MUZIKOLOSKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL UDK 78(091X4-014) Rudolf Flotzinger Komission für Musikforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien Komisija za muzikologijo Avstrijske akademije znanosti, Dunaj Musikalisches Mitteleuropa im europäischen Kontext, oder: Was kann die Musikhistorie zur Bestimmung von Mitteleuropa beitragen? Glasbena Srednja Evropa v evropskem okviru, ali: Kaj lahko zgodovina glasbe prispeva k opredelitvi Srednje Evrope? Zusammenfassung Povzetek Über das Wort Mitteleuropa (Zentraleuropa) sind schon viele Bücher geschrieben worden, ohne daß es zu einer Einigung darüber gekommen wäre, was es »eigentlich« bedeuten soll. Der Untertitel des Beitrags hält daher die Absicht fest, danach zu fragen, was allenfalls »die Musikhistorie zu seiner Bestimmung beitragen« könnte. Daß ein solches Unterfangen nur durch gesamteuropäische Vergleiche möglich ist, versteht sich von selbst (siehe Titel). Ebenso klar ist zunächst, daß es sich dabei um einen geographischen Begriff handelt, über dessen Grenzen sich trefflich streiten läßt und der im 20. Jahrhundert durch politische Diskussionen mehrfach aktualisiert wurde: um die Kriegsziele und Thesen von Friedrich Naumann (1915), die Habsburger-Monarchie (Ma-saryk, Beneš 1908, Hugo v. Hofmannsthal um 1917, Robert Musil 1930, Claudio Magris 1963), die Überwindung des »Eisernen Vorhangs« (v. a. in verschiedenen Schriftsteller-Kreisen); zuletzt auch durch unterschiedlichste Utopien und Nostalgien. Bereits daraus ist ersichtlich, wie anpassungsfähig (und damit wissenschaftlich unbrauchbar) das Wort ist. O pojmu »Srednja Evropa« (Centralna Evropa) je napisanih že mnogo knjig, brez soglasja, kaj naj bi zajemal, kaj naj bi pravzaprav »pomenil«. Podnaslov prispevka ima zato namen povprašati o tem, kaj naj bi »zgodovina glasbe prispevala« k njegovi opredelitvi. Da je tako poèetje mogoèe le primerjalno v okviru celotne Evrope, se razume samo po sebi (glej naslov). Prav tako je jasno, da gre pri tem za geografski pojem, o mejah katerega se je mogoèe odlièno prerekati in ki so ga politiène diskusije v 20. stoletju veèkrat aktualizirale: okoli vojnih ciljev in tez Friedericha Neumanna (1915), habsburške monarhije (Masaryk, Beneš 1908, Hugo v. Hofman-nsthal okoli 1917, Robert Musil 1930, Claudio Magris 1963); glede preseganja »železne zavese« (predvsem v razliènih pisateljskih krogih); nazadnje tudi prek najrazliènejših utopij in nostalgij. Že iz navedenega je razvidno, kako se je ta pojem sposoben prilegati (in je zato neuporaben v znanstvene namene). V glasbenem zgodovinopisju se pojavi dvakrat v velikih vlogah: pri opisu politièno neenotnega in samo ohlapno povezanega prostora 43 MUZIKOLOSKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL In der Musikgeschichtsschreibung taucht es zweimal in einer größeren Rolle auf: zur Beschreibung eines politisch uneinheitlichen und nur lose zusammenhängenden Raums von Polen über Schlesien, Böhmen, Mähren und Österreich bis Tirol und Norditalien, in dem um die Mitte des 15. Jahrhunderts eine gemeinsame, relativ homogene Quellengruppe von Figuralmusik kursierte; und in jüngerer Zeit, v. a. seit dem »Fall der Mauer« 1989. Betrachtet man die Musikentwicklung in einzelnen Ländern während des 20. Jahrhunderts, wird jedoch ersichtlich, daß Übereinstimmungen nur auf recht hohem Abstraktionsniveau bestehen, dafür aber die Differenzierungen sehr weit gediehen und - erfreulicherweise - als solche von der Wissenschaft auch erfaßt sind. Das Ergebnis der Überlegungen kann daher nur lauten, daß sich Musikhistoriker des politischen Ursprungs des Ausdrucks »Mittleuropa« bewußt bleiben sollten. Eine Notwendigkeit, ihn als Fachausdruck in die Musikologie einzuführen, besteht nicht. Er ist bestenfalls für gewisse (musikhistorische, aber letztlich ebenfalls politisch motivierte) Fragestellungen, nicht aber für musikologische Antworten geeignet. Sonst müßte man bereits gemachte Fortschritte der Forschung wieder anfangen. Poljske, Šlezije, Èeške, Slovaške in Avstrije ter Tirolske in severne Italije, v katerem je sredi 15. stoletja krožila skupna, razmeroma homogena skupina virov