Muzikološki zbornik Musicological Annual XXVI, Ljubljana 1990 UDK 78.01 Manfred Hermann Schmid FORTSCHRITTSDENKEN UND ZEITBEWUSSTSEIN Tübingen IN DER MUSIK Ein fragwürdig gewordener Fortschrittsbegriff in den Naturwissenschaften zwingt auch die Kunst, der Fortschrittspessimismus als Erfahrung keineswegs fremd ist, zum Nachdenken über ihre Geschichte. Die moderne Historiographie war sich an ihren Anfängen allerdings des stetigen Fortschritts sicher. „Keine zweite Kunst weist so wie die Musik eine fortgesetzt fortschreitende Entwicklung auf", schreibt Hugo Riemann 1898 in seiner Geschichte der Musiktheorie im IX.-XIX. Jahrhundert. Der eigens kursiv hervorgehobene Satz soll dem Schlußkapitel Musikalische Logik die Richtung weisen. Es gäbe nur eine „natürliche Gesetzmäßigkeit" in der Musik und ihrem Regelwerk, nur eine Wahrheit, die jahrhundertelange Entwicklung schrittweise aufgedeckt habe. 1. Eine Betrachtungsweise, die geschichtliche Erscheinungen ausschließlich an der zurechtnormierten Zukunft mißt, läßt sich leicht als simplifizierend und ahistorisch kritisieren. So begründet man deshalb Riemanns Folgerungen zurückweisen kann, so unsicher wird die Kritik aber, wenn sie der zitierten Grundfeststellung selbst widersprechen wollte. Die Fortschrittsidee ist keine Erfindung nachgeborener Wissenschaft. Sie gehört zur Geschichte selbst. Die abendländische Musikgeschichte der letzten tausend Jahre ist ständig von ihr begleitet. Guido von Arezzo formuliert in den Schlußbetrachtungen des Micrologus das wegweisende Bekenntnis, daß seit den Tagen von Pythagoras und Boethius die ars musica in allmählichem Zunehmen erstarkt sei (pau-latim crescendo convaluit): freilich mit Hilfe göttlicher Weisheit, die das menschliche Dunkel erhellt. Gefördert wurde die Vorstellung vom Fortschritt durch eine spezifisch christliche Uminterpretation antiken Erbes. Musik spiegelt die Harmonie des Kosmos, die Harmonie der Schöpfung. Dem Menschen ist sie gegeben, damit er etwas von der göttlichen Ordnung begreife. Die höchste Musik kann er nur ahnen. Diese Musica coelestis, als Engelskonzert in der Malerei mehrfach bildlich dargestellt, so in Raffaels Heiliger Cae-cilia, bleibt unhörbar für ihn, aber er kann und soll ihr nacheifern, wozu ihm die Gesetze der Zahlen Richtung weisen. In der Musik als Donum Dei, als Geschenk Gottes, steckt die Aufforderung des Nacheiferns zum Lobe Gottes. Der Mensch, der sich der Gabe als würdig erweisen möchte, muß sich in stetiger Verbesserung, wuchernd mit 5 seinem Pfunde, dem höchsten Ideal zu nähern suchen. Als im Jahr 1643 in Nürnberg ein historisches Konzert veranstaltet wird, das den „Fortgang" der „edlen Music" darstellen soll, bildet den Rahmen für alle „Enderungen" die Musica coelestis. Sie wird als Alpha und Omega jeglichen Musizierens zu Anfang, Mitte und Ende in Szene gesetzt. „Musica nostra vale, coelestis Musica salve!" lautet das Schlußmotto: Die gegrüßte himmlische Musik ist unveränderlich, die Musik des Menschen hingegen muß „gedeihen", sich vermehren.1 Solch christliche Verbesserungsvorstellung, früh faßbar im 6. Buch der Musica von Augustinus, reicht weit über das Mittelalter hinaus. Die letzten Spuren verlieren sich erst im Zeitalter der Aufklärung. Doch noch bei Leopold Mozart ist in der Violinschule von 1756 etwas vom alten Bewußtseih lebendig. Bei der Auflistung von Notenwerten, wo eine „bessere Eintheilung" zu einer Erweiterung und Vermehrung der Zeichen geführt hatte, fühlt er sich zu einer Erklärung genötigt: „Endlich ist mit dem Anwachs der Jahre auch die Musik immer gestiegen, und mit langsamen Schritten durch viel Mühe zu dem heutigen Grad der Vollkommenheit empor gestiegen". Die Worte 'empor' und 'steigen' weisen die Richtung. Der religiöse Bezug im verwandelten Harmoniebegriff der Antike, den ein belesener Autor im Kontext von Maß und Zahl unweigerlich assoziieren mußte, bleibt freilich unausgesprochen. Wie um menschlicher Hybris zu entgehen, fügt Leopold Mozart jedoch unvermittelt eine Anmerkung am Fuße der Seite hinzu: „Man stosse sich nicht an dem Worte: Vollkommenheit. Wenn wir genau und nach der Schärfe darein sehen, so sind freylich noch Stuffen ober uns..." Die ganze, im 1 .Hauptstück eher versteckte Textstelle ( §7) ist überaus aufschlußreich, weil sie sich unter zwei verschiedenen Vorzeichen lesen läßt. Einerseits verrät sie aufklärerischen Stolz über Entdeckungsleistungen forschenden Geistes, andererseits eine vorsichtige Rückversicherung. Der Fortschrittsbegriff wird sich jedoch dramatisch verwandeln, wenn die alte Rückbindung als Ballast gekappt wird. Der moderne Fortschritt entsteht durch Säkularisierung, sagt verkürzt referiert Rüdiger Bubner.2 Seine These ließe sich im Falle Leopold Mozarts unmittelbar exemplifizieren. Das Fortschrittsverständnis ist schlagartig säkularisiert, wenn der Fluchtpunkt genommen wird. An Stelle der Musica coelestis tritt zunächst die naturwissenschaftlich akzentuierte „natürliche Gesetzmäßigkeit" Hugo Riemanns, der vom Vorwurf einer Profanierung mittelalterlichen Denkens in seinem Geschichtsentwurf sicher überrascht wäre. Wenn in der Folgezeit die Faszination der beschworenen Gesetzmäßigkeit nachläßt und sich in Pluralismus