebels, und man sieht also nicht, wie die Nation aus dem verderblichen Kreise herauskommen wird, in den sie durch die Um- 2?« stünde hineingebracht worden ist. Vis jetzt erhalt sie das Vöse und das Gute, das Verderben und das Heil aus einer un) derselben Quelle, aus der Isolirung und der Unwissenheit, welche einander gegenseitig begünstigen, neu erzeugen und dauernd erhalten. Sie können sich keine Vorstellung machen, wie ein Herr, der Besitz von einem Gute nimmt, das er erkauft hat, von seinen neuen Bauern empfangen wird; dieser Knechtssinn muß den Bewohnern unserer Länder unglaublich vorkommen: Männer, Frauen, Kinder, Alle fallen vor ihrem neuen Herrn auf die Kniee, Alle küssen, ihm die Hände, bisweilen die Füße. Die, welche in dem Alter sind, daß sie sündigen können, beichten diesem Herrn freiwillig ihre Vergehen, denn er ist für sie das Ebenbild, der Gesandte Gotn-s auf Erden, zu gleicher Zeit der Stellvertreter Gottes und des Kaisers. Ein solcher Fanatismus in der Leibeigenschaft muß endlich selbst den, welcher ihr Gegenstand ist, in eine Illusion versetzen, besonders wenn er erst seit nicht langer Zeit zu dem Range gekommen ist, den er einnimmt. Dieser Glückswechsel blendet ihn dermaßen, daß er sich einredet, er sei nicht von derselben Art, wie die Menschen, die sich vor ihm niederwerfen, über die «r plötzlich ein Recht zu befehlen erlangt hat. Es ist keine paradoxe Behauptung, wenn ich sage, nur die Geburtsaristo-craiie könnte die Lage der Leibeigenen in Rußland mildern und dieselben allmalig zur Freiheit überführen. Ihre jetzige Knechtschaft wirb ihnen unerträglich den neuen Reichen gegenüber. Die alten werden unter ihnen geboren; es ist dies hart, aber sie werden doch bei ihnen, mit ihnen geboren; d"s ist ein Trost und dann ist die Gewohnheit des Herr-schens dem einen natürlich, wie dem andern die Untertänigkeit, und die Gewohnheit erleichtert Alles; sie mildert die ^372 Ungerechtigkeit bei den Starken und erleichtert den Schwächn daö Joch. Aus diesem Grunde bringt die Beweglichst des Vermögens und der Wechsel dcs Standes in ein.'m Lande von Sclaven monströse Folgen hervor. Gleichwohl e>!iält diese Beweglichkeit die Dauer der jetzigen Ordnung de« Dinge in Rußland, weil sie ihm eine Menge Menschen gewinnt, welche Vortheil, daraus zu ziehen wissen, — wieder sin Beispiel, daß das Heilmittel aus dem Uebel selbst ge-> nommen wird. Schrecklicher Kreis, in welchem sich die Vewolmer dieses unermeßlichen Landes fortwährend bewegen! (5m solcher socialer Zustand ist ein unentwirrbares Netz, in dem jede Masche ein Knoten wird, der sich bei der Bemü-lnmg, ihn zu lösen, fester zusammenzieht. Warum betet man den Herrn, diesen neuen Gott an? Weil er so viel Geld hatte, weil er so geschickt zu intriguiren verstand, um die Scholle kaufen zu können, mit welcher alle diese Menschen, die vor seinen Füßen liegen, verbunden sind. Der Emporkömmling erscheint mir als ein Ungethüm in einem Lande, wo das Leben des Armen von dem Reichen abhangt und wo der Mensch der Reichthum des Menschen ist. Die industrielle Bewegung und die Unveranderlichkeit der Leibeigenschaft, vereint in derselben Gesellschaft, bringen empörende Resultate hervor; aber der Despot liebt den Emporkömmling, cr ist sein Geschöpf l — Können Sie sich die Lage eines neuen Herrn hier vorstellen i Gestern war sein Sclave seines Gleichen; sein« mehr oder minder ehrliche Industrie, seine mehr oder minder niedrigen, mehr oder minder geschickten Schmeicheleien haben es ihm möglich gemacht, eine gewiss« Anzahl seiner Genoffen zu kaufen, die nun seine Leibeigenen sind. Das Lastthier von seines Gleichen zu werden, ist ein unerträgliches Uebel-, aber dies Resultat kann bei cinem Volke die gol^se Verbindung willkürlicher Gebrauche mit liberalen 273 ober, um es richtiger auszudrücken, unbeständigen Institutionen hervorbringen; übrigens läßt sich der Reichgcwordene bie Füße nicht von Nebenbuhlern küssen, die er besiegte. Die empörendste Willkür ist die Grundlage der russischen Staatseinrichtung geworden. Bemerken Sie zu gleicher Zeit eine seltsame Verwirrung M dem Geiste des russischen Volkes, welche die Folge der Regierungsweise ist, der es zu gehorchen hat. Der Mensch sieht sich unter dieser Negierung fest an den Grund und Boden gebunden, weil man ihn mit demselben verkauft. Statt nun anzuerkennen, daß er unveränderlich, der Boden dagegen beweglich ist, mit einem Worte statt zu wissen und zu gestehen, daß er diesem Boden angehört, indem vermittelst desselben andere Menschen despotisch über ihn verfügen, bildet er sich ein, der Boden gehöre ihm an. Der Irrthum re-duzirt sich allerdings auf eine wirkliche optische Täuschung, denn wenn er auch Besitzer des Bodens zu sein glaubt, so begreift er doch nicht, daß man diesen verkaufen könne, ohne den darauf wohnenden Menschen mit zu verkaufen. Wenn er einen neuen Hcrrn erhalt, so sagt er nicht, der Grund und Boden sei an dm neuen Besitzer verkauft worden; er bildet sich ein, seine Person sei zuerst verkauft worden und dann habe Man den Grund und Boden mit in den Kauf gegeben, den Boden, auf welchem er geboren wurde und den er bebaut, um seine Nahrung zu erhalten. Nun gebe man die Freiheit solchm MensHen, die, was ihre Kenntniß der socialen Gesetze betrifft, nicht viel höher stehen als Baume und Wanzen! Herr Guibal (wenn ich Namen nenne, habe ich Erlaubniß b"zu), der Sohn eines Schulmeisters, wurde ohne Ursache, wenigstens ohne Angabe crmr Ursache und ohne daß er errathen konnce, wessen man ihn beschuldigte, in ein Dorf Sl-dmens in der Näh« von Orenburg verbannt. Ein Lied, das 274 er verfaßte, um seine Langeweile zu vertreiben, fällt einem Ausseher in die Hände und wird dem Gouverneur vorgelegt, dessm Aufmerksamkeit dasselbe erregt. Er schickt seinen Ad-iutanten zu dem Verbannten, um sich nach der Lage, der Angelegenheit, das Verhalten des Mannes zu erkundigen und sich zu überzeugen, ob cr zu irgend etwas verwendet werden könne. Der Unglückliche flößt dem Adjutanten Interesse ein, der nach seiner Rückkehr in die Stadt einen sehr günstigen Bericht über Guibal erstattet. Derselbe wird sofort zurückberufen, aber nie hat er die wahre Ursache seines Unglücks erfahren können. Vielleicht war es ein anderes Lied. Von solchen Umstanden kann in Rußland das Schicksal eines Menschen abhängen'. Hier eine Geschichte anderer Art: Auf den Besitzungen des Fürsten " jenseits Nischnei laßt sich eine Bauerfrau für eine Here ausgeben und ihr Ruf breitet sich bald weithin aus. Man erzählt Wunder von dieser Frau, aber ihr Mann klagt; die Wirthschaft wird vernachlässigt und die Arbeiten werden ungethan. Der Inten' dant bestätigt in seinem Berichte die Klage gegen die 5)cre. Der Fürst bereiset seine Besitzungen und zuerst beschäftigt ihn bei seiner Ankunft dort die berühmte Besessene. Der Pope sagt ihm, der Zustand der Frau verschlimmere sich alle Tage, sie spreche nicht mehr und er sci entschlossen, den Erorcismus anzuwenden. Die Ceremonie erfolgt in Gegenwart des Herrn, bleibt aber ohne Erfolg', um der Sache g^n; auf den Grund zu kommen, greift der 5)err zu dem vorzugsweise russischen Mittel, er verurtheilt die Zauberin zu Schlägen. Dieses Mittel blieb nicht ohne Wirkung. Bei dem fünfund;wanzigsten Hiebe bat sie um Gnade und schwur die Wahrheit zu sagen. Sie ist mit einem Manne vcrheirachct, den sie mch 273 Uebl, und um nicht zum Vortheile ihres Mannes zu arbeiten, stellte sie sich besessen. Diese Comödie Unterstufe ihre Faulheit und sie machte überdies eine Menge von Kranken gesund, die voll Hoffnung und Vertrauen zu ihr kamen und geheilt sie verließen. Die Zauberer sind unter den russischen Bauern nicht selten, denen sie zugleich als Aerzte dienen. Diese Betrüger machen zahlreiche und sehr schöne Curert, wie selbst Heil-künsiler zustehen. Welcher Triumph für Moliöre und «elcher Abgrund von Zweifeln für Alle! Die Phantasie! Wer weiß, ob nicht die Phantasie ein Hebel in der Hand Gottes ist, um ein beschränktes Geschöpf über sich selbst zu erheben? Ich für meinen Theil treibe den Zweifel so weit, daß ich wieder zum Glauben komme, denn ich glaube, memem Verstand zum Trotze, daß der Zauberer selbst Unglückliche durch ein« Kraft heilen kann, deren Existenz ich nicht leugnen mag, wenn ich sie auch nicht zu erklären weiß. Mit dem Warte Phantasie setzen sich unsere Gelehrten über die Erscheinungen hinweg, welche sie weder leugnen noch begreifen können. Die Phantasie wird für manchen Metaphysikcr das, was die Nerven für gewisse Aerzte sind. Der Geist wird fortwährend zum Nachdenken genöthigt von einem so außcrordentlichm Anblicke, wie der der Gesellschaft und des Staates hier ist. Bei jedem Schritte, den man in diesem Lande thut, bewundert man, was die Staaten dadurch gewinnen, daß sie den Gehorsam absolut machen; aber man bedauert auch eben so oft, daß man nicht s"ht, was die Gewalt gewinnen würde, wenn sie diesen Gehorsam moralisch zu machen und zu adeln suchte. Ich erinnere mich dabei eines Ausspruches, der Ihnen beweise« wird, ob ich Recht habe, wenn ich glaube, daß 18* 27tt es Männer, selbst viele Männer giebt, welche sich durch die Verehrung des Herrn durch die Leibeigenen täuschen lassen. Die Schmeichelei hat so große Gewalt auf das menschliche Herz, daß mit der Zeit selbst die ungeschicktesten Schmeich-Icr, die Furcht und der Eigennutz, «Mittel finden, ihren Zweck zu erreichen und sich Gehör zu verschaffen wie die geschicktesten. Aus diesem Grunde glauben viele Russen, sie hätten eine ganz andere Natur als die gewöhnlichen Menschen. Ein unermeßlich reicher Nüsse, der aber über die Nichtigkeit des Reichthums und der Macht schon aufgeklart sein sollte, denn das Vermögen seiner Familie schreibt sich von zwei Generationen her, kam aus Italien nach Deutschland. In einer kleinen Stadt wird er ernstlich krank und laßt den besten Arzt des ^rccs zu sich rufen. Anfangs unterwirft er sich dem, was man ihm verordnet, als aber nach einigen Tagen das Uebel sich verschlimmert, wird der Patient seines Gehorsams überdrüssig, sieht grimmig auf, zerreißt dm Schleier der Eivisaiion, in den er sich in dem gewöhnlichen Leben hüllen zu müssen geglaubt hatte, wird wieder ganz er selbst, ruft den Wirth und spricht, indem er mit großen Schritten in dem Zimmer auf- und abgeht: „Ich begreife m'cht, wie mau mich behandelt; drei Tage schlucke ich nun schon Medicin, ohne daß es mir etwas nützt. Welchen Arzt haben Sie mir da rufen lassen? Weiß er denn nicht, wer ich bin i" Da ich meinen Brief mit Anerboten begonnen habe, so mag da noch eine, wenn auch minder pikante stehen, die Ihnen dazu dienen kann, eine richtige Vorstellung von dem Character und der Lebensweise der Personen aus der großen Welt in Rußland zu erhalten. Man liebt hier nur die Glück> lichen und diese ausschließliche Liede bringt bisweilen komische Auftritte hervor. ^77 Ein junger Franzose hatte in einer Gesellschaft auf dem Lande allgemein gefallen. Icdcr feierte ihn; es fehlte weder "n Diners, noch an Promenaden, noch an Iagdpartien; auch war der Fremde ganz entzückt. Er rühmte gegen Jedermann die russische Gastlichkeit und das elegante Benehmen dieser so verlaumdeten nordischen Barbaren. Einige Zeit darauf wird der junge Enthusiast in der benachbarten Stadt krank und so lang? die Krankheit dauert, geben selbst seine vertrautesten Freunde kein Lebenszeichen von sich. Eo vergehen mehrere Wochen, zwei Monate; kaum läßt man sich von Zeit zu Zeit nach seinem Befinden erkundigen. Endlich sü'gt die Jugend und der Reisende wird trotz dem Ortsarzte gesund. Sobald er wieder hergestellt ist, stürmt man wieder zu ihm, um seine Genesung zu feiern, als ob man wahrend der ganzen Dauer seiner Krankheit nur an ihn gedacht hätte. Seine ehemaligen Wirth? äußern so große Freude, als hätten sie ihn vom Tode errettet. Man überhäuft ihn mit Ve-theurungen der Theilnahme, bestürmt ihn mit neuen Planen zu Lustbarkeiten und liebkoset ihn nach Katzenart-, man besucht ihn. spielt Karte neben seinem Stuhle, erbietet sich, ihm ein Sopha, Eingemachtes, Wein :c. zu schicken» kurz da er nichts mehr braucht, steht ihm Alles zu Diensten. Der Franzose hatte aber die Lehre benutzt, setzte sich eilig in den Wagen und sagte, er müsse schnell ein Land verlassen, das nur für die Glücklichen, Unterhaltenden, Nützlichen gastfrei sei. Eine ausgewanderte alte und geistreiche französische Dame hatte sich in einer Provinzialstadt niedergelassen. Eincö Tages wollte sie einen Besuch machen. In mehreren russischen Häusern giebt es Treppen mit gefährlichen Fallthüren. Die s^nzösischc Dame, welche eine dieser trügerischen Klappen mchc bemerkt hatte, siel etwa 15 Fuß hoch auf hölzerne 278 Stufen. Was that die Frau vom Hause? Sie werdm es schwerlich errathen. Ohne sich zu überzeugen, ob die Unglückliche lebt oder todt ist, ohne zu ihr zu eilen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, ohne um Hilft zu rufen, ohne wenigstens nach dem Chirurgen zu schicken, klagt sie den Zufall an und schließt sich fromm in den Betsaal ein, um die heilige Jungfrau zu bitten, der armen Todten und Verwundeten zu Hilfe zu kommen. Die Dame, die nur verletzt, nicht todt war, die kein Glied zerbrochen, hatte Zeit aufzustehen, in das Vorzimmer hinauf zu gehen und sich nach Hause bringen zu lassen, ehe ihre fromme Freundin von dem Betstühle aufgestanden war. Man konnte diese sogar nicht anders bewegen aufzustehen, als indem man ihr durch die Thüre zurief, der Unfall habe keine ernste Folge gehabt und die Verletzte sei nach Hause zurückgekehrt, um sich da, aber blos aus Vorsorge, niederzulegen. Nun erwachte alsbald die thätige Menschenfreundlichkeit in dem betrübten Herzen der guten frommen Russin, die, dankbar für ihr wirksames Gebet, zu ihrer Freundin eilte, sich nicht abweisen ließ, an dem Bette der Kranken erschien und sie mit Betheuerungen der Theilnahme überhäufte, welche der Verunglückten wenigstens auf eine Stunde die Ruhe entzogen, deren sie bedürfte. Dieser Vorfall ist mir von der Person selbst erzahlt worden, welche der Unfall betrossen hatte. Wenn sie einen Fuß zerbrochen hätte, oder ohnmachtig geworden wäre, würde sie ohne Hilfe an der Stelle haben sterben können, wo sie von, ihrer frommen Freundin verlassen wurde. Hiernach darf man sich auch nicht wundern, wenn Leute in die Newa fallen und da ertrinken, ohne daß Jemand daran denkt, ihnen beizustehen, ja ohne daß man wagt, von ihrem Tode zu reden. 279 Diese Seltsamkeiten des Gefühls finden sich in Rußland häusig und in allen Artcn bci Leuten aus der großen Welt, weil dieselben vollkommen und für Alles blasirt sind. Eine vornehme Dame in Peterburg ist mehrere Male verheirathet gewesen; sie verbringt den Sommer in einem herrlichen Landhause einige Stunden von der Stadt und in ihrem Garten befinden sich die Gräber aller ihrer Männer, die sie leidenschaftlich zu lieben anfängt, sobald sie todt sind; sie baut ihnen Mausoleen und Kapellen, weint auf ihrer Asche und bedeckt die Grabmäler mit sentimentalen Inschriften, mit einem Worte sie hat einen für die Lebenden beleidigenden Cultus der Todten eingeführt. So wirb der Park der Dame ein wahrer Gottesacker und ein trauriger Ort für Jeden, der nicht, wie die edle Dame, die Verstorbenen und die Gräber liebt. Man darf sich über nichts wundern, was Gefühllosigkeit oder Gefühlsschwarmerei bei einem Volke verrath, das die Eleganz so gewissenhaft in's Einzelne gehend studirt, wie man sich etwa in dc« Kriegs- oder Regierungskunst unterrichtet. Hier ein Beispiel von diesem ernsten Interesse, das die Russen an den kindischesten Dingen nehmen, sobald sie von denselben persönlich berührt werden. Ein Nachkomme der alten Bojaren, der reich und bejahrt war, wohnte auf dem Lande in der Gegend von Moskau. In seinem Hause lag ein Detaschement Husaren mit den dazu gehörigen Offizieren. Es war um Ostern. Die Russen begehen dieses Fest mit ganz besonderer Feierlichkeit. Alle Personen einer Familie, so wie ihre Freunde und Nachbarn kommen zusammen, um die Messe zu hören, welche an diesem Tage um Mitternacht gelesen wird. Da der erwähnte Schloßherr der angesehenste Mann in der Gegend war, so erwartete er eine große Anzahl Gäste 280 für die Osternacht, um so mehr, da er dii'fts Jahr seine Kirche mit vielem Lurus hatte restaunren Idssm. Zwei odcr drei Tage vor dem Feste wurde er durch eine Anzahl Pfeide und Wagen geweckt, die auf einem Damm in der Nahe seiner Wohnung vorbeizogen. Das Schloß lag, wie man es sehr häufig findet, qanz am Nande eines kleinen Teiches; die Dorfkirchc stand an der eMü/gengeschten Seite, am Ende dcs Dammes, welcher die Straße von dcm Schlosse nach dcm Dorfe bildete. Verwundert über das ungewohnte Geräusch mitten in der Nacht, stand der Schloßherr auf, trat an sein Fenster, und bemerkte mit Erstaunen im Lichte einer Anzahl Fackeln einen schönen Wagen mit vier Pferden und zwei Vorreitcrn. Er erblickte den ganz neuen Wagen sowie den Mann, welchem derselbe gehörte, cinen der Husarenoffizicre, die in seinem Hause einquartiert waren, und der kürzlich durch eine Erbschaft reich geworden war. Er hatte eben Pferde und cinen Wagen gekauft und ließ sie in das Schloß bringen. Der alte Herr, der ihn ganz allein, in d?r N^cht, auf dem Lande in dem offenen Wagen sich brüsten sah, hielt ibn für verrückt, sah der eleganten Equipage und den Leuten nach, welche dieselbe umgaben, und bemerkte, daß sie sick in guter Ordnung nach der Kirche begaben, und an der Thüre derselben anhielten. Hier stieg der Bescher gravitätisch aus dem Wagen mit Hilfe seiner Diener, die an den Schlag eilten, um dem jungm Ossizier den Arm zu bieten, obgleich derselbe gewandter war als seine Leute, eben so jung und also die Beihilfe wohl entbehren konnte. Kaum hatte er dcn Boden berührt, als er langsam und majestätisch wieder in den Wagen stieg, nochmals auf dem Damme herum fuhr, wieder an drr Kirche erschien und dieselbe (^mnomc wie vorher wiederholte. Dieses Spiel wurde 281 fortgesetzt bis b«r Morgen tagte. Nach der letzten Probe gab der Offizier Befehl, ohne Gerausch und im Schritte in das Schloß zurück zu fahren. Einige- Augenblicke spater hatten sich Alle niedergelegt. Den andern- Tag hatte der Hausherr nichts Eiligeres zu thun, als seinen Gast, den Husarencapitain, zu fragen, was die nächtliche Promenade und Evolution der Leute um den Wagen und seine Person her bedeuten sollten. „Durchaus Nichts," antwortete der Offizier, ohne im mindesten- Verlegenheit zu verrathen; ,,meine D«ner sind Neulinge; Sie werden am Ostertage viele Gaste haben, und ich wollte meinen Eintritt in die Kirche einüben." — Ich habe Ihnen nur noch meine Abreise aus Nischnei zu erzählen. Sie werden sehen, daß sie minder glänzend war, als die nachtliche Spazierfahrt des Husarencapitains. An dem Abende, an welchem ich mit dem Gouverneur in dem leeren Theater gewesen war, begegnete ich bei ocm Austritt aus demselben einem Bekannten, der mich in das Kaffeehaus der Zigeunerinnen in dem belebtesten Theile des Meßplatzes führte. Es war fast Mitternacht, dieses Haus aber noch voll Menschen, Licht und Lärm. Die Mädchen kamen mir reizend vor; ihre Tracht, obgleich scheinbar dieselbe wie die der andern Russinnen, erhält bei ihnen einen eigenthümlichen Character, es liegt in ihrem Blicke, in ihren Zügen etwas Zauberisches, und ihre Stellungen sind graziös, obgleich oft imponirend. Mit einem Worte, sie haben etwas von den Sib,Mn Michel Anqelo's. Ihr Gcs.uig ist ungefähr eben so wie jener der Zigeuner m Moskau, aber er kam mir noch ausdrucksvoller, starker und mannigfaltiger vor. Man versichert auch, baß sie steh sind; s,> sind leidenschaftlich, aber weder leichtfertig noch frech, und w?isi>n oft, wie man saqt, schr vortwilhafce Anträge zurück 282 Ich wundere mich immer mehr über den Rest der Tugend bei beuten, die keine besitzen. Es ist mit den ilires Standes wegen sehr verschiedenen Personen oft wie mit dm Nationen, die durch ihre Regierungen verdorben werden, aber doch treffliche verkannte Eigenschaften besten, während man im Gegentheil unangenehm überrascht wird, wenn man die Schwäche berühmter Leute und den kindischen Character der sogenannten gut regierten Völker entdeckt. Die Zustande der menschlichen Tugenden sind fast immer für den Gedanken der Menschen undurchdringlich« Geheimnisse. Die Idee der Rehabilitation, die ich hier nur andeute, lst durch einen der berühmtesten Manner unserer Zeit und aller Zeiten in itir volles Licht gestellt, und mit dcm Glänze eines gewaltigen Talentes vertheidigt worden. Victor Hugo scheint mit seinen Bühnenstücken der Nelt das einhüllen zu wollen, was Menschliches, d. h. Göttliches in der Seele der Geschöpfe Gottes zurückgeblieben ist, die von der Gesellschaft am meisten geschmäht und verachtet werden. Dieser Zweck ist mehr als moralisch, er ist religiös. Wer den Kreis des Mitleidens erweitert, thut ein frommes Werk; der Mensch ist oft aus Leichtsinn, aus Gewohnheit, aus Princip grausam, noch öfterer aus Irrthum > wer diese Wunden der verkannten Herzen, wenn es möglich ist, heilt, ohne andere ebenfalls des Mitleids würdige Herzen noch tiefer zu verletzen, wirkt in dem Plane der Vorsehung und erweitert das Reich Gottes. Es war schon spat in der Nacht, als wir das Kaffeehaus der Zigeunerinnen verließen. Eine Gewitterwolke, welche sich über der Ebene entlud, hatte plötzlich die Temperatur geändert. Große Wasserpfützen bedeckten die breiten langen Strafen des öden Meßplatzes, und unsere Pferde, die im Galopp durch diese Teiche und über diesen aufgeweichten Boden liefen, bespritzten unö in meinem offnen Wagen; schwarze Wol- 283 ken verkündeten neue Regengüsse für den übrigen Theil der Nacht, während Windstöße uns stoßweise das Waffer, das von den Dächern tropfte, in das Gesicht warfen. „Nun ist der Sommer vorbei/' sagte mein Begleiter. — „Ich fühle es nur zu wohl," antwortete ich. Ich fror wie im Winter Und hatte keinen Mantel. Vormittags verbrannte man in der Sonnengluth, und Abends erfror man; ich schrieb zwei Stunden lang an Sie, dann legte ich mich halberfroren nieder. Am andern Morgen, als ich aufstehen wollte, war ich schwindlig und sank wieder auf mein Bett, ohne mich ankleiden, ohne ausgehen zu können. Dies war mir um so unangenehmer, als ich denselben Tag nach Kasan abreisen sollte; ich wollte Asien wenigstens betreten, und hatte schon ein Fahrzeug gemiethet, das mich die Wolga hinabbringen sollte, wahrend m^in Feldjäger meinen Wagen leer nach Kasan gebracht haben würde, damit ich nach Nischnei zurück zu Lande reisen könnte. Mein Eifer hatte sich freilich etwas gelegt, seit mir der Gouverneur von Nischnei stolz Ansichten von Kasan gezeigt. Eine Stadt ist wie die andere von einem Ende Nußlands bis zum andern: der große Platz, die großen Stiaßcn mit kleinen sehr nicdri-gm Hausern; an diesem Platze das Haus des Gouverneurs, ein schönes Gebäude mit Säulen und römischem Fronton, Verzierungen, die in einer tartarischen Stadt noch weniger an ihrem Plahe sind, als in den russischen Städten; die Kaserne, die Kathedralen nach Art von Tempeln, nichts fehlte; ich fühlte, daß dies die Mühe nicht lohne, meine Reise um zweihundert Stunden auszudehnen. Aber die Grenze Sibiriens und die Erinnerungen an die Belagerung unter Iwan l^-lockten mich doch noch immer. Trotzdem mußte ich diesen Ausflug aufgeben, und mich vier Tage lang ruhig verhalten. Der Gouverneur besuchte mich mit vieler Artigkeit auf ^8Ä meimm schlechten Lager. Am vierten Tage endlich, da das llebelbesinden immer noch zunahm, entschloß ich mich, einen Arzt rufen zu lassen. Dieser sagte zu mir: „Sie haben lein Fieber, Sie sind noch nicht krank, aber Sie werden es werden, wenn Sie noch drei Tage in Nischnei bleiben. Ich kenne den Einfluß dieser ^uft auf gewisse Temperamente; reisen Sie also ab", sobald' Sie zehn Stunden weit fort sind, werden Sie sich erleichtert fühlen, und den nächsten Tag ganz gesund sein." „Aber ich kann weder essen, noch schlafen, noch stehen, noch mich rühren ohne die heftigsten Kopfschmerzen," ent-gegnete ich; „was soll auS mir werden, wenn ich unterwegs anhalten muß?" fassen Sie sich m Ihren Wagen tragen; die Herbstregen beginnen; ich bürge nicht für Eie, wenn Sie in Nischmi blciwn." Der Doctor ist ein gebildeter und erfabrener Mann, und> hat sich mehrere Jahre in Paris aufgehalten, nachdem er in-Deutschland studirte. Ich traute seinem Blicke, und den andern Tag stieg ich bei heftigem Regen und eiskaltem Wind? in den Wagen. Ein vollkommen gesunder Reisender hatte dtt! Muth verlieren können. Schon bei der zweiten Station begann indeß die Prophezeihmig des Arztes in Erfüllung zu gehen; icli athmete freier, wenn ich auch noch sehr matt war. Die Nacht über mußte ich in einem sehr schlechten Quartier bleiben; den andern Tag war ich gesund. Wahrend der Zeit, die ich in Mschnei in» Bette zubrachte, langweilte sich mem schützender Spion oder spioni-render Beschwer. Eines Morgens sagte er demsch zu meinem Bedienten: „Wann reisen wir ab?" „Ich weiß es nicht; der Herr ist üank." 283 „Ist er krank?" „Glauben Sie, daß er zum Vergnügen im Bette und M dcm Zimmer bleibt, das Sie ihm gesucht haben?" „Was feklt ihm?" „Ich weiß es mcht." „Warum ist er krank?" „Fragen Sie ihn darüber selbst." Dieses Warum schien mir des Erwahnens werth zu sein. Dieser Mann hat mir den Auftritt mit dem Wagen nicht verziehen. Seit diesem Tage ist sein Venehmen und sein Gesichtsausdruck verändert, was mir beweist, daß auch bei den ganz verstellten Charakteren irgend ein Winkelchen natürlich bleibt. Ich weiß ihm deshalb seinen Groll gewissermaßen Dank, da ich ihn eines solchen natürlichen Gefühls gar nicht fähig hielt. Die Russen sind, wie alle neuen Ankömmling? in der civilisirten Welt, außerordentlich empfindlich', sie geben gar nichts Allgemeines zu und nehmen Alles für Persönlichkeiten. Frankreich wird nirgends schlechter gewürdigt; die Denk- und Sprechfreiheit wird in Rußland am allerwenigsten begriffen; diejenigen, welche sich stellen, als beurtheilten sie unser Vaterland, behaupten, sie glaubten nicht, daß der König die Schriftsteller ungestraft lasse, welche ihn taglich in Paris beleidigen. „Die Thatsache steht aber doch fest," antwortete ich. ,,Ia, man spricht von Toleranz," entgegnen sie schalkhaft; „das mag für die Menge und für die Fremden gut sein; aber man straft die zu klihnen Journalisten im Geheimen." Wenn ich versichere, daß in Frankreich Alles öffentlich ist, lacht man pfiffig, schweigt artig und glaubt mir nicht. Die Stadt Wladimir wird in der Geschichte oft genannt' 28 das Wagenvcrdeck und die^cdervorhange ließen mich den Vorgang nicht sehen, aber in demselben Augenblicke fühlte ich, daß der Wagen still stand. ,,Wir sind gerettet!" lief mir Antonio zu. Dxscs wir bezog sich nur auf mich, denn er selbst war außer Gefahr, sobald er ohne Unfall aus dem Wagen gelangt war. Er hatte mit seltener Gcisicsgegcn-wart dcn einzigen günstigen Augenblick erkannt, in welchem cr ohne Gefahr hinausspringen konnte; dann war cr mit der Gewandtheit, welche große Aufregung giebt, ohne daß man erklären tann wodurch, auf den Damm hinaufgeklommen vor dtt beiden Pferde, welche denselben bereits erstiegen hatten und deren verzweifelte Anstrengungen Alles zu verderben drohcten. Der Wagen wollte umschlagen, als dir Pferde still standen; der Postillon und der Feldjäger aber, denen das Beispiel Antonio's Muth machte, hatten Zeit, ebenfalls herunter zu springen. Der Postillon war im Nn vor dcn beiden Pferden, die noch auf dcr Straße geblieben und von den beiden andern getrennt waren, weil cinc Deich: sclkette gesprungen. Dcr Feldjäger stützte unterocß den Wagen. Fast «n demselben Augenblicke kamen die Kosaken vom Elephanten her im Galopp uns zu Hülfe-, ich m^ßre aus- 293 steigen und sie halfen meinen Leuten die noch immer zitternden Pferde halten. Nie bin ich dem äußersten Unglück näher gewesen, und nie wohlfeiler davon gekommen; es fehlte kein Nagel am Wagen, kein Strang war gerissen, nur die eine Kette gesprengt und ein Gebiß zerbrochen. Nach einer Viertelstunde saß Antonio wieder ruhig neben mir im Wagen und nach einer zweiten Viertelstunde schlief er, als hatte er nicht uns Allen das Leben gerettet. Während man unser Gespann wieder in Ordnung brachte, wollte ich mich der Ursache dieses Unfalls