veèglasne glasbe; in v novejšem èasu, zlasti pred »padcem zidu« 1989. Èe pogledamo razvoj glasbe po posameznih deželah v 20. stoletju, je mogoèe videti, da skladnosti obstajajo samo na zelo abstraktni ravni, zato pa narašèajo diferenciranja in so na sreèo kot taka tudi prepoznana v znanosti. Rezultat premisleka se tako lahko samo glasi, da se morajo glasbeni zgodovinopisci zavedati politiènega izvora izraza »Srednja Evropa«. Ne obstaja nujnost, da bi ga v muzikologijo uvedli kot strokovni termin. V najboljšem primeru je ustrezen za postavitev doloèenih vprašanj (glasbenozgodovinskih, a konec koncev prav tako politièno motiviranaih), vendar ne za iskanje muzikoloških odgovorov. Es ist seit nicht allzu langer Zeit üblich geworden, vor einer Diskussion die Begriffe zu klären. Die Organisatoren dieser Veranstaltung berufen sich unverhohlen auf das Buch über den »Habsburgischen Mythos« von Claudio Magris (1963)1, wonach Österreich-Ungarn bei seinem Zerfall 1918 die »Prägung einer gewissen Einheit auf kulturellem Gebiet hinterlassen« habe. Zu dessen Rezeption muß allerdings gesagt werden, dass es nicht nur in den sog. Nachfolge-Staaten (zu denen auch das heutige Österreich gehört) selbst rasch mythologische Züge angenommen hat, man könnte durchaus von einem Mythos des Habsburger-Mythos sprechen. Durch diese Triviali-sierung ist nicht nur der kritische Ansatz von Magris ins Gegenteil verkehrt worden, sondern völlig verloren gegangen, dass er auf einen literarischen Topos gezielt hatte und das Ergebnis nicht ohne Weiteres verallgemeinert (in unserem Fall: auf die Musik übertragen) werden kann2 (ich wüßte z. B. nicht, welches musikalische Pendant es zur jüdischen Dichtung in deutscher Sprache geben könne). Erstaunlich gering war hingegen das Echo auf ein anderes Buch von Magris, das 1988 auf Deutsch erschienen ist, ein ähnliches Klischee zum Gegenstand hat, solch kritischer Position aber entbehrte und somit gewissen Nostalgien (denen die beiden Weltkriege den Boden eigentlich entzogen haben sollten) weiter förderlich gewesen sein könnte: Deutsch als: Claudio Magris, Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur (Salzburg 1966). Vgl. Rudolf Flotzinger/Gernot Gruber, Nachwort, in: Dies. (Hg.), Musikgeschichte Österreichs 2 (Graz-Wien-Köln 1979), S. 556ff. 44 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL die »Donau. Biographie eines Flusses«3. Daher kann sich dieser Mitteleuropa-Begriff von vornherein kaum mit jenem eines Vaclav Havel, György Konrad oder Milan Kun-dera decken, die ihn etwas später und wesentlich außerhalb des deutschen Sprachkreises (wieder) entwickelt haben. Immerhin sind wir damit bereits mitten im Thema. Im Sinne des eingangs erwähnten, durchaus vernünftigen Usus sei klargestellt: (1) »Musikalisch« meint hier nur die für das bürgerliche Konzertwesen komponierte Musik (z. B. aber nicht die sog. Volksmusik, der man meist sehr viel engere und eindeutigere Identifizierungs-Merkmale zuschreibt). (2) Über das Wort »Mitteleuropa«, über seine Alternativen und Mofizierungen (»Zentraleuropa«, »Ostmitteleuropa« usw.) existiert ein kaum mehr überblickbares Schrifttum. Fest steht, dass sein Inhalt stark von den jeweiligen Interessen geprägt und daher nicht ein- für allemal zu definieren ist, ja diese Offenheit offenbar sogar bevorzugt wird4. Nicht nur, wo in der Landkarte der Zirkel einzusetzen wäre und wie groß der Radius sein solle, steht meist zur Debatte, sondern welche Rolle dem Begriff zugebilligt wird. Daher hat es gewiß auch sein Gutes, dass einzelne Schriften von Autoren stammen, die nicht in diesem Raum beheimatet sind (von Henry Cord Meyer über Jacques Droz bis Jacques le Rider5); Urteile wie das folgende von Timothy Garton Ash mögen daher leichter akzeptabel sein: »Sobald man den Begriff Mitteleuropa ins Spiel bringt, ist man von zänkischen Gespenstern umgeben, von rivalisierenden historischen, geographischen und kulturellen Erinnerungen und Ansprüchen. [...] Mitteleuropa ist keine Region wie Mittelamerika, deren Grenzen auf der Landkarte zu suchen sind. Mitteleuropa ist ein Königreich des Geistes«6. Natürlich handelt es sich zunächst um einen