auflöst, entsteht jener ziellose und weil endlos auch sinnlose Fortschritt einer 'post'-modernen Welt. In der Idee der Musik als unvollkommener Abbildung himmlischer Harmonie steckt das Postulat nach Kultivierung und Mehrung. Es entsteht ein Repertoire gewaltiger Ausdehnung nach liturgischen Erfordernissen. Von crescere sprach Guido im Zussamenhang der erstarkten Musik. Dem Wachstum in die Breite folgt ein inneres Wachstum. Was literarisch zu einer Vermehrung der Texte führt, das Verfahren der Tropierung mit zusätzlich eingeschobenen Kommentaren, führt musikalisch zu zusätzlichen Stimmen. Die älteste Quelle für Mehrstimmigkeit vereint beide Anreicherungsprinzipien, die textliche Tropierung und die stimmliche Erweiterung mit einer vox organalis. Der Musiker hat ein „Werkzeug", ein „Organum" für seine Aufgabe gefun- 1 Willi Kahl, Das Nürnberger historische Konzert von 1643 und sein Geschichtsbild, in Archiv für Musikwissenschaft 14, 1957, S. 281-303. 2 Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, Frankfurt 1984, S. 73-81 {Säkularisierung und Geschichtserfahrung). 6 den. Im Mailänder Traktat als der ersten Lehrschrift nachguidonischer Zeit ist mit Regel 5 eine Tonbildung „per multiplicationem" beschrieben. Die zunächst rein technische Anweisung, in der neuen Stimme mehrere Töne zusammen einem Einzelton der Hauptstimme gegenüberzustellen, gewinnt ihren Sinn aus einer erweiterten Vorstellung. Als cantus firmus dient für alle Beispiele eine Allelujamelodie mit programmatischem Vers-Text: „Der Gerechte wird blühen wie die Palme, sich wachsend mehren wie die Zeder" (Justus ut palma florebitur, et sicut cedrus multiplicabitur). Dem Wachstum der lebendigen Natur soll der Mensch in seinem Streben folgen. Das Bewußtsein von der allmählichen und stetigen Verbesserung der Musik wird wie selbstverständlich immer wieder artikuliert. Wohlbekannt ist das überzeugte Wort von Johannes Tinctoris aus dem Jahr 1477, wonach es seit vierzig Jahren endlich Musik gäbe, die des Anhörens würdig wäre. Während er in seinem Kontrapunktlehrbuch nur vom Ergebnis spricht, beschreibt er in der wenig späteren Zahlenlehre, dem Proportionale, eher den Prozeß: Das Fach der Musik habe einen so wunderbaren Fortschritt gemacht (tarn mirabile susceperit incrementum), daß eine neue Kunst entstanden zu sein scheint (quod ars nova esse videatur). Wir finden hier, an einer wichtigen Zeitenwende, auf engstem Raum die beiden Schlüsselworte. Das eine lautet „incrementum" als Substantiv von crescere. Das alte mittelalterliche Bild vom Wachstum verweist neben der Mehrung vor allem auf die Identität, auf den Zusammenhang. Das zweite Wort hat eine gänzlich andere Orientierung; es lautet: neu (ars nova, ein Begriff, den wir schon einmal zu Beginn des 14. Jahrhunderts kennen). Das 'Neue' verzichtet auf die Herausstellung des Zusammenhangs und betont im Gegensatz einen isolierten Aspekt des Fortschritts, der nur noch etwas von der Zukunft wissen möchte, nichts mehr von der Vergangenheit. Das Streben nach dem Neuen, der neuen Welt, dem neuen Glauben, dem neuen Menschen, wird bekanntlich dem Fortschritt eine ungeahnte Dynamik geben. Konservative Kritik, erstmals geäußert bei Jacobus von Lüttich, stellt keineswegs Fortschritt generell in Frage, sondern nur den Weg, den er nimmt. Seinen Gipfel erreicht der musikalische Fortschrittsglaube im 18. Jahrhundert. Aus allen Ecken tönt der Stolz über die erreichten Verbesserungen und die modernsten Errungenschaften. Das Zauberwort neu geistert durch die Titel von Musikdrucken und zieht auch die großen Komponisten in seinen Bann. Joseph Haydn preist seine „gantz neuen" Quartette op. 33 mit dem Hinweis auf ihre „gantz neue besondere Art" und Beethoven macht seinen Verleger auf die Klaviervariationen op. 34 mit dem Versprechen „neu"-gierig, sie seien „auf eine wirklich ganz neue Manier bearbeitet". Die Novitäten- und Fortschrittsbegeisterung des 18. Jahrhunderts korrespondiert mit einem erweiterten Geschichtsbewußtsein. Friedrich Wilhelm Marpurg fordert 1754 eine „vollständige Historie der Tonkunst", die über den „Zustand der Musik in den mittelsten Jahrhunderten" berichten müsse und über „die Verbesserung derselben", über den „einer Nation besonders eigenen Geschmack und die Verbesserung desselben", über die „Erfindung eines Instruments" oder seine „Verbesserung" {Historisch-Kritische Beyträge I, S. VIII und XVI). Ein so progressives Geschichtsbild hat in der Musik seine eigenen Bedingungen. Während Werke der Vergangenheit in der Architektur und Malerei ständig gegenwärtig sind, in der Literatur und Wissenschaft zumindest gegenwärtig sein können, reicht das Geschichtsbewußtsein in der Musik über ein Lebensalter kaum hinaus. Was verklungen ist, ist vergangen. Wir wissen zwar heute, daß punktuell mit sehr viel weitreichenderen Repertoirekenntnissen zu rechnen ist, als man lange für möglich gehalten hat, dennoch sind die Grenzen des 7 Lebendigen und Aktuellen in der Musik ungleich enger gesteckt als in anderen Disziplinen. Doch das 18. Jahrhundert fängt an, Geschichte aufzuschließen. In der Erweiterung des Horizonts verstärkt sich der Eindruck vom Fortschritt gewaltig. Denn wieder hat die Musik ihre