nahern. Der Eornac hatte glücklicherweise den Elephanten in dcn Wald an der Straße gebracht. Das schreckliche "Thier kam mir noch größer vor sei-t der Gefahr, in welche mich dasselbe gebracht hatte; sein Rüssel, den es in die Kipfel der Birken hinaufsireckte, sah aus wie eine Boa. Ich sing an, meinen Pferden Necht zu geben, denn das Ungtthüm konnte allerdings großen Schrecken erregen. Zu gleicher Zeit kam mir die Verachtung, mit welcher diese ungeheuere Fleischmassc auf unsere kleinen Köiper herabsehen mußte, komisch vor. Der Elephant warf von seinem gewaltigen Kopfe aus seinem klugen lebhaften Auge einen unbeachtenden Vlick auf die Menschen; ich kam mir ihm gegenüber wie «ine Ameise vor, floh erschreckt und dankte Gott, daß ich einem schrecklichen Tode entgangen war, der einen Augenblick unvermeidlich zu sem schien. Fortgesetzt >'n Moskau d,'n 5. September t8W, AbendS. In Moskau hat slit mehreren Monaten unausgesetzt ^ne außerordentlich große Hihe geherrscht; ich sinde hier die ^cmperatur wieder, welche ich verlassen hatte. Es ist ein völlig ungewöhnlich« Sommer. Die Trockenheit treibt über 294 die volkreichsten Theile der Stadt einen röthlichen Staub empor, der Abends so phantastische Effecte hervorbringt, wie bengalisches Feuer; es sind wahre Theaterwolken. Heute wollte ich um die Zeit des Sonnenunterganges dicfts Schauspiel im Kreml beobachten, um den ich mit eben so großer Bewunderung und fast ebenso überrascht wie das erste Mal außen herumgegangen bin. Die Stadt der Menschen war von dem Paläste der Niesen durch eine Glorie (5orregio's getrennt; es war eine großartige Verbindung der Wunder der Materie und der Poesie. Der Kreml empfing, als der höchste Punkt des Gemäldes, die letzten Strahlen des Tages, wahrend die Dünste der Nacht die übrige Stadt bereits umhüllten. Die Phantasie fühlte ihre Grenzen nicht mehr; das Weltall, die Un-endlichkeit, Gott selbst gehörte dem Dichter an, dem Zeugen eines so majestätischen Schauspiels; es war Martin, der Colorist, oder vielmehr es war das lebende Modell seiner außerordentlichsten Gemälde. Das Herz schlug mir vor Scheu und Bewunderung; ich sah die ganze Schaar der übernatürlichen Gaste des Kreml sich wiederum aufrichten; ihre Gestalten glänzten wie Dämonen, auf Goldgrunde gemalt, und sie schritten strahlend nach den Negionen der Nacht zu, als wollten sie den Schleier derselben zerreiß«'. Ich erwartete nur noch den Blitz; es war schrecklich schön. Die weisien und unregelmäßigen Mauern d?s Palastes warfen ungleich das schiefe Licht einer bewegten Dämmerung zurück; diese verschiedenartigen Tinten waren das Resultat der verschiedenen Neigungsgrade gewisser Wandfelber, der leeren und ausgefüllten Stellen, wclche die Schönheit dieser barbarischen Bauart ausmachen, deren seltsam« Launen zwar die Sinne nicht angenehm ansprechen, desto lauter aber zu 2U5 dem Gebälken reden. Es war dies» so siaunenswürdig, >'o schön, daß ich nicht umhin konnte, den Kreml noch «in-mal zu erwähnen. Aber beruhigen Sie sich, es ist dies das letzte Mal. Einige klagende Gesänge von Arbeitern, welche von den Echos wiederholt wurden, drangen von der Höde der Terrassen, die hinter Gerüsten halb versteckt waren, herunter und hallten von Gewölbe zu Gewölbe, von Zinne zu Zinne, von Abgründen zu Abgründen, die von Menschenhand gebaut wurden, und von denen sie zurückprallend bis an mein von unbeschreiblicher Melancholie ergriffenes Herz schlugen. Umher wandernde Lichter zeigten sich in der Tiefe des königlichen Gebäudes; die öden Galerien und langen gewölbten Thore trugen einander Menschenstimmen zu, die man mit Verwunderung zu dieser Zeit in diesen einsamen Palasten horte, und der Nachtvogel, in seiner geheimnißvollen Liebe gestört, floh den Schein der Fackeln und flatterte zu den höchsten Thürmen empor, um dahin die Kunde von irgend einer unerhörten Störung zu tragen. Diese Umwandlung war die Wirkung der Arbeiten, welche der Kaiser angeordnet hatte, um die nahe Ankunft des Kaisers zu feiern; er feiert sich selbst und laßt den Kreml erleuchten, wenn er nach Moskau kommt. Je mehr das Dunkel zunahm, um so heller wurde der Lichtschein der Scadl; ihre Laden, ihre Kaffeehauser, ihre Straßen, ihre Theater traten wie durch Zauberei aus der Finsterniß hervor. Der Tag war auch der Jahrestag der Krönung des Kaisers, ein neuer Beweggrund zur Festlichkeit und Illumination. Die Russen haben so viele Frcudentage im Jahre ku feiern, daß ich an ihrer Stelle meine Lampchen lieber 5" "icht auslöschen würde. Man merkt hier allmalig die Annäherung des Zauberers; 296 vor etwa drei Wochen war Moskau nur von Handelsleuten bewohnt, die ihre Geschäfte in Droschken besorgten; jetzi wimmelt es in den glänzend gewordenen Straßen von schö-nen Pferden, von Wagen mit vier lang gespannten Nossea und von goldflimmernden Umformen; die großen Herren und Diener füllten die Theater und die Zugänge zu denselben. „Der Kaiser ist nur noch dreißig Stunden entfernt, wer weiß, ob nicht der Kaiser kommt; vielleicht ist der Kaiser morgen in Moskau; man versichert, der Kaiser sei gestern incognito hier gewesen, was bürgt dafür, daß er nicht jetz da ist?" Und dieser Zweifel, diese Hoffnung, diese Erinnerung bewegt die Herzen, belebt alle Orte, verändert das Aussehen alter Dinge, die Sprache aller Personen, den Ausdruck aller Gesichter. Moskau, gestern eine Handelsstadt, die nur an die Geschäfte dachte, ist heute unruhig und bewegt wie eine Vürgersfrau, die vornehmen Besuch erwartet. Fast immer öde Palaste werden geöffnet und beleuchtet; überall verschönern sich die Gärten; Blumen und Kerzen wetteifern an Glanz; schmeichelndes Gemurmel lauft leise durch die Menschen; noch schmeichelhaftere und geheimere Gedanken entstehen in allen Köpfen; alle Herzen schlagen von Freude, von aufrichtiger Freude, denn die Ehrgeizigen überreden sich selbst und fühlen wirklich etwas von dem Vergnügen, das sie so sehr lieben. Dieser Zauber der Gewalt erschreckt mich; ich fürchte, selbst die Wirkungen davon zu empfinden und Höfling zu werden, wenn nicht aus Berechnung, so doch aus Liebe zu dem Wunderbaren. Ein Kaiser von Rußland in Moskau ist cin König von Assyrien in Babylon. Die Gegenwart des Kaisers bewirkt, wie man sagt, in diesem Augenblicke noch ganz andere Wunder in Borodino 2!>7 Es ist eine ganze Stadt entstanden und diese kaum aus der Einöde emporgewachsen? Stadt soll eine Woche lang dauern; man hat selbst einen Garten um den Palast her angc>l?gt; dte Vaume, die wieder absterben werden, wurden mit großen Kosten weit hergebracht, um alten Schatten zu gewahren-Man ahmt in Rußland vor Allem gern das Werk der Zeit nach-, die Menschen hier, wo die Vergangenheit fehlt, fühlen alle Schmerzen der Eitelkeit aufgeklarter Emporkömmlinge, die reckt wohl wissen, was man von ihrem plötzlichen Reich-thume denkt. In dieser Feenwelt wird das Dauernde durch das Ephemerste nachgeahmt, — ein alter Baum durch einen Mit der Wurzel ausgehobenen, Palaste durch Baracken, die Man mit Zeugen verhüllt, Garten durch bemalte Leinwand. Auch mehrere Theater hat man in der Ebene von Borodino errichtet und die Komödie dünt als Zwischenspiel der kriegerischen Pantomimen. Noch nicht genug» aus dem Staube m der Nähe der kaiserlichen und militairischen Stadt hat sich eine Vürgerstadt erhoben. Aber die Unternehmer, welche diese Wirthshäuser improvisirten, werben durch die Polizei minirt, welche den Neugierigen den Zutritt in Borodino außerordentlich erschwert. Dieses Programm des Festes ist die genaue Wiederholung der Schlacht, welche wir die Schlacht an der Moskwa nennen, die aber von den Nüssen Schlacht von Vorodino genannt wird. Um der Wirklichkeit so nahe als möglich zu kommen, hat man aus den entferntesten Theiln, des Reiches alle noch übrigen Veteranen zusammen berufen, welche 1812 an der Schlacht Theil nahmen. Sie tonnen sich das Erstaunen und die Angst dieser alten Tapfern denken, die plötzlich aus der '"uhe ihrer Erinnerungen herausgerissen und genöthigt wur-dm, aus Sibirien, aus Kamtschatka, vom Caucasus, von ^u-changel, von den Grenzen Lapplands, aus den Thalern 298 des Caucasus, von den Küsten des caspischm Meeres, auf einem Schauplätze zu erscheinen, den man den Schallplatz ihres Ruhmes nennt. Sie werden da die schreckliche Komödie, eines Kampfes noch einmal beginnen, dem sie nicht ihren Wohlstand, aber ihren Nuhm verdanken, eine klein« liche Vergeltung einer übermenschlichen Aufopferung; Erschöpfen und Vergessen, das ist die Frucht, die ihnen ihr Gehorsam brachte, den man Ruhm nennt, um ihn mit so geringen Kosten als möglich zu belohnen. Warum diese Fragen und Erinnerungen wieder anregen? Warum diese kühne Beschwörung so vieler stummer und vergessener Gespenster? Es ist das letzte Gericht der Necruten vom Jahre I6l2. Man möchte eine Satyre auf das Militairleben schreiben, wie Holbein in seinem Todtentanze cine Earricamr des Menschenlebens gegeben hat. Mehrere dieser Männer, die am Rande ihres Grabes durch diesen Ruf aufgeschreckt wurden, hatten seit vielen Jahren kein Pferd bestiegen und nun müssen sie, um einem Herrn zu gefallen, den sie nie gesehen haben, ihre Rolle wieder spielen, obwohl sie ihr Handwerk verlernt haben. Die Unglücklichen fürchten so sehr, der Erwartung des launenhaften Gebieters, der ihr Alter stört, nicht zu entsprechen, daß ihnen die Vorstellung der Schlacht schrecklicher vorkommt, als die Schlacht zu ihrer Zeit selbst. Diese nutzlose Feierlichkeit, dieser Phantasickrieg wird die Soldaten vollends todten, welche von dem Ereignisse und den Jahren verschont wurden. Grausame Vergnüglmgcn, würdig eines Nachfolgers jenes Ezars, der lebendige Bare zu dem Maskenbälle bringen ließ, den er selbst zur Hochzeitsfeier seines Narren anbefohlen hatte! Dieser Czar war Peter der Große. Alle diese Vergnügungen entspringen aus einem und demselben Gedanken' der Mißachtung des Menschenlebens. 2W So weit kann die Macht eines Menschen über Menschen gehen; glauben Sie, daß die der Gesetze über einen Vürger ihr je gleich kommen könne? Es wird steis zwischen diesen beiden Gewalten ein ungeheurer Abstand sein. Ich wundere mich über den Aufwand von Fiction, den Man machen muß, um ein Volk und eine Regierung, wie die russische Regierung und das russische Volk, zu einem gleichförmigen Gange zu bringen. Es ist der Triumph der Phantasie, solche Kraftproben, so seltsame Siege über den Verstand sollten den Verfall der Nationen beschleunigen, welche sich dergleichen Kämpfen aussetzen; .wer aber kann die Wirkung eines Wunders berechnen? Der Kaiser hatte mir erlaubt, d. h. befohlen, nach Borodino zu kommen. Es ist dies eine Gunst, der ich mich nicht würdig fühle; ich hatte anfangs über die außerordentliche Schwierigkeit der Nolle eines Franzosen in dieser historischen Comödie nicht genügend nachgedacht, auch die monströsen Arbeiten im Kreml nicht gesehen, die ich hatte lüh-men müssen; ferner kannte ich damals die Geschichte der Fürstin Trubetzkoi noch nicht, die ich um so weniger vergessen kann, als ich nicht davon sprechen darf. Alle diese Gründe zusammen genommen bestimmen mich, vergessen zu bleiben. Dies ist leicht, denn das Gegentheil würde mich in Verlegenheit bringen, wenn ich nach den nutzlosen Bemühungen urtheile, welche viele Franzosen und Fremde aus allen Landern daran wenden, die sich vergebens bestreben, in Vorodino zugelassen zu werden. Die Lagerpolizei ist mit einem Male außerordentlich ^reng geworden und man schreibt di?se Verdoppelung der Vorsichtsmaßregeln beunruhigenden Entdeckungen zu. Uebcrall glimmt dag Feuer des 'Aufruhrs unter der Asche der Frei-l)"l- Ich wrjß blicht einmal, ob ich bei den gegenwärtigen :M0 Umstanden die Worte des Kaisers würde gelten machen können, die er in Petersburg zu mir sagte und in Peterhof wiederholte, als ich Abschied nahm i ,,ich würde mich freuen, wenn Sie den Ceremonien zu Borodino beiwohnen wollten, wo wir den ersten Stein eines Denkmals zu Ehren des Generals Bagration legen." Das waren seine letzten Worte*). Ich sehe hier Personen, die eingeladen wurden und nun dem Lager sich nicht nähern dürfen; man versagt Jedermann die Erlaubniß, ausgenommen einigen bevorzugten Engländern und einigen Mitgliedern des diplomatischen Corps, welche als Zuschauer der großen Pantomime bezeichnet worden sind. Alle andern, Junge und Alte, Mili-tairpersonen, Diplomaten, Fremde und Russen, sind, der nutzlosen Bemühungen überdrüssig, nach Moskau zurückgekommen. Ich habe einer Person in der Umgebung des Kaifers geschrieben, daß ich bedauerte, von der Gnade Sr. Majestät keinen Gebrauch machen zu können, und als Grund mein Augenübel angeführt, das noch nicht geheilt ist. Der Staub im Lager ist, wie man sagt, unerträglich selbst für ganz gesunde Personen; ich würde dabei mein Auge ganz verlieren. Der Herzog von Leuchtenberg muß eine bedeutende Gabe von Gleichgültigkeit besitzen, um mit kaltem Blute der Darstellung beiwohnen zu können, die man ihm geben will. Man versichert, der Kaiser befehlige in dieser Scheinschlacht das Corps des Prinzen Eugen, des Vaters des jungen Herzogs. Ich würde ein in moralischer und anecdotischer Hinsicht l> Ich lial>e spätxr in Petersburg erfahren, daß Befehle gegeben waren, jmich dis nach Bmodino kommen zu lassen, wo ich erwartet wurde. 301 so interessantes Schauspiel ungern entbehren, wenn ich ihm als unbeteiligter Zuschauer beiwohnen könnte; obgleich ich aber keineswegs den Ruhm eines Vaters hier zu wahren, habe, bin ich doch ein Sohn Frankreichs und fühle, daß es sich für mich nicht zieme, diese Wiederholung eines Kampfes Mit anzusehen, die mit großen Kosten einzig in der Absicht erfolgt, den Nationalstolz der Russen zu heben und an unser Unglück zu erinnern. Das Aussehen kann ich mir übrigens vorstellen, ich habe gerade Linien genug in Rußland gesehen. Ucberdics dringt der Blick bei Revuen :c. über eine gewaltige Staubwolke nicht hinweg. Wenn die Acteurs, welche die Geschichte spielen sollen, nur diesmal wenigstens wahrhaft wären! Wie aber darf man hoffen, daß die Wahrheit mit einem Male von Menschen sollte geachtet werden, welche ihr ganzes Leben hindurch keine Rücksicht auf dieselbe genommen haben! Die Russen sind mit Recht auf den Ausstang des Feld-zugs von 18l 2 stolz, aber der General, welcher den Plan dazu entworfen, welcher zuerst gerathen hatte, die russische Armee allmalig nach dem Mittelpunkte des Reiches zurück-weichen zu lassen, um die erschöpften Franzosen dahin zu locken, der Mann, dessen Genie Rußland seine Befreiung verdankt, der Fürst Wittgenstein, wird bei dieser Generalprobe nicht vertreten, weil er — zu seinem Unglücke noch lebt. Er halt sich, halb in Ungnade gcfallcn, auf seinen Gütern auf-, sein Name wird also bei Borodino nicht genannt werden, man wird vielmehr vor seinen Augen ein ewiges Denkmal des Ruhmes des, Generals Vagration er' "chten, der auf dem Schlachtfelde siel. Unter den despotischen Regierungen haben die todten Krieger ein schönes Spiel; der eben genannte wird hier zum 302 Helden riner Schlacht becretirt, in welcher er als tapferer Krieger siel, die er aber nicht geleitet hatte. Dieser Mangel an historischer Ehrlichkeit, dieser Mißbrauch des Willens eines einzigen Mannes, der seine Ansichten Allen aufdringt und dem Volke selbst das Urtheil über Thatsachen von nationalem Interesse dictirt, kommt mir empörender vor als alle Frevelchaten einer willkürlichen Regierung. Quält und mißhandelt die Körper, aber laßt die Geister aus dem Spiele -, laßt den Menschen alle Dinge, wie es die Vorsehung will, nach seinem besten Wissen und Gewissen beurtheilen l Man muß die Völker gottlos nennen, welche fortwährend so gegen die Ehrfurcht handeln lassen, die man dem Heiligsten vor Gott' und den Menschen, der Wahrheit, schuldig ist. Fortgesetzt in Moskau dcn li, Scptcml'» »83». Man schickt mir einen Bericht über die Manöver von Borodino, der aber nicht geeignet ist, meinen Zorn zu besänftigen. Jedermann hat die Beschreibung der Schlacht an der Moskwa gelesen und die Geschichte hat dieselbe zu denen gezahlt, welche wir gewannen, weil sie von dem Kaiser Alex-ander gegen den Nach seiner Generale gewagt wurde als letztes Mittel seine Hauptstadt zu retten, welche vier Tage später eingenommen wurde; aber eine heldenmüthige Brandstiftung in Verbindung mit einer für Menschen aus einem mildern Klima tödtlichen Kälte, die Unvorsichtigkeit unseres Führers endlich, den diesmal das zu große Vertrauen auf sein Glück verblendete, veranlaßten unser Unglück und diesem Ausgange zu Folge beliebt es dem Kaiser von Rußland die Schlacht, welche seine Armee vier Tagmarsche von der 303 Hauptstadt verlor, als einen Sieg zu rechnen. Das ist ein Mißbrauch der Freiheit, die Thatsachen zu verunstalten, welche dem Despotismus zusteht, weil er sich dieselbe anmaßt. Um nun diese Fiction zu bestätigen, entstellt der Kaiser die militairische Scene, die er vollkommen treu nachahmen lassen wollte. Lescn Sie das Dementi, welches er vor ganz Europa der Geschichte gegeben hat. In dem Augenblicke, als die Franzosen, durch die russische Artillerie niedergeschmettert, sich auf die Batterien stürzen, die ihnen den Tod senden, um die feindlichen Kanonen mit dem bekannten Muthe und Glücke zu nehmen, laßt der Kaiser Nicolaus, statt ein berühmtes Manöver wiederholen zu lassen, das er erlauben, ja sogar befehlen mußte, wenn er gerecht, wenn er seiner Würde gemäß handeln wollte, aus Schmeichelei für sein Volk das Eorps, welches unsere Armee vorstellt, der wir die Niederlage der Nüssen, und die Einnahme von Moskau verdanken, drei Stunden weit zurückweichen. Darnach beurtheilen Sie, ob ich Gott danke, daß ich mich glücklicherweise geweigert habe, dieser lügenhaften Pantomime beizuwohnen. Diese militairische Comödie hat einen kaiserlichen Tagesbefehl hervorgerufen, über den man sich in Europa ärgern wirb, wenn man ihn so veröffentlicht, wie wir ihn hier lesen. Man kann die beglaubigsten Thatsachen nicht arger Lügen strafen. Nach dieser merkwürdigen Darlegung der Ideen eines Mannes, nicht der Ereignisse einer Schlacht „sind die Nüssen freiwillig bis über Moskau hinaus zurückgewichen, was ein Beweis ist, das sie die Schlacht von Borodino nicht verloren haben (warum hatten sie dieselbe dann geschlafn?) und die Gebeine ihrer stolzen Feinde, sagt der Tagesbefehl, die von der heiligen Stadt bis an den 305 Niemcn zerstreut liegen, zeugen von dem Triumphe der Vertheidiger des Vaterlandes!" Ich reise nach zwei Tagen nach Petersburg ab, ohne den feierlichen Einzug des Kaisers in Moskau abzuwarten. Hier endigen die Briefe des Reisenden; die nachstehende Erzählung vervollständigt seine Erinnerungen. Sie wurde an verschiedenen Orten, zuerst m Petersburg l839, dann in Deutschland unb später m Paris geschrieben. Reisebericht. Berlin, in den ersten Tagen des Octobers «83s. v^ben als ich Moskau verlassen wollte, erregte eine merkwürdige Thatsache meine ganze Aufmerksamkeit, und nöthigte mich, meine Abreise zu verschieben. Ich hatte Postpferde auf sieben Uhr früh bestellen lassen. Zu meiner großen Verwunderung weckte mich mein Diener vor vier Uhr; ich erkundigte mich nach der Ursache dieser Eile, und er antwortete mir, er habe nicht zögern wollen, mir einen Vorfall mitzutheilen, der zu seiner Kenntniß gelangt sci, und der ihm so bedeutungsvoll vorkomme, daß er sich genöthigt sehe, mir denselben sofort zu erzählen. Ein Franzose, Louis Pernet, der vor wenigen Tagen in Moskau angekommen war, und in dem Gasihause des Herrn Kopp wohnte, war mitten in der Nacht feben in der Nacht, in welcher mein Diener mir den Vorfall erzählte) verhaftet worden; man hatte sich seiner bemächtigt, nachdem man ihm seine Papiere abgenommen, und ihn in das städtische Gefängniß gebracht. Das hatte mein Diener von dem Kellner erfahren. Durch weitere Fragen hatte er ferner ermittelt, baß Herr Pernet ein junger Mann von etwa 26 Jahren und nicht ganz gesund sei; daß er schon im vorigen Jahre durch Moskau gereis't sei, ja sich eine Zeitlang mit einem Freund, einem Nüssen, da aufgehalten, der ihn sodann mit "uf das Land genommen; daß dieser Nüsse im Augenblick "' 20 abwesend sei, und daß der unglückliche Verhaftete keine andere Stül)? habe, als einen Franzosen, Herrn R,, in dessen Gesellschaft er eine Neisc durch das nördliche Rußland gemacht. Dieser Herr R. wohne in demselben Gasthause wie Pernet. Sein Name siel mir sogleich auf, weil er der des ehernen Mannes war, mit dem ich einige Tage vorher bei dem Gouverneur von Nischnei gespeis't hatte. Sie erinnern sich, daß sein Gesichtsausdiuck mancherlei (bedanken in mir angeregt hatte. Diesen Mann in Verbindung mit dcm Er: eignisse dieser Nacht wieder zu finden, kam mir wirklich romanhaft vor; ich konnte kaum Alles glauben, was man. mir erzählte. Ich meinte, die Erzählung Antonio's sei erfunden worden, um uns auf die Probe zu stellen, stand aber doch sogleich liuf, um selbst bei dem Kellner nachzufragen, namentlich über den Namen des Herrn N., damit ich mich nicht irre. Der Kellner erzählte, er habe im Auftrage eines Fremden in das Kopp'sche Gasthaus zu gehen gehabt, Und sei dort angekommen, als eben die Polizei erschienen. Er setzte hinzu, Herr Kopp habe ihm die Eachc gerade so erzahlt, wie er sie dann Antonio mitgetheilt. Sobald ich mich angekleidet hatte, begab ich mich zu dem Herrn R. Es war wirklich mein Mann von Nischnei. aber nicht mehr unempfindlich; er schien sehr unruhig zu sein. Er war auf, >vir erkannten einander sogleich, und als ich ihm die Veranlassung zu meinem so frühen Besuche nannte, schien er sehr verlegen zu werden. ,,Ich bin allerdings mit .Herrn Pernet gereis't," sagte er, „aber nur zufallig; wir trafen einander in Archangel, und rlis'ten von da an mit einander. Seine schwache Gesundheit machte mich sehr besorgt; ich habe ihm die Dienste geleistet, welche das Mitleiden erforderte, weiter nichts. Ich bin keineswegs sein Freund, und kenne ihn nicht." M7 Ich kenn? ihn noch weniger," entgegnete ich, „aber wir sind alle drei Franzosen, und müssen uns einander bestehen in einem Lande, wo unsere Freiheit, unser Leben jeden Augenblick durch eine Gewalt bedroht werden können, die man erst an den Schlägen erkennt, welche sie austheilt." „Vielleicht hat sich Herr Pernet," entgegnete Herr N>, „diese schlimme Sache durch irgend eine Unvorsichtigkeit zugezogen. Was kann ich thun, da ich selbst fremd hier bin? Ist er unschuldig, so wird die Haft nicht lange dauern; ist er schuldig, so muß er die Strafe leiden. Ich kann nichts für ihn thun, bin ihm nichts schuldig, und ersuche auch Sie, vorsichtig bei den Schritten zu sein, die'sie für ihn thun wollen, so wie Ihre Worte wohl zu bedenken." ,,Wer aber wird über seine Schuld oder Unschuld entscheiden?" rief ich aus. ,,Man müßte ihn vor allen Dingen sehen, um zu erfahren, wodurch er sich die Verhaftung erklärt, und um ihn zu fragen, was man für ihn thun und sagen könne." „Sie vergessen, in welchem Lande wir uns befinden," enta.ea.nete Herr N.; „er ist im Gefängnisse; wie soll man zu ihm gelangen? Das ist rein unmöglich." „Unmöglich ist eS auch." erwiederte ich, indem ich aufstand, „daß Franzosen, Manner, einen Landsmann in einer schlimmen Lage lassen, und sich nicht einmal nach dcr Ursache seines Unglücks erkundigen." Indem ich von diesem sehr vorsichtigen Reisegefährten fortging, fing ich an, die Sache für schlimmer zu halten, als ste mir anfangs erschienen war, und ich glaubte, mich an den französischen Konsul wenden zu müssen, um über die wahre Lage dcs Gefangenen in's Klare zu kommen. Ich ließ mnne Miethpferde kommen, zum großen Mißvergnügen U"d zur Verwunderung meines Feldjägers, da die Postpferoe 20* 305 bereits in dem Hofe des Gasthauses hielten, als ich diese Contreordre gab. Gegen zehn Uhr erzählte ich den Vorfall dem französischen Consul, und fand diesen ossiciellen Beschützer der Franzosen cben so vorsichtig und kalt wie den Doctor N. Der französische Consul ist in der Zeit, in welcher er in Moskau lebt, fast Nüsse geworden. Ich konnte nicht ermitteln, ob seine Antworten durch eine Furcht dictirt wurden, welche sich auf seine Kenntniß der Landesgebrauche gründet, oder durch ein Gefühl verletzter Eitelkeit und falsch angewendeter persönlicher Würde. ,,Herr Pernet," sagte er mir, ,,hat sechs Monate in Moskau und der Umgegend gelebt, und es wahrend dieser ganzen Zeit nicht für nöthig gefunden, sich einmal zu dem französischen Consul zu bemühen. Herr Pernet mag also selber zusehen, wie er sich aus der Lage heraus hilft, in die ihn seine Sorglosigkeit gebracht hat. Dieser Ausdruck ist vielleicht noch zu schwach," setzte der Consul hinzu, dann wiederholte er mir, daß er sich in diese Angelegenheit nicht mischen könne, nicht mischen dürfe und nicht mischen wolle. Vergebens machte ich ihm bemerklich, daß er als französischer Consul allen Franzosen ohne Ansehen der Person Schutz schuldig sei, selbst denen, welche gegen die Regeln der Etikette verstießen, daß es sich hier nicht um eine Sache des guten Tons, um eine Ceremonie-Angelegenheit, sondern um die Freiheit, vielleicht das Leben eines Landsmannes handele; daß vor einem solchen Unglücke jeder Groll, wenigstens wahrend der Zeit der Gefahr, schweigen müsse, ich konnte kein Wort der Theilnahme für den Gefangenen aus ihm herausbringen, und setzte dann hinzu, er möge doch bedenken, daß die, Partie nichts weniger als gleich stehe, da das Vergehen, welches sich Pernet dadurch habe zu schulden 309 kommen lassen, daß er dem französischen Consul leinen Besuch gemacht, in keinem Verhältniß zu derElrafe sich?, die ihm dieser zuerkenne, indem er ibn in das Gefängniß bringn lasse, ohne sich nack der Ursache dieser willkürlichen Vcr-hoftung zu erkundigen und ohne den weit schlimmern Folgen vorzubeugen, welche diese Handlung der Strenge haben tonnte. Ich schloß mit den Worten, daß wir uns unter diesen Umstanden nicht mit dem Grade des Mitleidens zu beschäftigen hätten, das Pernet einzustoßen verdiene, sondern mit der Würde Frankreichs und der Sicherheit aller Franzosen, die in Rußland reiseten und reisen würden. Meine Gründe fruchteten nichts und dieser zweilc Besuch brachte mich nicht weiter als der erste. Obgleich ich nun den Herrn Pernet nicht einmal dem Namen nach kannte und gar keinen persönlichen Grund hatte, mich für ihn zu imeressiren, so bielt ich es doch für meine Pflicht, da ick einmal zufällig sem Unglück erfahren, ihm allen Beistand zu leisten, den ich ihm leisten konnte. In diesem Augenblick trat mir sehr lebhaft eine Wahr-heit vor die Seele, an die gewiß Jedermann schon oft gedacht hat, die sich mir aber bis dahin immer nur flüchtig und unklar dargestellt hatte, daß nämlich die Phantasie das Mitleid vergrößert und lebhafter macht. Ich meine selbst, cin Mensch ohne alle Phantasie müsse ohne alles Mitleid sein. Alle schöpferische Kraft meines Gedankens strengte sich unwillkürlich an, mir den armen Unbekannten im dampfe Mit den Phantomen der Einsamkeit und des Kerkers zu zeigen; ich litt mit ihm und gleich ihm; ich fühlte, was er kühlte, fürchtete, was er fürchtete, sah ihn, von Jedermann verlassrn, s^inc Einsamkeit beweinen und seine Hülflosigrcit ^kennen. Denn wer sollte sich für einen Gefangenen m "nem ^nde üueressircn, das von dem unsrigen so «"">> 31tt verschieden, in einer Gesellschaft, wo die Freunde sich ver-rinigen in Glück und trennen im Unglücke? Welche Antriebe zum Mitleiden für mich! ,,Du glaubst allein zu sein in der Welt und bist ungerecht gegen die Vorsehung, die dir einen Freund sendet, einen Bruder/' sprach ich leise vor mich hin und noch vieles andere, indem ich den Unglücklichen vor mir zu sehen glaubte. Der Unglückliche hoffte keinen Beistand und jede Stunde, die in grausamer Gleichförmigkeit, in Stille, ohne irgend einen Vorfall verging, stürzte ihn tiefer in Verzweiflung. Dann mußte die Nacht kommen mit ihren Gespenstern, und welche Angst würde ihn dann quälen! Wie sehr wünschte ich, ihm wissen zu lassen, daß der Eifer eines Unbekannten die Stelle treuer Beschützer vertrete, auf die er nicht rechnen könnte! Aber ich hatte durchaus kein Mittel, ihm eine Mittheilung zu machen und ich hiclt mich doppelt verpflichtet, ihm nützlich zu werden, eben weil es mir unmöglich war, ihn zu trösten. Die Phantasie hielt mir alle Schrecken des Gefängnisses vor. Es würde ein eben so gefahrlicher als nutzloser Schritt gewesen sein, hätte ich darauf bestehen wollen, in das Gefängniß zu gelangen. Nach langem und schmerzlichem Schwanken blieb ich endlich bei einem andern Gedanken stehen. Ich hatte einige sehr einflußreiche Personen in Moskau kennen gelernt und obschon ich am Tage vorher von Allen Abschied grnommen, entschloß ich mich doch zu einer vertraulichen Mittheilung an einen der Manner, der mir das größte Vertrauen eingeflößt hatte. Ich darf ihn nicht nur nicht nennen, sondern muß mich sogar hüten, ihn kenntlich zu bezeichnen. Als er mich in sein Zimmer treten sah, wußte er bereits, was mich zu ihm führte, und ohne mir di? Zeit zu lassen, mich aus zusprechen, sagte er, er kenne zufallig Herrn Pcrnet persönlich und halte ihn für unschuldig, weshalb er sich die Angelegenheit nicht erklären könne. Er sei überzeug, daß nur poliusche Rücksichten eine solche Verhaftung hätten Veranlassen tonnen, weil die russische Polizei sich nur zeige, wenn sie gezwungen werde; man habe ohne Zweifel geglaubt, Niemand kenne in Moskau diesen Fremden, aber die Freunde würden, da der Schlag einmal gefallen sei, nur schaden, wenn sie hervorträten, denn wcrm man sehe, daß er Beschützer habe, würde man seine Lage bald verschlimmern, in-bcm man ihn entfernte, um jeder Aufklärung zu entgehen und die Klagen zum Schweigen zu bringen. Er setzte hinzu, man dürfe ihn, im Interesse des Unglücklichen selbst, nur mit der äußersten Vorsicht vertheidigen. ,,Wenn er einmal nach Sibirien abgeführt ist, dann weiß Gott, wann er zurückkommt," sagte der Mann, bci welchem ich Rath suchte und der mir dann begreiflich machte, daß er die Theilnahme an rmem verdachtigen Franzosen nichc merken lassen dürfe, weil er, selbst der Hinneigung zu liberalen Ideen verdächtig, sich schaden würde, wenn er sich für einen Gefangenen verwende oder nur sage, daß cr ihn gekannt habe. Er schloß mit den Worten: ,,Eie sind weder sein Verwandter, noch sein Zreund; Sie nehmen nur den Antheil an ihm, den Sie cinem Landsmanne, einem Manne, der in Verlegenheit ist, schuldig zu sein glauben; Sie haben sich bereits der Pflicht entledigt, die Ihnen dieses lobenswerlhe Gefühl auferlegte; Eic haben mit dem Neisegcfahtten des Gefangenen, mit Ihrem Consul, mit mir gesprochen; jetzt, glauben Sie mir, enthalten Sie sich jedes weitern Schrittes, denn Sie würden, was Sie auch thaten, Ihren Zwcck nicht erreichen und sich selbst wegen eines Mannes compromittiren, dessen Vertheidigung Sie freiwillig übernehmen. Er kennt Sie nicht und 312 erwartet nichts von Ihnen; reisen Sie also ab; Eie können nicht fürchten, eine Hoffnung zu täuschen, da er keine auf Sie seht; ich werde ihn im Auge behalten; zwar darf ich mich in der Sache nicht zeigen, aber ich kann auf Umwegen Kennlmß davon erlangen und den Gang bis zu einem gewissen Punkce leiten; ich verspreche Ihnen, so viel als möglich dabei zu thun. Folgen Sie meinem Rathe und reisen Sie ab." „Wenn ich abreis'te," entgegnete ich, „würde ich keinen Augenblick Ruhe haben und wie durch Gewissensbisse von dem Gedanken verfolgt werden, daß der Unglückliche nur mich hatte, der sich seiner annehmen konnte, und baß ich ihn verlassen, ohne etwas für ihn gethan zu haben." „Ihre Anwcse>ihcit hier," antwortete man mir, „gewahrt ihm nichl einmal Trost, weil sie ihm eben so unbekannt ist, als die Theilnahme, die Sie ihm schenken, und er wird nichts davon erfahren, so lange er in Haft ist." „Es giebt also kmi Mittel, zu ihm in b^n Kerker zu gelangen?" „Keines," antwortete mit einiger Ungeduld der Mann, in den ich so lebhaft dringen zu müssen glaubte; „und wenn Eie sein Bruder wären, würden Sie nicht mehr für ihn thun können, als Sie bereits gethan haben. Dageqm kann dem Herrn Pcrnet Ihre Anwesenheit in Petersburg von Nutzen werden. Unterrichten Eie den französischen Gesandten von dem, was Sie wissen, denn ich zweifle, das; er den Vorfall durch den hiesigen Konsul erfahrt. Ein Schritt bei dem Minister durch einen Mann in der Stellung Ihres Gesandten und von einem Ebaracter wie der Herr von Va-rante, wird zur Befreiung Ihres öandmanncs mehr tlum als Allcs, was Sie und ich und zwanzig Personen in Moskau lhun könntt::." 