geographischen Begriff7, der in Beziehung zu anderen Orientierungsmarken steht, besonders zu Ost und West8. Daher muß er zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Bedingungen unterschiedlich, sowohl politisch wie emotional, aufgeladen sein -wodurch allein er (wenigstens seit Metternich, Naumann oder Hofmannsthal) zu einem politischen Begriff werden mußte. Dazu gehört zweifellos auch, dass die Diskussionen darüber vor, um und nach 1989 erst recht unterschiedliche Interessen transportieren9. Dass es nicht nur Sinn macht, sondern notwendig ist, in seriöser Weise nach diesen Inhalten zu fragen, ist daher nicht zu bestreiten10. (3) Der neuere und 3 Claudio Magris, Donau. Biographie eines Flusses (München 1988). Es hat auch unmittelbare musikalische Nachfolgebände ausgelöst: Carlo de Incontrera/Birgit Schneider (Hg.), Danubio. Una civiltä musicalel: Germania (Monfalco-ne 1990) und //• Austria (Monfalcone 1992). Stärker auf die Frage der Wechselbeziehungen gerichtet waren die auch an frühere Grazer Ansätze anzuknüpfenden Bände: Rudolf Flotzinger (Hg.), Kontakte österreichischer Musik nach Ost und Südost bzw. Studien zur Musikgeschichte des Ostalpen- und Donauraums I = Grazer musikwissenschaftliche Arbeiten 3 bzw. 5 (Graz 1978, 1983). Nahezu jeder Benutzer definiert das Wort auf eigene Art; dabei ist meist ein gewisses anti-deutsches Moment nicht zu übersehen. 5 Vgl. zuletzt: Jacques Le Rider, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes (Wien 1994). Timothy Garton Ash, Einfahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990 (München-Wien 1990), S.198. 7 Z. B. »mitteleuropäische Zeit«; das bekannte Wort von Peter Handke, er kenne Mitteleuropa vor allem aus den Wetter-Vorhersagen, hat demnach einen durchaus seriösen Kern. 8 Die bekanntlich in der Unterscheidung von Ost- und Westkirchen, der Aufspaltung des Frankenreiches in ein ost- bzw. westfränkisches, oder im »Osten« und »Westen« des »Kalten Krieges« höchst unterschiedliche Konnotationen besaßen. 9 Wobei sich mir allerdings das Schwergewicht zunehmend von der Illusion zur Nostalgie zu verlagern scheint. 10 Es sei denn, man bestritte die Möglichkeit, ja die Aufgabe, aus historischen Erkenntnissen für die Bewältigung gegenwärtiger Fragen Nutzen zu ziehen. 45 MUZIKOLOSKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL ebenfalls Inflations-gefährdete Begriff »Identität« bleibe hier weitgehend ausgespart. (4) Mit dem Hinweis auf Magris wurde wenigstens implizit eine zeitliche Dimension der Fragestellung vorgegeben: nämlich eine Einschränkung auf die jüngere Vergangenheit bzw. auf gewisse historische Wurzeln, die wir verstehen müssen, bevor wir unsere postmoderne Gegenwart gestalten wollen. Wenn ich es recht sehe, kommt das Wort »Mitteleuropa« im jüngeren musikhistorischen Fach-Schrifttum nur in einem Zusammenhang gelegentlich vor: nämlich das späte 14. und vor allem das 15. Jahrhundert betreffend. Hier gibt es Erscheinungsformen (z. B. die Rezeption von Motetten des sog. Engelberger Typs11 oder Schwerpunkte in der Theorie, insbesondere Notation12), Personen (z. B. Petrus Wilhelmi de Grudencz13 oder Johannes Touront) und Quellengruppen (z. B. die Codices St.Emmeram, Leopold, Strahov oder Trient), die als »mitteleuropäisch« zu umschreiben, nahezuliegen scheint14. Diese Aspekte auch nur anzudeuten15, würde hier zu weit führen. Klar dürfte jedoch sein, dass der Verwendung dieses Begriffs keine programmatische Bedeutung zukommt, sondern dass sie eine rezente Projektion darstellt, ja geradezu als Ausdruck einer gewissen Verlegenheit zu verstehen ist: weil geographische Räume (von Polen über Schlesien, Böhmen, Mähren und Österreich bis Tirol und Norditalien) angesprochen werden sollen, die damals politisch auch nicht annähernd geschlossen waren - aber gerade Grenz-überwindende Fähigkeiten werden der Mitteleuropa-Idee meist beigemessen16. Nicht verwendet wurde bisher (und sollte m. E. auch in Zukunft nicht werden) der Begriff im Zusammenhang mit einer angeblich außergewöhnlichen Verbreitungswelle »böhmischer« Musiker im 18. Jahrhundert, der sog. Mannheimer und/oder der Wiener klassischen »Schule«. Ohne auch in