Sonderstellung: sie hat nicht mit einem übermächtigen Vorbild der Antike zu kämpfen. Was an griechischen Musikfragmenten seit dem 16. Jahrhundert bekannt wurde, durfte bestaunt, aber auch belächelt werden; den Berichten nach war die Musik zwar zu wunderbaren Wirkungen fähig gewesen, jener „meravigliosi effetti", denen noch Monteverdi nachstrebt, aber von den Errungenschaften der Mehrstimmigkeit wußte sie nichts. Wenn es um Musik geht, ergreift im 18. Jahrhundert selbst den Klassischen Philologen die Begeisterung über die eigene Zeit. Mathias Gesner, zeitweiliger Rektor der Leipziger Thomasschule, beschreibt anschaulich, wie Bach Musik macht: das könnten sämtliche Kitharaspieler und Aulosbläser der Antike vereint nicht zustandebringen. „Ich bin sonst ein großer Verehrer des Altertums", bekennt Gesner, „aber ich glaube, daß der eine Bach ... viele Orpheuse (multos Orpheas) und wenigstens zwanzig Arione (venti Arionas) in sich schließt" — und das schreibt Gesner auch noch im Kommentar seiner Göttinger Ausgabe der Institutio oratoria von Quintilian. Nicht weniger drastisch äußert sich Leopold Mozart in seiner zitierten Fußnote zur Frage der Vollkommenheit: „Wenn es wahr wäre, daß die griechische Musik die Krankheiten geheilt hätte: so müßte unsere heutige Musik unfehlbar gar die Erblaßten aus ihrer Sarge rufen". v Die Antike war in der Musik kein Hindernis für Fortschrittsoptimismus. So konnte es auch keinen Winckelmann der Musik geben. Eine Geschichte, wie sie Burney, Hawkins, Gerbert und Forkel schreiben, ließ sich als ein stetiges Fortschrittscrescendo darstellen. Sein Liebligswort „vom ersten Anfang bis zur höchsten Vollkommenheit" erläutert Johann Nicolaus Forkel im Vorwort des ersten Bandes seiner Musikgeschichte von 1788 mit einer bildhaften Begründung: Man müsse von der Kunst der Musik wissen, „wie sie sich eben allmälig entwickelt, wie sich aus dem ersten Quell derselben zuerst verschiedene kleine Bäche, nach und nach aber immer größere Ströme bilden, bis endlich alle in einen unübersehbaren Ocean zusammenfließen". Und doch: auf dem glänzenden Höhepunkt aufklärerischer Fortschrittsüberzeugung meldet sich erstmals ein grundsätzlicher Pessimismus, vorsichtig und verborgen. Er meldet sich nicht in feierlichen Verlautbarungen, sondern ganz privat. Am 4. November 1777 besucht Wolfgang Amadeus Mozart den Gottesdienst in der Mannheimer Hofkirche. „Heute", schreibt er an den Vater, „habe ich eine Messe vom Holzbauer gehört, die schon 26 Jahr alt ist, und aber recht gut ist." Man hört die Irritation bis in die Grammatik hinein. Ein Werk, das fünf Jahre älter ist als er selbst, und nicht überholt vom Fortschritt, immer noch aufführenswert. Diese Erfahrung wird sich später in unerwarteter Zuspitzung wiederholen, wenn Mozart Bach kennenlernt und eine Musik findet, die auch für ihn vollkommen erscheint. Das Fortschrittsbewußtsein hat einen Riß bekommen. Dieser Riß wird für die nachfolgenden Generationen immer breiter. Beethoven bewundert Händel für etwas, das er selbst nicht vermag. Schubert fühlt sich bedrängt von den allerjüngsten Ereignissen, von diesem Beethoven, Johannes Brahms leidet unter der Geschichte, von Gustav Mahler gar nicht zu reden. Sie träumen spätgeboren von einem goldenen Zeitalter der Vergangenheit. Der Fortschritt, so empfinden sie in jener von Nietzsche für die Philologie resignativ beschriebenen Herbststimmung, der Fortschritt hat seine Grenze. Ein Bewußtsein, das die bildende Kunst längst kennt, erreicht zum erstenmal die Musikgeschichte. 8 2. Im Wort Fortschritt verbirgt sich Zeit. Über sie wird immer mitgesprochen. Zeit ist nun allerdings unstreitig etwas, wovon Musik, die gerne als Zeitkunst definiert wird, mehr weiß als andere Disziplinen. Sie hat für das Fortschreiten in der Zeit sogar einen Begriff entwickelt. „Progressio" ist Bestandteil der musikalischen Fachterminologie im Sektor Harmonielehre, während verbale Grammatik ohne vergleichbare Begriffskategorie auskommt; wer spräche auch 'von Wort zu Wort'? Wir sind in allen Dingen an Zeit gefesselt. Es gibt nichts außerhalb der Zeit. Doch die Dinge haben für unser Begreifen eine sehr unterschiedliche Bindung an diese Zeit. Ein gesprochener Text braucht Ausdehnung. Seine Mitteilung ist aber von dieser Ausdehnung lösbar. Wir erleben das täglich in den Fernsehnachrichten bei der Verdopplung von optischer Schlagzeile und gesprochenem Wort. Wir haben schlaglichtartig begriffen, lange bevor ein Sprecher die Aussage in tönender Zeit entfaltet. Der Musik läßt sich die Zeit des Tönens nicht auf vergleichbare Weise entziehen. Sie klebt an der Zeit. Ich kann zwar das Tempo modifizieren, aber nicht das Kleben an der Zeit aufheben. Thrasybulos Ge-orgiades hat deshalb subtil die Musik ein Phänomen der Zeit genannt, im Gegensatz zu anderen Dingen, die nur Phänomene in der Zeit seien.3 Musik heißt: Bewegung, Zwang zum Bewußtwerden von Fortschreitung. Als terminus technicus steht 'Fortschreiten' zunächst beschreibend für einen Vorgang. Die Sinngebung kann aber unverkmerkt ins Normative wechseln und wertend das Ergebnis eines Vorgangs benennen. Das lateinische Wort progressio samt seinen modernen Nachfahren im Italienischen, Französischen