313 „Aber der Kaiser und seine Minister sind in Moskau oder Borodino," mtgegnete ich, da ich die Sache noch immer nicht aufgeben wollce. „Nicht alle Minister folgen Sr. Maj. auf dieser Reise,", antwortete man mir, zwar noch immer artig, aber mic zunehmender und kaum noch verhüllter übler Laune. ,,Im schlimmsten Falle müßte man ihre Zurückkunfr abwarten. Eie können, ich wiederhole es Ihnen, keinen andern Schritt thun, wenn Sie dem Manne nicht schaden wollen, den Sie zu retten wünschen, indem Sie sich selbst vielen Plackereien aussetzen, vielleicht selbst etwas Schlimmern," setzte man bedeutungsvoll hinzu. Wenn der Mann, mit dem ich sprach, ein Angestellter yewesen ware, so würde ich geglaubt haben, die Kokken kommen zu sehen, um mich zu verhaften und wie Pernct in das Gefängniß abzuführen. Ich fühlte, daß die Geduld des Mannes zu Ende war, konnte auch keine Worte mehr gegen seine Gründe finden und entfernte mich mit dem Versprechen abzureisen und mit Dank für den Nach, den ich erhalten. Da es nun einmal feststeht, dachte ich, daß ich nichts thun kann, so will ich sofort abreisen. Das Zögern meines Feldjägers, der ohne Zweifel einen letzten Bericht über mich zu erstatten hatte, nahm den Vormittag vollends hinweg und ich konnte das Wiedererscheincn der Postpferde erst gegen vier Uhr Abends bewirten. Eine Viertelstunde spater war ich auf dem Wege nach Petersburg. Das Uebelwollen meines Feldjägers, verschiedene Unfälle, Folgen des Zufalles und böser Abficht, der Mangel an Pferden überall, die für das Gefolge des Kaisers und die Tfficicre der Armee bestellt waren, so wie für die Courriere, welche fortwährend von Vorodmo nach Petersburg gingm, machten meine Neise langsam und beschwerlich. Ich wollte m meiner Ungeduld auch in der Nacht fabren, gcwann adec bei dieser Eile nichts, denn ich mußte, weil ich keine Pferde erhielt, sechs volle Stunden in Groß-Nowogorob, 50 Stunden von Petersburg, bleiben. Ich war nicht gestimmt, die Ueberresie d?r Wiege des Slawenreiches, die das Grab ihrer Freiheit geworden ist, zu besichtigen. Die berühmte heilige Sophienkirche enthält die Graber Wladimir Iaroslawitsch (siarb 10'>l), seiner Mutter Anna, eines Kaisers von Consiantinopel und mehrere andere. Sie gleicht allen russischen Kirchen und vielleicht ist sie eben so wenig ächt als die sogenannte alte Kathedrale, in welcher die Gebeine Minins in Nischnei-Nowogoroo liegen. Ich glaube an das Datum keines der alten Gebäude mehr, die man mir in Rußland zeigt. Nur an die Namm der Ilüsse glaube ich noch; der Wolkoss erinnerte mich an die schrecklichen Scenen bei der Belagerung dieser republikanischen Stadt, die durch Iwan den Schrecklichen zu wiederholten Malen eingenommen und entsetzlich behandelt wurde. Ich sah die kaiserliche Hyäne, welche die Mchelei, die Pest, die Rache leitete, im Geiste auf den Trümmern liegen, und die blutigen Leichen der Unterthanen erbobm sich aus dem von Todten ausgefüllten Flusse, um mir als Zeugen zu dienen für die Grauel der Bürgerkriege und die Wuth, die sie in Staaten entzünden, welche man civilisirte nennt, weil die Schandthaten, die man Tugendhandlungen nennt, in voller Gcwisscns-ruhe vollbracht werden. Bei den Wilden sind die entfesselten Leidenschaften dieselben, roher, wilder fast, aber sie greifen nicht so weit. Dort thut der Mensch, der so ziemlich auf seine individuellen Kräfte angewiesen ist, in kleinem Maßstabe Böses-, dort wird die Grausamkeit der Krieger durch die Grausamkeit der Besiegten erklärt, wenn nicht entschuldigt; 3IX in geregelten Staaten dagegen macht der Contrast zwischen den Schandthaten, die man begeht, und den schönen Worten, die man spricht, das Verbrechen empörender und zeigt die Menschheit unter einem weit entmuchigernden Ke-sichtspunkte. Hier halten nur zu oft gewisse Personen, die sich dem Optimismus zuneigen, und andere, welche aus Interesse, aus Politik oder aus Unkenntniß den Massen schmeicheln, Bewegung für Fortschritt. Vemerkenswerth erscheint es mir, daß der Briefwechsel des Erzbischofs und mehrerer der ersten Bürger von Nowogorod mit den Polen das Un-gewitter über die Stadt zusammenzog, in welcher dreißigtausend Unschuldige in den Kämpfen und den Metzeleien umkamen, die der Czar ersann und leitete. An manchen Tagen wurden bis sechshundert Opfer vor seinen Augen hingerichtet, und alle diese Graue! geschahen, um ein Verbrechen zu bestrafen, das schon damals nicht verziehen wurde, das Verbrechen geheimer Verbindung mit den Polen. Dies geschah vor beinahe dreihundert Jahren, 1570. Groß-Nowogorod hat sich von dieser letzten Crisis nie wieder erholt; seine Todten hatte es wohl ersetzen können, die Aufhebung seiner demokratischen Einrichtungen aber vermochte es nicht zu überdauern. Seine Mauern, die mit der Sorgfalt überwcißt wurden, welche die Nüssen überall anwenden, um unter der Schminke einer lügnerischen Regeneration die zu wahrhaftigen Spuren der Geschichte zu verwischen, sind nicht mehr von Blut befleckt', sie seben aus wie gestern erbaut', aber die Straßen sind öde, und drei Vimheile der Ruinen, die vor der engen Ummaucrung zerstreut liegen, Verlieren sich in der Ebene umher, wo sie fem von der jetzigen Stadt vollends verfallen, die selbst nur ein Schatten und ein Name ist. Das ist Alles, was von der berühmten Republik des Mittelalters übrig blieb. Und wo ist die Frucht :nft der Revolutionen, welche fortwährend diesen jetzt fast gan^ verödeten Ort mit Vlut düngten? Welcher Elfolg kann die Thräncn rechtfertigen, welche die politis6)en Leidenschaften in diesem fernen Theile der Welt auspreßten 5 Alles isi jetzt still und ruhig hier, wie vor dcr Geschichte. Gott zeigt uns nur zu oft, daß das, was die vom Stolz geblendeten Menschen für ein ihrer Anstrengungen würdiges Ziel ansahen, eigentlich nur ein Mittel war, das Uebermaß ihrer Iugend-kraftc zu beschäftigen. Das ist die Ursache mehr als einer heroischen That. Groß-Nowogorod ist jetzt ein Steinhaufen, der einigen Nuhm bewahrt inmitten einer unfruchtbar aufsehenden Ebcnc am Ufer eines schmalen traurigen trüben Flusses. Und doch lebten hier Manner, die durch ihre Liebe zu unruhiger Freiheit berühmt waren; doch ereigneten sich hier tragische Begebenheiten, und unvorhergesehene Katastrophen endigten manch glänzendes Leben. Von allem diesem Gerausch, von allem diesem Vlute, von allen diesen Rivalitäten ist jetzt nichts mehr übrig, als die Schlaftrunkenheit eines Volkes von Soldaten, die in einer Stadt hinschmachten, welche an nichts mehr Antheil nimmt, was in dcr Welt geschieht, weder an dem Frieden, noch an dem Kriege. In Nußland ist die Vergangenheit von der Gegenwart durch einen Abgrund getrennt. S,it dreihundert Jahren ruft die Glocke des Wetsche (der Volksversammlung) nicht mehr dieses sonst berühmteste und mißtrauischeste Volk zur Berathung seiner Angelegenheiten; der Wille des Czaren erstickt in allen Herzen selbst die Er--mnerung an den entschwundenen Ruhm. Vor einigen Jahren kamen schreckliche Auftritte zwischen den Kosaken und den Landbewohnern in den Militaircolonien vor, welche in der Umgegend dieses Stadtüberrestes angelegt worden ist. Aber nachdem der Aufstand unterdrückt war, kehrte Alles zu der gewohnten Ordnung, d. h. zu der Stille und dem Frieden des Grabes zurück. Die Türkei, hat Nowogorod um nichts zu beneiden. Ich freute mich doppelt, wegen des Gefangenen ir» Moskau und auch um meinetwillen, als ich diesen sonst we-gcn der Unordnungen der Freiheit berühmten Ort verlassen konnte, in dem jetzt die gute Ordnung herrscht, ein Wort, das gleichbedeutend mit Tod ist. , Trotz aller Mühe, die ich mir gab, kam ich doch erst am vierten Tage in Petersburg an. Kaum war ich aus dem Wagen gestiegen, fo eilte ich zu dem Herrn von Varante., Er wußte noch nichts von der Verhaftung Pernets und schien sich zu wundern, sie durch mich zu erfahren, zumab als er hörte, daß ich beinahe vier Tage unterwegs gewesen. Sem Erstaunen steigerte sich, als ich ihm meim vergeblichen Bemühungen schilderte, unlem donsul, diesen offiziellen Vertheidiger der Franzosm, zu einem Schritte zu Gunsten des Verhafteten zu vermögen. Die Aufmerksamkeit, mit welcher mich der Herr von Barante anhörte, die Versicherung, welche er mir gab, nichts zu versäumen, um die Sache' aufzuklaren und sie nicht aus-den Augen zu verlieren,, so lange sie mcht in's Klare gebracht sei, die Wichtigkeit, welche er auch den geringsten Umständen zuzuschreiben schien, welche die Würde Frankreichs und> bie Sicherheit unserer Mitbürger betreffen konnten, beruhigten mein Gewissen und vertrieben die Schreckgestalten meiner Phantasie., Das Schicksal d.s Herrn Perntt lag m den Handen seines nannlichen Beschützers, dessen Geist und (5l>,-racter sicherere Bürgen für den Unglücklichen wurden, als mein Elfer und meine machtlosen Bestrebungen. Ich fühlte, daß ich Alles gethan hatte, was ich thun konnte und mußte, um dem Unglücke zu Hilfe zu kommen und die Ehre meines Vaterlandes nach dem Maße meiner Kräfte zu vertheidigen, ohne über die Grenzen hinauszugehen, die mir meine Stellung als gewöhnlicher Reisender setzte. Ich glaubte deshalb in den zwölf bis vierzehn Tagm, die ich noch in Petersburg blieb, den Namen Pernets vor dem französischen Gesandten nicht mehr erwähnen zu dürfen und ich verließ Nußland, ohne den Fortgang einer Geschichte zu k.'nnen, deren Anfang mein Interesse in dem Maße, wie Sie gesehen, in Anspruch genommen hatte. Während ich aber schnell und frei Frankreich entgegen reisete, kehrten meine Gedanken oft nach den Gefängnissen Moskaus zurück. Hätte ich gewußt, was dort vorging, so würde ich noch unruhiger gewesen sein.*) *) Um den Leser nicht auch in Unkenntniß übcr das Schicksal dcs Gefangenen in Moskau zu lassen, knüpfe ich hier an, was ich seit meiner Rückkehr nach Frankreich übcr die Einkerkerung Per-ncts und seine Frcilassung erfahren habe. Eines Tages, zu Ende des Winters 1840, mcldcte man mir, cs wünsche ein Unbekannter mit mir zu sprechen; ich ließ nach seinem Namen fragen und cr antwortete, er würde mir denselben selbst nennen. Ich weigerte mich darauf, ihn zu empfangen; cr ließ sich nicht abweisen und ich blieb bei mcincr Weigerung. Endlich schrieb cr mir zwei Worte, ohne seinen Namen zu unterzeichnen, um mir zu sagen, ich könne cs unmöglich umgehen, einen Mann anzuhören, der mir sein Leben verdanke und der mir Dank zu sagen wünsche. Diese Sprache kam mir neu vor und ich befahl, den Unbekannten cintrettn zu lassen. Er erschien und sagte: „Ich habe Ihre Adresse erst gestern erfahren und heute eile ich zu Ihnen; ich heiße Pernet und komme, um Ihncn meinen Dank auszudrücken, dcnn man hat mir in Petersburg gesagt, daß ich Ihncn mcmc Freiheit und folglich mein Lcben verdankte." 319 Die lchten Augenblicke meincs Aufenthaltes in Petersburg wendtte ich auf den Veftvch verschiedener Anstalten, Nach dcr ersten Bewegung, wclchc ein solcher Anfang wohl hervorbringen mußte, betrachtete ich den Herrn Pernet; er gleicht jener zihlreichcn Classe junger Franzosen, dic das Aussehen und den Weist dcr Südländer haben; er hat schwarze Augen und Haare, hohle Wangen und blasse Farbe, ist klein und bagcr und sieht leidend aus, mehr geistig als körperlich. Es «rgab sich, das, ich Personen seiner Familie in Saucocn kenne, dic zu den ehrenwee-thesten 'n Zmmigen in Betreff der Ne-l)andlu„g der Sclaven in den vcrci,üalc,i ^laaten, und man wivd eine "uffM?n'd<. Ähnlichkeit zwischen den Urbergriffe,, des Despol'smlli und dcn Mißbrauchen der Democratie hal/en. m. 2l ^2^ Anstalt wird von cincm Engländer, Wilson, geleitel, der in Generalsrang steht (in Nußland hat Alles Militairrang); er - Nach dieser Zeit, die dem Hern Pernct wie eine Ewigkeit vorgekommen war, wurde cr ohne irgend eine Gcrichtsfmm entlassen und ohne die Ursache seiner Verhaftung erfahren zu können. Seine wiederholten Fragen an den Polizeidirector in Moskau klärten nichts auf; man sagtc ihm blos, sein Gesandter habe ihn reclamirl und befahl ihm einfach Rußland zu verlassen. Er bat um die Erlaubniß, über Petersburg reisen zu dürfen und erhielt sie. Er wünschte dem Gesandten Frankreichs für die Freiheit zu danken, die cr durch denselben wieder erlangt, aber auch einige Aufklärung über die Bckandlung zu erhalten, die cr hatte dulden müssen. Herr vun Varantc versuchte vergebens ihn von dem Vorsatze abzubringen, sich gegen den Herrn von Benkendorf, dcn Minister der kaiserlichen Polizei, auszusprechcn. Der befreite Gefangene bat um rinc Audienz, die ihm bewilligt wurde, und sagte zu dem Minister, da ihm die Ursache nicht bekannt sei, warum er Strafe gllittcn, so wünsche er sein Verbrechen zu erfahren, bevor cr Nußland verlasse. Der Minister antwortete kurz, cr würde wohl thun, wenn cr seine Nachforschungen über die Sache nicht weiter treibe und entließ ihn mit der Wiederholung des Befehls, das Land ohne Verzug zu verlassen. Weiter konnte ich nichts von dem Herrn Pernct erfahren. Der junge Mann hat, gleich allen Personen, die eine Zeit lang m Rußland lcbttn, das geheime, zurückhaltende Wesen angenommen, dem die Fremden, die sich da aufhalten, eben so wenig entgehen, als die Bewohner des Landes selbst. In Rußland scheint alle Glwisscn ein Geheimniß zu drücken. Auf mein Andringen sagte mir endlich Herr Pernet, man habe ihn in dcm Passe bei seiner ersten Reife Kaufmann, in dem bei der zwcittn Advokat genannt, ja er fügte noch etwas Wichtigeres hinzu, nämlich das, cr, vor der Ankunft in Petersburg, auf dem Dampfschiffe frei scine Meinung gegen dcn russischen Despotismus vor mehreren Personen ausgesprochen, die cr nicht.gekannt. zeigte er uns sein« Maschinen als ächter russischer Ingenieur, h. h. er erließ uns keinen Nagel und keine Schraube. Mit ihm musterten wir nahe an zwanzig Werkstätten von ungeheurer Größe. Diese außerordentliche Gefälligkeit des Directors verdiente ohne Zweifel großen Dank; ich sprach nur wenig davon aus und das war noch mehr als ich eigentlich fühlte; die Ermüdung macht fast eben so undankbar, als die Langeweile. Das Bewundernswürdigste, das wir bei der langen Musterung der Maschinen zu (Holpina fanden, war eine von Vra-mah zur Prüfung der Stärke der Ketten, welche die Anker der größten Schisse tragen; die ungeheuern Ringe, welche der Kraft dieser Maschine zu widerstehen vermochten, können dann auch die Schisse gegen die heftigen Windstöße und Wogenschlage festhalten. In der Maschine Brahmahs wendet man auf sinnreiche Weise den Druck des Wassers zur Messung der Stärke des Eisens an. Diese Erfindung kam mir höchst merkwürdig vor. Wir untersuchten auch Schleußen, welche in Anwendung kommen, wenn das Waffer außerordentlich hoch steigt. Namentlich im Frühjahre kommen diese merkwürdigen Schleußen in Anwendung; ohne sie. würde das Waffer unberechenbaren Zum Schlüsse versicherte cr, daß er sich keines andern Umstan-deö erinnere, bcr scinc Behandlung in Moskau hätte vcranlasscn können. Ich habe ihn nicht wirdcr gcschcn; nach cincm cbcn so seltsamen Zufalle wie dcr war, wclchcr mich rinc Molle in dkscr Geschichte spiclcn lirß, traf ich zwei Iahrc spatcr mit einer Pcr: son seiner Familie zusammen, die mir sagle, sic kenne dcn Dicnst, den ich ihrcm jungm Vcrwandttn crwicsm, und mir dafür dankte. Ich muß hinzulchcn, daß dicse Pcrson conscroaliue Meinungen besitzt und sehr religiös ist und ich wicdttholc, daß die Familie Pern« von Allcn, die sie kennen, in dcm Königreiche Sardinien hochgeachtet wird. 21 * Schaden anrichten. Die Canale und Schlcußen sind mlt starkem Kupferbleck ausgelegt, weil dieses Metall, wie man sagt, der Winterkälte besser widersteht, als der Granit. Man versichert uns, wir würden nirgends etwas Achnlichcs sehen. Ich habe in Lolpina jene Art Großartigkeit, jenen Luxus gefunden, der mir bei allen nühlichen Bauten aufgefallen ist, welche die russische Regierung anordnet. Diese Regierung verbindet fast immer mit dem Nothwendigen viel Uebersiüssi-gcs. Sie besitzt so viel wirkliche Macht, daß man selbst die List nicht mißachten darf, zu der sie sich herablaßt, um die Fremden zu blenden: diese Schlauheit und List wird blos aus Liebhaberei angewendet; es muß eine Neigung dazu in dem Nationalcharacter liegen. Man lügt nicht immer blos aus Schwache, man lügt bisweilen auch, weil man von der Natur die Gabe erhalten hat, gut zu lügen; es ist dies ein Talent und jedes Talent will geübt sein. Als wir in den Wagen stiegen, um nach St. Petersburg zurückzukehren, war es finster und kalt. Der lange Weg wurde durch eine angenehme Unterhaltung verkürzt, aus der ich folgende Anecdote behalten habe. Sie beweiset ebenfalls, wie weit sich die Schöpferkraft eines absoluten Herrschers erstreckt. Vis dahin hatte ich den russischen Despotismus in seiner Ausübung gegen die Todten, gegen die Kirchen, gegen die geschichtlichen Thatsachen, gegen die Verur-lheilten und die Gefangenen, kurz gegen Alles gesehen, was nicht sprechen kann, um gegen einen Mißbrauch der Gewalt zu protestiren; hier werden wir einen Kaiser von Nußland einer der ausgezeichnetsten Familien Frankreichs eine Verwandtschaft aufnöthigen sehen, von der sie nichts wußte und nichts wissen mochte. Nnter der Regierung Pauls l. befand sich ein Franzose Namens Lovel in Petersburg; er war jung und angenehm 328 von Person und gefiel einem sehr reichen Madchen, in das er sich verliebt hatte. Sie hieß Kaminski oder Kaminska, ich weiß aber nicht, ob die Familie aus Polen stammt. Sie war damals ziemlich machtig und angesehen und widersetzte sich der Heirach, weil der junge Fremde weder von vornehmer Familie war, noch Vermögen besaß. Die beiden Liebenden genethen in Verzweiflung und griffen zu einem Romanmittel. Sie warteten einst auf der Straße auf den Kaiser, warfen sich ihm zu Füßen und baten ihn um seinen Schutz. Paul l, der gutmüthig war, wenn er nicht wahnsinnig war, versprach den Liebenden die Zustimmung der Familie zu ermitteln, die er wahrscheinlich durch mehr als ein Mittel, namentlich aber durch folgendes gewann: ,,Mlle. Kaminska," sagte der Kaiser, „verkrachet sich mit dem Grafen von Laval, einem jungen französischen Ausgewanderten von berühmter Familie und bedeutendem Vermögen." Der so, versteht sich blos mit Worten, ausgestattete junge Franzose verheirathete sich mit Mlle. Kaminska, deren Familie sich wohl gehütet haben würde, einem Wunsche des Kaisers entgegen zu treten. Um den Ausspruch des Kaiseis zu bewahrheiten, ließ der neue Graf von Laval stolz sein Wappenschild üocr der Thüre des Palastes anbringen, den er mir seiner Gemahlin bezog. Leider reis'te etwa fünfzehn Jahre spater, mner der Restauration, ich weiß nicht welcher Montmorency-Laval in Rußland. Er sah jems Wappen, erkundigte sich und hörte die Geschichte ocs Herrn Lovel. Auf sein Gesuch licß der Kaiser Alerander sofort das Wappen der Laval vor der Thüre wegnehmen, was aber 5>rrn Lovel nicht gehindert hat, fortwahrend als Graf von Laval die Honneurs in seinem glänzenden Palaste zu machen, 326 der stets der Palast Laval heißen wird — aus Achtung vor dem Kaiser Paul, gegen dm man manches abzubüßen hat. Den Tag nach meinem Ausflüge nach Colpma besichtigte ich die Maleracademie, ein stolzes, prächtiges Gebäude, das bis jetzt freilich wenig gute Sachen enthält; aber was kann man hoffen von der Kunst in einem Lande, in welchem die jungen Künstler Uniform tragen! Ich fand alle Zöglinge der Academie wie Seecadetten gekleidet, eingerichtet und commandirt. Dies allein zeugt von tiefer Verachtung für das, was man zu schützen behauptet, oder vielmehr eine völlige Unkenntniß der Natur und der Geheimnisse der Kunst; zur Schau getragene Gleichgültigkeit wäre wenigrr barbarisch; es ist in Nußland nichtS frei als das, um das die Regierung sich nicht kümmert; nun kümmert sie sich nur zu sehr um die Kunst, sie weiß aber nicht, daß die Kunst der Freiheit bedarf und daß diese Verbindung zwischen den Geisteswerken und der Unabhängigkeit des Menschen schon allein ein Beweis von dem Adel des Künstlerstandcs sein würde. Ich durchwanderte mehrere Ateliers und fand da ausgezeichnete Landschaften, die in ihren Compositionen Phantasie und selbst Farbe habe. Besonders bewunderte ich ein Gemälde, Petersburg in einer Sommernacht, von Worobicss; es ist schön wie die Natur und poetisch wie die Wahrheit. Wenn ich das Bild ansah, glaubte ich in Rußland anzu, kommen; ich erinnerte mich der Zeit, wo die Sommernachte aus zwei Dämmerungen bestanden. Besser läßt sich der Effect dieser dauernden Helle nicht wiedergeben, welche über das Dunkel siegt, wie eine Lampe durch leich.te Gaze hindurch scheint. Ich entfernte mich ungern von diesem Bilde, das wie die andern desselben Malers der Natur abgestohlen zu sein scheint. Seine Werke erneuerten in mir die ersten Eindrücke 327 bei dem Anblicke der Ostsee; ich sah hier die Polarhelle wieder, nicht das Licht auf dm gewöhnlichen Bildern. Man macht in Rußland viel Aufhebens von dem Talente Brülows. Scin ,,letzter Tag in Pompeji" hat, wie man sagt, selbst in Italien Aufsehen gemacht. Dieses ungeheuer große Gemälde ist jetzt der Stol; der russischen Schule in St. Petersburg. Lachen Sie nicht über diese Bezeichnung; ich sah einen Saal, auf dessen Thüre die Worte standen: Russische Schule! Das Gemälde Vrülows scheint mir ein falsches Colorit zu haben; der von dem Künstler gewählte Gegenstand konnte allerdings diesen Hehler etwas verdecken, denn wer kann wissen, welche Farben die Gebäude in Pompeji an ihrem letzten Tage hatten? Der Maler hat einen harten, aber kräftigen Pinsel; es fehlt seinen Entwürfen weder an Phantasie noch an Originalität. Seine Köpfe sind verschieden, aber wahr; wenn er das Halbdunkel anzuwenden wüßte, würde er vielleicht einst den Ruhm verdienen, den man ihm hier schon jetzt gemacht hat; bis jetzt fehlt ihm aber das Natürliche, das Kolorit, die Leichtigkeit, die Grazie; daß Gefühl des Schönen geht ihm ganz ab, wenn man ihm auch eine gewisse wilde Poesie nicht absprechen kann. Der Eindruck seiner Bilder ist unangcmhm. Auf einer „Himmelfahrt," die man in Peterburg allgemein bewundert, weil sie von dem berühmten Brülow ist, bemerkte ich Wolken, die so plump und schwer waren, daß man sie auf dem Theater als Felsendecoration verwenden könnte. Auf dem Gemälde Brülows „Pompeji's letzter Tag" sieht man indeß Köpfe, die ein wahres Talent verrathen. Es würde trotz den Mängeln der Composition, welche dasselbe enthalt, jedenfalls im Kupferstiche gewinnen, da hauptsachlich das Colorit Tadel verdient. 