solche Fragen näher einsteigen zu wollen, ist jedenfalls zu betonen, dass die Konstruktion einer historischen Kontinuität (gar bis heute) unzulässig wäre. Um näher an das eigentliche Thema heran zu kommen, sei folgender, bewußt verkürzender, aber nur so Konturierungen zulassender Überblick über gängige Dar- Jaromir Cerny, Die mehrtextige Motette des 14. und 15. Jahrhunderts in Böhmen, in: Colloquium musica bohemica et europaea 5, hrsg. Rudolf Peèman (Brno 1972), S. 71-97; Rudolf Flotzinger, Zu Herkunft und Beurteilung des Codex Cremifanensis 312, in: Helmut Loos/Klaus-Peter Koch (Hg.), Musikgeschichte zwischen Ost- und Westeuropa. Kirchenmusik - geistliche Musik - religiöse Musik. Bericht der Konferenz Chemnitz 28.-30. Oktober 1999 anläßlich des 70. Geburtstages von Klaus Wolfgang Niemöller = Editionr IME 1/7 (Sinzig 2002), S. 143-158. Walter Pass/Alexander Rausch (Hg.), Mittelalterliche Musiktheorie in Zentraleuropa = Musica mediaevalis Europae occidentalis 4 (Tutzing 1998). Jaromir Cerny, Petrus Wilhelmi de Grudencz. Neznämy Skladatel doby Dufayovy v Ceskych pramenech, in: Hudebni Vda 12 (1975). S. 195-238; Martin Staehelin, Neues zu Werk und Leben von Petrus Wilhelmi = Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen I. Phil.-hist.Kl. Jg.2001 Nr.2 (Göttingen 2001). Reinhard Strohm, The Rise of European Music, 1380-1500 (Cambridge 1993), S.511. Eine Erklärung für diese Beobachtung liegt noch nicht vor, doch sind Rezeptions- (um nicht zu sagen: Nachzieh-) Verfahren gegenüber dem in gewissen Hinsichten »fortgeschritteneren« (Nord-)Westen Europas (insbesondere England, Frankreich, Burgund) ebenso wenig zu leugnen (man denke etwa an die Universitätsgründungen in Prag 1347, Krakau 1364, Wien 1365 und Fünfkirchen 1367) wie Aspekte von Ausgewogenheit zwischen den Künsten (man denke etwa an die Ausstrahlung der böhmischen Malerei gegen 1400), von zunehmender Information (auch über musikalische Repertoires, z. B. anläßlich der großen Konzilien des frühen 15. Jahrhunderts), Mobilität (nicht zuletzt von Künstlern) und politischer Umstrukturierungen (Stichwort »Staatenbildung«). Im persönlichen Gespräch bestätigte mir Reinhard Strohm, dass es ihm v. a. darum gehe, den Beobachtungsraum weiter als bisher nach Osten zu verschieben. Wollte man als eine reale Klammer die Habsburger ansehen, könnte auch dieser Fall bereits als ein Produkt des besagten Mythos erklärt werden. 46 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICQLOGICAL ANNUAL XL Stellungen der europäischen Musikgeschichte gewagt. Er zeitigt durchaus geläufige, aber meist zu wenig beachtete Momente: Es gehört zweifellos zu den Schwächen der meisten Darstellungen, dass sie ständig (v. a. zu Beginn) die Bezugspunkte wechseln und über diese Tatsache mehr oder weniger kommentarlos hinweggehen17. Da ist von »der« Musik der Antike die Rede, ausgeprägt natürlich in Griechenland. Von dort rückt der Blick weiter nach dem Westen, um vom Gesang der römischen, wenig später vom sog. Gregorianischen Choral der fränkischen Kirche zu handeln, während der Gesang der sog. Ostkirchen bereits unter den Tisch fällt. Die Paradigmen »des« Mittelalters werden sodann in Frankreich gesucht (mit dem Aufkommen der komponierten Mehrstimmigkeit, aber auch der deutsche Minnesang war ja am französischen bzw. provenzalischen orientiert). Eine weitere Stufe stellt die Entwicklung der polyphonen Musik in Frankreich, England, Burgund und Italien dar - und erst damit kommen erstmals Differenzierungsmomente zum Tragen, die zurecht an eine »neue Zeit« denken lassen. Diese Abstraktionsebene bleibt dann für einige Zeit wiederum bestehen: indem die Barockmusik allenfalls anhand von Italien und Deutschland (wenn es hoch kommt: auch Frankreich) abgehandelt, mit der sog. Wiener Klassik erstmals im Habsburgerreich ein »tonangebendes« Zentrum anerkannt (neben anderen in Mannheim, Berlin usw.), die Führung aber dann gleich wieder an Deutschland (Musikdrama und sog. Neudeutsche Schule) weitergereicht und allenfalls in Italien und Frankreich ähnlich Bedeutsames gesehen wird, usw. An solchen Rastern orientieren sich, soweit ich sehe, auch die meisten regionalen