und Englischen schließt deskriptiven und normativen Bedeutungsbereich zusammen. Das kann im gegebenen Augenblick eine neue Vorstellung provozieren: Fortschreiten im Sinne von Fortschritt innerhalb eines Musikstücks. Das Ende erhebt sich über den Anfang. Fortschritt beschäftigt die Musik also auf zwei Ebenen, einer allgemein geschichtlichen und einer konkret momentanen, einer des augenblicklichen Erklingens. Auf beiden Ebenen korrespondiert die Vorstellung vom Fortschritt mit einem spezifischen Begriff von der Zeit. Wie die Musik so verstehen wir auch die Zeit selbst vorzugsweise über das Bild der Bewegung, einer vermenschlichten Bewegung. Wir sagen, die Zeit läuft, sie ver-geht, oder negativ, sie steht nicht still. Kurz: sie geht. Diese Art des Zeitvorstellung ist weithin vertraut. Aber wohin geht die Zeit? Hier scheiden sich Epochen und Kulturen. Für Menschen, die mit der Natur leben, ist die Antwort einfach: Die Zeit kehrt immerfort zu sich zurück. Die Zeitgliederungen der Natur provozieren eine zyklische Vorstellung. Tag, Monat, Jahr, sie beruhen auf gleichförmiger Bewegung der drei Himmelskörper Erde, Mond und Sonne. Das Bild des Kreises wird unserer doppelten Erfahrung mit der Zeit auf suggestive Weise gerecht. Es zeigt das Vergehen ebenso wie das Wiederkehren. Auch mit einer anderen Erfahrung läßt es sich in Übereinstimmung bringen, nämlich mit Blüte, Wachstum und Absterben. Zum Bild des Kreises gehören ganz selbstverständlich Untergang und Tod. Westliche Fortschrittsgesellschaft hat das Kreisbild allerdings zu verdrängen begonnen. Sie bog die Linie des Kreises auf und verwandelte sie in eine Gerade, in eine keineswegs richtungslose, aber ziellose Gerade. Unter Verzicht auf Rückkehr wird das eine Bewegungselement des Gehens isoliert. Neuzeitliche Dialektik hat dann Kreis und Gerade durch bildhaften Wechsel von der Zwei- in die Dreidimensionalität zu versöhnen versucht. So entsteht 3 Thrasybulos Georgiades, Nennen und Erklingen. Die Zeit als Logos, Göttingen 1985, S. 40 und 52. 9 jene Spirale, mit der beispielsweise Hegels Geschichtskonzeption zu charakterisieren wäre. Was hat das mit Musik zu tun? Ich sagte, Musik klebt an der Zeit. Sie geht mit der Zeit. Folglich geht sie dahin, wo ihre Musiker glauben, daß die Zeit hingeht. Zu den Grunderfahrungen des Ethnologen, der die abendländische Kunstmusik verläßt, gehört der veränderte Umgang mit der Zeit. Musik hat plötzlich unendlich viel davon. Sie hat es nie eilig, denn es kommt ja alles ständig und verläßlich wieder. Die Wiederkehr als musikalisches Gestaltungsprinzip über Stunden hinweg kennzeichnet Musik aus Zentralafrika. Es gibt häufig einen stabilen Klangraum, der das Ganze umschließt, eine melodische Formel, die ständig wiederkehrt und schließlich ein rhythmisches Grundmodell, das ins Unendliche wiederholt wird. Solche Musik hat wie die Kreisbewegung keinen Anfang und kein Ende. Vergleichbare Formen kennen wir auch in Europa, und zwar regelmäßig dann, wenn Musiker ohne Schrift leben. Auch beim Spiel bulgarischer Hirten auf der Doppelflöte wiederholen sich rhythmische Einheiten, immer wieder frei zusammengestellt aus Zweier- und Dreiergruppen, doch in der Summe gleich lang. An die Zeiteinheit — gewissermaßen den „musikalischen Tag" — ist ein melodisches Muster gebunden, das ähnlich formelhaft gleichbleibende Partikel zusammenstellt und immer an den gleichen Punkt zurückfinden muß, von dem es ausgegangen war. Dieser Punkt schließlich ist ständig präsent. Mit dem einen der beiden Flötenrohre läßt der Spieler ununterbrochen den Grundton und zentralen Bezugston erklingen, den es durch Überblasen in zwei Oktaven gibt und der so einmal unter der Melodie liegt, das andere Mal über ihr. Was hier beschrieben ist, führt in den größten Zeitdimensionen indische Musik aus. Da ist der Tanbura-Spieler mit dem einen durchgehaltenen Bordunton, der Tabla-Spieler, der mit seinem Trommelpaar für das rhythmische Modell, und der Sitar-Spieler, der für das melodische Modell verantwortlich ist. Ihr jeweiliger Anteil an der Musik läßt sich im Bild des Kreises beschreiben. Das Rhythmusmodell korrespondiert mit der einen Drehung im Kreis um den unveränderlichen Mittelpunkt des Borduntons herum als zentripedeler Kraft. Auf der Kreislinie bewegt sich zentrifugal die Melodie, einerseits an das Tempo der Bewegung durch ein Zählsystem (tala) gebunden, andererseits an den Mittelpunkt durch Tonart (raga) — etwas, das der Araber maqam nennt und der Grieche in der Antike nomos nannte, das gleiche Wort, das er auch für den Sinn 'Gesetz' benutzt: etwas verbindlich Gegebenes, das alles Veränderliche auf den einen unveränderlichen geistigen Mittelpunkt zurückverweist. Zu dieser geschlossenen Art von Musik gehört wesentlich auch das Streben nach Entwicklung und Steigerung. Melodische Formeln werden immer notenreicher ausgeziert, die Bewegung vervielfältigt sich, die Lautstärke nimmt zu. Im Bild der zyklischen Natur gesprochen handelt es sich um Wachstum, doch eben ein Wachstum, das im Kreislauf eingeschlossen bleibt. Mehrstimmigkeit, wie sie das christliche Abendland ausgebildet hat, schafft sich eigene Gesetzmäßigkeiten. Doch am Anfang der Entwicklung gilt das gleiche zyklische Zeitbewußtsein und gelten die gleichen musikalischen Kreisläufe. Äußerlich ist die Musik an einem neuen Zyklus orientiert, nämlich dem des Kirchenjahrs. Die liturgische Ordnung weist allen Kompositionen ihren Wiederholungsplatz zu. Innerlich kehren vielfach vertraute Merkmale wieder: das Festhalten an einem zentralen Bordunton, das uns in einer neu organisierten Weise bei der frühesten theoretischen Erörterung mehrstimmiger Vorgänge wiederbegegnet, das Verwenden fester Melodiemodelle, deren Formeln einer Tonartenlehre nach antikem Vorbild folgen, das Auftreten rhythmischer Grundmuster, die als modi geordnet und in ihren gruppenbildenden ordi-nes und kleinsten Einheiten der sogenannten perfectiones beschrieben werden. 