UDK 821.133.1.09 Montaigne M.E. de MONTAIGNE: EINFÜHRUNG IN OUVRE UND GEIST Jamil George Barcha Abstract Dieser Beitrag will eine kurze Einführung in Michel de Montaignes Essais geben, gleichzeitig versucht er eine Antwort auf Montaignes historische und heutige Bedeutung anzubieten, die sich auf mehreren Ebenen manifestiert, beispielsweise literarisch, literaturwissenschaftlich, historisch, philosophisch und nicht zuletzt ideengeschichtlich. Naturgemäß kann darauf nicht in extenso eingegangen werden, schon gar nicht in diesem Rahmen; eher will der Beitrag Impulse für die Weiterbeschäftigung mit dem französischen citoyen du monde liefern. „Ich bin voll Gier,mich bekannt zu machen; und gleichgültig, wie vielen, wenn es nur wahrhaftig geschieht." 1. Problematische Standortsuche: Der Essay als Form Obwohl er als literarisches Phänomen an sich nichts Neues ist, kam der Essay sehr spät zu seinem Namen. Seine Wirkungsgeschichte läßt sich bis in die Antike verfolgen. Daß schon Seneca und Cicero, Plutarch und Plinius in ihren Schriften immer wieder Form und Geist des Essays getroffen haben, ja daß sogar schon Piaton der erste und größte Essayist gewesen sei, wird man wiederholt lesen können. So erweist sich Piatons Werk nicht nur als Sternstunde der Philosophie, sondern auch der Essayistik. So will es zumindest Georg Lukäcs (24; vgl. auch Rohner, 595 ff.), der Piaton den „größten Essayisten" nennt, „der je gelebt und geschrieben hat, der dem unmittelbar vor ihm sich abspielenden Leben alles abrang und so keines vermittelnden Mediums bedurfte; der seine Fragen, die tiefsten, die je gefragt wurden, an das lebendige Leben anknüpfen konnte." Zu Lukäcs' platonischer Apotheose ist anzumerken, daß zwar auch andere von Verbindungslinien zwischen antiker und essayistischer Literatur zu berichten wissen, doch bleiben diese in ihrer Wortwahl bescheidener; oft ist hier die Rede von antiken Vorformen des Essays (grundlegend: Schon). Der Essay scheint sich einer formal-logischen Festlegung zu entziehen, was seine Stärke und Schwäche ausmacht: Er kann vieles sein, und doch wieder nicht. Bisweilen schafft er es, schwarz und weiß zugleich sein. „Er ist", notierte Adorno (26) einen 67 dieser antinomistischen Züge, „offener und geschlossener zugleich, als dem traditionellen Denken gefällt." Dem Essay eine Begriffsbestimmung zu geben, fällt, schwer, zumal sich entsprechende Definitionen widersprüchlich bis sich widersprechend anmuten. Wesentlich leichter fällt es, den Spuren seines Gattungsnamens nachzugehen. 2. Die Geburt eines Genres Das entscheidende Jahr für die „Geburt" des Essays begann 1570, als sich der französische Edelmann Michel Eyquem de Montaigne (1533-92) für einen Rückzug aus der Politik entschieden hatte. Zehn Jahre später erschien die erste Ausgabe seiner Essais.1 Als Montaigne zur Feder griff, beabsichtigte er keineswegs, ein neues literarisches Genre zu kreieren. Daß er letztlich seinen Aufzeichnungen den Titel Essais gab, sollte deren geistesexperimentellen Charakter unterstreichen. Als entschiedener Opponent geistigen Stillstandes wandte er sich schon zu einer Zeit, die doch noch immer stark unter Einfluß des scholastischen Arbeitsprinzips gestanden ist, „wider den Methodenzwang" (P. Feyerabend). [...] essai geht auf das mittellateinische exagium , Versuch' zurück, und Montaigne hat sie bewußt als