Musikgeschichten der europäischen Länder und Nationen (die allenfalls gewisse »Verspätungen« den Vorbildern gegenüber und/oder Verschiebungen des anzuwendenden Epochenrahmens zu begründen trachten: die Barockmusik oder der musikalische Klassizismus sei im Land x um so und so viele Jahrzehnte später anzusetzen, o. ä.). Dass dahinter Vorstellungen von einer gewissen Einheitlichkeit bzw. Stetigkeit der kulturellen Entwicklung, allenfalls geschichtsphilosophische Modelle von »führenden« Zentren stehen, von denen »Peripherien« abhängig seien18 und die nur geringe Eigenleistungen oder Modifizierungen zuließen, ist offensichtlich. Meist werden erst zuletzt bis dahin nur am Rande beachtete (daher oft sogar als »Randvölker« bezeichnete) Nationen (z. B. Skandinavien, die slavischen Völker) explizit in den Blick genommen. Um Sinn und Wert solcher Geschichtsbilder geht es hier nicht (die Mühe, dies wenigstens auch mit der Verfügbarkeit von Quellen oder veränderter Fragestellung zu begründen, macht man sich selten). Methodisch bemerkenswert ist, dass sozusagen von selbst Differenzierungsprozesse zu Tage treten. Die rapide Beschleunigung von Differenzierungen ist dann bekanntlich nur die Kehrseite des endgültigen Verlusts der angeblichen Einheitlichkeit: beide sind wesentliche Bestimmungskriterien der gegen Ende des 19- Jahrhunderts angesetzten Z. B., indem sie - um nur zwei jüngere Beispiele zu nennen - die »abendländische« Musik im 9. Jh. oder die »europäische« im 12. Jh. beginnen lassen und/oder Uneinheitlichkeit als Meinungsvielfalt ausgeben: Hans Heinrich Eggebrecht, Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart (München-Zürich 1991); Sabine Ehrmann-Herfort/Ludwig Finscher/Giselher Schubert (Hrsg.), Europäische Musikgeschichte, 2 Bde. (Kassel 2002). Peter Schöller (Hrsg.), Zentralitätsforschung = Wege der Forschung 301 (Darmstadt 1972). 47 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK « MUSICOLOGICAL ANNUAL XL »Moderne« im engeren Wortsinn. Bei der analogen Betrachtung dieses neuen (auch im emphatischen Sinne auf eine »neue«, bisher unerhörte Musik gerichteten) Zeitabschnitts werden interessante Verwerfungen sichtbar: Es kommen erstmals mehrere, einander sogar konkurrenzierende Begriffe ins Spiel, die (wenigstens in Fachkreisen) zwar durchwegs geläufig sind, sich zunehmend als bestenfalls regional, aber nicht mehr allgemein verwendbar erweisen19. Die nähere Bestimmung von musikalischem Impressionismus, Expressionismus, Futurismus Jugendstil u. a. ist nicht immer hinreichend klar und möglich, doch dürfte über folgende Verkürzung ein gewisses Einvernehmen herzustellen sein: Der in Frankreich aufkommende Impressionismus (mit Claude Debussy [1862-1918] als Gallionsfigur und dem Franzosen Maurice Ravel [1875-1937] sowie dem Spanier Manuel de Falla [1876-1946] als unmittelbarste Adepten) habe allenfalls auch auf den Österreicher Joseph Marx [1882-1964] eingewirkt. Als wesentlich wichtiger aber seien hier der ältere Gustav Mahler [1860-1911] und die etwa der gleichen Generation angehörenden Vertreter der sog. Zweiten Wiener Schule (Arnold Schönberg [1874-1951], Alban Berg [1885-1935] und Anton v. Webern [1883-1945]) sowie der Schöpfer einer alternativen Zwölftonmusik Joseph Matthias Hauer [1883-1959] anzusehen. Vergleichbare Bedeutung komme in Deutschland Richard Strauss [1864-1949] und allenfalls Max Reger [1873-1916] zu, in Ungarn Bela Bartök [1881-1945] und in Mähren dem deutlich älteren Leoš Janaèek [1854-1928], die alle jeweils durchaus eigenständige Traditionen vertreten und andere neue Ansätze verfolgt hätten. Als Expressionisten seien am ehesten der Strauss der Opern Salome [1905] und Elektra [1909] sowie der junge Schönberg etwa des Streichsextetts Verklärte Nacht [1899] oder der Symphonischen Dichtung Pelleas undMelisan-de [1903]) zu bezeichnen oder Franz Schreker [1878-1934]. Ob die Bezeichnung Folklorismus für Bartök, der (geringfügig anders als Zoltän Kodäly [1882-1967]) v. a. von eigenen analytischen Beobachtungen an (speziell ungarischer) Bauernmusik ausgegangen war, ebenso wie Janäcek, der sich von der Sprachmelodie seiner Muttersprache anregen ließ, angemessen