10 Einzelne Elemente aus dem Komplex musikalisch-zyklischen Denkens lassen sich erstaunlich lange verfolgen, ohne daß man gleich die Sondererscheinung des Zirkelkanons bemühen muß. Wo Musik sich mit Tanz verbindet, ist ihre zeitliche Organisation immer von Wiederholungen bestimmt. Das verlangen die Regeln der Choreographie, die bis zu einem bestimmtem Punkt hin zählen und dann wieder von vorn beginnen möchte. Aber auch ohne Bewegungsvorgabe kennt die Musik die konstante Abfolge rhythmischer Grundmuster. Kompositionen des 13. bis 15. Jahrhunderts verfeinern eine höchst komplizierte, von Friedrich Ludwig Isorhythmie genannte Technik. Grundlage ist eine rhythmische Gestalt, die von Tonhöhe völlig losgelöst als abstraktes, nahezu unhörbares Schema, das sich in verschiedenen Mensuren und Geschwindigkeiten wiederholen kann, den Aufbau einer Komposition steuert. Im Hören leichter zu verfolgen ist das zyklische Prinzip, wenn Melodie- und Rhythmusformel gekoppelt bleiben, wie in den ostinaten Bässen der Barockmusik. Dabei erinnern Passacaglia und Chaconne mit ihren Oberstimmen, die sich immer komplizierter und aufwendiger verflechten, an die beschriebene Steigerung in Analogie zu naturhaftem Wachstum. Im Bereich von Melodie und Harmonie sind regelmäßige Wiederholungen zunächst kein auffälliges Merkmal der Konstruktion. Dennoch gilt latent das Rückkehrprinzip zyklischen Denkens. Das hängt mit dem Wesen von Tonart zusammen. Tonsysteme sind Raster im Kontinuum klanglicher Möglichkeiten. Das Raster begründet sich selbst durch eine Beziehungsordnung seiner Einzelpunkte. Die Tongesellschaft, um mit Jacques Handschin zu sprechen, zeichnet bestimmte Positionen als Leitpunkte aus. Auf sie bezieht sich alle melodische und klangliche Bewegung und zu ihnen kehrt sie, auf diese Weise Gliederungseinheiten bildend, ständig zurück. Die Ordnung kann oligarchisch sein wie in den alten Kirchentonarten oder absolutistisch wie im Dur/Moll-System. Gemeinsam ist den Tonarten aber ihre latente Formkraft nach einem regelmäßigen Muster. Eine Melodie geht von den stabilen Tonartstützen aus, verläßt sie dann, um den gesamten Raum durchmessend bis an die abgesteckten Grenzen vorzustoßen, und findet schließlich zum Ausgangspunkt zurück. Zu den interessantesten Experimenten mit dieser zyklischen Konzeption, die diskussionslos bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Gültigkeit hat, zählen Fortuna-Kompositionen, weil die Drehung des Rades oder der Kugel als den Emblemen der Glücksgöttin eine musikalisch bildhafte Korrespondenz fördert.4 Aber auch ohne derartige Programmvorgabe kennt die Musik als oberstes Formprinzip ihre Rückkehrwege. Die Stationen der Rundwanderung sind lange Zeit sehr genau vorgeschrieben. Die Moduslehre des 1 5. und 16. Jahrhunderts formuliert hier klare Regeln, von denen man nur abweichen kann, um das Verfehlte oder Vergebliche einer Sache darzustellen, wie Bernhard Meier nachgewiesen hat. Feste Reihenfolge im Zeitablauf hat ihre Parallele wenn nicht gar ihr Vorbild im großen, naturnahen Zeiterleben. Der Gang der Jahreszeiten gibt in größeren Dimensionen eine Ordnung vor, die auch für Musik gilt. Reihenfolge und Rangordnung sind bis ins 18. Jahrhundert hinein unbedingt verbindlich. Joseph Riepel vergleicht 1755 in seinen Grundregeln zur Tonordnung treffend die Töne und ihre Rolle im Ablauf der Tonartensplans mit dem Gesinde eines Gutshofes, das seine Aufgaben ja eben von den Jahreszeiten der Natur gestellt bekommt. Im Weiterwirken einer alten Zeitvorstellung melden sich aber auch neue Elemente musikalischer Zeitgestaltung. Der Wandel im Zeitbewußtsein vollzieht sich nicht 4 Edward E. Lowinsky, The Goddess Fortuna in Music, in Musical Quarterly 29, 1943, S. 45-77; dazu Manfred Hermann Schmid, Mathias Greiter. Das Schicksal eines deutschen Musikers zur Reformationszeit, Aichach 1976, S. 133-154. 