328^ Seit seiner Rückkehr nach Rußland s«Il der Maler bereits viel von seiner Begeisterung für die Kunst verlorm haben. Wie bedaure ich ihn, daß er Italien gesehen hat, da er nach dem Norden zurückkehren mußte. Er arbeitet wenig und leider zeigt sich seine Leichtigkeit in Arbeiten, die man ihn zum Verdienst anrechnet, in seinen Werken gar zu sehr. Nur durch fleißige ausdauernde Arbeit würde er das Steife in seiner Zeichnung, das Rohe in seiner Färbung besiegen. Die großen Maler wissen, wclchs Mühe es kostet, mit dem Pinsel nicht mehr zu zeichnen, durch Abstufung der Töne zu malen, von der Leinwand die Linien zu entfernen, die nirgends in der Natur bestehen, die Luft zu zeigen, wie sie überall ist, die Kunst zu verbergen, wrz die Wirklichkeit darzustellen und sie doch zu veredeln. Der russische Rafael scheint von dieser schweren Aufgabe des Künstlers nichts zu ahnen. Wie man mir erzahlt, trinkt er mehr, als er arbeitet; ich tadle ihn weniger, als ich ihn beklage. Hier sind alle Mittel zur Erwärmung gut; der Wein »st die Sonne Rußlands. Wer neben dem Unglücke, ein Russe zu sein, auch das noch hat, in Rußland sich als Maler zu fühlen, muß auswandern. Ist nicht für all» Maler eine Stadt, in welcher es drei Monate Nacht ist und der Schnee heller glänzt als die Sonne, ein Exil? Einige Genremaler könnten wohl, wenn sie die Seltsamkeiten der Natur unter dieser Breite wiedergeben wollten, sich Ehre erwerben und auf der Stufe des Tempels der Kunst ein Plätzchen erlangen, wo sie eine Gruppe für sich bilden würden, ein Historienmaler aber muß ein solches Elima fliehen, wenn er die Anlagen entwickeln will, die er von dem Himmel erhalten hat. Was auch P"er der Große sagte und that, die Natur wird immer den Einsallen der Menschen, 329^ und wenn sie durch die Ukasen von zwanzig Czaren gerecht' fertigt wären, Schranken entgegenstellen. Ich habe ein wahrhaft bewundernswürdiges Werk Vrü« lows ssesehen, das beste ohne Zweifel, das man in Petersburg unter den modernen Gemälden besitzt, die ». Den Ort, von wo ich schreibe, werden sie Hossenilich eben so .gern lesen als ich ihn schreibe,; ich habe das Land der Gleichförmigkeit und der Schwtengkeilen hinter mir! Man spricht frei, und glaubt in einem Wirbel von Vergnü» gungen, in einer Welt sich zu befinden, welche durch die neuen Ideen zu einer ordnungslosen Freiheit fortgerissen wird. Doch ist man in Preußen, aber wenn man Rußland verläßt, findet man wieder Häuser, deren Plan nicht durch einen unbeugsamen Herrn einem Sclaven anbefohlen ist, Hauser, die zwar noch armlich, aber doch nach eigener freier Wahl erbaut sind; man sieht ein frcibebautes heiteres Land (vergessen Sie nicht, daß ich von Preußen spreche), und diese Veränderung erquickt das Herz. In Rußland sieht man den Mangel der Freiheit selbst in den Steinen, die alle rechtwinkelig bchauen sind, in den Balken, die sämmtlich regelmäßig einander glcichm, wie man ihn an den Menschen fühlt. — Ich athme frei auf! — Ich kann schon schreiben ohne die von der Polizei befohlene oratorische Vorsicht, die fast immer unzureichend ist, denn es liegt in der Spionererci dcr Russen eben so viel reizbare Eitelkeit als politische Klugheit. Nußland ist das traurigste Land auf der Erde, bewohnt durch die schönsten Männer, die ich geschen habe; ein Land, in welchem man die Frauen kaum sieht, kann für das Auge nicht angenehm sein. Ich habe es endlich verlassen, und ohne den geringsten Unfall! Ich machte in vier Tagen 250 Stunden auf oft abscheulichen, oft vortrefflichen Wegen, denn der russische Geist kann, so sehr er die Gleichförmigkeit liebt, die wirkliche Ordnung nicht erreichen-, der Character der russischen Verwaltung ist di? Nachlässigkeit, die Bestechlichkeit. Man fühlt sich durch den Gedanken empört, sich an allcs dies zu gewöhnen, und doch gewöhnt man sich daran. Ein ehrlicher, aufrichtiger Mann wülde hier für verrückt gelten. Jetzt werde ich ausruhen und mit Muße reisen. Ich habe noch All) Stunden von hier bis Berlin zu machen; aber Betten, in denen man schlafen kann und überall gute Gasthauser, so wie eine gute Straße machen die Reise zu einer wahren Spazierfahrt. Die Reinlichkeit der Betten und der Zimmer, die Ordnung der von Frauen geleiteten Wirthschaften, Alles kam mir neu und reizend vor. Besonders fiel mir die verschiedene Form der Hauser, das freie Aussehen der Bauern und die Heiterkeit der Bäuerinnen auf; ich erschrak fast über ihre gute Laune-, es war eine Selbststandigkeit, deren Folgen ich für sie fürchtete; ich hatte die Erinnerung daran verloren. Man sieht hier Städte, die von selbst entstanden sind, und man erkennt es, daß sie gebaut wurden, ehe eine Negierung den Plan dazu gemacht hatte. Das herzogliche Preußen 335 gilt gewiß nicht für das Land der Ungebundenheit, aber als ich durch die Straßen Tilsits, und später Königsbergs, ging, war es mir, als befände ich mich in dem Karneval zu Venedig. Ich erinnerte mich da, daß einer meiner deutschen Bekannten, der seiner Geschäfte wegcn mehrere Jahre in Rußland zugebracht hatte, endlich das Land für immer verließ; er be« fand sich in Gesellschaft eines Freundes; kaun» hatten sie das englische Schiff betreten, das die Anker gelichtet, als man sie einander in die Arme sinken sah und ausrufen hörte: „Gott sei Dank, wir tonnen frei athmen und laut denken." Wahrscheinlich haben viele Personen dasselbe gefühlt» warum sprach es noch kein Reisender aus? 'Ich bewundere hier die Macht, welche die russische Regierung auf die Geister ausübt, wenn ich sie auch nicht begreife. Sie erlangt das Schweigen nicht blos ihrer Unterthanen, das ist wenig, sie verschasst sich sogar in der Fcrne Gehorsam dei den Fremden, die ihrer eisernen Disciplin entgangen sind. Man lobt sie, odcr schweigt doch wenigstens; es ist dies ein Geheimniß, das ich mir nicht zu erklären vermag. Wenn die Veröffentlichung dieser Neiscschilderung dazu beitragt, mir das Räthsel lösen ;u helfen, so werde ich einen Grund mehr haben, mir wegcn meiner Aufrichtigkeit Beifall zu wünschen. Ich wollte über Wilna und Warschau nach Deutschland zurückkehren, änderte aber meinen Plan. Ein Unglück wie das Polens kann nicht blos dem Schicksale zugeschrieben werden; bei lange dauerndem Unglück muß man immer auch den Fehlern ihren Antheil zurechnen, wie den Umstanden. Bls zu einem gewiffen Punkte werden die Nationen wie die einzelnen Individuen Mitschuldige des Schicksals, das sie verfolgt; sie scheinen verantwortlich 333 ,zu sein für die Unfälle, die sie Schlag auf Schlag betreffen, dcnn in aufmerksamen Augen sind die Geschicke nichts weiter als die Entwickelung der Ideen. Ich würde, wenn ich das Resultat der Verklungen eines so hart gestraften Volles sahe, mich emigcr Bemerkungen nicht enthalten können, die ich später bereuen möchte-, den Unterdrückern die Wahrheit zu sagen, ist eine Aufgabe, die man sich mit einer gewissen Freude stellt, da man sich durch den Schein von Muth und Edelsinn gestüht fühlt, dor mit der Erfüllung einer gefährlichen, oder doch wenigstens peinlichen Pflicht verbunden ist; das Opfer aber zu betrüben, den Unterdrückten niederzubeugen, und geschahe es durch die Wahrheit, ist ein Verfahren, 'zu dem sich nie der Schriftsteller herablassen wird, dec seine Feder nicht verachten will. Aus diesen Gründen besuchte ich Polen nicht. Sechsunddreißigster Brief. Ems, den 82. October «8>13. ^ch habe die Gewohnheit, nie viel Zeit vergehen zu lassen, ohne Sie zu nöthigen, sich meiner zu erinnern; ein Mann wie Sie wird denen nothwendig, welche ihn einmal würdigen lernten und seine Kenntnisse zu benutzen verstehen, ohne sie zu fürchten. Es liegt in dcm Hasse, welche das Talent kleinen Geistern einstößt, noch mehr Furcht als Neid; was würden sie damit thun, wenn sie es besäßen. Sie fürchten immer seinen Einfluß und seinen Scharfblick. Sie sehen nicht ein, daß der überlegene Verstand, der das Wesen der Dinge und deren Nothwendigkeit erkennen lehrt, Nachsicht verheißt; die aufgeklärte Nachsicht ist anbetungswürdig wie die Vorsehung; aber die kleinen Geister beten nicht an. Vor fünf Monaten reisete ich von Ems nach Nußland ab und ieht bin ich nach einer Neif? von einigen l.mscnd Etunden in diese elegante Stadt zurückgekommen. Ter Aufenthalt im Bade war mir im Frühjahre unangenehm wegen der unvermeidlichen Menge von Badenden und Trinkenden -» jetzt sinde ich ihn herrlich, da ich buchstablich allein bin und mich an dem schönen Herbste inmitten der Berge freue, deren Einsamkeit ich bewundere, wahrend ich immcr M 22 3I8^ Erinnerungen sammele und die Ruhe suche, die ich nach dcr schnellen Reise bedarf, welche ich gemacht habe. Welcher Contrast! In Rußland entbehrte ich des Anblicks der Natur; es giebt dort keine Natur, denn ich mag diesen Namen Einöden ohne pittoresken Wechsel, Meeren mit flachen Ufern, Seen und Flüssen, deren Waffer mit der Erde gleich hoch steht, grenzenlosen Sümpfen und Steppen ohn? Vegetation unter einem Himmel ohne Licht nicht geben. Diese Ebenen ohne malerische Landschaften baden wohl auch ihre Art Schönheit; aber das Großartige ohne Rch ermüdet bald; welches Vergnügen gewahrt es, über unermeßliche, unabsehbare kahle Flachen zu reisen, wo man nichts als einen ganz leeren weiten Raum erblickt? Diese Einförmigkeit erhöht die Ermüdung des Neisens, weil sie dasselbe unfruchtbar macht. Die Ueberraschung gehört einigermaßen zu allen Reiscvergnügungen und halt den Eifer des Reisenden aufrecht. Ich freue mich, daß ich mich zu Ende des Jahres in einer verschiedenartigen Gegend befinde, deren Schönheiten sogleich in die Augcn fallen. Ich kann Ihnen nicht sagen, mit welchem Vergnügen ich so eben unter den großen Vau-men hin gegangen bin, deren abgefallene Blätter den Boden bestreut hatten. Ich bemerkte bisweilen durch das durch den ersten Reif dünner gewordene Laub hindurch die duftige Ferne des Lahnthales in der Nähe des schönsten Flusses in Europa, und bewunderte die Ruhe und Anmuth der Landschaft. Die Aus- und Durchsichten, welche durch die Schluchten gebildet werden, in denen die Veiflüsse des Rheines strömen, sind mamnchfaltig >, die an der Wolga sehen einander sämmtlich ätinlich; das Ausseden der l>ohen Ebenen, welche man hier Berge nennt, weil sie tiefe Thäler scheiden, ist im 339^ Allgemeinen kalt und monoton. Dennoch find diese ^alle und siese Eintönigkeit Feuer und Leben und Bewegung in Vergleich mit den Sümpfen Nußlands. Diesen Morgen ergoß sich das blitzende Licht der Sonne der letzten schönen Tage über die ganze Natur und verlieh einen südlichen Glanz diesen nordischen Landschaften, welche durch die Herbst-nebel ihre scharfen Umrisse und steifen Linien verloren hatten. Die Nube der Walder in dieser Jahreszeit ist merkwürdig; sie sticht von der Thätigkeit der Felder ab, wo der Mensch, durch die Ruhe, die Vorläuferin des Winters, aufgefordert, seine Arbeit zu beendigen strebt. Dieses belehrende und feierliche Schauspiel, das so länge dauern musi als die Welt, interessirt mich als wäre ich erst geboren oder als sollte ich sterben. Das intellectuelle Leben ist eine Aufeinanderfolge von Entdeckungen. Die Seele bewahrt, wenn sie ihre Kräfte nicht in den zu gewöhnlichen Leidenschaften vergeudet hat, eine unerschöpfliche Fähigkeit, neugierig zu sein und sich überraschen ui lassen; immer ncue Gewalten regen sich zu neuen Anstrengungen an; die Welt vor ihr genügt ihr nicht; sie wendet sich an die Unendlichkeit; ihr Gedanke reift, ohne alt zu werden und dies cben verheißt uns etwas über dem, was wir hier sehen. Die Intensität unseres Lebens macht die Mannichfaltiq-keit aus; was man recht tief fühlt, erscheint immer neu; die Sprache empfindet diese ewige Frische der Eindrücke ebenfalls-, jede neue Gefühlserregung giebt den Wonen, welche sie ausdrücken sollen, eine eigenthümliche Harmonie, und deshalb ist das Kolorit des Stnls dcr sicherste Maßstab für die Neuheit, d. h. die Wahrheit der Empfindungen. Ideen werden geliehen, die O.uello dersclben laßt sich verbergen, der Geist belügt den Geist, aber die Harmonie der 22' Nedc täuscht nie; als sicherer Vcweis der Empfänglichst der Ceele ist sie cine unwillkürliche Enthüllung sie kommt unmittelbar aus dem Herzen und geht unmittelbar zum Herzen; dic Kunst erseht sie nur unvollkommen, denn sie geht aus dem wirklich Empfundenen hervor, sie ist das Unwillkürlichsie, das Wahrste, das Fruchtbarste in dem Ausdruck des Gedankens, und deshalb hat die Sand so schnell den 3luf erlangt, den sie verdient. Heilige Liebe zur Einsamkeit, du bist nur ein lebhaftes Bedürfniß der Wirklichkeit! Die Welt ist so lügnerisch, daß em Character, der leidenschaftlich die Wahrheit liebt, die Gesellschaften zu meiden suchen muß. Der Menschenhaß ist ein verläumdeies Gefühl, denn er ist nur der Haß der Lüge. Es giebt keine Menschenfeinde, sondern nur Gemüther, welche sich lieber zurückziehen als heucheln. Der Mensch, der mit Gott allein ist, wird durch die Aufrichtigkeit endlich demüthig; er büßt hier durch Schweigen und Nachdenken alle glücklichen Täuschungen der weltlichen Geister, ihre trwmphirende Doppelzüngigkeit, ihre Eitelkeit, ibren unbekannten, oft gar belohnten Verrath; da er nicht getauscht werden kann, aber auch nicht tauschen will, so dringt er sich freiwillig zum Opfer und verbirgt sein Dasein ebenso sorgfaltig, wie sich die Höflinge der Mode vorandrangen. Dies ist ohne Zweifel das Geheimniß deS Lebens der Heiligen, das leicht zu errathende, aber schwer nachzuahmende Geheimniß. Wenn ich ein Heiliger ware, würde ich nicht mehr reisesüchtig sein, noch viel weniger die Lust fühlen, meine »leisen zu erzählen. Die Heiligen haben bereits gefunden; ich suche noch. Suchend durchstreifte ich Rußland; ich wollte ein Land sehen, in welchem die Ruhe einer ihrer Kraft sichln Macht herrscht) aber ich erkannte, das; nur die Stlilc der Furcht da herrscht und zoq daraus eine ganz andere Lehre, als ich gesucht hatte. Rußland ist eine den Fremden fast unbekannte Welt; die Russen, welche reisen, um ihr zu entfliehen, zahlen in der Ferne ihren Tribut an das Vaterland in kühnen Lobpreisungen und die meisten Reisenden, welche uns Nußland beschrieben haben, wollten da nur das entdecken, was sie dort suchten. Wnrum aber reisen, wenn man sich gegen den Augenschein sträubt? Wenn man entschlossen ist, die Nationen so zu sehen, wie man sie haben will, braucht man sein Haus nicht zu verlassen. Ich sende Ihnen einen kurven Ueberblick meiner Reise, den ich seit meiner Rückkunft nach Ems geschrieben habe; ich dachte bei dieser Arbeit stets an Sie und ich darf sie Ihnen also wohl widmen. Ucb erblick der N c i s c. ^^n Nußland ist Alles, was in die Augen fallt und um den Reisenden her vorgeht, entsetzlich regelmäßig, und der erst? Gedanke, den er bei der Betrachtung dieser Evmmetrie haben muß, ist, daß eine so vollständige Gleichförmigkeit, eine den natürlichen Neigungen des Menschen so widersprechende Regelmäßigkeit ohne gewaltsame Mittel nicht erlangt werden konnte und nicht bestehen kann. Die. Phantasie wünscht vergebens einige Mannichfaltigkeit, wie der Vogel in dem Käfig seine Flügel ausbreitet. Unter einer solchen Negierung kann der Mensch am ersten Tage seines Lebens wissen, und er weiß es, was er bis zum letzten sehen und thun wird. Eine so lastige Tyrannei heißt in der officiellm Sprache Ordnungsliebe, Atchung für die Einheit, und diese herbe Frucht des Despotismus erscheint den methodischen Geistern so kostbar, daß sie um keinen Preis zu theuer erkauft werden könne. In Frankreich glaubte ich dieselbe Ansicht zu theilen; seit ich aber unter der schrecklichen Disciplin gelebt habe, welche die Bewohner eines ganzen Neichcs der militairischen Regel unterwirft, ist mir, ich gestehe es, eine Unordnung, welche die Kraft verrath, weit lieber als eine vollkommene Ordnung, die das 3eben kostet. In Rußland beherrscht die Regierung Alles, belebt aber nichts. Das Volk ist in diesem unermeßlichen Reiche, wenn nicht ruhiq, so doch stumm; der Tod schwebt über allen .hauptern und trifft sie noch launenhafter Wahl, man könnte hier an der göttlichen Gerechtigkeit verzweifeln. Der Mensch hat hier zwei Klippen: die Wieqc und das Grab. Die Mütter miissm die Geburt ihrer Kinder schmerzlicher beweinen, als den Tod derselben. Ich glaube nicht, daß der Selbstmord in Nußland däuNg vorkömmt; man leidet zu sehr, als daß man sich umbringen sollte. Seltsame Gemüthsstimmung des Menschen! Nenn der Schrecken sein Leben beherrscht, sucht er den Tod nicht; er weiß schon, was derselbe ist'). Uebrigens tonnte die Zahl der Selbstmörder in Nnsiland groß sein und es würde doch Niemand etwas da^on ^fahren; die Kenntniß der Zahlen ist ein Vorrecht der russischen Polizei; ich weiß nicht, ob sic richtig bis zu dem Kaiser *) Dickens sagt: „Der Selbstmord ist selten unter den befangenen, ja fast unbekannt, aber es läßt sich aus diesem Umstände, obgleich man häufig darauf hmnmsct, kein lHvund für d^ö system (die einsame Haft) ableiten. Alle, welche die Geisteskrankheiten studirt haben, wissen rcedt wohl, daß eine Entmutigung, cinc Verzweifln,^, die so groß sind, daß sie den ganzen Character verändern und die Kraft dcr Elasticiiat und des Widcrsknidcs brechen, in einem Menschen thätic, sein und ihn dock von dem Selbstmorde zurückhalten können. Das ist ein häufig vorkommender Fall." (Neise in Amn-ika, von Charles Dickens.) Dcr große Schriftsteller, der tiefe Moralist, dcr christliche Philosoph, dem ich diese Zeilen entlehne, bcsitzt nicht nur die Autorität dcs Talenüs und eines Stiles, welcher seine (^danken wie in Erz arä>t, seinr Ansicht gilt in dieser Sache auch als Gch'tz. 345 gelangen; nur so viel weiß ich, daß unter feiner Regierung kein Unglück bekannt gemacht wird, wenn er nicht ausdrücklich seine Einwilligung zu diesem demüthigenden Geständnisse der Ueberlegenheit der Vorsehung gegeben hat. Der Stolz des Despotismus ist so groß, daß er mit der Macht Gottes rivalisirt. Monströse Eifersucht, zu welcher Verwirrung hast du die Könige und die Unterthanen verleitet! Was soll das Volk sein, wenn der Fürst mehr ist als ein Mensch? Wie vermag man die Wahrheit zu lieben und zu vertheidigen in einem Lande, wo die Götzmdienerei das Princip der Staatsverfassung ist? Ein Mensch, der Alles kann, ist die gekrönte Lüge. Sie sehen ein, daß ich in diesem Augenblicke nicht an den Kaiser Nicolaus denke, sondern an den Kaiser von Rußland. Man spricht viel von dem Herkommen, das seine Macht beschränke; mir ist nur der Mißbrauch dieser Macht aufgefallen lmd ich habe kein Heilmittel dagegen gesehen. In dm Augen des achten Staatsmannes und aller prac-tischm Geister sind die Gesetze, ich weiß es, von geringerer Wichtigkeit, als unsere strengen Logiker, unsere Staatsphilo-sophen glauben; denn zuletzt entscheidet über das Leben der Völker doch nur die Art, wie die Gesetze angewendet werden. Ja, aber das Leben der Russen ist ein traurigeres als das irgend eines andern Volkes in Europa, und wenn ich sage ,,das Volk", so meine ich nicht blos die an die Scholle gefesselten Bauern, sondern das ganze Reich. Eine sogenannte kraftige Regierung, die sich bei jeder Gelegenheit unbarmherzig Achtung erzwingt, muß die Menschen nochwendig unglücklich machen. In den Staaten kann Alles dem Despotismus dienen, welche Fiction man auch herrschen laßt, die monarchische oder die democratische. Ueberall, wo der Gang d das Nachahmen. Wcnn es trotzdem einige Originalität zu besitzen scheint, so darf man nicht vergessen, daß kein Volk auf Erden jemals ein solches Bedürfniß nach Musterbildern gefühlt hat und daß es nur dann eigenthümlich wird, wenn es die Schöpfungen der Andern nachahmt. Das Eigenthümliche, was es besitzt, liegt in seinem außer» ordentlichen Nachahmungstalent, das es in höherem Grade besitzt, als irgend ein andres Volk. Seine einzige ursprüngliche und eigenthümliche Fähigkeit ist die Gabe, die Erfindungen der Fremden nachzumachen. Es wird in der Geschichte das sein, was in der Literatur ein geschickter Uebersetzer ist. Die Russen haben die Aufgabe, die europäische Civilisation für die Asiaten zu übersetzen. Das Nachahmungstalent in den Nationen kann nützlich, sogar bewundernswürdig werden, wenn es sich spat in ihnen entwickelt; es erstickt dagegen alle andern Talente, wenn es denselben vorausgeht. Nußland ist eine Gesellschaft von Nachahmern, und jeder Mensch, der nur nachahmen kann, verfällt notwendigerweise in die Earricatur. Rußland, das seit vier Jahrhunderten zwischen Europa und Asien schwankt, konnte noch nicht dahin gelangen, durch seine Werke in der Geschichte des menschlichen Geistes mit zu zahlen, weil sein Nationalcharacter unter dem Entlehnten sich verwischt. Obwohl vor dem Westen durch seine Anhänglichkeit an das griechische Schisma getrennt, wendete es sich mit der Inconsequenz getauschter Eitelkeit nach vielen Jahrhunderten dennoch wieder an die durch den Katholizismus gebildeten Nationen, um sich die Civilisation zu holen, von der es durch eine rein politische Religion fern gehalten worden war. Diese byzantinische Religion, welche aus einem Palaste hervorgegangen ist, um die Ordnung in einem Feldlager auf, recht zu erhalten, entspricht den höchsten Bedürfnissen der menschlichen Seele nicht; sie unterstützt nur die Polizei in der Täuschung der Naiion. 3W Sie hat dieses Volk von vorn herein des Bildungsgrades unwürdig gemacht, nach dem es strebt. Die Kirche muß frei und unabhängig sein, wenn der religiöse Saft sich frei bewegen soll, denn die Entwickelung der edelsten Fähigkeit der Völker, der Fähigkeit zu glauben, hängt von der Würde des Priesterthums ab. Der Mensch, welcher dem Mitmenschen die göttlichen Offenbarungen mittheilen soll, muß eine Freiheit besitzen, die kein Priester haben kann, welcher sich gegen seinen geistlichen ^?bern auf' lehnt. Die Erniedrigung der Diener des Cultus ist die erste Strafe der Ketzerei; deshalb sind in allen schismatischen Landern die Geistlichen verachtet trotz oder vielmehr wegen des Schuhes der Könige, und zwar weil sie selbst in dem, was ihre göttliche Sendung betrifft, von dem Fürsten abhängig sind. Die Völker, welche die Freiheil zu würdigen wissen, werden niemals einer abhangigen Geistlichkeit so recht von Herzen gehorchen. Die Zeit ist nicht mehr fern, in der man erkennen wird, daß in Religionssachen die Hauptsache die ist, die Freiheit des Hirten, nicht die der Heerde zu sichern. Ist die Welt dahin gekommen, dann wird sie einen großen Schritt gethan haben. Die Menge wird immer Männern gehorchen, die sie zu Führern wählt; man möge sie Priester, Lehrer, Dichter, Gelehrte, Tyrannen nnmen, der Geist des Volkes liegt in der Hand derselben; die religiöse Freiheit für die Massen ist also eine Chimäre, dagegen ist für das Geschick der Seelen die Freiheit des Mannes, der das Priesteramt bekleiden soll, von der höchsten Wichtigkeit. Nun giebt es aber in der Welt keinen freien Geistlichen als den katholischen. Die sclavischen Geistlichen können nur unfruchtbare Geister 350 leiten; ein Pope wird die Nationen nie etwas Anderes lehren, als sich vor d?r Gewalt niederzuwerfen. — Fragen Sie mich also nicht weiter, warum die Russen nichts erfinden, und warum sie nur nachzuahmen verstehen, ohne zu vervollkommnen. Als im Westen die Nachkommen der Barbaren die Alten mit einer an Anbetung grenzenden Verehrung studirtcn, mo-disicirten sie dieselben, um sie sich anzueignen; wer kann Virgil in Dante, Homer in Tasso wieder erkennen, selbst Justinian und die römischen Gesetze in den Gesetzbüchern der Feudalzeit? Die Nachahmung der den modernen Sitten ganz fremden Meister konnte die Geister bilden, indem sie die Sprache formte, vermochte sie aber nicht zu sclavischer Nachbildung zu nöthigen. Die leidenschaftliche Verehrung für die Vergangenheit weckte ihren eigenen Geist, statt ihn zu ersticken, so haben aber die Nüssen uns nicht benutzt. Wenn man die Form einer Gesellschaft nachahmt, ohne auch den Geist sich anzueignen, der sie belebt, wenn man Unterricht in dcr Civilisation, nicht von den alten Lehrern des Menschengeschlechtes, sondern von Fremden verlangt, die man um ihre Reichthümer beneidet, ohne ihren Character zu achten, wenn die Nachahmung feindselig ist und zu gleicher Zeit kindisch wird, wenn man einem Nachbar, den man verachten will, abguckt, wie er sein Haus eingerichtet hat, wie er sich kleidet, wie er spricht, so wird man ein Echo, ein Widerschein und existirt nicht mehr durch sich selbst. Die Staaten des Mittelalters, die stark durch eigene Bedürfnisse waren und durch eignen Glauben lebten, konnten das Alterthum verehren, ohne daß sie dasselbe parodircn ^ mußten; weil die schöpferische Sraft, wenn sie einmal eristirt, nicht verloren geht, was auch der Mensch treiben mag. 381 Welche Phantasie zeigt sich in der Gelehrsamkeit des fünfzehnten Jahrhunderts! Die Achtung der Musterbilder ist der Stempel eines schöpferischen Geistes. Aus diesem Grunde hatte das Studium der Classiker im Abenolande zur Zeit des Wiederauflebens der Wissenschaften nur auf die schöne Literatur -und die schönen Künste Einfluß; die Entwickelung der Industrie, des Handels, der Naturwissenschaften und der exacten Wissenschaften ist einzig das Werk des modernen Europa, das in Bezug auf diese Dinge fast Alles aus sich selbst genommen hat. Trotz der abergläubischen Bewunderung/ die es lange für die heidnische Literatur hegte, gehören ihm seine Politik, seine Religion, seine Philosophie, seine Regierungsformen, seine Kriegführung, sein Ehrgefühl, seine Sitten, sein Geist und seine socialen Gewohnheiten eigenthümlich an. Nur das spät civilisirte Rußland sah sich durch die Un-geduld seiner Herrscher einer tiefen Gahrung und der Wohl« that einer langsamen und natürlichen Ausbildung beraubt. Die innere Arbeit, welche die großen Völker bildet und eine Nation zum.Herrschen, d. h. zur Bildung Anderer vorbereitet, fehlte Rußland; ich habe in diesem Lande oftmals die Bemerkung gemacht, daß die Gesellschaft, der Staat, wie er durch die Fürsten geworden, nichts als ein ungeheures Treibhaus mit schönen exotischen Gewachsen ist. Jede Blüthe erinnert hier an ihren heimathlichen Vooen, aber man fragt sich, wo das Leben, wo die Namr ist, wo denn die einheimischen Erzeugnisse sind in dieser Sammlung von Erinnerungen, die von der mehr oder minder glücklichen Wahl einiger neugieriger Reisenden zeugt, aber keineswegs das ernste Werk einer freien Nation ist. Die russische Nation wird ewig diesen Mangel des 332 eigenen Lebens zur Zeit ihres politischen Erwachens fühlen. Die Jugend, dieses Alter der Arbeit, in welchem der menschliche Geist die ganze Verantwortlichkeit für seine Unabhängigkeit übernimmt, ist für Rußland verloren. Seine Fürsten und namentlich Peter der Große, welche die Zeit für nichts rechneten, haben es gewaltsam aus der Kindheit in das mannliche Alter versetzt. Da es kaum dem fremden Joche entgangen war, so kielt es Alles für Freiheit, was nicht mongolische Herrfchaft war, und nabm in der Freude seiner Unerfahrenheit selbst die Leibeigenschaft als eine Erlösung auf, ba sie ihm von einem rechtmäßigen Fürsten auferlegt wurde. Das unter der Eroberung erniedrigte Volk hielt sich schon für glücklich und frei, wenn sein Tyrann einen russischen UNd keinen tatarischen Namen hatte. Die Wirkung dieser Illusion dauert noch fort; die Setbst-siandigkeit des Geistes entfloh von diesem Boden, dessen an die Sclaverei gewöhnte Kinder bis auf den heutigen Tag nur den Schrecken und den Ehrgeiz ernstlich genommen haben. Was ist die Mode anders für sie, als eine zierliche Kette, die man nur öffentlich trägt? Die russische Höflichkeit ist, wie gut gespielt sie uns auch vorkommen mag, mehr ceremonies als natürlich, weil die ächte Artigkeit eine Blume ist, die nur auf dem Gipfel des socialen Baumes sich entfaltet. Dieser Baum laßt sich nicht pfropfen, er wurzelt ein und braucht, wie die Aloe, Jahrhunderte, ehe er zur Blüthe gelangt. Es muffen viele halb barbarische Generationen in einem Lande untergegangen sein, ehe aus den obern Schichten des socialen Bodens wirklich höfliche Menschen empor wachsen; zur Erziehung eines civilisirten Volkes sind mehrere Menschen-alter von Erinnerungen nöthig; nur der Geist emes von höflichen Acltern gedornen Kindes kann so schnell reifen, um einzusehen, was die Artigkeit wirklich ist. Sie ist ein ge< heimer Austausch von freiwilligen Opfern. Es kann nichts Zarteres, ja nichts so recht eigentlich Moralisches geben als die Grundsätze, welche die vollkommene Eleganz des Benehmens ausmachen. Eine solche Artigkeit kann, um der Prüfung der Leidenschaften zu widerstehen, von dem Adel der Gesinnungen nicht ganz verschieden sein, den Niemand allein erlangt, denn die erste Erziehung wirkt hauptsachlich auf das Gemüth. Mit einem Worte, die wahre Artigkeit ist ein Erdtheil; wenn auch unser Jahrhundert die Zeit für nichts rechnet, die Natur schlagt sie in ihren Werken hoch an. Sonst charactcrisirte die südlichen Russen ein gewisses Raffinement im Geschmack und es herrschte in Folge der von Alters her, wahrend der barbarischsten Jahrhunderte, bestehenden Verbindungen zwischen Constantinopel und den Fürsten von Kiew, in diesem Theile des Slawenreiches die Liebe zu den Künsten, die zu gleicher Zeit die Traditionen des Orients durch das Gefühl des Großen erhalten und eine gewisse Gewandtheit unter den Künstlern und Arbeilem fortgepflanzt hatten; aber diese Vorzüge, Früchte der ehemaligen Verbindung mit Völkern, die in einer von dem Alterthume ererbten Civilisation weit vorgeschritten waren, gingen bei dem Einfalle der Mongolen verloren. Diese Crisis nöthigte das ursprüngliche Rußland, gleichsam feine Geschichte zu vergessen; die Sklaverei erzeugt die Gemeinheit, welche die wahre Artigkeit ausschließt, denn diese hat nichts Serviles, da sie der Allsdruck der erhabensten und zartesten Gesinnungen ist. Erst wenn die Artigkeit gleichsam eine courante Münze dei einem ganzen Volke wird, kann man dieses Volk civilisirt