Gegenentwurf zu der Traktatliteratur seiner Zeit konzipiert, die, von einer festen Prämisse ausgehend und mit Hilfe einer präetablierten Beweisführung die noch vorherrschende scholastischdeduktive Systematik bestätigt hat: , Montaigne hat einen Widerwillen gegen die nach wer, was, warum, nach erstens, zweitens, drittens nach der syllogistischen Schrittfolge gegliederten Traktatstruktur. (Weissen-berger, 107) Systematik und Wahrhaftigkeit schließen sich bei seinem [Montaignes] Experiment aus: ein Denken oder ein Stil, der sich einer Disziplin unterwürfe, würde aufhören, ganz unmittelbar und unvermittelt sein eigen zu sein. (Lüthy, 11) Daß die Essais eine weltliterarische Wirkung erfuhren, war weder vom Autor konzipiert noch abzusehen; auch waren sie ursprünglich nicht für die breite Öffen- 1 Zur editorischen Geschichte vgl. Haas 1969,12 f. Das erste und zweite Buch der „Essais" erschienen 1580 in Bordeaux, eine zweite (korrigierte) Neuedition erfolgt zwei Jahre später. Die dritte überarbeitete Auflage wurde 1587 in Paris verlegt, ebendort die vierte verbesserte und um das dritte Buch erweiterte Ausgabe (1588). Die erste deutsche Übersetzung besorgte 1753 Johann Daniel Tietz; eine Neuausgabe als Faksimile liegt im Diogenes-Verlag dreibändig vor: Michel Eyquem de Montaigne. Essais [Versuche], nebst des Verfassers Leben. Nach der Ausg. von Pierre Coste ins Dt. übers, von Johann Daniel Tietz. -Zürich: Diogenes 1992. In dieser Arbeit wird, falls nicht anders angegeben, nach folgenden zwei Übersetzungen zitiert: Montaigne, Michel de. Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. - Frankfurt a. M.: Eichborn 1998 sowie Montaigne, Michel de. Essais. Ausw. u. Übers, von Herbert Lüthy. - Zürich: Manesse 1953. Es bleibt Geschmacksache, für welche Übersetzung man sich entscheidet. Stiletts Vorteil liegt darin, daß er die erste (!) moderne Gesamiübersetzung besorgt hat. 68 tlichkeit gedacht, sondern für seine Freunde und Vertraute.2 Umso erstaunter fragt man nach den Gründen des Erfolges: Was macht dieses Werk aus, und welcher Geist spricht aus ihm? Diese Fragen ließen sich mit Nachdruck wiederholen, hörte man Nietzsche (348) von Montaigne schwärmen: „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden." Und etwas später eine Spur pathetischer: „Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen. -" Um auf die Frage nach Geist und Zeitlosigkeit dieses Opus versuchsweise Antwort zu erhalten, ist es nützlich, einen kurzen Blick auf Montaignes Zeitalter zu werfen. 3. Zeitalter der „konfessionellen Zerrissenheit" Als Michel de Montaigne 1533 auf die Welt kam, gehörte er zur ersten französischen Generation, „die keine Erinnerung mehr an die Welt vor der Reformation hatte" (Burke, 9).3 Es war also eine Zeit des Umbruchs; die alte Ordnung, bislang vielfach durch die Heilige Römisch-Katholische Kirche verkörpert, konnte nicht länger alle überzeugen. Große Teile Europas wurden von Glaubenskämpfen erfaßt, ebenso und insbesondere Frankreich. Die Reformation bestimmte bald Montaignes Leben. Sein Amt als Parlamentsrat von Bordeaux (1557-1570), das er drei Jahre nach dem Studium der Rechte angetreten hat, bestand primär darin, Konfessionspolitik zu betreiben und zwischen den Bürgerkriegsparteien zu verhandeln. Darüber hinaus machte die „konfessionelle Zerrissenheit" (Friedrich, 15) auch vor der eigenen Familie nicht halt.4 Nach 13 Jahren Parlamentsrat entschied sich der Politiker aus Bourdeaux für einen Rückzug aus der Öffentlichkeit; der Bürgerkrieg hatte ihn müde gemacht, die Politik zehrte an seinen Kräften.5 Montaigne wollte die ihm noch vergönnte Zeit auf seinem Schloß in Muße verleben. Dort begann er auch 1572, bezeichnenderweise im Jahre des Pariser Gemetzels, mit seinen Aufzeichnungen. 