11 schlagartig, sondern in einem langsamen Prozeß, dessen Beginn möglicherweise im 13. Jahrhundert zu suchen ist, wenn die Stabilität von Klangräumen zugunsten einer Zerlegung in einzelne Klangschritte aufgegeben wird. Der Wechsel von Organum purum zum discantus ist Indiz vielleicht auch für eine andere Zeitbestimmung, für ein erstes Durchbrechen des Kreises, wofür die scholastische Philosophie Voraussetzungen geschaffen haben könnte. Änderungen im Zeitbewußtsein sind am deutlichsten auf der Ebene des Rhythmus zu beobachten. Wir unterscheiden gewöhnlich einen älteren quantitierenden Rhythmus von einem modernen Akzentrhythmus. Gezählt und gemessen wird in beiden Fällen, aber verschieden. Das Zählen des quantitierenden Rhythmus ist auf das Ziel einer Gestalt-Vollendung bezogen. Danach beginnt das Zählen von vorn. Dabei ist gleichgültig, wo das Ziel liegt, ob bei 7, 10, oder gar bei 27 und 35 (um die beiden längsten Modelle zu nennen, die Gerhard Kubik in afrikanischer amadinda-Musik nachgewiesen hat). Mit Erreichen des Ziels beginnt ein neuer Zählvorgang. Zählen also in ständiger Kreisbewegung. Akzentuierender Rhythmus zählt ohne Ziel. Die Musik bewegt sich nicht mehr im Kreis, sondern auf einer Geraden. Daraus ergibt sich ein weiterer Unterschied. In quantitierendem Messen fallen rhythmische Gestalt und rhythmisches Prinzip zusammen. Das Prinzip entsteht aus der Gestalt, weshalb ein rationales Abzählen zwar möglich, für den Musiker aber keinesfalls nötig ist. In akzentuierendem Zählen gehen Gestalt und Prinzip auseinander, die Musik teilt sich in Abstraktum, jenes Akzentschema auf der Geraden ohne Wiederkehr, und ein Konkretum, die auf der abstrakten Basis geformte, aber nicht notwendig mit ihr kongruente Gestalt. Aus der Neuorganisation des Rhythmus ergibt sich ein Folgeproblem; es heißt: Schluß. Wie kann Musik enden, die auf eine offene Zeitgliederung bezogen ist? Im zyklischen Denken verlangt der Schluß keine eigene Gestaltung. Musik nach dem Wiederholungsprinzip, die aus sich heraus nie ein Ende findet, weil das Zurückmünden in den Anfang sie endlos in Gang hält, schreitet zu keinem neuen Punkt fort, der zu erläutern und zu begründen wäre. Sie ist vielmehr in sich aufgehoben. Diese Musik schließt nicht, sondern sie hört einfach auf. Der Anstoß dafür kommt gewöhnlich von außen, sei es, daß eine Handlung zuende geführt ist, sei es, daß der Text verbraucht ist. Musik in einem offenen Zeitsystem muß dagegen auf einen Schluß hinarbeiten und ihn aus sich heraus begründen. Daß der Schluß zu einer besonderen Aufgabe wird, zeigt sich ansatzweise erstmals in der Zeit um 1 500 bei Josquin (die Forschung hat jedenfalls die besondere Zuspitzung auf Schlüsse hin in seinem Werk beschrieben). Es sollte aber noch lange dauern, bis die Entwicklung von Komposition unausweichlich ein echtes Bewußtsein für Schlußgestaltung fordert. Erst neue musikalische Gattungen in der von vorgeprägten Traditionen vergleichsweise unabhängigen Instrumentalmusik geben dazu den letzten Anlaß. Einen Durchbruch bedeuten die Streichquartette Joseph Haydns. Im Finale des zweiten Quartetts aus der vieldiskutierten Werkgruppe opus 33 beginnt Haydn im Ton eines munteren Rondos. Doch der Satz entwickelt sich nicht aus der simplen Gegenüberstellung von Ritornell und Couplet, sondern hält eigensinnig am Thema fest, von dessen komplizierter Binnenstruktur immer neue Einzelzüge akzentuiert werden, bis beruhigend ein scheinbares Gleichgewicht in der Rückkehr zur Ausgangsgestalt hergestellt ist. Statt die fällige Schlußbestätigung anzuhängen stellt Haydn aber den mechanischen Ablauf mit einer Adagio-Unterbrechung in Frage. Dann kommt das Thema wieder: eigenartig verwandelt. Haydn zertrümmert die bisherige geschlossene Form. Er zerlegt das Thema, ohne zunächst eine Note zu ändern, in seine Bestandteile, die durch Pausen getrennt werden. In den hellhörigen Pausen tickt die Uhr des Akzentrhythmus. Damit dieses weiterwirkende Abstraktum 12 begriffen wird, gibt ihm Haydn genau soviel Zeit wie den erklingenden Themenpartikeln. Doch nicht genug. Es folgt noch eine Pointe. Das Stück schließt mit den zwei Anfangstakten des Themas — nach verdoppelter Pause, einer zweiten Stufe im Bewußtmachen des Abstraktums. Haydn bedient sich des alten Prinzips der Wiederkehr. Seine Komposition kommentiert es aber gleichzeitig, quasi mit den Worten „Glaubt im Ernst jemand, daß es wieder anfängt?" Nein. Zum früheren Anfang führt nach der Demonstration vergehender Zeit kein Weg zurück. Wenn etwas wiederkehrt, wird es in anderer Bedeutung wiederkehren. Der bekannt signalhafte Repriseneffekt im Sonatensatz gewinnt daraus seine dramatische Kraft. Im Extremfall bedeutet die neue Situation für ein altes Thema die Wendung ins Gegenteil. Aus Anfang wird Ende. Mit dieser Botschaft entläßt der Komponist seine Hörer im Quartett opus 33 Nr. 2. Haydn zwingt die Musik auf die Zeit-Gerade. Auf sie bezogen verliert Fortschreiten seinen neutralen Charakter. Es unterliegt dem Anspruch, ein Ziel erreichen zu müssen, das im Zeichen des Neu und Anders begründet sein will. In diesem Augenblick muß sich Fortschreiten in Fortschritt verwandeln. Fortschreiten ist musikalisch nur noch sinnvoll, wenn es zu einem Fortschritt führt. Musikalische Formen werden von einem neuen Prozeßdenken durchdrungen. Ziel ist die befreiende Lösung am Schluß — eine Lösung auch aus dem Bann der individualisiert erfüllten Zeit. 3. Fortschritt suggeriert Gegenwart. Das Wort will in der Umgangssprache nur auf die jüngste Zeit passen, in engerem Sinn sogar allein auf das Morgen. Dafür hat das 20. Jahrhundert in enormer Beschleunigung gesorgt. Äußerte sich Fortschritt traditionell vor allem im Stolz auf das Erreichte, richtet er sich nun auf das zu Erreichende: Fortschritt als Zukunftssicherung. Der