nennen; dann wird die ursprüngliche Rohlmt und die brutale Persönlichkeit der menschlichen Naiur schon von der Wiege an durch die Lehren verwischt, welche jedes Individuum in seiner Familie empfangt. Das 354 Menschenkind ist, wo es auch geboren werden maq, nicht mitleidig nnd wenn es nicht vom Beginne seines Bebens an von seinen grausamen Neigungen abgebracht wird, wird es niemals wahrhaft artig werden. Die Artigkeit ist das Gesetzbuch des Mitleidens, angewendet auf den täglichen Verkehr der Gesellschaft'. dieses Geschbuch schreibt hauptsächlich Mitleiden mit den beiden der Eitelkeit vor; auch ist dasselbe das allgemeinste, das anwendbarste und praktischeste Mittel gegen die Selbstsucht, das man bis jetzt gefunden hat. Was man auch sagen mag, alle diese Raffinements, das natürliche Resultat des Wirkens der Zeit, sind den jehigen Russen unbekannt, die sich mehr an Sara's als an VyMz erinnern und, mit wenigen Ausnahmen, noch immer nichts weiter sind als gut gekleidete Barbaren. Sie kommen mir vor wie schlecht gemalte, aber gut gefirnißte Portraits. Wenn die Artigkeit die rechte sein soll, muß das Volk lange menschlich gewesen sein, ehe es artig wurde. Peter der (^roße hat mit aller Unklugheit eines ungebildeten Genies, mit aller Tollkühnheit eines Mannes, der um so ungeduldiger war, als man ihn allmachtig nannte, Mit aller Ausdauer eines eisernen Characters aus Europa die bereits gereiften Früchte der Civilisation geholt, statt das! er langsam den Samen in seinem eigenen Boden hätte ausstreuen sollen. Dieser zu sehr gerühmte Mann hat nur ein Scheinwerk geschaffen; es verdient dies allerdings angestaunt zu werden, aber das Gute, welches dieser geniale Barbar wirkte, war vergänglich, wahrend das Vöse, das er anrichtete, nicht wieder zu vertilgen ist. Was liegt Rußland daran, daß es fühlt, es drücke auf Europa, es übe Einfluß auf die Polmk Europas t Scheininteressen! Leidenschaft der Eitelkeit! Die Hauptsache für Rußland war, in sich selbst den i!cbenskeim zu haben und »33 denselben zu entwickeln; eine Nation, die nur ihren Gehorsam besitzt, hat keine Lebenskraft. Man hat die russische an das Fenster gestellt; sie sieht zu, sie hört, sie handelt wie Jemand, der im Theater sitzt; was wird sie thun, wenn der Vorhang fallt? Man sollte stehen bleiben oder von vorn anfangen; ist aber eine solche Anstrengung möglich? kann man den Grund eines so großen Gebäudes wegnehmen und neu legen? Die zu neue Civilisation des russischen Reiches hat bereits, ob sie gleich nur Schein ist, reelle Resultate gehabt und keine menschliche Macht vermag dieselben wegzuschaffen. Ich halte es für unmöglich, die Zukunft eines Volkes zu leiten, ohne auf die Gegenwart Rücksicht zu nehmen. Die Gegenwart aber, die gewaltsam von der Vergangenheit abgerissen ist, verheißt nur Unheil; dieses Unheil Rußland zu ersparen, indem dasselbe gedrungen wird, seine alte Geschichte zu beachten, welche nur das Resultat seines eigentlichen Characters war, wird von nun an die undankbare, mehr nützliche als glänzende Aufgabe der Männer sein, welche das Land zu regieren haben. Der außerordentlich praktische und qan^ nationale Geist des Kaisers Nicolaus hac diese Aufgabe begriffen; wird er sie lösen können? Ich glaub« es nicht. Er laßt nicht genug handeln, er baut zu viel auf sich selbst und zu wenig auf die Andern, als daß es ihm gelingen könnte. Uebrigens reicht in Rusiland der absoluteste Wille nicht hin, um das Gute zu schassen. Die Menschenfreunde haben hier nicht gegen den Tyrannen, sondern gegen die Tyrannei zu kämpfen. Es würde ungerecht sein, wenn man dem Kaiser das Unglück des Reiches und die Fehler der Regierung zur Last legen wollte; die Kraft eincs Menschen ist der Aufgabe des Souverains nicht 22 * 386 gewachsen, der mit einem Male menschlich über ein unmenschliches Volk herrschen wollte. Man muß nach Nußland gehen und an Ort und Stelle sehen, was dort geschieht, um Alles zu begreifen, was der Mann nicht thun kann, der Alles kann, namentlich, wenn er Gutes thun will. Die traurigen Folgen des Werkes Peters l. sind unter der großen oder, besser gesagt, unter der langen Regierung einer Frau noch verschlimmert worden, die ihr Volk nur regierte, um Europa zu amüsircn und in Erstaunen zu setzen. Europa und immer Europa und nie Rußland! Peter I. und Katharina >l. haben der Welt eine große und nützliche Lehre gegeben, welche Nußland bezahlen mußte; sie zeigten uns, daß der Despotismus nie mehr zu fürchten ist, als wenn er Gutes schassen will, denn dann glaubt er seine empörendsten Handlungen durch seine Absichten rechtfertigen ;u können, und das Schlechte, das sich als .Heilmittel ausgiebt, hat keine Grenzen mehr. Das unverhüllte Verbrechen triumphirt nur einen Tag, aber die falschen Tugenden führen den Geist der Völker für immer irre. Die Völker, die sich durch die glanzenden Beigaben des Verbrechens, durch das Großartige gewisser Frevelthaten blenden lassen, welche durch die Ereignisse gerechtfertigt wurden, glauben endlich, es gäbe zweierlei Sünde und zweierlei Tugend und die Nothwendigkeit, die Staats - Raison, wie man sonst sagte, entschuldige die hochgestellten Verbrecher, wenn sie nur ihre Uebergriffe mit den Leidenschaften deS Landes in Uebereinstimmung zu bringen wüßten. Die eingestandene Tyrannei wird mich in Vergleich mit einer unter Ordnungsliebe verhüllten Bedrückung nicht sehr erschrecken. Die Starke des Despotismus liegt einzig in der Maske des Despoten. Sobald der Souverain gezwungen 337 ist, nicht mehr zu lügen, ist das Volk frei; ich kenne deshalb auch in der Welt kein anderes Uebel als die Lüge. Wenn Sie die eingestandene und gewaltsame Willkür fürchten, so gehen Sie nach Nußland und Sie werdcn vor Allem die heuchlerische Turannei fürchten lernen. Ich kann es nicht leugnen, ich bringe von meiner Reise Ideen mit, welche vor dem Beginne derselben nicht die meinigen waren. Deshalb würde ich auch um keinen Preis die Mühe hmgeben, die sie mir gemacht hat, und ich lasse meine Beschreibung drucken, weil diese Reise meine Ansichten in mehreren Punkten abgeändert hat. Meine früheren An? sichten waren bekannt, meine Sinnesänderung ist es nicht; ich habe also die Pflicht, sie bekannt zu machen. Als ich die Reise begann, hatte ich nicht die Absicht, sie zu beschreiben; meine Methode ist ermüdend, weil ich die Gewohnheit habe, für meine Freunde in der Nacht die Ec< innenmgen vom vergangenen Tage aufzeichnen. Bei dieser Arbeit, die einer vertraulichen Mittheilung gleicht, sehe ich wohl das Publikum vor mir, aber in so weiter Ferne, daß ich selbst über seine Anwesenheit nickt recht klar bin, und deshalb bleibt der Ton der Vertraulichkeit, den man unwillkürlich in Vriefen annimmt, auch in meinen gedruckten Briefen. Wie leicht Ihnen auch diese Aufgabe erscheinen mag, ich bin nicht mehr jung genug, um sie ungestraft übernehmen zu können. Ist das Unternehmen einmal begonnen, so werde ich eS ausführen und das ist ermüdend, beschwerlich. Ich dachte deshalb auch mit Vergnügen, diesmal für mich allein reisen zu könnm; es war dies ein Mittel, Alles mit Nuhe fu schen ; aber die Furcht der Russen vor mir, von den Vor' mhmsten bis zu den kleinen Privatpersonen herab, gab mir den Maßstab für meine Wichtigkeit, wenigstens für die, welche ich in Petersburg erlangen konnte. „ Was meinen Sie oder vielmehr, was werden Ei? von uns sagen?" das klang aus allen Gesprächen heraus. So rissn, mich dic Russen selbst aus meiner Unthätiqkeit', ich spielte aus Trägheit, vielleicht aus Mmhlosigkeit den Bescheidenen-, übrigens macht Paris diejenigen bescheiden, die es nicht außerordentlich eitel macht. Ich hatte also Ursache, mir selbst zu mißtrauen, aber die besorgte Eitelkeit der Russen beruhigte die meinige. Cine immer zunehmende Entzauberung hielt mich in meinem neuen Entschlüsse aufrecht. Die Ursache der Enttäuschung muß tief liegen und stark sein, da mich der Widerwille mitten in den glänzendsten Festen, die ich in meinem Leben gesehen habe, und trotz der blendenden Gastfreundschaft der Nusscn ergriff. Aber ich erkannte mit dem ersten Blick, daß in diesen Awsiermigcn von Theilnahme mehr die Absicht wg, für zuvorkommend zu gelten, als wahre Herzlichkeit. Die Herzlichkeit ist den Russen völlig unbekannt; diese haben sie von den Deutschen nicht entlehnt. Sie beschäftigen alle unsere Augenblicke, zerstreuen uns, nehmen uns ganz in Anspruch, tyrannisiren uns durch ihren Eifer, fragen mit ganz besonderer Dringlichkeit, wie wir unsere Zeit anwenden und hindern uns durch Feste überFeste, das Land zu sehen. Leider traf diese Beeifecung in mir einen Mann, den die Feste stets weniger zerstreut als ermüdet haben. Bemerken sie, daß sie auf directcm Wege auf die Stimmung des Fremden nicht einwirken können, so nehmen sie ihre Zuflucht zu andern Mitteln, um seine Aeußerungen und Erzählungen bei aufgeklarten Lesern in Mißcredit zu bringen; sie tauschen ihn mit bewundernswürdiger Gewandtheit. Um ihm die Sachen unter falschem Lichte zu zeigen, lügen sie im Bösen, wie sie im Guten lügen, so lange sie auf eine gutwillige Leichtgläubigkeit rechnen zu können glauben. Ich habe oft eine Person in einem Gespräche zwei bis dreimal die Tactik in Bezug 3!W auf mich andern sehen. Ich schmeichle mir nicht, immer das Nechte gefunden zu haben, rrotz den Bemühungen so vieler Personen, dasselbe zu verhüllen! aber es ist schon viel, wenn man lveiß, daß man hintergangen wird; wenn ich auch die Wahrheit nicht sehe, so sehe ich doch, daß man sie mir verhüllt.') Heiterkeit feblt an allen Höfen', an dem Petersburger hat man aber nicht einmal die Erlaubniß, sich zu langweilen. Der Kalier, der Alles siebt, halt das Erheucheln dcs Vergnügens für cine Huldigung, was an den Ausspmch Talleyrands über Napoleon erinnert: „der Kaiser scherzt nicht, er verlangt, daß man sich amüsire." Ich werde manche Eitelkeit verleben und meine unbestechliche Ehrlichkeit wird mir Vorwürfe zugehen; aber ist es meine Schuld, daß mir, wahrend ich bei einer absoluten Ncgierung neue Gründe gegen den Despoten in unserm Va-rerlande suchte, nur Mißbrauche der Amocratie, d. h. der Tv: rannei auffielen, welche man guce Ordnung nennt i Der russische Despotismus ist eine falsche Ordnung, wie unser Neplidlikamsmus eine falsche Freiheit ist. Ich bekämpfe die Lüge überall, wo ich sie finde; aber es giebt mehr als eine Art Lüge; ich hatte die der absoluten Macht vergessen und zähle sie nun einöln auf, weil ich bei meinen Reisebefchrei-bungen sttts aufrichtig sage, was ich sehe. Ich hasse die Vorwände. In Nußland sah ich, daß die Ordnung als Vorwand zur Bedrückung dient, wie in Frankreich die Freiheit als Vorwand zum Neide. Ich liebe, um es mit einem Worte zu sagen, die wahre Freiheit, die Freiheit, die möglich ist in einer Gesellschaft, von welcher nicht jede Eleganz aufgeschlossen wird; ich bin Aristocrat in der *) Man sehe dic Beschreibung meiner Fahrt nach Schlüssclburg. weitesten Bedeutung des Wortes. Die Eleganz, welche ich den Staaten zu erhalten wünsche, ist nichts Frivoles, sie ist nicht grausam, sondern durch den Geschmack geregelt; der Geschmack aber schließt den Mißbrauch aus; er ist das sicherste Schutzmittel gegen denselben, denn er fürchtet jede Uebertreibung. Ein? gewisse Eleganz ist für die Künste nothwendig und die Künste retten die Welt, weil die Völker vorzugsweise durch diese an die Civilisation gefesselt werden, deren letzter und kostbarster Lohn sie sind. Nach einem unter Allem, was Glanz über eine Nation verbreiten kann, einzigem Vorrechte gefällt ihr Glanz allen Klassen der Gesellschaft und kommt gleichzeitig allen zu Gute. Die Aristocratic, die ich meine, ist weit entfernt, sich mit der Tyrannei zu Gunsten der Ordnung zu verbinden, wie es ihr die Demagogen vorwerfen^ die sie nicht kennen; sie kann bei Willkür gar nicht bestehen. Sie hat dm Auftrag, auf der einen Seite das Volk gegen den Despoten und auf der andern die Civilisation gegen die Revolution, den furchtbarsten aller Tyrannen, zu vertheidigen. Die Barbarei nimmt mehr als eine Form an; verwundet man sie im Despotismus, so erscheint sie von Neuem in der Anarchie; die wahre Freiheit aber, unter der Obhut der wahren Aristocra-tie, will weder Gewaltthat noch Unordnung. Leider werden heut zu Tage die Anhänger der mäßigenden Aristocratic in Europa verblendet und geben ihren Gegnern selbst Waffen in dic Hände; sie suchen in ihrer falschen Klugheit Hilfe bei den Feinden jeder politischen und religiösen Freiheit, als ob die Gefahr nur von den neuen Revolutionären kommen könnte. Die willkürlichen Fürsten waren eben so furchtbare alte Usurpatoren, als es die modernen Iacobiner sind. Die Feudalaristocratie ist zu Grabe getragen, aber nicht der unverlöschliche Glanz, in welchem die großen geschichtlichen Namen ewig strahlen werden. In den Staaten, die lebendig dauern wollen, wird der Adel des Mittelalters, wie es lange schon bei den Engländern gescheben ist, durch eine erdliche Amtswürde ersetzt werden, und diese neue Aristocratic, die Erbin aller alten, verbunden mit mehreren neuen Elementen, da ihre Grundlagen das Amt, die Geburt und der Reichthum sind, wird ihr Ansehn nur dann wiederfinden, wenn sie sich auf eine freie Religion stützt. Nun habe ich bereits gesagt und ich wiederhole es so oft, als ich es für nöthig halte, die alleinfreie Religion ist die, welche durch die katholische Kirche, die freieste aller Kirchen, gelehrt wird, da sie von keiner weltlichen Macht abhangt. , Die Macht des Papstes hat jetzt keine andere Bestimmung, als die geistliche Unabhängigkeit zu vertheidigen. Die Aristocratic ist die Negierung der unabhängigen Geister und man kann es nicht oft genug wiederholen, der Katholicismus ist die Religion der freien Priester. Sie wissen es schon, sobald sich mir eine Wahrheit darstellt, spreche ich sie aus, ohne die Folgen zu berechnen, da ich überzeugt bin, daß das Uebel nicht von den Wahrheiten, die man ausspricht, sondern von denen herkommt, welche man verheimlicht. Ich habe deshalb das Sprüchwort unserer Vater' man darf nicht alle Wahrheiten sagen, stets für verderblich gehalten. Die Wahrheit wird oft schädlicher als der Irrthum, weil jeder in ihr das sucht, was seinen Leidenschaften, seiner Furcht, seinem Knechtssinn, seinem Interesse dient; ich wähle deshalb auf der Reise aus den Thatsachen nicht aus, die ich sammele und weise die nicht zurück, welche meinen liebsten Meinungen widerstreiten. So lange ich erzähle, habe ich keine andere Religion als den Cultus der Wahrheit; ich bemühe 3tt2 mich, nicht als Nichter aufzutreten, ich bin nicht einmal Maler, denn die Maler componircn; ich suche nur ein Spiegel zu werden, mit einem Worte, ich will vor Allem unparteiisch sein und hier reicht die Absicht hin, wenigstens in den Augen geistreicher Leser. Ich will und kann nicht gestehen, daß es auch andre Leser giebt, denn diese Entdeckung würde die Aufgabe des Schriftstellers zu unangenehm und lästig machen. So oft ich Gelegenheit gehabt habe, mit den Menschen in Verbindung zu treten, war mein erster Gedanke, sie hätten mehr Geist als ich, sie könnten sich besser vertheidigen, könnten besser sprechen und handeln. Das ist bis diesen Tag das Resultat meiner Erfahrungen gewesen-, ich verachte also Niemanden, am wenigsten meine Leser. Deshalb schmeichle ich ihnen aber auch nie. Schwer wird es mir nur, gegen diejenigen gerecht und billig zu sein, die mich langweilen; aber ich kenne keine solchen, da ich die Müßigen fliehe. Ich habe Ihnen gesagt, es gäbe in Rußland nur eine Stadt. In Petersburg giebt es nur einen Salon, denn immer und überall findet man den Hof oder Theile vom Hofe. Man kommt wohl in andre Häuser, aber in keinen andern Kreis und in diesem einigen Kreise versagt man sich jede interessante Conversation. Eine Entschädigung findet man allerdings und zwar in dem Geiste der Damen, die es vortrefflich verstehen, das uns denken zu lassen, was sie nicht sagen. Die Frauen sind an allen Orten die mindest servilen Sclaven, weil sie ihre Schwache geschickt zu brauchen, sogar zu einer Macht zu erheben verstehen und besser als wir den schlechten Gesetzen entschlüpfen. Sie haben deshalb auch die Bestimmung, die individuelle Freiheit überall da zu retten, wo es keine allgemeine Freiheit giebt. 3ss3 Was ist die Freiheit, wenn nicht die Bürgschaft des Rechtes des Schwächern, das die Frauen in der Natur zu vertreten von der Natur berufen sind? In Frankreich ist man gegenwärtig stolz darauf, Alles durch die Majorität zu entscheiden; ein schönes Wunder? Wann »ch sehen werde, daß man auch den Reklamationen der Minorität einige Beachtung widmet, will auch ich rufen: ,,Es lede die Freiheit!" Die Schwächsten jetzt waren sonst die Stärksten und sie haben damals nur zu oft die Stärke gemißbraucht, über die ich mich ietzt beklage. Aber ein Irrthum entschuldigt den andern nicht. Trotz dem geheimen Einflüsse der Frauen ist Rußland noch weiter von der Freiheit entfernt, als die meisten andern Völker der Erde, nicht von dem Worte, sondern von der Sache. Morgen kann man bei einem Aufstande, bei einer Metzelei, bei dem Leuchten einer Fcuersbrunst bis an die Grenzen Sibiriens schreien: es lebe die Freiheit; ein verblendetes und grausames Volk kann seine Herren morden, gegen die unbekannten kleinen Tyrannen sich empören und das Wasser der Wolga mit Blut roth färben, cs wird darum nicht freier sein; die Barbarei ist ein Joch. Das beste Mittel, die Menschen zu emancipiren, ist keineswegs die pomphafte Proclamation ihrer Freilassung; es ü'egt vielmehr darin, daß man die Sclaverei unmöglich macht, indem man in den Herzen der Nationen das Gefühl der Menschenwürde weckt; das fehlt in Rußland noch. Es würde ein Verbrechen sein, wenn man jetzt mit dcn Russen, welchem Stande sie auch angehören mögen, von liberalen Gesinnungen sprechen wollte; eine Pflicht aber ist es, ihnen Allen ohne Ausnahme von Menschenwürde vor-zupredigen. Die russische Nation besitzt, ich muß es sagen, noch keine 364 Justiz; man erzählte mir cines Tages, um den Kaiser Ni-colaus zu rühmen, daß ein unbekannter Privatmann einen Prozcß gegen vornehme Herren gewonnen habe. Die Bewunderung des Characters des Souverains erschien mir in diesem Falle wie eine Satire auf den Staat. Diese zu sehr gerühmte Thatsache bewies mir unwiderleglich, daß Recht und Gerechtigkeit in Nußland eine Ausnahme ist. , Ich möchte keineswegs allen geringen Leuten rathen, sich auf den Erfolg jenes Mannes zu verlassen, der vielleicht gerade durch die Ausnahme begünstigt wurde, damit die lau-fcndcn Ungerechtigkeiten ungestraft bleiben möchten. Eine andere Thatsache, aus welcher wir eine für den russischen Nichtcrstanb nicht eben günstige Folgerung ziehen müssen, ist der Umstand, daß man in Nußland selten oder gar nicht klagt; man weiß schon, wohin dies führt, man würde sich häufiger an die Justiz wenden, wenn die Nichcer gerechter waren. So streitet und prügelt man einander auf den Straßen nicht, weil man sich vor Kerker und Ketten fürchtet, die meist beiden Parteien zu Theil werden. Trotz diesen trüben Schilderungen verdienen zwei dachen und eine Person die Mühe der Neise. Die Newa in Petersburg in den Tagen ohne Nacht, der Kreml in Moskau dci Mondscheine und der Kaiser von Rußland. Das ist das malerische, historische und politische Nußland. Außer diesem ist alle Ermüdung und Langeweile ohne Entschädigung; Sie werden dies aus meinen Briefen erkennen. Mehrere meiner Freunde haben mir bereits gerathen, bicse Briefe nicht drucken zu lassen. Als ich mich anschickte, Petersburg zu verlassen, fragte mich ein Nüsse, wie alle Nüssen, was ich von seinem Vaterlande sagen würde. „Ich wurde zu gut aufgenommen, als daß ich davon sprechen sollte," antwortete ich ihm. 363 Man hält mir diese Erklärung vor, in welcher ich kaum artig cin Epigramm zu verbergen glaubte. ,,Nach der Behandlung, die Sie erfahren habm," schreibt man mir, „können Sie offenbar die Wahrheit nicht sagen, und da Sie nur für die Wahrheit schreiben, so werden Sie am besten thun, wenn Sie schweigen." Das ist die Meinung einiger der Personen, auf die ich zu hören pflege. In jedem Falle ist sie für Rußland nicht schmeichelhaft. Meiner Meinung nach kann man, ohne das Zartgefühl zu verletzen, ohne gegen die Dankbarkeit zu handeln, die man den Personen schuldig ist, ohne gegen die Achtung zu verstoßen, die man sich selbst schuldet, auf eine anständige Weise aufrichtig über öffentliche Angelegenheiten und Personen sprechen, und ich hoffe, diese Weise gefunden zu haben. Nur die Wahrheit verletzt, wie man sagt; wohl möglich, aber in Frankreich wenigstens hat Niemand das Recht und die Macht, dem den Mund zu schließen, welcher sie ausspricht. Mein Schrei des Unwillens wird nicht für den verhüllten Ausdruck verletzter Eitelkeit gelten können. Wenn ich nur auf meine Eitelkeit gehört hatte, würde sie mir vielleicht gerathen haben, von Allem entzückt zu sein. Mein Herz ist durch nichts befriedigt worden. Um so schlimmer für die Nüssen, wenn Alles, was man von ihrem Lande und dessen Bewohnern sagt, in Persönlichkeiten umschlägt; es ist dies ein unvermeidliches Unglück, denn, die Wahrheit zu sagen, die Dinge eristiren in Rußland nicht, weil das Belieben eines Menschen sie hervorruft und vernichtet. Daran sind die Reisenden nicht Schuld. Der Kaiser scheint gar nicht geneigt zu sein, sich eineS Theiles seiner Gewalt zu entäußern; so möge er denn die Verantwortlichkeit der Allmacht tragen; es ist dies eine erste Vuße für die politische Lüge, durch welche ein einziger Mensch zum absoluten Herrn eines Landes, zum allmächtigen Beherrscher der Gedanken eines Volkes erklärt wird. Die mildere Praxis entschuldigt die Gotteslästerung einer solchen Lehre nicht. Ich habe bei den Russen gefunden, daß das Princip der absoluten Monarchie, mit unbeugsamer Konsequenz angewendet, zu monströsen Resultaten führt. Und diesmal muß ich trotz meiner politischen Friedensliebe anerkennen und ausrufen: es giebt Regierungen, welchen die Völker sich nie unterwerfen sollten. Der Kaiser Alexander sagte einst zu der Frau von Stai'l, mit der er vertraulich über seine beabsichtigten Verbesserungen sprach: ,,Sie rühmen meine menschenfreundlichen Absichten; ich danke Ihnen; aber ich bin doch nichtsdestoweniger in der Geschichte Rußlands nur ein glücklicher Zufall." Er sagte die Wahrheit; die Russen rühmen vergebens die Vorsicht und die Schonung der Männer, welche an der Spitze stehen, die willkürliche Gewalt ist bei ihnen nichtsdestoweniger das Grundprincip des Staates, und dieses Princip wirkt dermaßen, daß der Kaiser Gesetze macht, zu machen befiehlt, machen laßt oder bestehen läßt ^- verzeihen Sie, daß ich den Verordnungen der Art den heiligen Namen Gesetze gebe, aber ich bediene mich der in Rußland gebräuchlichen Ausdrücke, — also baß der Kaiser Gesetze bestehen laßt, die z. V. dem Kaiser erlauben zu erklären, die ehelichen Kinder eines rechtmäßig verheiratheten Mannes hatten keinen Vater, keinen Na,, mm, sie waren Zahlen, keine Menschen*). Und ich soll einen Fürsten, der, so ausgezeichnet, so überlegen er auch sein mag, regieren kann, ohne ein solches Gesetz aufzuheben, nicht vor die Schranken des europaischen Gerichts laden! Sein Haß ist unversöhnlich; man kann mit so unauS- *) Man sehe die Geschichte der Fürstin Trubetzkoi. 367 löschlichem Grolle noch immer ein großer Fürst sein, gewiß aber nicht ein großer Mensch; der große Mensch ist gnädig, mild, der Staatsmann ist rachsüchtig; durch die Rache regiert, durch Verleihung bekehrt man. Ich habe Ihnen mein letztes Wort über einen Fürston gesagt, den man zu beurtheilen zögert, wenn man das Land kennt, in dem er zu regieren verurtheilt ist, denn die Menschen sind dort von den Dingen so abhangig, daß man nicht weiß, wie hoch man hinaufgehen, wie weit man hinunter steigen muß, um Rechenschaft für Thatsachen zu verlangen. Und die vornehmen Herren eines solchen Landes behaupten, den Franzosen zu gleichen! Die Könige von Frankreich haben in den Zeiten der Barbarei ihren großen Vasallen oft das Haupt abschlagen lassen; Einer unter ihnen, tyrannischen Andenkens, verlangte in raf-sinirter Grausamkeit, baß das Blut des Vaters auf die unter dem Schaffot befindlichen Kinder gegossen werde; wiegroß aber auch die Harte und die Strenge dieser absoluten Fürsten war, sie hüteten sich wohl, wenn sie ihren Gegner töd-teten, ihn seiner Güter beraubten, in ihm durch em höhnisches Urtel seinen Stand, seine Familie, sein Vaterland zu entehren; eine solche Mißachtung jeder Würde hätte die Völker Frankreichs selbst in dem Mittelalter empört. Das russische Volk duldet noch ganz andere Dinge, oder sagen wir lieber: es giebt kein russisches Volk; es giebt nur Kaiser, die Leibeigene und Höflinge haben, welche letztere ebenfalls Leibeigene besitzen. Alles das macht kein Volk aus. Die bis jetzt im Verhältniß zu den andern nicht sehr zahlreiche Mittelklasse besteht fast ganz aus Fremden; einig« Bauern, die sich durch ihren Reichthum die Freiheit erworben haben, und die kleinsten Angestellten, die um einige Grade emporgestiegen sind, vergrößern sie allmalig. Die Zu- kunft Rußlands hängt von diesen neuen Bürgern ab, die von so verschiedenem Herkommen sind, daß sie in ihren 'Ansichten unmöglich übereinstimmen können. Man bemüht sich jetzt, cine russische Nation zu schaffen, aber die Aufgabe ist schwer für einen Menschen. Das Uebel ist schnell geschehen, wird aber nur langsam wieder ausgeglichen; der Widerwille vor bcm Despotismus muß den Despoten oft über die Mißbrauche der absoluten Macht auf: klaren, ich glaube es; aber die Verlegenheit des Bedrückers entschuldigt die Bedrückung nicht, und wie die Nothwendigkeit des Drucks mir einiges Mitteid einstoßen (das Uebel ist immer zu beklagen), so fühle ich doch weit geringeres, als mit den Leiden des Unterdrückten. In Nußland liegt überall und Allem Gewaltthätigkeit und Willkür zu Grunde, wie die Sachen auch scheinen mögen. Man hat dort die Tyrannei durch den Schrecken ruhig gemacht, und das ist, bis auf den heutigen Tag, die einige Art Glück, welches diese Regierung ihren Völkern zu geben verstanden hat. Wenn der Zufall mich zum Zeugen der unerhörten Leiden macht, die man unter einer Staatsverfassung mit übertriebenem Principe duldet, sollte mich die Vesorgniß, irgend ein Zartgefühl zu verletzen, abhalten, das zu sagen, was ich gesehen habe? Ich würde nicht werth sein, Augen gehabt zu haben, wenn ich dieser kleinmüthigen Parteilichkeit nachgäbe, die man diesmal unter dem Namen der Achtung für sociale Schicklichkeit verhüllt; als wenn mein Gewissm nicht das erste Recht auf meine Achtung hatte! Wie? Man hat mich in ein Gefängniß eintrcttn lassen, ich habe daS Schweigen der erschreckten Opfer verstanden, und sollte nicht wagen, ihre Leiden zu erzählen aus Vesorgniß, der Undankbarkeit beschuldigt zu werden, weil Kerkermeister die Gefälligkeit hatten, mich in dem Gefangnisse umherzuführm? Eine solche Klug- 3M hcit wäre durchaus keine Tugend; ich erkläre Ihnm also, daß ich mich genau umgesehen habe, um zu sehen, was man mir verbarg, daß ich aufmerksam aufhorchte, um zu hören, was man mir nicht sagen wollte, daß ich mich bemühete, das Falsche zu erkennen in dem, was man mir sagte, und daß ich nicht zu übertreiben glaube, wenn ich Ihnen die Versicherung gebe, daß das russische Reich dasjenige Land auf Erden ist, wo die Menschen am unglücklichsten sind, weil sie zu gleicher Zeit von den Unannehmlichkeiten der Barbarei, und denen der Civilisation leiden. Ich würde mich für einen Verrather und Schurken halten, wenn ich, nachdem ich mit aller Geistesfreiheit einen großen Theil Europas geschildert, diese Schilderung nicht vollenden wollte, weil ich fürchtete, gewisse Neigungen, die ich hegte, ändern zu muffen, und gewisse Personen durch die wahrhaftige Schilderung eines Landes zu verletzen, das noch nie so beschrieben worden, wle es wirklich ist. Worauf, ich bitte Sie, sollte sich meine Achtung für das Schleckte gründen! Bin ich durch irgend eine andere Kette als durch die Liebe zur Wahrheit gebunden? Im Allgemeinen schienen mir die Russen viel Tact zu besitzen, sehr schlau, aber nicht gefühlvoll zu sein; die Grundlage ihres Characters scheint eine außerordentliche Empfindlichkeit in Verbindung mit großer Harte zu