2 Vgl. Montaignes Vorrede „An den Leser", Lüthy, 51; Stilett, 5. Bei Montaigne ist man, wie noch zu sehen sein wird, vor Widersprüchen nie gefeit. Wo er hier den Gebrauch seiner Essais für Angehörige und Freunde bestimmt, bekennt er anderswo:, Jch bin voll Gier, mich bekannt zu machen; und gleichgültig, wie vielen, wenn es nur wahrhaftig geschieht"(Lüthy, 678). Eine detaillierte Antwort auf die komplexe Publikumsfrage der Essais gibt Friedrich, 309 ff. 3 In folgender Darstellung folge ich Burke und Lüthy. 4 Laut Burke (9) konvertierten eine Schwester und zeitweise ein Bruder zum Calvinismus, Friedrich (15) und Lüthy (27 f.) dagegen nennen drei Geschwister, die den Pfad des katholischen Glaubens verlassen hätten. 5 Über die wahren Gründe dieses relativ frühen Rückzugs rätselt die Fachliteratur. Burke (12) verweist, daß es im 16. Jahrhundert opinio communis war, sich mit vierzig als alt zu betrachten. Friedrich (18) meint allerdings, das „frühe Alter dieses Rückzugs war für ein Mitglied des Amtsadels ziemlich ungewöhnlich" und nennt u.a. „politische Enttäuschungen, Überdruß an der Amtstätigkeit sowie Trauer um den weggestorbenen Freund La Boetie" als denkbare Ursachen für Montaignes Entschluß. Im übrigen folgte Montaigne in den zwei Jahrzehnten, die ihm das Schicksal noch zu verleben gegönnt hatte, immer wieder dem Ruf der Politik. 69 Montaigne begann seine Essais im Jahr der Pariser Bluthochzeit zu schreiben, der Bartholomäusnacht, die das Signal zur Schlächterei in ganz Frankreich gab und die als unauslöschliches Brandmal des Verrats, der Niedertracht und des Meuchelmords im Namen der höchsten Glaubensgewißheiten in die Geschichte eingegangen ist: die Mordnacht von Paris und das Te Deum laudamus der großen Dankmesse, mit der sie in Rom begrüßt wurde. (Lüthy, 27) Die im Namen Christi verübten Massaker ließen Montaigne auch in seiner Abgeschiedenheit nicht ruhen: Mit Ausnahme weniger Momente waren die zwei Dezennien, in denen er sich den Essais widmete, „zwanzig Jahre des Bürgerkriegs" (Lüthy, 28). 4. Selbstbezug und (Selbst-)Erkenntnis Wenn Montaigne sein Ich zum Gegenstand seiner „Essais" macht, dann nicht losgelöst vom damaligen historischen Rahmen im Frankreich des 16. Jahrhunderts (Bürgerkrieg, Intoleranz, soziale und ökonomische Umschichtungen, andere Krisen). Freilich sei damit nicht das Wort herbeigeredet, die Essais glichen somit einer französischen Historiographie. Es bleibt dabei: So sehr diese am Puls der Zeit bleiben, so sehr sie sich sozialer und politischer Themen aus verschiedenen Himmelsrichtungen annehmen, so umkreisen sie letztendlich eine Frage: Michel de Montaigne. Wenn Montaigne jemanden zitiert, so vor allem, um über sich zu sprechen. „Was die anderen sagen, führe ich nur an, um desto mehr über mich zu sagen" (Stilett, 81). Wenn Montaigne über Gott und die Welt schreibt, dann will er auf neuem Wege von sich erzählen. In seiner berühmten Vorrede ,An den Leser' bekennt er