eher kuriose Satz Schönbergs von 1922 über die garantierte Vorherrschaft deutscher Musik für die nächsten hundert Jahre ist Vergangenheit geworden, der in ihm steckende Denkansatz aber Gegenwart geblieben, Relikt jenes im Wien der Jahrhundertwende von politischer Endzeitstimmung forcierten wissenschaftlichen Beherrschungswillens. Daß auch Kunstentwicklung „einen Fortschritt und nichts als Fortschritt bedeutet und daß sie, nur mit dem beschränkten Maßstabe der modernen Kritik beurteilt, sich als Verfall darstellt, den es tatsächlich in der Geschichte nicht gibt", wie der Wiener Kunst- und Kulturhistoriker Alois Riegl 1901 im Blick auf spätrömische Zeit formuliert,5 mußte allen schaffenden Künstlern süß in den Ohren klingen. Die neue Vorstellung vom Fortschritt ist von dem geradlinigen Eroberungsdenken der Naturwissenschaften inspiriert, die keine Selbstzweifel angesichts der Geschichte kennen. Ihre Devise lautet geradezu Überwindung der Geschichte durch technischen Fortschritt. Es ist nicht verwunderlich, daß Kunst sich an ein solches Erfolgsdenken der Technik anlehnen möchte. In einer Darstellung Adornos von 1959 („was musikalisch heute überhaupt sich zuträgt, hat den Charakter des Problems in der unverwäs-serten Bedeutung des Wortes; den einer zu lösenden Aufbabe; einer zudem, der von vornherein die Schwierigkeit der Lösung eingeschrieben ist", Nervenpunkte der Neuen Musik, Kap. 7) verrät nur noch das Wort 'musikalisch' den ansonsten mit Ausdrücken der Technik beschriebenen Gegenstand. Doch der Fortschritt muß sich an der Geschichte messen lassen. Hier hat es die Kunst nur ungleich schwerer als die Technik. Das Neue in den Naturwissenschaften 5 Alois Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, Wien 1901, 21927, S. 11. 13 schließt verifizierend und falsifizierend das Alte in sich. Das Falsifizierte wird im Interesse des Verifizierten abgestoßen. In der Kunst gibt es kein verläßliches Scheiden in Wahr und Falsch, keine beständige Sicherung des Erwiesenen. Was Newton wußte, weiß heute jeder. Was Bach wußte — wer wollte sich diesen Besitz anmaßen? Die Alleinherrschaft der Zeit-Geraden im technischen Zeitalter produziert deshalb nebenbei einen latenten Pessimismus. Die ständige Entfernung von der Vergangenheit ließ sich auch als Verlust begreifen. Bis einschließlich Beethoven war die Musikgeschichte von der sicheren Überzeugung begleitet, daß die Regeln der Komposition unumstößlich wären und auf ewig gültigen Gesetzen beruhten. Die Musik konnte sich in fiktivem Festhalten an zyklischer Zeitvorstellung quasi innerhalb eines geschlossenen Systems entwickeln. Im Laufe des 19. Jahrhunderts aber war der sichere Bezugspunkt ewiger musikalischer Gesetze unwiederbringlich verlorengegangen. Wer sich davon nicht lähmen lassen wollte, tritt die Flucht nach vorne an. Konsequenterweise wird zum ersten Drittel unseres Jahrhunderts eben in Wien die letzte tragende Säule und mit ihr der letzte Garant für ein zyklisches Formprinzip aufgegeben, nämlich die Tonalität. Wie Tonalität eine Funktion älterer Zeit war, von zyklisch begriffener Zeit, so wird Atonalität Funktion einer neuen Zeit, der offenen Zeit. Der neue Fortschritt sucht seine Bestätigung in etwas Objektivierbarem. Geändertes internes Zeitbewußtsein bei Komposition hat Musik in einen Prozeß verwandelt. Was die Klassiker als Problemstellung hinterlassen hatten, konnte nicht als bewältigt gelten. Die Frage nach dem Schluß ließ sich als Frage nach begründeter Form insgesamt begreifen. Solcher Forderung war das 19. Jahrhundert eher ausgewichen, durch aphoristische Pointierung im Falle Schumanns oder Monumentalisierung im Falle Wagners. Und der symphonische Effekt, den Schluß auf den letzten Satz zu verschieben und durch thematische Rückgriffe mit den vorausgegangenen zu verknüpfen — „zyklische Form" nennt das die Musiktheorie — war eigentlich ein Archaismus mit modernen Mitteln: alte Zeitgliederung in einem modernen Zeitbewußtsein. Die Schönberg-Schule wollte mehr. Sie strebte nach einer Form, die jeden einzelnen Moment steuert und legitimiert. Form muß die schrittweise explizierende Lösung einer Problemstellung sein, wie es Adorno umschreibt. Vorbild wird der mathematische Beweis. Sein „Quod erat demonstrandum" soll der Schlußton setzen. Welche Bedeutung der Zeit in dieser modellhaften Konstruktion zukommt — darüber haben Theoretiker der Wiener Schule wenig reflektiert. Als sukzessiv ordnendes Element gehört sie unausgesprochen zur Reihe und ihrer Folge. Als rhythmische Größe ist sie einer exakten Planung unterwerf bar. Ihr körperhaftes Wesen wird jedoch suspendierbar: Zwischen den Zeilenschritten einer mathematischen Formel tickt keine Pause. Am radikalsten geht Anton Webern mit neu verstandener Zeit um. Schon in seinem Streichquartett opus 5 von 1909, umgearbeitet 1930, bekannt geworden aber erst nach 1945 und seitdem als ein epochemachendes Meisterwerk unseres Jahrhunderts bewundert, macht er kompromißlos Ernst mit jener konzentrierten Durchdringung logischer Abläufe, von denen die Zeit nur die Richtung bestimmt, selbst als erlebbare Voraussetzung aber aufgelöst wird. Der dritte Satz dauert kaum mehr als eine halbe Minute. Auf engstem