sein. Eine hellblickende Eitelkeit, der Scharfsinn des Sclaven, und eine sarkastische Feinheit sind die vorstehenden Züge ihres Geistes. Ich habe dies mehrmals ausgesprochen, denn es ware reine Tauschung, die Eitelkeit der Leute schonen zu wollen, wenn sie sel'st so wenig mitleidig sind. Empfindlichkeit ist nicht Zartgefühl. Es ist Z"t, d.iß die Menschen, welche so scharfsinnig die Fehler und Lächerlichkeiten unserer Staaten herausfinden, auch die Aufrichtigkeit Anderer ertragen lernen; das-offizielle Schweigen, das man um sie her herrscken läßt. lei-M. 24 37tt tet ihren Verstand irre und schwächt ihn; sie wollen von den Nationen Europas anerkannt sein, und mit uns wie unseres Gleichen unterhandeln; sie müssen sich also zuerst darin ergeben, sich beurtheilen zu lassen. Alle Nationen bestehen diesen Prozeß, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Seit wann nehmen die Deutschen die Englander nur unter der Bedingung auf, daß sie nur Gutes von Deutschland sagen? Die Nationen haben immer gute Gründe dafür, so zu sein wie sie sind, und der beste von allen ist der, daß sie nicht anders sein können. Diese Entschuldigung gilt aber für die Russen nicht, wenigstens nicht für die, welche lesen. Da sie Alles nachäffen, könn: ten sie wohl anders sein, und eben diese Möglichkeit macht ihre Regierung so außerordentlich mißtrauisch. Diese Negierung weiß nur zu gut, daß man mit ganz resiectirten Cha-racrerm auf nichts rechnen kann. Ein stärkerer Grund hatte mich abhalten können, die Ve-sorgniß, der'Apostasie beschuldigt zu werden. „Er hat lange," wird man sagen, ,,gegen die liberalen Deklamationen prote-siirt; jetzt folgt er selbst dem Strom und strebt nach der falschen Popularität, nachdem er sie verschmäht hat." Ich weiß nicht, ob ich mich tausche, aber je mehr ich nachdenke, um so weniger glaube ich, daß dieser Vorwurf mich tressm, oder daß Jemand ihn mir machen könne. Die Russen fürchten nicht erst heute, von den Fremden getadelt zu werden. Dieses seltsame Volk verbindet eine außerordentliche Prahlerei mit einem übergroßen Mißtrauen gegen sich selbst; außen Selbstgenügsamkeit und innen unruhige Demuth, — das habe ich in den meisten Russen gelesen. Ihre nie ruhende Eitelkeit ist immer verletzt, wie der englische Stolz. Die Naivetät, dieses französische Wort, dessen Sinn keim andere Sprache genau wiedergeben kann, 37l weil die Sache nur dm Franzosen eigen ist; die Naivetat, diese Einfalt, welche schalkhaft werden könnte; diese Gabe des Geistes, welche Lachen erregt, ohne jedes Herz zu verletzen; dieses Vergessen der Vorsicht in den Worten, das so weit geht, daß es selbst denen, mit welchen man spricht, Waffen in die Hand giebt; diese Gerechtigkeit im Utthcil, diese ganz unwillkürliche Wahrheit im Ausdruck, dieses. Aufgeben der Persönlichkeit im Interesse der Wahrheit kennen die Nusscn nicht. Ein nochahmendes Volk wird nie naiv sein; die Berechnung wird bei ihm sters die Aufrichtigkeil ersticken. Ich habe in einem Testamente Monomach's merkwürdige und weise Rathschläge für seine Kinder gefunden; hier einc Stelle, die mir besonders aufgefallen ist: ,, Achtet besonders die Fremden, welchem Stande und Range sie auch angehören mögen, und wenn Ihr sie nicht mit Geschenken über: Haufen könnt, so gcbt ihnen wenigstens Beweise von Wohlwollen, da von der Art, wie sie in einem Lande behandelt werden, das Gute und das Böse abhängt, das sie von demselben sagen, wann sie in ihre 5)eimath zurückgekommen sind." Eine.solche rafsinirte Eigenliebe nimmt, wie Sie gestehen werden, der Gastfreundschaft viel von ihrem Werthe. Ich dachte deshalb auch wahrend meiner Neise unwillkürlich mehr als einmal an die berechnete Freundlichkeit. Man soll aller; dings den Menschen den Lohn für ihre guten Thaten nicht nehmen, aber unmoralisch ist es, diesen Lohn für den ersten Beweggrund der Tugend auszugeben. Ich theile noch einige Cicllen desselben Verfassers mit, welche meine Bemerkungen untrrstich'N werden. Karamsin selbst schildert die traurigen Einwirkungen des Einfalls der Mongolen auf den Character des russische» 21* 37^ Volkes; findet man mich streng in meinen Urtheilen, so wird man sehen, daß sie durch einen ernsten und mehr zur Nachsicht geneigten Schriftsteller gerechtfertigt werdcn. „Der Nationalstolz," sagte er, „schwand unter den Russen» sie nahmen ihre Zuflucht zu Kunstgriffen, welche die Stärke bei Menschen ersetzen, die zu servilem Gehorsam verurtheilt sind; die Gcschicklichkeit, die Tataren zu tauschen, machte sie auch erfahrener in der Kunst, sich unter einander zu betrügen; sie erkauften von dm Barbaren ihre persönliche Sicherheit, wurden darum begieriger nach Geld und unempfindlicher gegen Beleidigungen und gegen die Schande, da sie unaufhörlich der Rücksichtslosigkeit der fremden Tyrannei ausgesetzt waren." (Karamsin 5r Bd. 4s Kap.) Weiter hin! ,,Es ware möglich, daß der jetzige Character der Nüssen einige der Flecken behalten hatte, mit denen ihn die Barbarei der Mongolen beschmutzt hat." „Wir bemerken, daß man mit mehrern erhabenen Ge« fühlen in uns den Muth schwacher werden sah, der Haupt-fachlich durch den Nationalstolz genährt wird. — Die Autorität des Volkes begünstigte auch die der Bojaren, die ihrerseits mit Hülfe der Bürger Einfluß auf den Fürsten oder durch den Fürsten auf die Bürger haben konnten. Diese Stütze war verschwunden und man mußte dem Fürsten gehorchen, wenn man nicht für einen Verräther oder Rebellen gehalten werden wollte, und es giebt keinen rechtmäßigen Weg mehr, sich seinem Willen zu widersetzen; mit einem Worte, man sah die Selbstherrschaft entstehen." Ich beschließe diese Auszüge mit einem Paar Stellen aus der Negierung Iwans lll. Nachdem Karamsin erzählt hat, wie der Czar Iwan lll. schwankte, ob er feinen Sohn 373 oder seinen Enkel als Thronerben bezeichnen solle, fährt er fort: „Es ist zu bedauern, daß die Chronikenschreiber, statt uns alle Umstände dieses merkwürdigen Ereignisses zu entwickeln, sich mit dcr Angabe begnügen, Iwan habe, nach reiflicherer Prüfung der Anklagen gegen seine Gemahlin, derselben so wie seinem Sohne seine ganze Liebe wieder zugewendet', sie fügen hinzu, er babe sich, nachdem er Kunde von den Komplotten seiner Feinde erkalten und in der Ueberzeugung, daß er getäuscht worden, entschlossen, an den aus-gezeichnetsten Herren ein strenges Beispiel zu geben. Der Fürst Iwan Patrikiess, dessen beiden Söhne und Schwiegersohn, der Fürst Simeon Niapolwski, wurden als Intriganten zum Tode verurtheilt." Dieser Iwan lll., welcher die Intriganten hinrichten ließ, wird von den Nüssen zu den größten Männern gerechnet. Gleiche oder ähnliche Dinge kommen auch heut zu Tage noch immer in Nußland vor. Wegen der autocratischen Allmacht giebt es keine Achtung für die Uitelsprüche und der besser unterrichtete Kaiser kann stets das umstoßen, was der minder gut unterrichtete Kaiser gethan harte. Weiter hin giebt endlich Karamsin folgenden Ucberblick über die ruhmreiche Regierung dieses großen und guten Fürsten (Iwan lll.): „Alles wurde nun Rang oder Gunst des Fürsten; unter den Bojarenkindern am Hofe, einer Art Pagen, sah man Söhne von Fürsten und großen Herr.n. Bei dem Vorsitz in den Kirchenconcilien erschien Iwan feierlich als Haupt der Geistlichkeit. Er war stolz auf seine Verbindungen mit den andern Herrschern und entfaltete vor den Gesandten derselben gern einen großen Pomp; er führte die Sitte ein, 374 als Zeichen einer besondern Gunst, sc'me Hand zum Kusse zu reichen-, er wollte durch alle möglichen äußren Mttttl sich über die Menschen erHeden, um auf die Phantasie zu wirken; er erkannte das Geheimniß der Selbstherrschaft und wurde gleichsam ein irdischer Gott in den Augen der Russen, welche schon damals anfingen, alle andern Völker durch dlinde Unterwerfung unter den Willen ihres Fürsten in Erstaunen zu sehen." Diese Geständnisse erschienen mir doppelt bedeutsam in dem Munde eines so schüchternen, so höfischen Geschichtsschreibers wie Karamsin. Ich könnte die Auszüge vervielfältigen, glaube aber bereits genug miWtheilt zu haben, um das Necht festzustellen, das ich zu besinn, glaube, unum> wunden meine Meinung zu sagen, welche sogar durch die Meinung eines der Parteilichkeit beschuldigten Schnststellers gerechtfertigt wird. In einem Lande, wo die Menschen von der Wiege an zur Verstellung und zu der Schlaudeit der orientalischen Politik erzogen werden, muß die Natürlichkeit seltener sein als irgendwo', sie hac deshalb auch einen ganz besondern Reiz, wenn man sie einmal findet. Ich sah in Nußland einige Manner, welche sich schämten, durch die harte Negierung unterdrückt zu werden, unter welcher sie leben muffen, ohne daß sie sich zu beklagen wagen-, diese Manner sind nur im Angesicht« des Feindes frei; sie ziehen in den Krieg an den Caucasus, um von dem Joche auszuruhen, das man ihnen in der Heimath auflegt. Das Traurige dieses Bebens drückt vor der Zeit auf ihre Stirn einen Stempel der Melancholie, der zu ihrer militärischen Lebensweise und zu der Sorglosigkeit ihres Alters nicht paßt; die Runzeln der Jugend ver-latl>li tiefen Kummer und erwecken großes Mitleiden. Diese iungen Manner haben von dem Morgenlande den Ernst, von 378 dem Norden das Unklare und Träumerische-, sie sind sehr unglücklich und sehr liebenswürdig; es gleicht ihnen kein Bewohner der andern Bänder. Da die Nüssen Grazie besitzen, so muffen sie etwas Natürliches habcn, das ich nicht erkcnnen konnte; vielleicht ist es für einen Fremden unbemerklich, der so schnell durch das Land reiset, wie ich durch Rußland rcisete. Kein Character ist so schwer klar darzulegen, wie der des russischen Volkes. Vhne Mittelalter, ohne Erinnerungen aus der alten Zeit, ohne Katholicismus, ohne Nitterwesen hinter sich, ohne Achtung für das Wort, immer Griechen des osirömlschcn Reiches, in Formeln höflich wie die Chinesen, grob oder wenigstens rücksichtslos wie Kalmücken, schmubig wie' Lapplander, schön wie Engel, unwissend wie Wilde (ich nehme die Frauen und einige Diplomaten aus), pfiffig wie Juden, intrigant wie Freigelassene, mild und ernst in ihrem Wesen wie Orientalen, grausam in ihren Gefühlen wie Barbaren, bitler und spott-süchtig aus Verzweiflung, leichtsinnig, aber nur zum Scheine, so sind die Nüssen hauptsachlich für ernste Dinge geeignet. Alle besitzen den nothwendigen Geist, um einen außerordentlich feinen Tact zu erlangen, keiner aber ist so hochherzig, um sich über die Schlauheit zu erheben, und so haben sie mir diese Eigenschaften verleidet, welche für die durchaus nöthig ist, die unler ihnen leben wollen. Ich halte sie mit ihrer fortwahrenden Selbstbeobachtung für die betlagenswerthesten Menschen auf Erden. Der Tact für das, was sich schickt, diese Polizei der Phantasie, ist eine traurige Eigenschaft, durch die man unaufhörlich sein Gefühl dem der andern auf-opfert, eine negative Eigenschaft, welche weit überlegenere positive ausschließt, das Gewerbe der ehrgeizigen Höflinge, die nur da sind, um dem Wlllen cmes Andern zu geb^chen, 376 dem ?lntriebe zu folgen und ihn zu erratben, die sick aber vertreiben lassen würden, sobald sic einmal selbst den Anstoß geben wollten. Wer Anstoß geben will, muß Genie besitzen; das Genie ist der Tact der Stärke, dei Tact dagegen nur das Genie der Schwäche. Di? Russen sind durch und durch Tact. Das Genie handelt, der Tact beobachtet und über^ nicbcm Beobachtung führt zum Mißtrauen, d. h. zur Un-thatigkeit-, das Acme kann mit großer Kunst verbunden sein, nie aber mit einem sehr rafsinkttn Tacte, weil dcr Tact die verhüllte Schmeichelei, diese höchste Tugend der Subalternen, die den Gegner, d. h. den Herrn achten, so lange sie ihn nicht anzugreifen wagen, ist immer mir etwas List verbunden. Wegen dieser Eeraitüberlegenheit sind die Nüssen nicht zu durchschauen-, man si>'bt allerdings immer, daß sie etwas, verbergen, aber man weiß nicht, was sie verbergen und das genügt ihnen schon. Sie werden sehr furchtbar und senr klug sein, wenn es ihnen noch geliNKt, selbst ihre Schlauheit zu verhüllen, ,N^ Schon sind einige von ihnen dabin gekommen, die nämlich, welche am höchsten stehen, entweder durch das Amt, das sie bekleiden oder wegen der geistigen Überlegenheit, mit der sie ihr Amt verwalten. Diese konnte ich nur aus der Erinnerung beurtheilen, ihre Gegenwart übte einen Zcm' berbann auf mich aus. Aber wozu kann Alles dies dienen? Welchen Grund wollen wir dieser großen List und Verstellung unterlegen? Welche Psiicht, welcher Lohn kann menschliche Gesichter dahin bringen, die brückende Maske so lange zu tragen-' Soll das Spiel so vieler Batterien nur eine wirkliche und rechtmäßige Gewalt vertheidigend Eine solche Gewalt bedarf derselben nickt; die Wahrheit vertheidigt sich schon selbst. Will man aber die Interessen der Eitelkeit schützend 377 Vielleicht; es ware aber doch eine für ernste Männer unwürdige Mühe, solche Sorgen zu übernehmen, um ein so erbärmliches Resultat zu erreichen. Ich schreibe ihnen einen tiefer liegenden Gedanken zu; ein größerer Zweck scheint mir ihre große Langmut!) und Verstellung zu erklären. Ein maßloser ungeheurer Ehrgeiz, ein Ehrgeiz, der nur in der Seele der Unterdrückten aufkeimen, sich nur durch das Unglück einer ganzen Nation nähren kann, gährt in dem Herzen des russischen Volkes. Diese wesentlich erobernde, in Folge von Entbehrungen habsüchtige Nation büßt im Voraus in, der Heimath durch erniedrigende Unterthanigteit die Hoffnung ab, die Tyrannei über andere auszuüben; der Ruhm, der Reichthum, den sie erwartet, laßt sie die Schmach vergessen, die sie ertragt, und um sich rein zu waschen von der gotteslästerlichen Aufopferung jeder öffentlichen und person» lichen Freiheit, träumt sie, die Sclavin, kniend von der Weltherrschaft. Man betet in dem Kaiser Nikolaus nicht den Mann an, sondern den ehrgeizigen Gebieter einer noch weit ehrgeizigern Nation. Die Leidenschaften der Russen sind nach dem Muster jener der Volker des Alterthums zugeschnitten; Alles erinnert bei ihnen an das alte Testament; ihre Hoff-nungm und ihre Leiden sind groß wie ihr Reich. Nichts hat hier Grenzen, weder der Schmerz noch der Lohn, weder die Opfer noch die Hoffnungen; ihre Macht kann ungeheuer werden, aber sie werden dieselbe mit dem Preise erkaufen, den die Völker Asiens für die Beständigkeit ihrer Regierungen zahlten, mit dem Glücke. Nußland sieht in Europa eine Beute, die ihm früher obcr später durch unsre Uneinigkeiten zugeführt werden wird» cö schürt bei uns die Anarchie in der Hoffnung, die Verdorbenheit zu benutzen, die es begünstigte, weil sie feinen 378^ Planen nützlich «st; es ist die Geschichte Polens im Großen. Paris lies't seit vielen Jahren revolutionäre Journale, die Rußland bezahlt. „Europa," sagt man in Petersburg, „schlägt den Weg ein, den Polen ging, es schwächt sich durch einen titeln Liberalismus, während wir mächtig bleiben, gerade weil wir nicht frei sind; wir halten geduldig aus unter dem Joche, Andere werden für unsre Schmach büßen müssen." Der Plan, den ich Ihnen hier enthülle, kann chimärisch aussehen, jeder aber, der in den Gang der Angelegenheiten Europas und in die Geheimnisse der Kabinette in den letzten zwanzig Jahren eingeweiht ist, wirb ihn für richtig erkennen. Er giebt den Schlüssel zu vielen Räthseln, er erklärt mit einem Worte die außerordentliche Wichtigkeit, welche von Character und durch ihre Stellung ernste Personen darauf legen, von den Fremden nur von der schönen Seite gesehen zu werden. Wenn die Nüssen, wie sie es sagen, die Stützen der Ordnung und der Legitimität waren, würden sie sich dann revolutionärer Männer und, was noch schlimmer ist, revolutionärer Sachen bedienen? Das außerordentliche Ansehen Nußlands in Nom ist auch rine Folge der Zauberkraft, gegen welche ich uns schützen möchte"). Nom und die ganze katholische Welt haben keinen .yrößern und gefährlichern Feind als den Kaiser von Nußland. Früher oder spater wird unter dem Schutze der griechischen Autocratic das Schisma allein in Constantinopel herrschen; dann erst wird die in zwei Lager getheilte christliche Welt das Unrecht erkennen, was der römischen Kirche durch die politische Verblendung ihreS Oberhauptes geschehen ist. ') Geschrieben 1839. 379 Dieser Fürst, der über die Unordnung erschrak, in welche die Smaien bei seiner Besteigung des päpstlichen Stuhles geriethcn, der sich vor dem moralischen Nachtheil entsetzte, der Europa durch unsere Revolutionen zugefügt werde, und der allein und ohne Stütze in einer gleichgültigen oder spotten» den Welt stand, fürchtete nichts mehr als die Volksaufstände, unter denen er gelitten und seine Zeitgenossen hatte leiden sehen, gab dem verberblichen Einflüsse gewisser beschränkter Menschen nach, ließ sich von menschlicher Klugheit rathen und zeigte sich, vor der Welt, weise und klug nach Art der Menschen, d. h. schwach und verblendet vor Gott; deshalb wurde die Sache des Katholicismus in Polen von ihrem natürlichen Vertheidiger, von dem sichtbaren Oberhaupt der orthodoxen Kirche aufgegeben. Giebt es jetzt viele Nationen, welche ihre Soldaten für Nom opfern würden? Und wenn der Papst in seiner Noth noch ein Volk findet, das sich für ihn hinschlachten lassen will, — so belegt er es mit dem Banne! — er, der einzige Fürst auf Erden, der es bis zum Tode unterstützen sollte, belegt es mit dem Vanne aus Gefälligkeit für dm Fürsten eines schismatischen Volkes*). Die Glaubigen fragen sich mit Schrecken, was aus der unermüdlichen Vorsorge des heiligen Stuhles geworden ist; die mit dem Vanne belegten Märtyrer sehen den katholischen Glauben durch Rom selbst der griechischen Politik geopfert, und das in seinem heiligen Widerstände entmuthigte Polen erduldet sein Schicksal, ohne es zu begreifen. Hat der Stellvertreter Gottes auf Erden nicht erkannt, daß seit dem westphälischen Frieden alle europaischen Kriege *) Diese Bemerkungen, welche, wie mir scheint, über die Gren« zen der Ehrfurcht nicht hinausgehen, sind durch die lctzten Eticte des römischen Höfts gerechtfertigt worden. Religionskriege sind? Welche menschliche Klugheit konnte ihm den Vlick so ttllbcn, daß er Mittel, die wohl für Könige gut, für den König der Könige aber unwürdig smd, auf die Leitung göttlicher Dinge anwendete? Der Tliron der Könige hat nur eine kurze Dauer, der seinige ist ewig, ja ewig, und der Priester, der auf diesem Throne siht, würde in den Katacomben großer und hellsehender sein, als er es in dem Vatican ist. Er hat, getauscht durch die Schlauheit der Kinder der Zeit, dm Grund der Dinge nicht erkannt, und in dm Verirrungen, in die ihn seine Politik der Furcht stürbe, vergaß er, seine Kraft da zu suchen, wo sie ist, in der Politik des Glaubens*). Aber Geduld'. Die Zeit reift, bald wird jede Frage scharf und dcuilich gestellt werden und die Wahrheit, durch ihre rechtmäßigen Kämpfer vertheidigt, ihre Herrschaft über dcn Geist der Nationen wieder erlangm. Vielleicht werden die Protestanten in dem Kampfe, der sich vorbereitet, eine wesent- *) Die Unwissenheit in Rcligionßsachen ist jetzt so groß, daß ein Katholik, ein Mann von vielem Geiste, dem ich diese Stelle vorlas, mich mit der Bemerkung unterbrach: „Sie sind nickt mehr Katholik; Sic tadcln dcn Papst!" Als wenn der Papst keine Fehler begehen könnte, wcil er in Glaubenssachen unfehlbar ist. Und selbst dies« Unfehlbarkeit wird von den ^iallikancrn, die doch auch Katholiken zu sein glauben, gewissen Beschränkungen unterworfen. Ist Dante jemals der Ketzerei beschuldigt worden? Und welche Sprache führt rr gegen die Päpste/ die er in scine Holle versetzt! Die besten Geister verfallen in unserer Zeit in eine Ideenverwirrung, über die in dcn frühern Jahrhunderten die Schüler gelacht haken würde,,. Ich antwortete meinem Kritiker dadurch, daß ich ihn auf Nossuet verwies. Scine Darlegung der katholischen kehre, die von dem römischen Hofe jcbcr Zeit bestätigt, gebilligt, gerühmt und angenommen worden ist, rechtfertigt meine Grundsätze hinreichend. ^81^ liche Wahrheit erkennen, die ich schon mehr als einmal ausgesprochen habe, aus die ich aber immer wieder zurückkomme, weil sie mir die einzige zu sein scheint, die nöthig ist, um die Wiedervereinigung aller christlichen Gemeinden zu beschleunigen; nämlich, daß der einzige freie Geistliche in der Welt der katholische ist. Ueberall außer in der katholischen Kirche ist der Geistliche andern Gesetzen und andern Lehren unterworfen, als denen seines Gewissens. Man zittert, wenn man die Inconsequcnzen der anglikanischen Kirche oder die Erniedrigung der griechischen Kirche in Petersburg sieht; triumphirt in England die Heuchelei nicht länger, so wird der größte Theil des Reiches katholisch werden. Nur die römische Kirche hat die Reinheit des Glaubens gerettet, indem sie auf der ganzen Erde mit erhabenem Edelmuthe, mit heldenmüthiger Geduld, mit unbeugsamer Ueberzeugung die Unabhängigkeit des Priesterstandes gegen die Usurpation der weltlichen Macht vertheidigte. Welche Kirche hat sich nicht durch die verschiedenen Regierungen zu dem Range einer frommen Polizei erniedrigen lassen? Es giebt nur eine, eine einzige, die katholische Kirche, und diese Freiheit, die sie durch das Blut ihrer Märtyrer bewahrt hat, ist ein ewiges Prinzip des Lebens und der Macht. Die Zukunft der Welt gehört ihr, weil sie rein von alttr Beimischung zu bleiben wußte. Möge der Protestantismus sich rühren, es liegt in seiner Natur-, mögen die Secten discutiren und sich angstigen, die katholische Kirche wartet. Die russisch-griechische Geistlichkeit ist immer nur eine Miliz in einer etwas andern Uniform als die der weltlichen Truppen des Kaisers gewesen und wird auch in Zukunft nichts wntcr sein. Die Popen und ihre Bischöfe sind unter der Leitung des Kaisers ein Regiment von Schreibern. Die Entfernung, welche Rußland von dem Westen trennt, 352 bat viel dazu beigetragen, uns bis seht Alles zu verhüllen. Die schlaue griechische Politik fürchtet die Wahrheit so sehr, w^il sie die Lüge vortrefflich zu benutzen versteht; daß sie aber die Herrschaft derselben so lange erhalten kann, setzt mich in Verwunderung. Begreifen Sie nun die Wichtigkeit einer Meinung, eines bittern Wortes, eines Briefes, eines Spottes, eines Lächelns und noch vielmehr eines Buches in den Augen dieser Regierung, welche durch die Leichtgläubigkeit ihrer Völker und durch die Gefälligkeit aller Fremden begünstigt wird? Ein Wort der Wahrheit, das nach Nußland geschleudert wird, ist der Funke, der in ein Pulverfaß fallt. Was kümmert die Manner, welche Rußland regieren, die Entblößung, die Blasse der Soldaten des Kaisers? Diese lebenden Gespenster haben die schönsten Uniformen in Europa; wer achtet auf die rauhen Kittel, unter denen sich diese mit Gold bedeckten Phantome im Innern ihrer Cantonnirungen verbergen? Wenn sie nur nicht gesehen werden, so lange sie ärmlich oder schmutzig sind, wenn sie nur glänzen, sobald sie sich öffentlich zeigen, so verlangt man nichts von ihnen, so giebt man ihnen nichts. Der Reichthum der Russen ist eine kunstvoll drapirte Armuth» der Schein ist Alles bei ihnen und er lügt bei ihnen mehr als bei Andern. Deshalb ist auch in Petersburg jeder um seinen Ruf gekommen, wenn er den Schleier zu lüften versucht. Das gesellige Leben in diesem Lande ist eine permanente Verschwörung gegen die Wahrheit. Wer hier sich nicht betrügen läßt, gilt für einen Verrather; über eine Prahlerei zu lachen, eine Lüge zu widerlegen, einer politischen Großsprecherei zu widersprechen, den Gehorsam zu motiviren, ist ein Attentat gegen die Sicherheit des Staates und des Kaisers und man zieht sich 383 dadurch das Schicksal eines Revolutionärs, eineS Verschwörers, eines Gegners der Ordnung, eines Majestätsverbrechers, — eines Polen zu und wie schrecklich ein solches Schicksal ist, wissen Sie. Eine Empfindlichkeit, die sich in dieser Weise kund giebt, ist mehr furchtbar als lächerlich', die kleinliche Wachsamkeit einer solchen Negierung in Uebereinstimmung mit der Eitelkeit eines solchen Volkes wird entsetzlich, sie ist nicht mehr lächerlich. Man kann und muß zu allen Arten von Vorsichtsmaß, regeln unter einem Gebieter greifen, der keinem Gegner verzeiht, keinen Widerstand verachtet und die Rache für eine Pflicht hält. Dieser Mann oder vielmehr diese personisizirie Negierung würde die Verleihung für eine Apostasie, die Milde für Selbstvergessenheit, die Menschlichkeit für einen Mangel an Achmng der eigenen Majestät, was sage ich? der eigenen Göttlichkeit halten. Er vermag es nicht, sich nicht anbeten zu lassen. Die russische Civilisation steht noch so nahe an ihrer Quelle, daß sie wie Barbarei aussieht. Rußland ist nur cin erobernder Staat; seine Stärke liegt nicht in dem Gedanken, sondern in dem Kriege, d. h. in der List und in der Rohheit. Polen hat durch seinen letzten Aufstand die Explosion der Mine hinausgeschoben-, es nöthigte die Batterien, verhüllt m bleiben, und man wird Polen nie die Verstellung verzeihen, die man anwenden muß, nicht gcgen Polen, da man dies ja ungestraft hinschlachtet, sondern gegen die Freunde, die man fortwahrend täuschen, deren mißtrauische Philanthropie man schonen muß. Man gewinnt für diesen großmüthigen und leidenschaftlichen Haß — bemerken Sie diese beiden Worte — die vorgeschobene Wache des neuen römischen Reiches, welches das griechische Reich heißen wird und der 384 Vorsichtigsie und verblendetste der Könige Europas*) beginnt, um seinem Nachbar zu gefallen, der sein Herr ist, einen Religionskrieg. Wenn man diesen irre leiten konnte, wird MM! auch noch andere verlocken. Vergessen Sie nicht, daß die Russen, wenn es ihnen i.e gelingen sollte, den Westen zu beherrschen, diesen nicht von ihrer Hcimath aus regieren würden wie die alten Mongolen; im Gegentheil, sie würden nichts Eiligeres zu thun haben, als ilire eisigen Ebenen zu verlassen und verschieden darin von ihren ehemaligen Herren, den Tataren, die von hier die Slaven drückten (denn das Clima Rußlands erschreckte selbst die Mongolen), aus ihrem Lande auswandern, sobald ihnen der Weg nach den andern Landern offen stände. In diesem Augenblicke sprechen sie von Mäßigung, pro-testiren gegen die Eroberung <^onstantinopels und fürchten Alles, was ein Reich vergrößern könnte, in welchem schon jeht die Entfernungen ein Unglück sind; sie fürchten selbst — bedenken Sie, wie weit ihre Klugheit geht! — sie fürchten selbst das warme Elima. Warten Sie nur noch ein wenig, Sie werden schon sehen, wohin diese Befürchtungen führen. Und ich sollte so viele Lügen, so viele Gefahren, so viele Geißeln nicht bezeichnen? Nein, nein, ich will mich lieber selbst tauschen und sprechen, als richtig gesehen haben und schweigen. Wenn es kühn ist, das zu sagen, was ich beobachtet habe, so ware es gar ein Verbrechen, dasselbe zu verbeimlichen. Die Russen werden mir nicht antworten; sie werden blos sagen: „vier Monate gercis't? Er hat nicht viel gescben." Es ist wahr, aber ich habe viel errathen. Thun sie m,r *) Bei Lebzeiten drs letzten Königs von Preußen 1839 geschrieb cu. 383 dagegen die Ehre an, mich zu widerlegen, so werden sie die Thatsachen lallgnen, die Thatsachen, das rohe Material jeder Erzählung, das man in Petersburg für nichts zu achten gewöhnt ist, wo die Vergangenheit wie die Zukunft, wie die Gegenwart zur Verfügung des Gebieters steht; denn, noch einmal, die Nüssen haben nichts Eigenes als den Gehorsam und die Nachahmung; die Leitung ibres Geistes, ihr Urtheil, ihr freier Wille gehört dem Kaiser an. In Rußland gehört die Geschichte zu dem Krongute; sie ist das geistige Eigenthum des Fürsten, wie die Menschen und die Erde das materielle Eigenthum sind; man stellt sie in den Palästen mit den kaiserlichen Schätzen auf und zeigt nur das davon, was man bekannt werden lassen will. Die, Erinnerung an das, was an dem vergangenen Tage geschah, ist das Bcsitz-thum des Kaisers; er verändert nach seinem Gutdünken die Annalen dcs Landes und theilt jeden Tag an sein Volk die historischen Wahrheiten aus, die gerade mit der Fiction des Augenblickes zusammen passen. So wurden Minin und Pojarski, die seit zwei Jahrhunderten vergessenen Helden, bei dem Einfalle Napoleons plötzlich wieder hervorgeholt und Mode gemacht. In jenem Augenblicke gestattete die Regierung die patriotische Begeisterung. Diese übergroße Macht schadet sich freilich