augenblicks: Dies hier ist ein aufrichtiges Buch, Leser. Es warnt dich schon beim Eintritt, daß ich mir darin kein anderes Ende vorgesetzt habe als ein häusliches und privates. Ich habe darin gar keine Achtung auf deinen Nutzen noch auf meinen Ruhm genommen. [...] So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches; (Lüthy, 51). Und dennoch: Wer Montaignes Selbstthematisierung bloß als Memoiren oder Autobiographie liest, sie ohne distinctiones in die Tradition der Bekenntnisliteratur (wie wir sie von Augustinus oder Rousseau kennen) einreiht, sie als gemeines Tagebuch auffaßt oder gar in den Bezirk der „hypertrophe(n) Egozentrik" (Schlaffer6, 140) ansiedelt, wird ihr Genus verfehlen. Montaignes Essais bleiben einzigartig, in Form und Formung. Sie sind weit davon entfernt, sich einem herkömmlichen Klassifikationssystem unterzuordnen. Davon war selbst ihr Verfasser überzeugt: „Es ist das einzige Buch in der AVeit von seiner Art, und von einem wüsten und ausschweifenden Vorhaben eingegeben." (Lüthy, 369) 6 Schlaffers Montaigne-Rezeption fällt positiv aus, dennoch bleibt der auf „Montaignes Selbstauslegung" gemünzte Ausdruck „hypertrophe Egozentrik" problematisch, da er in seiner heutigen Bedeutung unvorteilhaft verstanden wird. 70 5. Brüche und Widersprüche als Lebensspiegel „Montaigne war", heißt es bei Burke (8), „kein systematischer Denker. Er stellte seine Ideen im Gegenteil absichtlich auf unsystematische Weise dar. Deswegen warten auch auf denjenigen, der es unternimmt, eine systematische Darstellung seiner Gedanken zu geben, ernste Gefahren." Wer sich von dieser Warnung dennoch nicht entmutigen läßt, wird sehr möglich in seinem Versuch einer systematischen Annäherung an den Franzosen nicht weiter kommen als der große Pascal. Schon der stellte verwundert fest: „Montaigne gegen die Wunder; Montaigne für die Wunder" (zit. nach Lüthy, 12). Ein Widerspruch? Gewiß, aber kein Widerspruch bei und für Montaigne: Sein Werk lebt und liebt den Widerspruch, und es ist, so Friedrich (9), als ob Montaigne „sich erst im Genuß der Allwidersprüchlichkeit so recht wohl fühlte." So nimmt es kein Wunder, wenn jede Partei eine Facette an ihm finden konnte, mit der sie sich identifizieren konnte (vgl. auch Rohner, 34 f.): Den Frommen war er ein Frommer und den Freigeistern ein Freigeist, den Heiden ein Heide und den Christen ein Christ; für die Nachfahren der Stoa war er der stoische Tugendlehrer, für die Epikureer der hohen wie der niederen Gattung ein Epikureer ihrer Gattung; die Aufklärer haben seine Urteile über Hexen- und Wundergeschichten mit unermüdlicher Begeisterung zitiert, ihre Widersacher pochten auf die Sebundus-Apologie und ihre Entthronung der Vernunft. Die Konservativen fanden bei ihm die Verteidigung des Hergebrachten, der alten Gesetze und der angestammten Ordnung, die Naturrechtler die Kritik des positiven Rechts, der Konventionen und Tünchen der Zivilisation; die Romantiker liebten seine Unordnung, seine guten Wilden und seine natürliche Pädagogie, und mit gutem Recht haben ihn alle Pragmatiker und Positivisten für sich in Anspruch genommen. (Lüthy, 9) Wer von so konträren Ideologen vereinnahmt werden kann, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, sich klarer Aussagen zu enthalten. Erst Montaignes widersprüchliche Aussagen nämlich erlaubten diversen Strömungen, ihn für sich