Raum entwickeln sich verschiedene Motive, von denen keines wiederkehrt. Auch Tonhervorbrigung (cor arco, pizzicato, col legno, glissando, sul ponticello) und Lautstärke in allen Graden von ppp bis fff folgen dem Prinzip fortwährender Transformierung. Jedes Wiederholungsmoment, das aktives Zeiterleben in Kraft setzen könnte, ist ausgeschaltet. Im Werk von Anton Webern wird überflüssig empfundene Zeit als autonomes Element hinausgepreßt. Die Partitur gerinnt beinahe zu einem optischen Kunstwerk, über dessen Intentionen frei von zeitlicher Bindung gesprochen werden kann. 14 In der Verdichtung des musikalischen Lebenselixiers Zeit zum entvitalisierten Konzentrat führt Webern einen Gang der Musikgeschichte, den des konstruktiven und finalen Prozeßdenkens, zu einem vorläufig letzten Ende und öffnet den Weg in die Serielle Musik der fünfziger Jahre, deren Grenzen dann Ligeti beschreibt, wenn er 1960 sagt, das total Determinierte würde irgendwann dem total Indeterminierten auf fatale Weise ähnlich. Wunsch nach innerer Logik, Zwang zum Neuen und Auseinandersetzung mit der Geschichte, die einem nicht mehr gehört — das sind die Voraussetzungen, unter denen europäische Musik im 20. Jahrhundert entsteht. Die Schönberg-Schule darf für sich in der Berufung auf Brahms und Mahler eine Kontinuität der historischen Entwicklung beanspruchen. Doch neben ihr gab es auch andere Wege im Spannungsfeld von Fortschritt und Geschichte. Sie umgingen das 19. Jahrhundert und führten zurück in frühere Zeiten, von denen Anknüpfungspunkte erwartet wurden. Solche Wege sind Igor Strawinsky und Carl Orff gegangen. In letzter Konsequenz kann die Rückwendung bedeuten: Musikgeschichte wieder von vorne beginnen wollen. Wenn John Cage in einem Klavirestück den Pianisten auf die Bühne schickt, um ihn sich dreieinhalb Minuten lang auf etwas konzentrieren zu lassen, was er nicht spielen wird, dann soll das Publikum im Lauschen auf Geräusche in der Stille wieder ein kindliches Hören erlernen. Ein solcher Effekt verbraucht sich leicht. Aber die Idee eines Zurück zu den Anfängen hat sich auch Möglichkeiten einer Entwicklung geschaffen. Ihren stärksten Anstoß bekam sie von außereuropäischer Musik und europäischer Volksmusik. Seit auf der Pariser Weltausstellung 1889 afrikanische und asiatische Musikergruppen aufgetreten sind, weitet sich der musikalische Horizont, in einer Expansion, die nach 1918 in einer zunehmend internationalisierten Welt die Grundlagen des Denkes ändern wird. Debussy ließ sich von Gamelan-Musik inspirieren und Bartok zeigt, daß man nur die Opernhäuser und Konzertsäle verlassen muß, um in Europa selbst völlig andere Musik vorzufinden. Damit kehren auch elementare Zeitgliederungen in die Kunstmusik zurück. Die Faszination des Boléros von Maurice Ravel (1928) beruht auf der Wiederbelebung eines archaischen Wiederholungsprinzips. Das Interesse für die sogenannten Primitiven, das auf die bildende Kunst früher und nachhaltiger eingewirkt hat, äußert sich allmählich auch in der Musik, in der Unterhaltungsmusik von Jazz bis Ethnopop unbefangener als in der Kunstmusik. Eine al-lerjüngste Adaptierungswelle hohen Anspruchs unter Einfluß javanischer und afrikanischer Elemente kommt aus Amerika. Ihr Paradestück ist 1976 unter dem Titel Music for 18 musicians von Steve Reich geschaffen worden. Für diese „Minimal Music" gibt es Zeit scheinbar unbegrenzt, wie Luft in der Atmosphäre oder Wasser im Meer. Und wie das Meer kennt sie eine Art endloser Bewegung in Wellen, die eine stetige Wiederkehr vorspiegeln. Ist das Ergebnis des Fortschritts also, daß wir wieder am Anfang stehen? Simplifizierungen und Mißverständnisse können auf unvorhersehbare Weise fruchtbar werden. Das weiß der Historiker. Aber er ist ein schlechter Prophet. Doch müssen wir wohl die Möglichkeit bedenken, daß zyklische Zeitvorstellung uns wieder einholt — und sei es nur in der Erkenntnis, daß der Fortschritt Grenzen hat und sich Geschichte nicht nur geradlinig in eine Richtung bewegt. 15 POVZETEK 1. Za vest oziroma misel o napredku sodi od samih zaèe tko v k zgodo vini zahodne glasbe: sprva v kršèansko-srednjeveški predstavi rasti, od razsvetljenstva dalje pa v sekularizirani obliki, ki je v središèe izpostavila idejo novega. 2. Napredek je funkcija èasa. S tem suponira tudi doloèeno èasovno zavest: v svojih strukturah in formah glasba — kot „èasovna umetnost" — razkriva raznovrstne predstave o èasu. Elementarni princip ponavljanja zapisno „nemih" kultur je možno razumeti v smislu naravno-cikfiènega izkustva o èasu, ki velja tudi za prva stoletja veè-glasja. Vendar pa se s sholastiko uveljavljajo tudi drugaèna gledanja. Na koncu razvoja — ki bistveno preveva glasbo dunajskih klasikov — se uveljaviprocesualno mišljenje, v katerem ni ponavljanja: obstaja samo gotovost o trenutnem. 3. Dvojnost zavesti o napredku in èasu v glasbi osvetljuje marsikaj, kar zadeva glasbo 20. stoletja, namreè, kako na eni strani Anton Webern kot predhodnik seria Ine glasbe in na drugi najmlajši predstavniki minimalne glasbe ravnajo s èasom: s tem se razkrivajo ne le njihovi vzori ampak tudi cilji napredka, kije ali že dosege/ svoje meje, ali pa se ga kot vodilno idejo lahko — suspendira. 16