selbst; Nußland wird sie nicht immer ertragen; in der Armee glimmt eine Geist der Empörung. Ich spreche wie der Kaiser, die Russen reisen zu viel, die Nation ist nach Belehrung begierig geworden; die Zolllinien halten den Gedanken nicht auf, die Armem töbten ihn nicht, er verbreitet sich unter der Erde hin und in der Luft; die Ideen sind überall und sie gestalten die Welt um"). ') Seit dies geschrieben ist, erlaubt der Kaiser vielen Russen Hl. 25 Aus dem Vorstehenden ergiebt sich, daß die Zukunft, diese so glänzende Zukunft, welche die Nusscn trampn, nicht von ihnen abhängt, daß sic keine eigenen Idsrn habcn und baß das Schicksal dieses Volks uon ^lachahmern sich bei den Völkern mit eigenen Ideen entscheiden wird. Wenn di? Leidenschaften im Westen sich beruhigen, wenn Einigkeit zwischen Regierungen und Unterthanen eintritt, wird die Hoffnung dcr erobernden Slawen eine Chimäre. Brauche ich Ihnen zu wiederholen, daß ich ohne Animosität spreche, daß ich die Sachen beschrieben habe, ohne die Personen anzuklagen und daß ich in den Folgerungen, die ich aus gewissen Thatsachen zog, di? mich erschrecken, dcr Nothwendigkeit ihren Theil zugeschrieben habe ^ Ich klage weniger als ich erwähle. Ich habe Paris mit der Ansicht verlassen, nur das innige Bündnis, zwischen Frankreich und Rußland könnte die, Angelegenheiten Europas ordnen» seit ich aber die russische Nation in der Nahe gesehen und den wahren (Heist der russischen Negierung erkannt habe, fühle ich, daß sie von dcr übrigen civilisirten Welt durch ein machtiges politisches Interesse getrennt wirb, welches sich auf den religiösen Fanatismus stützt, und ich bin nun der Meinung, daß Frankreich seine Stützen unter den Nationen suchen müsse, deren Interessen mit den seinigen zusammentreffen. Man baut Bündnisse nicht auf Meinungen gegen die Bedürfnisse. Wo sind in Europa die Bedürfnisse, welche zusammentreffen? Bei den den Aufenthalt in Paris. Er glaubt vielleicht, die Ncuerunge-süchtigcn von ihren Träumen zu heilen, wenn cr ihnen Frankreich in dcr Nahc zeigt, das ihm als ein Revolutionevulkan vorgestellt wird, als ein Land, m welänm die Russen eincn Abscheu vor de» politischen Reformen erhalten müssen; cr irrt sich. 387 Franzosen und den Deutschen und den Völkern, welche die Natur bestimmt hat, Satelliten dieser beiden Nationen zu scin. Die Geschicke einer fortschreitenden, aufrichtigen und verständigen Zivilisation weiden im Herzen Europas entschieden werden; Alles, was dazu beitragt, die vollkommene Uebereinstimmung der deutschen Politik mit der französischen zu beschleunigen, ist wohlthätig, während Alles, was diese Vereinigung verzögert, wie scheinbar auch der Grund der Verzögerung sein mag, verderblich ist. Es wird zum Kampfe kommen zwischen der Philosophie und dem Glauben, zwischen der Politik und der Religion, zwischen dem Protestantismus und der katholischen Kirche, und von dem Banner, das Frankreich in diesem Niesenkam-pfe aufpflanzt, wird das Schicksal der Welt, der Kirche und vor Allem Frankreichs abhängen. Daß das Alliancesostem, nach dem ich strebe, gut ist, beweist der Umstand, daß eine Zeit kommen wird, in welcher wir teln andres werden wählen können. Als Fremder, namentlich als Fremder, der schreibt, bin ich von den Nüssen mit Betheuerungen der Artigkeit überhäuft worden, aber ihre Gefälligkeit beschrankte sich auf Versprechungen; Niemand erleichterte es mir, einen Blick in die Tiefe, auf den Grund der Dinge zu thun. Eine Menge Geheimnisse und Räthsel blieben mir unerforschlich. Ware ich ein Jahr in diesem Lande geblieben, so würde ich weiter gekommen stin, die Unannehmlichkeiten des Winters schienen mir aber um so mehr zu fürchten sein, je eifriger die Veute versicherten, man empfinde wenig davon. Sie nehmen gelahmte Glieder und ein erfrorenes Gesicht für nichts; und doch könnte ich schon mehr als ein Beispiel von solchen Unfällen anführen, die selbst Frauen von Stande, fremde wie russische, betrafen. Ueberdies fühlt man einen solchen ^356 ^ Unfall snn Winzes Leben hindurch, ja wenn man sich nur unheilbaren Nervenleiden aussetzte, wäre die Gefahr schon groß. Ich wollte mich nicht mchlos diesen Ucbeln und der ^ange-weil.' der Vorsichtsmaßregeln aussehen, die man ergreifen muß, um sie zu vermelden. Uebrigens befiel mich die Traurigkeit in diesem Reiche des tiefen Schweigens, der großen leeren Räume, der kahlen Flächen, der stillen Städte, der vorsichtigen Gesichter, deren nicht eben offener Ausdruck selbst die Gesellschaft öder erscheinen laßt; ich entfloh deshalb sowohl vor dem Spleen als vor dcr Kalte. Was man auch sagt, wer den Winter in Petersburg verbringen will, muß sich darein ergeben, die Natur sccks Monate lang zu vergessen, um unter Menschen eingeschlossen zu leben, die nichts Natürliches haben"). Ich gestehe aufrichtig, ich habe in Nußland einen schrecklichen Sommer verbracht, weil es mir nur gelang, einen sehr kleinen Theil von dem zu begreifen, was ich sah. Ich hoffte zu Auflösungen zu gelangen und bringe Ihnen Räthsel. Besonders bedaure ich, daß ich ein Geheimniß nicht enthüllen konnte, den geringen Einfluß der Religion nämlich. Konnte nickt die griechische Kirche, trotz ihrer politischen Knechtung, wenigstens eine moralische Autorität üoer die Völker behalten? Sie hat gar keine. Woran liegt die Nichtigkeit einer Kirche, die Alles in ihrem Wirken zu begünstigen scheint? Das ist das Räthsel. Ist es eine Eigenthümlichkeit der grie- *) Ich finde in den Briefen dcr Lad« Montague, die ncucr-dmgs herausgegeben wordcn sind, eincn Grundsatz t>cr türkischen Höflingr, dcr auf allc Höflinge anwendbar ist, bcsondcrs aber auf die russischen, also auf alle Russen; cr kann auch dic Achnlichtcit in mehr als «iner Art zwischen dcr Turk« und Nußland bezeichnen: „liebkost dic Günstlinge, vcrnmdc dic Unglücklichen und traue Niemandem." chischen Neligion, so statronair zu bleiben und sich mit den äußern Zeichen der Ehrfurcht zu begnügen i Ist ein solches Resultat überall unvermeidlich, wo die geistliche Macht ganz unabhängig von der weltlichen wird i Ick glaube es, aber ich hatte es Ihnen gern durch Documente und Thatsachen bewiesen. Ich will Ihnen nur mit wenigm Worten das Resultat meiner Beobachtungen über die Verhaltnisse der russischen Geistlichkeit zu den Gläubigen mittheilen. Ich habe in Rußland eine christliche Kirche gesehen, die Niemand angreift, die Jedermann achtet, wenigstens schein-bar, eine Kirche, welche in der Ausübung ihrer moralischen Autorität durch 'Alles begünstigt wird, und doch hat diese Kirche keine Macht über die Herzen; sie bild,et nur Heuchler oder Abergläubische. In den Landern, in welchen die Religion nicht geehrt wird, ist sie nicht verantwortlich-, hier aber, wo die ganze Macht einer absoluten Gewalt den Geistlichen in der Ausübung seines Amtes unterstützt, wo die Lehre weder ducch Schriften, noch durch Reden angegriffen wird, wo die Religionsübun-qen gewissermaßen Staatsgesetzc geworden sind, wo das Herkommen dem Glauben dient, hat man wohl ein Recht, der Kirche ihre Unfruchtbarkeit vorzuhalten. Diese, Kirche ist todt und doch kann sie, nach dem zu urtheilen, was in Polen geschieht, Verfolgerin sein, währcnd sie keine so hohen Tugenden, keine so große Talente besitzt, um durch den Geist zu erobern» es fehlt mit einem Worte der russischen Kirche das, was dem gan;en Lande fehlte die Freiheit, ohne die der Lebensgeist zurückweicht und das Licht verlöscht. Das westliche Europa weiß nicht, wie große religiöse Unduldsamkeit in der russischen Politik liegt. Der Cultus der unirten Griechen ist in Zolge langer geheimer Verfolgungen abgeschasst worden; weiß das katholische Cmopa, daß es 3W keine Unkten mehr in Nußland giebt; weiß es nur, was die Unirten sind")? Ich erzähle Ihnen hier eine Thatsache, die Ihnen die Gefahr beweisen wird, welcher man sich in Rußland aussetzt, wenn man über die griechische Religion und deren geringen moralischen Einfluß sagt, was man denkt. Vor einigen Jahren ließ ein geistreicher, in Moskau überall gern gesehener Mann von edler Geburt und edelm Character, den nur zu seinem Unglücke die Liebe zur Wahr: heit beherrscht, eine überall gefährliche, in Rußland aber tödt^ liche Leidenschaft, drucken, die katholische Religion s>i für die Entwickelung des Geistes und das Fortschreiten dcr Künste günstiger als die byzantinische russische Religion; er dachte darüber, wie ich denke, und wagte es auszusprechen, ein für einen Russen unverzeihliches Verbrechen. Das Leben der katholischen Geistlichen, heißt es in seinem Buche, ein ganz übernatürliches Leben, das es wenigstens sein sollte, ist ein freiwilliges tagliches Opfer der groben Gelüste der Natur, ein unaufhörlich erneutes 5?pfer auf dem Altare des (Glaubens, um auch den Ungläubigsten zu beweisen, daß der Mensch nicht in Allem der materiellen Kraft unterworfen ist und daß er von einer höhern Macht das Mittel erhalten kann, den Gesetzen der physischen Welt zu entgehen; dann setzt er hinzu' *) Veitdem dies geschrieben ist, haben nichrcrc Zn'tungm die Allocution des Papstes über die Thatsachen mitgetheilt, welche ich erwähne, und diese, von der höchsten Weisheit eingegebene Rede zcigt, daß der heilige Vater endlich über die Gefahren aufgeklärt worden ist, die ich bezeichnet habe, und daß die wahren Interest sin dec Glauben« in Num jetzt über die Absichten einer weltlichen Politik vorherrschen. Man muß über dielen interessanten Gegenstand das Werk lesen: ?ei'5ocul,un8 ^ «"»ü'l'gncLz >5L 391 ,,In Folge der Refovmcn, die durch die Zeit bewirkt worden sind, kann die katholische Religion ihre Macht nur noch zum Guten anwenden," mir einen, Wone, er behauptet, der slawischen Race habe der Katholicismus gefehlt, weil sich nur in ihm der ausdauernde Enthusiasmus, die vollkommene ^iebe und das reine Erkennen fanden. Er unterstützte seine Meinung mit einer großen Menge von Beweisen und bemühte sich, die Vorzüge einer unabhängigen, d. h. allgemeinen Religion vor der localen, d. h. durch die Politik beschrankten Religion dazuthun, kurz er sprach eine Meinung aus, die ich fortwährend aus allen Kräften vertheidigt habe. Selbst die Lharactcrmängel der russischen Frauen legt dieser Schriftsteller der griechischen Regierung zur Last; er behauptet, nur weil sie keinen wahren Religionsunterricht erhalten hätten, waren sie leichtsinnig und wüßten sie das Ansehen in ihrer Familie nicht zu behaupten, welches eme christliche Gattin und Mutter in ihrem Hause haben müsse. Dieses Buch, das durch irgend ein Wunder oder einen Kunstgriff der Aufsicht der Censur entgangen war, setzte Nußland in Feuer und Flammen; Petersburg und das heilige Moskau erhoben ein Wuth- und Larmgeschrei und die Gewissen der Glaubigen geriethen in solche Unruhe, daß man von einem Ende des Reichs bis zum andern die Bestrafung dieses unvorsichtigen Vertheidigers der Mutter der christlichen Kirchen verlangte, der trotzdem als Neuerer geschmäht wurde. (Es ist keine der geringsten Inconscquenzen des menschlichen Geistes, der in den Comödien dieser Welt fast immer mit sich im Widerspruch ist, daß alle 'Securer und Schismatiker bchaupten, man müsse die Religion achten, in der man geboren sei, — eine Wahrheit, die von Luther und Calvin nur ;u sehr vergessen wurde, denn sie thaten in der Religion, ^l)2 »ras viele republikanische Helden in der Politik thun möchten, sie nahmen die Autorität für sich in Anspruch). Es gab nicht Knuten, nicht Sibirien, nicht Galeeren, nicht Bergwerke, Fc» stungen und Einsamkeit in ganz Rußland genug, um Moskau und dessen byzantinische Orthodoxie über den Ehrgeiz Roms zu beruhigen, welchem die gottlose Lehre eines Mannes, eines Verrathcrs an Gott und dem Vaterlande, gedient hatte. Man wartete mit ängstlicher Spannung auf das Urlel, welches das Schicksal eincs so großen Verbrechers enlschei-den sollte; als dasselbe etwas lange auf sich warten ließ, verzweifelte man schon an der höchsten Gerechtigkeit', da erklärte der Kaiser in seiner barmherzigen Ruhe, es sei keine Veranlassung zu strafen, es sei kein Verbrechen da, nur ein Wahnsinniger, der eingesperrt werden müsse, auch setzte er hinzu, der Kranke werde den Aerzten übergeben werden. Dieses Urtlml wurde ohne Verzug zur Ausführung gebracht, aber auf so sirenge Weise, daß der angebliche Irre das höhnende Urtel des unbeschränkten Oberhauptes der Kirche und des Staates rechtfertigen zu müssen gedachte. Der Mar-wrer der Wahrheit war nahe daran, ten Verstand zu verlieren, der ihm durch cine Entscheidung von oben abgesprochen wurde. Jetzt, nach einer dreijährigen streng beobachteten, eben so erniedrigenden als grausamen Behandlung erhalt der unglückliche Theolog endlich wieder einige Freiheit,, aber ist das nicht ein Wunder? — nun zweifelt er selbst an seinem Verstande, glaubt dem kaiserlichen Worte und bait sich für wahnsinnig! Unermeßlich tiefes menschliches Elend! In Rußland gilt das Wort des Kaisers, wenn es einen Menschen ausstößt, eben so viel als der papstliche Vannstrahl im Mittelalter! 393 Der angeblich? Irre kann jetzt, wie man sagt, sich mit einigen Freunden unterhalten; man machte mir bei meiner Anwesenheit in Moskau den Vorschlag, mich zu ihm zu führen, aber die Furcht, selbst das Mitleid hielt mich zurück, denn mein? Neugierde hatte ihm beleidigend erscheinen müssen. Welche Strafe die Censoren des Buches erlitten, hat man mir nicht gesagt. Das ist ein ganz neuerliches Beispiel von der Art, wie die Gewissensangclegenheiten heutigen Tages in Nußland behandelt werden. Ich frage Sie zum letzten Male, hat der Reisende, der so unglücklich oder glücklich war, solche Thatsachen zu sammeln, das Recht, sie zu verschwelen? In dieser Art klart Sie das, was Sie bestimmt wissm, über das auf, was Sie muthmaßcn, und aus Allem diesem geht eine Ueberzeugung hervor, die man auch der Welt beibringen muß, wenn man kann. Ich spreche ohne persönlichen Haß, aber auch ohne Furcht, denn ich trotze selbst der Gefahr, langweilig zu werden. Das Land, das ich bereiset habe, ist so düster und einförmig, wie ienes, das ich früher schilderte, glänzend und mannich-faltig ist. Wer es genau schildern will, darf nicht gefallen wollen. In Rußland ist das Leben so trübe, wie es in Andalusien heiter ist; das russische Volk ist still, das spanische voll Feuer. In Spanien wurde der Mangel an politischer Freic heit durch persönliche Unabhängigkeit ausgeglichen, die nirgends in gleichem Grade bestebt und deren Wirkungen überraschend sind, wahrend in Nußland die eine so unbekannt ist wie die andre. Ein Spanier lebt durch die Liebe, ein Nüsse durch die Berechnung; ein Spanier erzählt Alles und erfindet, wenn er nichts zu erzählen hat; ein Ruffe verheimlicht Alles und wenn er nichts zu verheimlichen hat, schweigt ,r, um verschwiegen auszusehen, er schweigt sogar aus Be- 394 rechnung, aus Gewohnheit; Spanim ist von Raubern heimgesucht, aber man stiehlt dorr nur auf den Straßen; in Rußland sind die Straßen sicher, aber man wird unfehlbar in den Häusern bestohlen; Spanien ist reich an Erinnerungen und Ruinen, die sich aus allen Jahrhunderten herschrei-ben; Rußland begann erst neuerlich und seine Geschichte ist nur an Versprechungen reich; Spanien starrt von Bergen, welche bei jedem Schritte des Reisenden die Landschaft ändern ; Rußland hat von einem Ende der Ebene bis zum andern nur eine Landschaft; die Sonne erleuchtet Sevilla und belebt Alles auf der Halbinsel; der Nebe! verschleiert die Ferne in der Umgegend von Petersburg, die selbst an den schönsten Sommertagen trübe bleibt, kurz die beiden Lander sind in allen Punkten völlig verschieden, verschieden wie Tag und Nacht, wie Feuer und Eis, wie Süden und Norden. Man muß in dieser Einsamkeit ohne Nuhe, in diesem Kerker ohne Muße, den man Rußland nennt, gelebt haben, um ganz die Freiheit zu fühlen, die man in den andern Landern Europas genießt, welche Negierungsform sie auch Iiaben mögen. Man kann es nicht oft genug wiederholen, in Rußland fehlt Allem und überall die Freiheit, außer, wie man mir gesagt hat, dem Handel in Odessa. Der Kaiser liebt deshalb auch, nach dem prophetischen Tacte, den er besitzt, den unabbängigen Sinn nicht, welcher in jener Stadt herrscht, deren Gedeihen man der Klugheit und Rechtschaf-fenheit eines Franzosen verdankt*); gleichwohl ist es die einzige in seinem weicen Reiche, in welcher man mit Recht seine Regierung segnen kann. Ist Ihr Sohn unzufrieden in Frankreich, so wenden Sie mein Mittel an; sagen Sie zu ihm: reise nach Rußland. ') Dem Hcrzogc von Richelieu, Minister unter Ludwig XVl/i. I»3 Diese Neise ist jedem Ausländer von Nutzen; wer dieses Land recht genau besehen hat, wird in jedem andern zufrie-dm leben. Es ist doch qut, daß man weiß, cs giebt cimn Staat, in welchem kein (^lück möglich ist, weil der Mensch, nach einem Gesetze seiner Natur, ohne Freiheit nicht glück-l,ch sein kann. Eine solche Erinnerung macht nachsichtig und der Reisende kann, ist er m seine Heimaih zurückgekommen, von dieser sagen, was ein geistreicher Mann von sich selbst sagte-,.Wenn ich mich selbst beurtheile, bin ich bescheiden, wenn ich mich aber mit Andern vergleiche, bin ich stolz." Tl n h a u g. .^m verlauf dieses Iahrcs hat mich der Zufall mit zwei Männern zlisconmen^cführt, welche zur Z^it dcs Fcldzuges ron ll^l2 in unserer Armee dicnlcn und beide mehrere Jahre in Rußland lebten, wo sic in die Gefangenschaft gerathen waren. Der Einc ist Franzose und icht Professor dcr rlissischcn Spracne in Paris; er heißt lyirard; der andrc ist ein Italiener, Grassini, dcr Bruder der berühmten Sängerin, welcdc durch ihre Schönheit in Europa Aufsehen machte. Sie trug durch ihr dramatisches Talent zu dem Ruhme dcr modcrncn Schule in Italien bei. Diese beiden Personen haben mir Thatsachen erzählt, die sich durch einander bestätigen und mir eine Veröffentlichung zu verdienen schienen. Ich habe, ohne ein einziges Wort daran zu ändern, mein Gespräch mit Grassiin niedergeschrieben und theile dasselbe buchstäb: lich genau mit; mir den Details, die mir von Girard mitgetheilt wurden, verfuhr ick nicht mit gleicher Sorgfalt, ich kann sie also nur aubzugtwtise berichten. Vcide Erzählungen gleisen einander dermaßen, als ob sie nack einander gemacht wären, und diese 2lehn: lichkcit crhohctc das Vertrauen, das mir die beiden Personen einflößten, welche mir dic Thatsachen mittheilten. Beide Männer kennen einander durchaus nicht, haben einander nie gesehen, wissen uon einander gar nichts. Zuerst was mir Herr Girard erzählte: Er wurde während düs Mückzugs gefangen genommen und sogleich mit cinem Kosakencorps in das Innere Rußlands transports. Dcr Unglückliche gehörte zu cmem Zuge von Ms» Franzosen. Dle 397 Kalte nahm von Tag zu Tage zu, und die Gefangenen mußten über Moskau Hinausmarschiren, wo sie m den verschiedenen Gou, vcrnemcnts im Innern vertheilt werden sollten. Da sie im höchsten Grade erschöpft und fast verhungert waren) mußten sic unterwegs oft stehen bleiben, aber sie erhielten dann sofort zahlreiche und starke Stockschläge statt Brod, und dadurch die Krafl, weiter zu gehen, bis z»m Tode. Bei jedem Ruheplatze blieben einige dieser schlecht gekleideten, schlecht genährten, aller Hilfe entblößten und gemißhandelten Unglücklichen auf dem Schnee liegen; waren sie einmal gefallen, so froren sie an den Schnee an und stanom nie wieder auf. Selbst ihre Henker staunten über ihre übergroße Noth. Sie waren von Ungeziefer aufgefressen, durch das Fieber und die Noth abgemagert, verbreit.tcn überall die Ansteckung, und wurden Gegenstände des Abscheus für die Vaucrn, bei denen man sie bleiben ließ. Mit Stockschlägen trieb man sie nach den Orten hin, die ihnen als Ruheplätze angewiesen warm, mit Stockschlägcn empfing man sie dort, ohne daß sie sich Jemanden nähern, oder nur in die Häuser hincintreten durften. Manche waren so weit heruntergekommen, das, sie in ihrcr wüthenden Verzweiflung mit Faustschlägen, Stücken Holz oder Steinen über einander herfielen, um sich untereinander, als letztes Hilfsmittel, zu ermordn, weil die, welche lebend aus dem Gemetzel davon kamen, die Beine der Todten aßen!! Zu solchen gräßlichen Erccssm trieb die Unmenschlichkcit der Russen unsere kandsleute. Man hat es nicht vergessen, daß Deutschland in derselben Zeit der christlichen Welt andere Beispiele gab. Die Protestanten von Frankfurt erinnern sich noch der Aufopferung des Bischofs von Mainz, und die italienischen Katholiken gedenken dankbar der Unterstützung, die sie bei dcn Protestanten in Sachsen fanden. In der Nacht, in dcn Bivouacs richteten sich diejenigen, welche den Tod kommen sahen, mit Grausen auf; sie erfroren sodann, verzerrt vom Todeskampfc, und blieben steif und erfroren an den Wänden lehnen. Ihr letzter Schwelst gefror auf ihren abgemagerten Gliedern. So blieben die Leichname stehen und liegen, bis man sie von ihrer Stelle wegriß, um sie zu verbrennen, und dic ssersc trcrmtc sich leichter von dem Fuße, a's die Sohle von dem Nodcn. Wcnn der Tag erschien, sahen sich ihre Cameradcn von einem Kreise kaum erkalteter Statuen umringt, die gleich vorge- 3»8 schobcnen Wachen dcr andern Wclt um bis Laqcr n.rumgestcllt zu scin schienen. Dieser grauenhafte Anblick beim Erwachen läßt sick nicht bcschrcibm. Alle Morgen, vor dcm Abmärsche der Colonne, verbrannten die Russen die Todten, bisweilen auch — die Sterbenden. Das hat Girard gesehen, selche Leiden hat er getheilt, und, Dank seiner Iligmd und ftincm gittcn Sterne, überlebt. Die''ü Thatsachen kommen mir, so schrecklich sie auch sind, nicht ausierordentlichcr vor, als eine Menge durch die Geschichtschreiber lllnstatincr Erzählungen; unmöglich aber wird es mir, das Schweigen eines Franzosen mir zu crklarcn, ia nur zu glauben, der aus diesem unmcn'chlichen Lande zurückgekommen, und für immer in sein Vaterland zurückgekehrt ist, Girard mechtc ine die Erzählung von dcm, waö er gelitten tlllt, veröffentlichen, aus Achtung, wie er sagt, vor dem Andenken an den Kaiser Alexander, der ihn fast sechs Jahre m Ruß: land zurückhielt, wo er, nachdem er die Landessprache erlernt hatte, als französischer Sprachlchr.r in den kais.rlichen Schulen verwendet wurde. Wie viele willkürliche Handlungen, wie vicle Betrügereien sah cr in diesen großen Anstalten 5 Aber nichts konnte ihn blwegcn, das Schweigen zu breclnn, und Europa mit so vielen schreienden Mis-bräuchcn bekannt zu machen. Ehe er die Erlaubniß zur Rückkehr nach Frankreich erhielt, sah ihn einst der Kaiser Alexander dci einem 3-csuchc, den dieser Fürst in irgend eine Provinzschule machte. Er richtete rinigc stündliche Worte an ihn ü'brr den Wunsch, Rußland zu verlassen, welchen Girard schon langst gea/n s^inc Vorgesetzten ausgesprochen hatte, und gab ihm endlich die so oft erbetene Erlaubniß, ließ ihm s^gar einiges Reisegeld auszahlen. Girard hat ein sanftes Ge« sicht, das ohne Zweifel dcm Kaiser gefiel. So sah der unglückliche Gefangene, dcr durch ein Wunder dem Tode entgangen war, nach zehn Jahren seine Gefangenschaft cndigm. Vc v^rliVß das Land seincr Henker und Kerkermeister, indcm cr die Russ.n laut pries, und laut seinen Dank für die an;rn Mahlzeit singen, und in meiner Gegenwart gegen die Franzosen, gegen die Armee, gegen die Gefangenen sprechen mußte; ich verstand so viel Russisch, um einen Theil seiner unanständigen und brutalen Späße zu verstehen, deren Sinn mir mcin Zögling vollends erklärte, wenn wir wieder allein waren." „Welcher Mangel an Zartgefühl! Und man rühmt die russische Gastlichkeit! Sie sprechen von den schlechten Herren, welche die Lage dcr Gefangenen verschlimmerten; haben Sie solche getroffen ?" „Ehe ich nach Tula kam, gehörte ich zu einem Peloton Gefangener, das rimm Sergeanten, einem alten Soldaten, anvertraut war, den wir nur loben konnten. Eines Abends machten wir auf dm Besitzungen eines Barcns Halt, der wegen seiner Grausamkeiten w>it und breit gefürchtet war. Der Unsinnige wollte uns mit eigner Hand umbringen, und der Sergeant, dcr uns auf unserem Marsche zu escortircn hatte, konnte kaum unser l»eben gegen die patriotische Wuth t»,s alten Bojaren schuhen," „Welche Mcnschm! Sie sind wirtlich dir Söhne dcr Diener Iwans IV. Habe ich Unrecht, wcnn ich mich gegcn ihre Un- «> M.in sagt, die neuen Kesehe in Nupland erlaubten nickt mehr, die Mcnsck'l'n ohne d^n Mrm,d und Vodl'n zu verkaufen; man sagt adrr gleich» zeili^, es ge>,'e noch immcr Mlttel, der Strenge der Gesetze zu entgehe». (Anm. d. Verf.) 26' 404 Menschlichkeit ereifere? Gab Ihncn der Vater Ihres Zöglings viel Gcld?" „Ich h.itte gar nichts, als ich in seinem Hause ankam; um mich zu kleiden, gab er seinem Schneider Auftrag, für micli eincn seiner alten Fracks zu wenden; er schämte sick nickt, d^n Erzichrr seines eigcncn Sohnes ein Kleidungsstück tragen zu lasscn, das kein itülilnijchcr Bedienter anziehen würde." „Gleichwohl möchten die Russen gern für freigebig qelttn." „Ja, aber in ihren Häusern sind sie schmutzig geizig; kam ein Engländer durch Tula, so wurde in den Häusern, in denen der Fremde aufgenommen werden sollte, Alles umgekehrt. Man fetzte Wachslichter statt der Talglichtcr auf die Kamine, reinigte das Zimmer, kleidete die Leute, lurz die ganze Lebensweise wurde geändert." „Alles, was Sie mir sagen, rechtfertigt meine Ansichten voll, kommen; im Grunde, glaube ich, denken Sie doch wie ich; wir sprechen uns nur anders aus." „Ich muß aestchcn, baß man sehr sorglos wird, wenn man zwei Jahre in Mußland gelebt hat." „Ja, und S-e sind ein Beweis davon; ist das allgemein so'?" „So ziemlich, man fühlt, daß die Tyrannei stärker ist, als die Worte, und baß die Oessentlichkeit gegen folcht Dinge nichts vermag. „Sie muß dach etwas vermögen, weil die Russen sie fürchten. Ihre verbrecherische Träghnt, verzeihen Sie mir den Ausdruck, und die der Personen, die wie Sie denken, hält Europa und die Welt immer länger in der Verblendung und läßt der Bedrückung freien Spielraum." „Sie würde ihn haben allen unsern Buchern und Schriften zum Trotze, Um Ihnen z,u beweisen, daß ich nicht allnn dilstr Meinung bin, will ich Ihnen noch die Geschichte eines meiner Unglücksgefährten erzählen; er war ein Franzose ldcn Namen wollte er mir nicht nennen). Dieser junge Mann kam eines Abends krank in dem Bivouac an; in der Nacht vcrficl er in Schlafsucht und früh wurde er mit den Todten zu dem Scheiterhaufen geftdlcppt, aber ehe man ihn hineinwarf, wollte man alle Leichname zusammenbringen. Die Soldaten licßen ihn cinm Augenblick am Boom licgen, um die andern Todten zu holcn. 