zu zitieren. Andererseits trug jede Partei eben jene Passagen vor, die ihrer Ansicht dienlich waren. Dennoch: Montaigne war sich seiner Widersprüche und der damit verbundenen Gefahren durchaus bewußt, mehr noch: Er glaubte an die Widersprüchlichkeit des Lebens. Insoweit kam es ihm nicht in den Sinn, Gegensätzliches zu decken, Brüche zu glätten. „Er denkt in Brüchen, so wie die Realität brüchig ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet." Dieser von Adorno (25) generell auf den Essay bezogener Satz trifft vorzüglich auf seinen (Namens-)Schöpfer. Die kontrastierenden Positionen, die Montaigne zusammenstellt, wollen nicht in ihrer Opposition aufgelöst werden, ihr Ziel ist es, den Leser in „Denkbewegung" (vgl. Haas 1969,11 f.) halten. Das ist auch die Quintessenz der Essais: die Möglichkeiten des Möglichen durchzudenken, das Spektrum des Denkbaren zu ergründen, oder, um es mit Lüthy (12) zu artikulieren: „Möglichkeiten und Reichweiten des menschlichen Denkens auszukundschaften". 71 6. Kompaß des Geistes: der Zweifel Montaigne lädt ein, sich einer Frage immer wieder und von möglichst allen Blickwinkeln aus zu nähern, selbst und gerade dann, wenn ihre Antwort (apriori) als logisch oder unumstößlich erscheint. „Ich sträube mich sogar gegen Wahrscheinliches", so der Franzose in seiner antidogmatischen Art, „wenn man es mir als untrüglich hinstellt. Ich liebe vielmehr Ausdrücke, welche die Unbesonnenheit unsrer Behauptungen mildern und mäßigen, also: vielleicht und gewissermaßen, ein wenig und man sagt, ich denke und dergleichen." (Stilett, 518) Ähnlich vernunftkritisch heißt es anderswo, es sei „eine törichte Yermessenheit, alles herablassend als falsch abzutun, was uns unwahrscheinlich vorkommt" (ebd., 97), und es sei „eine gefährliche und folgenschwere Anmaßung [...], alles, was unsre Vorstellung übersteigt, für nichts zu achten" (ebd., 98). Montaigne, der möglichst alles durchdacht wissen will und so die ,Möglichkeitserwägung zum Prinzip seiner Essais und zur Grundstruktur essayistischen Sprechens" (Haas 1996, 623) macht, lehnt es ab, etwas auszuschließen, weil er nur an eine Konstante des Lebens glaubte: „Nichts ist gewiß, soviel ist sicher."7 Mit dieser Überzeugung ist zumindest die Intention bekundet, sich auf kein Verdikt einzulassen. Ein anderes Mal drückt er sich in diesem Sinne direkt aus: „Ich enthalte mich des Urteils."8 Der Franzose hebt die kathartische Funktion des Zweifels hervor und macht diesen zum Kompaß seines Denkens - eine kühne Leistung für eine Zeit, in der Wahrheitspachter und Dogmatiker mehr denn je Konjunktur hatten: Die eigene Skepsis nicht zu verhehlen, war, wem sein Leib teuer war, schon vor der Reformation lebensgefährlich genug. Gleichwohl entscheidet sich Montaigne für den nicht ungefährlichen Weg des Zweifels, womit wir beim ideengeschichtlichen Kern der Essais gelangt sind: dem Skeptizismus. 7. Skeptizismus „Que sais-je?" Was weiß ich? - Dieser berühmte Satz schlägt den Ton an, der Montaignes Leben und Werk durchklingt. Es war 1576, als er diese Frage auf einem Medaillon schlagen ließ, dessen Kehrseite metaphorisch das gleiche ausdrückte: eine ausbalancierte Waage (vgl. Burke, 25). Montaigne ließ sich in seiner Skepsis vom griechischen Philosophen Sextus Empiricus leiten, der lehrte, ,„man müsse jeder Aussage eine andere gegenüberstellen', und sich des Urteils zwischen beiden enthalten, weil der Mensch nicht erkennen könne, was wahr ist." (Ebd.).9 Mit dieser Grundeinsicht wird die Wirklichkeitserkenntnis in Frage gestellt. Da jeder von uns die Welt mit seinen Sinnen wahrnehme, könne die Wirklichkeit nur 7 Diesen Spruch hat Montaigne an die Deckenbalken seiner Bibliothek malen lassen (vgl. Burke, 25). 