sei, ist fraglich. Für andere, z. B. die traditionelleren Ansätze des Polen Karol Szymanowski [1882-1937], gibt es überhaupt keine einigermaßen allgemein akzeptierte Klassifizierung. Während jedenfalls diese alle immerhin Musik hervorgebracht hatten, die noch heute in den Konzertsälen der Welt eine Rolle spielen, sei der musikalische Futurismus in Italien ein geradezu sagenhaftes, weil praktisch weitgehend unbekanntes Phänomen geblieben (von dem futuristischen Manifest des Schriftstellers Emilio Marinetti [1876-1944] des Jahres 1909 ließen sich 1911 Francesco Balilla Pratella [1880-1955] zu einem Manifest der futuristischen Musiker und Luigi Russolo [1855-1947] 1913 zu einer Kunst der Geräusche anregen). Die Rolle, die hiebei den Ansätzen von Ferruccio Busoni [1866-1924] in seinem erstmals 1907 in Triest erschienenen Entwurf einer neuen Ästhetik der Wohl sind sie einerseits notwendige Folgerungen besagter Ausdifferenzierung. Andererseits gehören sie zu den Gründen, warum man sich - im Gegensatz zu früheren Epochen-Begriffen wie Renaissance, Barock oder selbst Klassik -über eine nähere Bestimmung von »Moderne« so schwer einigen konnte. Vgl. Rudolf Flotzinger, Moderne Musik -Musik der Moderne. Ausgangsüberlegungen und -hypothesen, in: Studien zur Moderne 1 (Wien-Köln-Weimar 1996), S. 199-266. 48 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Tonkunst zukamen, ist nach wie vor unklar. Näher liegt er hinsichtlich der Vierteltonmusik des Mährers Alois Häba [1893-1972]. Die futuristische Bewegung in Rußland (der Musiker Nikolai Roslavec [1881-1944], Arthur Lourie [1892-1966], Nikolas Obu-chov [1892-1954], Jefim Golyscheff [1895-1970] u. a.) hätte zwar theoretisch Bezug auf die Italiener genommen (vgl. deren Antwort auf Marinetti Wir und der Westen von 1914), sei in der Praxis aber von eigenen russischen Traditionen ausgegangen20. Zu dieser gehörte nicht zuletzt Alexander Scriabin [1872-1915], während Igor Stra-winsky [1882-1971] bereits eigene Wege gegangen und dabei gewesen sei, den Westen zu erobern (er blieb nach 1917 in seiner Heimat für lange Zeit persona non grata). Schließlich werden nun auch in anderen Ländern Parallelerscheinungen namhaft gemacht, so z. B. der Finne Jean Sibelius [1865-1957], der ebenfalls »auf nationaler Grundlage seinen eigenen Stil gefunden« habe, oder der Serbe Petar Konjoviè [1883-1970], der hinsichtlich seiner »Haltung zur Volksmusik« Janäcek und Vitzslav Noväk nahegestanden sei21. Auf solche Weise kommen m. E. abermals ältere Beschreibungs- (um nicht zusagen: Nachahmungs-)Modelle zum Vorschein und nicht selten mag auch so etwas wie unterschwelliges Prestige- (oder gar Konkurrenz-) denken wirksam sein. Dem Versuch, auf dieser Darstellungsebene anhand von repräsentativen Werken zu einer gewissen Übersicht zu gelangen, soll folgender Raster dienen (umseitig): Dass dieser Raster nicht nach einheitlichen Kriterien zustande kam und ein Gutteil Subjektivität enthält, liegt auf der Hand; auch würden einzelne Begriffe einer näheren Erläuterung bedürfen. Bei aller Fragwürdigkeit aber würde weder eine geographische noch eine chronologische (ob nach Geburts- oder Entstehungsdaten der genannten Werke) Anordnung zu einfachen Ergebnissen führen. Stets würde sich die musikalische Moderne als eine Erscheinung erweisen, die nicht einfach etwa vom Westen nach Osten über Europa hinwegzog, sondern schon eher wie ein Wirbelwind. Das zeigen allein die erwähnten Gattungen und würden die unterschiedlichen geistigen wie stilistischen Ansätze, die dahinterstecken, erst recht zutage fördern. (So ist z. B. erst in jüngerer Zeit deutlich geworden, wie sich die österreichische und deutsche Ästhetik aufgrund ihrer unterschiedlichen philosophischen Traditionen [schlagwortartig: idealistisch vs. empiristisch] unterscheiden22 - ohne dass die konkreten musikalischen Verhältnisse und Folgerungen bereits vollständig aufgedeckt wären23.) Die einzelnen »Avantgarden« sind meist sogar vielfältiger als die betrachteten Länder oder auch kleinere Gebiete. Gegenseitige Beeinflussungen sind nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich, aber wiederum nicht einfach ablesbar (zumal es auch so etwas wie »negative Abhängigkeiten« geben könnte). Auch nicht nur annähernd aber kann die Rede sein von einer mitteleuropäischen Einheit oder auch nur von einem Argument, warum mehrere Länder zu einem »Mittel- Rudolf Flotzinger, Zum Verhältnis von Moderne und Futurismus in der Musik, in: Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung. Festschrift für Moritz Csäky, hrsg. Gotthart Wunberg-Dieter A. Binder (Wien-Köln-Weimar 1996), S.211-227. Dragotin Cvetko, Musikgeschichte der Südslawen (Kassel etc.