405 Man hatte ihn volliq angekleidet auf ben Rücken gelegt; cr athmete noch, er horte so^ar Alles, was man thut und sprach; cr war wieder zur Besinnung gekommen, konnte aber kein Lebcns: zeich,n gcbcn. Eine iunge Frau, der die Schönheit der Zuge und der rührende Ausdruck des Gesichtes dieses Todten auffiel, näherte sich unserm unglücklichen Cameradcn, erkannte, daß er noch lebte, rief um Hilfe, und ließ den Fremden, den sie vom Tode erweckte, forttragen, pflegen und heilen. Auch er hat seine Geschichte nicht geschrieben, als cr nach mehrjähriger Gefangen-schaft nach Frankreich zurückkehrte." „Aber warum haben Sie, ein unterrichteter und unabhängiger Mann, die Geschichte Ihrer Gefangenschaft nicht geschrieben? Beglaubigte Züge solcher Art würden die Welt interessirt haben," „Ich zweifle daran: die Welt besteht aus Leuten, die sich so sehr um sich selbst kümmern, baß die Leiden Unbekannter sie wenig berühren. Uebrige,>s habe ich eine Familie, einen Stand und hange von meiner Regierung ab, die in gutem Vernehmen mit der russischen steht und die es nicht gern sehen würde, wenn einer ihrer Unterthanen Dinge veröffentlichte, die man in dem Lande, in welchem sie vorgchcn, zu verheimlichen sucht.")" „Ich bin überzeugt, daß Sie Ihrer R.gurung Unrecht thun; Vie allein, erlauben Sie mir, es auezusprechcn, scheinen Ihre? übergroßen Vorsicht wegen Tadel zu vcidienen." „Vielleicht; a^cr ich werde nie drucken lassen, daß die Ruffen unmenschlich wären." „Ich schäle mich glücklich, nur einige Monate in Rußland geblieben zu sein, denn ich mache die Vemcrkunq, daß die auf: richtigsten Manner, die unabhängigsten Geister, nach einem Aufenthalt, uon mehreren Jahren in diesem seltsamen Lande ihr ganzes übriges Leben hindurch glauben, noch da zu sein, ode? dahin zurückkehren zu müssen. Und dies erklärt uns unsere Un-kenntniß von Allem, was dort vorgeht. Der wahre Character '''> Duich welcken Kunstgriff ist es dem russischen Cabinet, dieser recht eigentlich revolutilMlin'n R^i^nmq, l,elu!', wi d Europa nie erfahren, was es von duseln Mllsscr^eftugniss!,' ciqcntlich zu halten habe. Die Milde dci Dcspoti'snms zu rühmen, selbst wenn man sich außcr dem Nereide dlssclbcn befindet, ist eine Vorsicht, die mir Verbrecher,sch erscheint. Darin liegt ein unerklärliches Geheimniß; wenn ich ts auch nicht ermittelt habe, so bin ich doch wenigstens der erstarrenden Zauberkraft der Furcht entgangen und ich werde dies durch die Aufrichtigkeit meiner Erzahlun^cn beweisen." Indem ick diese langen Erzählungen schließe, glaube ich den Lcsnn ein Actenstück nnlchcilm zu müssen, das ich für acht halte. Ick darf nicht sagln, auf welche Weift ich mir dasselbe verschaffen konnte, denn obwohl die darin erzählten Thatsachen jetzt dcm Reiche der Geschichte angehören, würde es in Petersburg doch gefährlich sein zu gestehen, daß man sich damit beschäftige; man würde sich wcnigstcus eines Verstoßes gegen die Schickli^keit schuldig machen, durch welchen Ausdruck man klügllchcrwcise die Verschwöl rungen bezeichnet. Jedermann weiß das, sagt man zu den Russen; ja, antworten sie, aber es hat nie Jemand davon reden-hören. Unter dem guten und großen Fürsten Iwan lll. stieg man als Intrigant auf das Schaffet; heut zu Tage könnte wohl Je: mand in Sibirim das Verbrechen eines Verstoßes gegen die Schick« lichknt büßen, müssen. Dieses Actenstüct, das die Person, welche mir dasselbe verschaffte, aus dem Russischen übersetzt hat, ist die Beschreibung der Gefangenschaft der Prinzen und Prinzessinnen von Braun: schweig, der Brüder und Schwestern Iwans V'l., des Gefangenen in Schiüssclburg, und ihrcr Rücksendung nach Dänemark untcr der Negierung Katharina's !I. Man schaudert, wcnn man die Beweise der Abstumpfung dieser unglücklichen Geschöpfe liefert, bei denen alle Ideen vom Leben mit dem kebm im Gefängnisse Zu Seite 407. Genealogie der Prinzen und Prinzessinnen von Braunschweig. l, Michael Romanow. Gest. 1645. ll. Alexiü i 1676 — Nathalie Narischkin. III, Theodor oder Fedor lll, -j- ohne Nachkommen 16K2. IV. Iwan V, -l- 1696. Katharina, vermählt Vlll. Anna, Herzogin mit dem Prmzcn von von Curland, ^ kinderlos Mecklenburg. 1740. Elisabeth, vermählt mit Anton Ulrich von Braunschweig, und wie cr im Exil gestorben. IX, Iwan VI., ent- Katharina Elisabeth Peter Alexis thront, in Schlüssel. -Z- 1dU7, -Z- 1782, -j- 17W, -Z- 1787, bürg gefangen, 65 I. alt. 3!» I. alt. 53 I. alt. 44 I. alt. 5 1764,' 22 Jahre alt. Ali. Mit dem Tode dieser fünf Prinzen und Prinzessinnen erlosch der Zweig Iwans V. Verzeich niß der Zaarc seit Iwan IV, Iwan IV, Katharina I Fedor I. Peter II. Sons Nudunow. Anna. Fcdor 11. Iwan VI, Demetrius V, Elisabeth. Basil V, Peter III. Michael Romanow. Katharina 11 Alexis. Paul. Fedor III. Alexander. Iwan V. NicolauS I. Peter I. Sophie 5 im Kloster Lapuchin 5 1731. 1704. Eudoxia ^ V. P e tcr d. Große — VI. Katha- 5 1725. rina I. 5 1727. Alexis"), vermählt Anna, vermählt mit X- EIisabcth mit einer Prinzessin Friedrich von Hol- 5 ohne Nach- von Braunschweig. stein-Gottorp, kommen 17^1. 1- 1726. VII. Peter II. XI. Peter III. ^ XII. Katharina f ohne Nachkommen. 1-1762. > die Große. XIII. Paul -l-ittUI. ^ : Maria von Würtemvcrg. XIV. Alexander. Constantin. XV, NicolauS I. Michael. ») Durch seinen Vater zum Tode verurtheilt. vcrsckmolzen und die dennoch ihrc Stellung fühlten. Dcr Thren, aufweichen sie ein Recht hatten, war im Besitz, der Gemahlin Ptterg II!., die ihrem Opfer solgtt, das stlbst in Folge von Usurpation regiert hatte. Ich schicke dieser wahrhaften Darstellung einen Stammbaum des Hauses Romanow voraus, wacher darlhut, daß die Gcfari-gencn in gerader Linie von dem (?zar Iwan V. abstammten. Die Familie des Prinzen von Briunschweig war das 3?pfcr der Sou-vcrainin, durch welche sie aus dcm Besitz gedrängt wurbc, dnin in dcr Geschickte Rußlands wird das Recht gebüßt und das Verbrechen belohnt. Um die Heuchelei dcr Czarm in ihrem Benehmcn gegen ihre Gefangenen recht zu windigen, darf man nicht vergessen, das, die nachstehende Erzählung für die Kaiserin selbst geschrieben ist und daß folglich stde Thatsache unter dcm schicklichsten Gesichtspunkte dargestcllc ist, welcher zugkich dcr genügendste für die große Seele Katharina's !l. war. Man muß dieses Actenstücr als ein Kanzlciwcrk, als eine officicllc Schrift und nicht wie cinc unparthciischc und nanirliche Erzählung lesen. Es ist cine Episode aus dcr Regürungsgeschichte Kathari.-na's ll., die auf höhcrn Befehl cnlworsen wurde und die Menschlichkeit der nordischen Scmiramis darihun sollte. Hf Nücksendunss der Familie von Vraunschweig von Scholmogory nach Dänemark. (Aus dem l. Thn'lc der Acten dcr kaiserlich russischen Academle.) !. Die Familie von Braunschweig schmachtete lange in dcr Verbannung, Ihr letzttr Aufeinhaltsort in Rußland war Scholmogor», eine alte Stadt im Gouvernement Archangel, auf einer Insel der Dwina, 72 Werst von Archangel. Sie lebte fern von jeder andern Wohnung in einem ausdrücklich für sie und die Beamten und Leute in ihrem Dienste bestimmten Hause. Sie durfte sich nur in d>m an das Haus stoßcnden Garten cr^chcn. Der unglückliche Aattr, Anton Ulrich von Braunschweig, dcr seine Gemahlin, die ehemalige Mcgcntin des russischen Reiches, verloren hatte und in Folge seines Unglückes erblindet war, starb am 4. (Uj.) Mai 1774, ohne so lange gelebt zu haben, um die Freiheit wieder zu erlangen, um die er mit Thränen gebeten hatte. Die Politik jener Zeit erlaubte nicht, ihm seine Bitte zu gewähren. Er hinterließ zwei Söhne und zwei Töchter. Die älteste dcr beiden Töchter, die Prinzessin Katharina, war in Petersburg vor düm Unglücke ihrer Familie geboren; dic Prinzessin Elisabeth in Düncmündc, die Prinzen Pctcr und Alms in Scholmogon). Die Gtburt des lrtztcrn hatte seiner Mutter das Leben gekostet. Zu ihrer Beaufsichtigung war ein Stabsoffizier ernannt und zu ihrer Bedienung waren cinige Personen ucn niederm Stande angewiesen. Jede Verbindung mit den 409 Nachbarn war ihnen untersagt. Nur der Gouverneur von Ar: change! hatte die Erlaubniß, sie von Zeit zu Zeit zu besuchen, um sich nach ihrer Lage zu erkundigen. Da sie wie Leute aus dcm Bolke erzogcn waren, so verstanden sie nur die russische Sprache. Zur Unterhaltung der Familie Braunschweig so wie der Personen, welche zu ihr gehörten und für das Haus, das sie inne hatten, war keine Summe angewiesen, aber man erhielt zu diesem Zwecke von dcm Magistrat von Archangel 10 bis l5l»00 Rubel» Aus der kaiserlichen Garderobe wurden die für die Familie nöthigen Sachen geschickt und die Uniformstücke für die Militairper-sonen lieferte das Kriegscommissariat. II.' Sobald dic Kaiserin Katharina II. den Thron bestiegen hatte, wendete sie den Gefangenen einen Blick des Mitleibens zu und milderte die Strenge ihrer Behandlung. Nachdem sie sich über-zeugt, daß die Freilassung der Kinder Ulrichs keine ernsten Fol: gen haben tonnte, entschloß sie sich, dieselben in die dänischen Staaten zurück zu senden und sie der Aufsicht der Schwester ihres Vaters, dcr uerwittweten Königin von Dänemark, zu übergeben. In dem Wunsche, ihren Plan ohne Beziehung anderer Personen auszuführen, knüpfte sie mit der Königin einen dirccten Brief« wechsel an. Der erste eigenhändige Brief der Kaiserin über diesen Gegenstand wurde am l8. k schicken wolle zu ihrer Tante. Diese unerwartete Nachricht von der Aenderung ihrer ktbentzweisc war für sie eine himmlische Freude. Sie erfuhren, daß Katharina ihnen eine glückliche Lage sichere und konnten, vor Erstaunen üdcr die große Gunst, kein Wort sprechen; nur ihre Herzen sprachen, denn sie zittcrten vor Freude. Zwar hörte man diese Stimme ihrer Herzen nicht, abe? der Ausdruck ihrer Züge, ihr nach dem Himmel erhobener Blick, die Thränen, welche aus ihren Augen flössen, und ihr häufiges Niedertmen sagten mehr als Worte und zeugten von ihrem Danke gegen ihr« erhabene Gebieterin. Mclgunof machte ihnen bemerklich, wir dankbar sie dem kaiserlichen Hause sein mußten, das ih-ncn die Frcih«it und eine solche Eristenz sichere, welche selbst un«, nr Personen ihres Standes selten sei. Or fügte hinzu, daß sie wmn sic dic Wohlthaten der Kaiserin vergaßen, wenn sie aufübel-wclkndc Reden hörten, treulosen Rathschlägen folgten und nicht 417 in Dänemark wohnen wollten, nicht nur ihrcn Iahrgehalt, sondern jeden Anspruch auf die Unterstützung Ihrer Majestät verlieren würden. Elisabeth antwortete ihm mit Thränen: „Gott behüte uns, „daß wir, die wir eine so große Gnade erhalten haben, undank-„bar seien. Glauben Sie mir, wir werden uns dem Willen Ih» „rer Majestät nie widersetzen; sie ist unsre Mutter und Beschütze« „rin. Wir setzen unsre Hoffnung nur auf sie, wie wäre es da „möglich, daß wir Ihre Majestät in etwa« erzürnen, daß wir uns „der Gefahr aussetzen könnten, Ihre Gnade für immer zu uerlic-„rcn?" Dann fragte sie Melgunof: „Wird uns unsre Tante „aufnehmen oder wird sie uns in irgend einer Stadt lassend Wir „wünschen lieber in irgend einer kleinen Stadt zu leben, denn „Sie tonnen sich vorstellen, wie wir uns am Hofe befinden wür-„den. Wir können uns gar nicht gegen die Leute benehmen und „verstehen ihre Sprache nicht." Melgunof antwortete ihr, sie könne ihre Tante bei ihrer Ankunft in Dänemark d^rum ersuchen und versprach seiner ScitS sich zu bemühen, daß ihre Wünsche erfüllt werdcn könnten. Mclgunof freute sich schr, alle, gegen sein Erwartm, in seinen Vorsii'lag mit Vergnügen eingehen zu sehen. Freilich fürchteten sie sich vor der Seereise, namentlich die Prinzessinnen, die nie gesehen hatten, wie ein Schiff sich bewegt. Obgleich Melgunof die Versicherung gab, daß durchaus keine Gefahr dabei sei, baß er sie sogar hundert Werste weit begleiten würde, äußerten sie doch wiederholt ihre Nesorgniß und sagten: „Sie sind Manner und fürchten sich vor nichts, aber wenn Ihre Frau mit uns käm«, würden wir auch gern auf das Schiff gehen." Mclgunof mußte ihnen sein Wort geben, seine Frau mitzubringen und sie nahmen dieses Versprechen um so freudiger auf, als die Wittwe Littenfelo und deren Söhne auch noch nicht zu Schisse gewesen waren und nicht weniger Furcht empfanden als die Prinzessinnen. VIII. An dem zur Abreise festgesetzten Tage ließ Mclgunof, der in Begleitung seiner Frau erschien, die Prinzen und Prinzessinnen mit allen Personen, welche sie begleiten sollten, und mit der III. 27 418 Dienerschaft auf ein Flußschiff steigen und segelte in dcr Nacht vom 26. zum 27. Juni ^. zum !). Juli) 17^ um 1 Ilbr nach der Fcstung Nmm'dwmskoi ab, die man bei günstigcm Winde am 2^. Juni friih 3 Uhr erreichte. Die Prinzen und Prinzessinnen erschraken bei ihrem Erwachen gewaltig, als sie die Festung erblickten. Sie bildeten sich ein, dies solle ihrc Wohnung sein und die Versicherungen Mrlgunof's wären nur Lügen gewesen. Die Ankunft cines Cabinctocourriers (Feldjägers) in demselben Augenblicke bestätigte sie in diesem Gedanken noch mehr. Sie glaubten, der Cmirricr überbringe den Befehl, sie in dcr Festung Nowodwinskoi zu lassen, während er dagegen die Bcstäligung der frühern Befehle an Mclgunof überbrachte. Um sie zu beruhigen, gab ihnen Mclgunof die Erlaubniß, auf den Wällen herum zu gehen. Sie kamen in Nowodwinökoi gerade am Jahrestage des Regierungsantritts dcr Kaiscrin an. Auf ihr Verlangen las der Geistliche, der sie begleitete, in der Festungskirche die Messe. Die Fregatte „Polarstern" war bereits segelsertig; die Prinzen und Prinzessinnen b-gabcn sich mit ihrem Gefolge an Bord. AlS Mclgunof Abschied von ihnen nahm, machte er ihnen nochmals Vorstellungen und schloß mit den Worten: „sie würden stets unglücklich sein, wenn sie sich undankbar zeigten." Sie brachen darüber in Thränen aus und sielen auf ihre Knie. Die Prinzessin Elisabeth sprach in aller Namen: „möge Gott uns strafen, wenn „wir die Gnade vergessen, welche unsere Muttcr uns erzeigt. „Wir werden immer die Sclaven Ihrer Majestät sein und nie „ihrem Willen ungehorsam erscheinen. Sie ist unsere Mnttcr und „unsere Beschützerin." Dann bat sie Melgunof, ihren Dank der Kaiserin zu überbringen. Als Melgunof sich von ihnen entfernte, befahl er die Anker zu lichten, die Flagge aufzuziehen und abzusegeln. Am 30. Juni, um 2 Uhr nach Mitttrnacht, segelte die Fregatte ab imd Mclgunof blutte ihr nach, biö sic ihm aus den Augen entschwand. IX. Die Kaiserin unterstützte die Prinzen und Prinzessinnen auch nachdem dieselben aus dem Lande gebracht waren. (Es folgt nun ÄI9 ein Verzeichnis, der Kleidungsstücke, Pelze, Theeservice, Uhren, Ringe u. s. w., die jcdcr Prinz erhielt; in Bergen übcvgab ihnen der Oberst Ziegler als Taschengeld 2t)00 holländische Ducatcn. Der Artikel schließt mit den Worten: „In Dänemark war man sehr verwundert über die Freigebigkeit, mit wclcher die Familie Braunschweig behandelt worden war. Die Konigin selbst sprach mit Danr davon." Der Artikel X enthält nichts Interessantes außer folgender Stelle: die Kaiserin war außerordentlich zufrieden mit der Art und Weise, wie Melgunof ihre Befehle ausgeführt hatte. Doch machte sie ihm bemerklich, daß er Unrecht gethan habe, seine In-structionen zu überschreiten und seine Frau auf das Schiff mit zu nchinen, wo die Familie Braunschweig sich befunden. Xl. Die Fahrt der Fregatte „Polarstern" wurde durch widrig Winde und Stürme verzögert und die Kaiserin fing an um die Reisenden besorgt zu werden, da sie lange keine Nachricht von ihnen erhielt. Endlich wurde aber die Ankunft der Fregatte in Bergen am 10. September (n. Styls) gemcldct. Ein dänisches Kricgsschriff „der Mars" erwartete sie seit langcr Zeit in Bergen. Den Tag darauf wurde die Familie Braunschweig dem Obcsamt-mann uon Bergen, Herrn Schulen, übcrgckcn und an Bord des Kriegsschisses gebracht. Die widrigen Winde hielten das Schiff bis zum 23. September 4 Mcilcn uon Bergen; dann hatte es noch mit einem heftigen Sturme zu kämpftn, der ohne Untere brcchung vom 3(1. September bis 1. October anhielt; erst am 5. October konntc man nach Hunstrand gelangen. Die durch dicse beschwerliche Fahrt ermüdeten Prinzen und Prinzessinnen von Braunschweig wurden in Aalburg an's Land gesetzt, wo sie drei Tage blieben, um auszuruhen; in Gorsens tamen sie am 13. October wohlbehalten und vergnügt und die Kaiserin segnend an, welche ihncn eine neue Eristenz geschaffen. Die Fregatte „Polarstern" blieb in Bergen, um den Winter da zuzubringen. Die Prinzessin Elisabeth hatte bei ihrer Ankunft in diesem Hafen M>1 Rubel vertheilt und 1000 davon dem «Zapitain Assenieff gegcben. Die Wahl der Personen, welche die Familie Braunschweig 27' begleiteten, war cine glückliche. Der Oberst Zieglcr und die Wittwe Lilienfcld wußten sich die Achtung und Freundschaft der Prinzm und Prinzessinnen zu erwerben; die jüngste Prinzessin namentlich war sehr zufrieden mit der Aufmerksamkeit Zicglcrs :c. XII. Die Kaiserin und dic Königin setzten lange ihren Briefwechsel über die Familie Braunschweig fart. Die Königin sprach immer mit Zufriedenheit von dem Verhalten dcr Prinzen und Prinzessinnen und rühmte das gute Herz und die Artigkeit derselben. Die Königin wollte dir Prinzen und Prinzessinnen sehen; sie. schrieb deshalb an die Kaiserin, die es ihr frei stellte; in der Folge besann sich aber die Königin eines Andern, obgleich die Prinzen selbst vorgestellt zu werden wünschten. Die Königin fragte die Kaiserin unter Andcrm auch, wie sie sich gegen dic Prinzen und Prinzessinnen zu benehmen habe und welchen Titel man ihnen geben tönnc. Die Kaiserin antwortete, sic betrachte dieselben, seit sie unter dem Schutze des dänischen Hofes ständen, alö unabhängige Personen von erlauchter Geburt; in Bezug auf das Benehmen gegen dieselben müsse man immer an ihr Glück und ihre Ruhe denken; ihr Mangel an Bildung, ihre Geistesschwache und andre Umstände machten es ihnen unmöglich, m der großen Welt zu leben; sie glaube, ein Leben fern vom allem Lärm des Hofes würde am besten für sie passen. Was die Titel betreffe, so meinte die Kaiserin, nichts könne ihnen cincn Titel nehmen, den Gott ihnen gegeben und der ihnen durch ihre Geburt gebühre, d. h. den Titel Prinzen und Prinzessinnen des Hauses Braunschweig, Die Königin hielt es für vortheilhafter, die russische Dienerschaft von den Prinzen und Prinzessinnen zu entfernen, damit sie sich schneller an ihre neue Lebensweise gewöhnten. Die Kaiserin willigte ein; alle Russen, mit Ausnahme des Beichtiger und dcr Sänger, lehrten nach Rußland zurück und die Familie Braunschweig hatte dann nur einen kleinen Hof von Dänen. Diese Aenderung war schmerzlich für die Prinzen und Prinzessinnen und man kann sich darüber auch nicht wundern; sie waren groß geworden und an einem Orte ausgewachsen mit ihren Dienern und daran gewohnt, in denselben ihre einzigen Vertrauten und 421 Gefährten zu schen. Sie trennten sich also nur mir Thränen von ihnen. Zur Einrichtung der Familie Brcnmschwcig in Gorscns, zur Erwerbung der Häuser lc. war eine Summe vun 60,00!) Thaler nöthig. Der Hof von Dänemark wallte diese Summe von der der Familie ausgesetzten Pension nehmen und zahlte davon 20,000 Thaler aus; die Kaiserin wünschte al,'cr nicht, daß die Prinzcn und Prinzessinnen nur thcilwcist ihre Großmuth genössen, wollte aber auch dem dänischen Hofe keine Last aufbürden und zahlte deshalb die noch fehlenden 40,00(1 Thaler aus ihrer Chatoullc. XIII. Die Prinzcn und Prinzessinnen lebten in Gorscns in Frieden und Freundschaft mit einander, gaben den Personen, welche der Hof von Dänemark zu ihnen gesandt hatte, niemals Veranlassung zur Klage, waren aber mit den letztern nicht immer zufrieden. Wie in Scholmogory war Elisabeth die Leiterin und Lcnkerin ihrer Geschwister, doch that sie nichts ohne deren Einwilligung. Die Brüder und Schwestern unterwarfen sich in allen Umständen den Gedanken und Rathschlägen derselben. Der Prinz Ferdinand von Dänemark besuchte die Familie Braunschweig in Gorscns. Dieser Besuch war aber traurig für sie. Sobald sie wußten, daß er käme, eilten sie ihm entgegen. Der Prinz umarmte zuerst die ältere Prinzessin; in demselben Augenblicke umringten ihn die drei Andern, küßten ihm die Hände und weinten vor Freude. Er blieb zwei Tage da und speiste früh und Mittags bei ihnen. Am dritten Tage versprach er Abschied von ihnen zu nehmen. Aber, um sich und ihnen neue Thränen zu ersparen, reiste er um sieben Uhr früh ab, nachdem er ihnen zur Erinnerung zwei Dosen und zwei Ringe gesandt hatte. XIV. Elisabeth erfreute sich ihrer neuen Lage nicht lange. Sine schmerzliche Krankheit, die zwei Wochen dauerte, verkürzte ihr Leben. Sie starb am 20. October 1782 im Alter von 39 Jahren. Fünf Jahre nach ihr starb der jüngere Prinz Alexis, am 422 22. October 1787. Kurz vor seinem Ende wurde cr schwach, aber cr erholte sich bald wieder. Dann bildete cr sich ein, cr würde den Jahrestag des Todes seiner Schwester nicht überleben^ dieser Gedanke setzte sich so fest in ihm, baß er ihm verderblich wurde. Einige Tage vor der ihm festgesetzten Zeit klagte cr über Unwohlsein; er wurde ohnmächtig, ließ sich in das Bett bringen und stand nicht wieder auf. Der Prinz Peter starb am 30. Januar des Jahres 17!)8. Die traurige Lage Katharina's kann man sich leicht denken. Aller ihrer Verwandten bcraubt, umgeben von Leuten, denen sie zur Last war, hatte sie nicht einmal den Trost, eine mitleidige Seele bei sich zu sehen. Ihre Tante lebte nicht mehr. Ihrc Umgebungen dachten mehr an ihrc eigene Bequemlichkeit als an die Pflege, auf welche sie ein Recht hatte, du der russische Hof olle Mittel dazu gewahrte. Die den Prinzen und Prinzessinnen bewilligte Pension wurde bis an ihrem Tod ausgezahlt, ohne daß man die Verminderung der Familie berücksichtigte. Der Aufenthalt in Gorsens wmdc Katharine» so unangenehm, daß sie nach Rußland zurückzukehren und Nonne zu werden wünschte. Sie fand nur im cNotttödienstc und im Gebete Trost. Vor ihrem Tode vergaß sie den Kummer, den man ihr bereitet hatte und schrieb an den Kaiftr Alexander, um ihn zu bitten, dcn Leuten in ihrem Dicnstc Pensionen zu bewilligen. Ihr Gesuch wurde erfüllt. Man gab allcn Beamten und Dienern, die lange an dem Hofe zu Vorsens gcwcsen waren, Pensionen aus dem russischen Schatze, selbst nach dem Tode derselben ihren Frauen; die, wttche nur kurze Zeit da gewesen waren, erhielten Beweise der Zufriedenheit. Katharina hinterließ ein Testament, in welchem sie dem Erbprinzen Friedrich von Dänemark und dessen Nachkommen ihr ganzes bewegliches und unbewegliches Vermögen vermachte. Sie starb am 8. April 1807 und wurde in Gorsens neben ihren Brüdern und ihrcr Schwester begraben. Mit ihr erlosch die Nachkommenschaft des Cz^r Iwan Alexiewicsch, dic cine be« sondere Erwähnung wegen des Unglücks verdient, das sie erfuhr. Unterzeichnet B. Polen of. Auszug ans der Beschreibung Moskaus von Le Co inte dc Lave au. Gefängnisse Moskaus <83S. I^ntcr den durch dic Polizei zur Haft gebrachten Personen befanden sich IN!) ohnc Paß, 78 Deserteure, 8354 Taschendiebe, 58!l Diebe, 2326 wegen Schimpftns, 666 wegen Zants, 117 wclchc Entflohene versteckt gehalten hatten und 2475 wegen verschiedener leichter Vergehen. Außerdem brachte man in das Gefängnis; im Ostrog 122 wegen Hciligthumsschändung und 45 Frauen wegen desselben Verbrechens, 2 wegen Schmährcdcn gegen die Regierung, 24 Mörder, 3l Bctrügcr, 34 Falschmünzer und 4 Falschmün-zcrinncn, 10 Brandstifter und 2 Brandstifterinnen, 12 wegen tödtlicher Venrundung, 25 wegen Selbstmordversuch, 7 welche ohne Vorbedacht Tod veranlaßt halten, 33 weil sie Leuttn Wunden beigebracht, die später gefährlich geworden, 177 Männer und 63 Weiber wegen Unzucht, l!2 Männer und 23 Weiber wegcn Trunk, !)5 Fälscher, H7b Männer und 3N4 Weiber wegcn Hcrumtreibcns, 46 Männer und 27 Weiber, weil sie Verdächtige b« sich aufgenommen, 824 Diebe und Hehler und 3l0 Diebinnen und Hehlerinnen, 46 Männer, weil sie ungerecht angeklagt hcttttn, 75 Männer und l2 Weiber wegen Führung falscher Namm, 2 Wucherer, 5 Männer, weil sie Krongclder entwendet, 143 Männer und ß Weiber, weil sie ihren Dienst verlassen hatten «nd ihrem Herrn entlaufen waren, 558 Männer und lU5 Weiber »vcgen Bettelnd, 19'^ Männer und I1 Weiber wegen Führung falscher Pässe. 424 Gefangene im Jahre 1834 in dem temporären Gefängnisse. Männ. Frauen. Rechtfert. sich. Wegen Heiligthurnsschändunq ... 3 — — — „ Theilnahme an Aufruhr . . l — — — „ Mordes........ 5 — — — „ Theilnahme an Mord ... 2 — — — „ Brandstiftung......10 — __,__ „ Erpressung....... 8 — — - „ Nothzücktigung Unmündiger .1 — ^- ^ ,, Kindervaubce...... 1 — — — „ Schlägerei....... 1 -^ — — ,, Selbstverstümmelung .... 4 — ^- ^- Dicbstahl von Lcdensmitteln ... 2 — — — ,. Pferden......56 — - — „ ,, Kleidungsstücken ... 2 — —- ^ ,. „ verschied. Gegenständen 561 22 42 5 „ „ Geld und Effecten . . 13 1 3 — „ Gold.......16 2 - — Wegen Aneignung fremden Eigenthums 4 -- — — ,, Aufnahme gcstohl. Gegenstände 23 -^ 4 — ,, Hchlerei........ 4 — — — ,, Aufnahme Verdächtiger ... 4 — 6 -» „ Fälschung........ 1« — — — „ falschen Passes......14 — ^ — „ BC'vunk und Üüderlichkcit ... 126 4 27 - „ Ehebruch........— 1 — 1 „ falschen Berichts..... 6 — — — „ Entwendung von Krongcldcrn . 4 ^ _ — ,, Annahme eines falschen Namens 6 ^ — ^ „ Beihülfe zur Flucht Gefangener 3 — — ^- ,, Entkommcnlaffens von Gefang. 1 -^ -^ — „ Entfernung vom Dienst . . . 2 ^- ^ — „ Flucht von dem Herrn ... 327 28 77 2 „ „ aus Sibirien .... 15 -^ _- — „ „ vom Regiment » ' '^ ^ ^^ ^ ^ Summa 1264M. 56F. 159M7LF^ 423 M5nn. Frauen. Recktfeit. sich. Transport 1264 58 159 8 Wegen Flucht aus der Haft . . . 5 ^ — — „ Hcrumtreibens......15 ^ — — „ Mangel an Paß.....144 4 29 — „ Verlust des Passes .... 12 1 — — ,, nicht rechtzeitiger Erneuerung des Passes......52 — 13 — „ Betrügerei.......13 — 2 — „ unbefugten Bettelns .... 112 2 !8 - „ nicht bewiesener Vergehen . . 675 22 65 — Summa 2312 M. 8? F. 266M.6F. Alter der Gefangenen im Gefängnisse der Regierung zu Moskau 1635. Verurth. Unt. Aufs. blieben. Fnigespr. M. Fr. M. Fr. M. Fr. Unter 16 Jahren .... 38 12 — — 67 23 Von 16 bis 20 Jahren . . 9 26 8 3 53 21 " 20 - 30 „ 102 55 28 6 4« 52 >, 30 - 40 „ 126 68 25 7 59 45 „ 40 - 50 „ . . 87 5<> 12 4 52 48 „ 50 - 60 „ 56 33 8 1 64 42 „ 60 - 70 „ 22 18 1 59 61 " 70 — 80 „u. darüber 5 2 — 38 32 Unbestimmtes Älter.... 48 14 3 l 15 27 Ende. Druck von C. P. Melzer in Leipzig. Inhalt des dritten Kandcs. Tiebenundzwanzissfier Brief. Englischer <5lub. — Besuch im Schatz des Kremls. — Architcttur von Moskau. — Kitaigorod. — Madonna von Wiwielski. — Kirche von Wassili Blaschennoi. — Heiliges Thor. — Frcmd« Künstler. — Kirchen. — Große Glocke. — Klöster. — Der Schatz. — Jetziger Palast des Kaisers im Kreml - Neue Arbeiten im Kreml. — Was Moskau werden könnte. — Aussicht von der Kremls-Terrasse Abends. — Erinnerungen an die französische Armee. — Rostopschin. — Napoleons Fall. Achtundzwanziaster Brief. Orientalisches Aussehen Moskaus. — Architect«? und Character der Einwohner. — Schrin von Freiheit. — Frömmigkeit der Russen. — Gespräch darüber mit einem Russen. — Die griechisch-russische Kirche.- Zahlreiche Sectcn. —Kloster Dewitfchni- II pol. -^ Volk. — Trunksucht. — Gesang der Kosaken. — Die Musik bei den nordischen Völkern. — Dic Kosakcn und ihr Character. Neunundzwanzigstcr Brief. Die tatarische Moschcc. — Der Thurm Sukaroffs. — Dessentliche Anstalten. — Dcr Adclsclub. — Die Vornchmcn. — Ein russisches Kaffeehaus. — Die Gesellschaft in Moskau, — Character der Russen. — Russcn und Polen. — Vornehme Wüstlinge in Moskau. — Der Fürst von ** und dessen Gefährten nebst Anecdote» über die Sitten dcr Frauen. — ^h^imschaft und Autocratic. — Pctroweki. -- Gesang dcr russischen Zigeuner. — Die Russcn und die französische Sprache. Dreißigster Brief. Straßen im Innern Rußlands. — Die Dörfer, das Land. — Rafsinirte angebliche List der Polen. — Das Kloster Troitzkoi. — Pilger. — Erinnerungen. — Das Wasser in Rußland. — Der Diebftahl. Einunddreißigster Brief. Yaroslaw. — Russische Kleidung und Bäder. — Der Gouverneur von Jaroslaw und Erinnerungen an Versailles. — Russische Küche und Tafel. — Die Russinnen. — Der Reiche und Arme in Rußland. — Beschränkung des Kaisers. — Russische Bureaucratic. — Einfluß Napoleons auf die russische Verwaltung. Zweiunddreißigster Brief. Die Ufer der Wolga. — Russische Kutscher. — Russisches Schloß. — Kostroma. — Abenteuer im Walde. — Die Industrie der Bauern. — Character der Nationalgesänge. — Weg nach Sibirien. "I Drciunddreißiasier Brief. Nischnci Nowogorod. — Der Krcml der Stadt. — Zahl der Frcmdcn. — Der Gouverneur. — Böte auf dem Flusse. — Die Messe und ihre Umgebungen. — Entstehung der Messe. — Waaren. — Die Leibeigenen als Handelsleute. — Credit. — Kirgisische Pferde. — Noch einmal russische Musik. Vicrunddreißigster Brief. Finanzielle Seltsamkeit. — Ukasc über die Geldangelegenheiten. — Verschönerung Nischncis. — Die russische Verwaltung. — Promenade auf der Messe. — Anccdotcn. — Subalterne. — Die alte und die neue Aristocratic. — Minins Fahne und sein Grab. — Manövcrmanie. — Die Kirche Strogonoff in Nischnci. Fttnfuuddreißissstcr Brief. Ermordung eincs Deutschen. - Theilwcise Aufstande. - Geschichte einer Zauberin. — Russische Gastfreundschaft. -- Eitelkeit. — Die Zigeunerinnen auf dcr Messe. — Meine Krankheit. — Wladimir. — Die Wälder. ^ Ein Elephant. — Rückkehr nach Moskau. — Manöver bei Borodino. — Verdrehung der Geschichte. Bericht. Geschichte eines Franzosen, Pernet, und die Gefangenschaft desselben. " Petersburg. — Groß-Nowogoroo und Erinnerungen an Iwan lV. — Die Familie Laval in Petersburg. — Die Malerei in Rußland. — Verfolgung dcr katholischen Kirche. — Reisc über die russische Grenze. Techsunddreißigster Brief. Rückkehr nach Ems. - Russische und deutsche Landschaften. — Uebcrblick der Reise. - Schilderung dcr Russen. — Ihre Pili. tik. ^- Ihre Kirche. — Spanien und Rußland. IV Anhang. Geschichte der Gefangenschaft Girards und Grassim's. —Ofsicicllcr Bcricbt über die Gefangenschaft der Prinzen und Prinzessinnen von Braunschweig und ihrc Rücksendung nach Dänemark unter Katharina II. .»» Auszug au« der. Beschreibung Moskaus. — Gefängnisse in Moskau. T^ ^