-Maribor 1975), S.186. Rudolf Flotzinger, Österreichische Musik und Musikwissenschaft in ihrem Verhältnis zur Philosophie, in: Christoph Asmuth - Gunter Scholtz - Franz-Bernhard Stammkötter (Hg.), Philosophischer Gedanke und musikalischer Klang. Zum Wechselverhältnis von Musik und Philosophie (Frankfurt-New York 1999), S.97-110. Vgl. auch den Beitrag von Barbara Boisits. 49 MUZIKOLOSKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Schlagwort Land Repräsentant repräsentatives Werk datiert Impressionismus Frankreich Debussy [1862-1918] / 'Apres-midi 1892-94 Moderne Österreich Mahler [1860-1911] Lieder ein. fahr. Ges . 1884 Schönberg [1874-1951] Verklärte Nacht 1899 Expressionismus Deutschland Strauss [1864-1949] Salome 1905 Österreich Schreker [1878-1934] Der ferne Klang 1901-10 Webern [1883-1945] George-Lieder op.4 1909 Berg [1885-1935] Altenberg-Lieder 1912 Mikrotonalität Österreich Busoni [1866-1924] Neue Ästhetik 1907 Mähren Häba [1893-1972] 2. Streichquartett 1921 Spezielle Tonalität Österreich Hauer Apokalypt. Phantasie 1913 [1883-1959] Rußland Scriabin [1872-1915] Poeme de Vexstase 1908 Futurismus Italien Pratella/Russolo Futur. Manifeste [1880-1955/1855-1947] 1911/13 Rußland Lourie u. a. [1892-1966] Manifest 1914 Folklorismus Ungarn Bartök [1881-1945] Kossuth 1903 Mähren Janäcek [1854-1928] Jenufa 1894-1903 Finnland Sibelius [1865-1957] Finlandia 1899 Rußland Strawinsky [1882-1971] Sacre deprintemps 1913 Polen Szymanowski [1882-1937] 1. Symphonie 1907 europa« zu nennenden Verband zusammengezogen werden müßten. Vielmehr spricht abermals allein ein Blick auf die unterschiedlichen Ansätze und raschen Veränderungen innerhalb des heutigen Österreich sowie nach Mähren und Ungarn dagegen und sind durchaus nationale Unterschiede zu erkennen (u. zw. keineswegs nur 50 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLQGICAL ANNUAL XL hinsichtlich sprachlich-folkloristischer Ansätze), die eine entsprechende Differenzierung bereits der damaligen Habsburger-Monarchie, umso mehr der Gebiete darüber hinaus verlangen. Spätestens jetzt wird man sich auch daran zu erinnern haben, wie deutlich dies Einzelne sogar artikuliert hatten: etwa Debussy, der sich explizit gegen Wagner gewehrt hatte, oder Bartök, der ebenfalls gegen die »Hegemonie der deutschen Musik« ankämpfte, oder Hauer, der die westliche Musiktradition überhaupt in Frage stellte, während Schönberg die »Vorherrschaft der deutschen24 Musik« für »weitere hundert Jahre sichergestellt« haben wollte. Alle derartigen Aussagen zu sammeln und im Einzelnen zu interpretieren, würde wiederum zu weit führen. Ebenso bleiben ausgeklammert: die unmittelbaren Auswirkungen (etwa durch Lehrer-Schüler-Verhältnisse über Ländergrenzen hinweg25), die durchaus unterschiedlichen Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg in den in Frage kommenden Ländern sowie deren politische Beeinträchtigungen (insbesondere vonseiten des Kommunismus) bis zur heutigen Situation der sog. Postmoderne. Trotz aller Fragwürdigkeit, wie man überhaupt vernünftigerweise zu solchen gelangen kann, soll abschließend das Exempel auf zwei Schlüssel- (um nicht zu unterstellen: Bestimmungs-)Begriffe gemacht werden, die von Magris für »Mitteleuropa« angeboten wurden: Am bekanntesten ist wohl die behauptete Fähigkeit zur »Vermittlung zwischen verschiedenen Kulturen«, die dann folgerichtig als in der Plurinationa-lität des Habsburgerreiches verwirklicht angesehen wird. Über die Diskrepanz zwischen dieser Illusion (methodisch wäre fallweise von Fehlinterpretation zu sprechen) und der politischen Realität kann kein Zweifel bestehen: sie wurde 1918/19 durchexerziert und ist noch heute zu keiner befriedigenden Abklärung gelangt. Aber auch in künstlerischer, jedenfalls in musikalischer Hinsicht vermag ich eine einheitliche Linie in einem übergreifenden Sinn - so sie denn überhaupt wünschenswert wäre -weder in der jüngeren Vergangenheit noch in der Gegenwart zu sehen. Und Einschränkungen (z. B. auf das Verständnis der sog. Wiener Klassik als ein gewisses Synthese-Produkt) würden erst recht gegen ein einheitliches größeres Mitteleuropa sprechen. Als ein anderes Schlüsselwort für Mitteleuropa wurde die »Unfähigkeit, zu vergessen«26 genannt. Diese könnte man in dem Bestreben der Zweiten Wiener Schule, die Musik so eng wie möglich in der Vergangenheit verwurzelt zu sehen, zwar sehen, doch stünde dem die besagte Radikalität von deren Lösung ebenso vehement gegenüber (von der Hauerschen Ablehnung nicht zu reden). Am ehesten könnte man noch die Rolle von Volksmusik und -spräche sowohl bei Bartök und Janäcek, aber auch bei Schönberg und seinen Schülern in diesem Sinne interpretieren. Aber das wäre wohl allzu stark vereinfacht und würde vor allem wiederum in eine andere Richtung 2 d. h. inclusive österreichischen 25 Bekanntlich spielt z. B. Wien als Ausbildungsort für angehende Komponisten aus südslawischen Ländern zugunsten von Prag (und Budapest) kaum mehr eine Rolle. Eine Ausnahme bildet der Schreker- (vielleicht auch Schönberg-) Schüler Marij Kogoj (1895-1956). 2 «Die Wissenschaft des Vergessens, die Methode, die Ereignisse zu den Akten zu legen und zu archivieren, ist in Mitteleuropa unbekannt«; Magris, Donau, S. 258. 51 MU2IKOLOSKI ZBORNIK * MUSICOLOGICAL ANNUAL XL weisen: ist doch die eigene Sprache eines der wichtigsten Identifizierungs- (und in diesem Falle auch Differenzierungs)mittel überhaupt, dem die Volksmusik meist (wenn auch bereits mit deutlich abgeschwächter Verbindlichkeit) an die Seite gestellt wird. Die grundsätzliche Vergleichbarkeit des öffentlichen Musiklebens in den Ländern, die für Mitteleuropa in Frage kämen, allein genügt für weiterreichende Folgerungen (sprich: noch weiter gehende Differenzierung) wohl noch weniger. Insofern ist das Ergebnis dieser Überlegungen eindeutig negativ: musikalisch läßt sich »Mitteleuropa« nicht abstützen, geschweige denn definieren. Mitteleuropa ist in kompositorischer Hinsicht längst wesentlich differenzierter und daher in diesem Fall ein allzu künstliches Konstrukt, dessen Vorteile nicht unmittelbar einleuchten. Das soll nicht heißen, dass man sein »utopisches Potential an kultureller und sprachlicher Vielfalt«27 nicht nutzen, dieses »Königreich des Geistes« nicht weiterhin suchen und vor allem jenes Projekt nicht wieder aufgreifen sollte, das unsere Voreltern leider verspielt haben28. Gerade weil die Gefahr inzwischen gebannt ist, durch eine solche Wiederaufnahme die ein halbes Jahrhundert währende Zweiteilung Europas in Osten und Westen unfreiwillig fortzusetzen, scheint ein solches Projekt jedoch zu einem rein pragmatischen reduziert zu sein (wenn es z. B. um Länder übergreifende Zusammenarbeit geht). Politisch halte ich es allerdings für ebenso überholt und wie speziell methodisch nur selten für überzeugend: überholt durch den anspruchsvolleren Blick auf ganz Europa, in seiner vielfältigen Geschichtlichkeit29, auf ein Europa, dessen Grenzen und Identitäten nicht zum Verschwinden gebracht, aber leichter überschreitbar bzw. erkenn- und tolerierbar werden sollten. Doch das sind längst keine fachwissenschaftlichen Aussagen mehr. Es ist vielmehr klar auszusprechen: »Mitteleuropa« ist und bleibt keine musikhistorische Kategorie, sondern eine primär politische, allenfalls pragmatische. Musikwissenschaftler sollten sie - da sie ein Moment der Fragestellung, aber nicht der Beantwortung ist - nur verwenden, wenn es keine sinnvollere Alternative gibt (was,selten genug der Fall sein dürfte), aber keinesfalls dann, wenn damit bereits vorhandene oder gewonnene Differenzierungen eingeebnet würden. 27 Le Rider, Mitteleuropa, S.12. 28 Z. B. Erhard Busek/Emil Brix (Hrsg.), Projekt Mitteleuropa (Wien 1986). 29 Vgl. Wolfgang Schmale, Geschichte Europas (Wien-Köln-Weimar 2000). 52