8 Ein weiterer Spruch, der Montaignes Bibliothekswand schmückte (vgl. ebd.). 9 Auf die Hauptideen des Skeptizismus nach Sextus Empericus gehen Burke (25 ff.) und Friedrich (123 ff.) detailliert ein, denen ich auch hier folge. 72 individuell-subjektiv erfaßt werden; hinzu komme noch, daß jeder Mensch, je nach Kulturprägung, Situation und Lebensabschnitt, zu neuen bzw. unterschiedlichen Ansichten neige. So heißt es bei Montaigne treffend: So vermag ich den Gegenstand meiner Darstellung nicht festzuhalten, denn auch er wankt und schwankt in natürlicher Trunkenheit einher. Deshalb nehme ich ihn jeweils so, wie er in dem Augenblick ist, da ich mich mit ihm befasse. Ich schildere nicht das Sein, ich schildre das Unterwegssein [...] Dies hier ist also das Protokoll unterschiedlicher und wechselhafter Geschehnisse sowie unfertiger und mitunter gegensätzlicher Gedanken, sei es, weil ich selbst ein andrer geworden bin, sei es, weil ich die Dinge unter andern Voraussetzungen und andern Gesichtspunkten betrachte. Daher mag ich mir zwar zuweilen widersprechen, aber der Wahrheit [...] widerspreche ich nie. (Stilett, 398 f.) Realität, verstanden als Summe subjektiver Erfahrungswelten, schließt naturgemäß eine von allen gleichermaßen wahrgenommene Welt und in der Folge objektive Erkenntnis aus. Dementsprechend geht es Montaigne nicht länger darum, „das Maß der Dinge zu erkennen, sondern das Maß seiner Augen." (Lüthy, 12).10 Das mag auch der Grund, warum er sich selbst zum Inhalt seines Buches wählt und seine Selbstthematisierung dennoch nicht zum Selbstzweck gerät. „Er greift nur zur Selbstdarstellung, weil er kein anderes Bezugssystem der Erkenntnis findet. Im Schwänken der Wahrheiten setzt er sich selbst als festen Punkt, und indem er sie zu sich in Beziehung setzt, findet er seinen eigenen Standort: denn in Bewegung bleibt beides." (Ebd., 18) Montaigne war sich als Mensch selber ein dunkles Terrain, auf das er mit einer Lampe - seinen Essais - etwas Licht werfen wollte. In seiner Selbstreflexion mochte er nicht allein gelassen werden - auch hier wieder ein „Widerspruch" (Lüthy): Er bedurfte eines Auditorium, eines Feedbacks, er brauchte den „unbekannten Leser" (ebd., 25), weil er es allein nicht vermochte, die Sehnsucht nach Selbsterkenntnis zu stillen; nach ihm gelinge Selbstbezug erst in der Interaktion mit dem anderen: Denn dies ist der letzte Widerspruch: es gibt keine Selbsterkenntnis, die sich nicht zu erkennen gibt, und keine Wahrhaftigkeit ohne Mitteilung. ,Wer nicht ein wenig für andere lebt, der lebt kaum für sich.' Das Selbstbewußtsein, das stumm und ohne Ausdruck bleibt, kann sich seiner selbst nicht bewußt werden: es muß sich hervorbringen als Werk seiner selbst, um Wirklichkeit zu gewinnen. (Ebd.) 8. Ausblick In der Tat müssen Montaignes Essais als einzigartig genannt werden, dementsprechend die Warnung, in ihnen bloß jenes Profil zu sehen, welches andere literarische 10 Lüthy (388) spielt hier wohl auf folgenden Satz aus den Essais an: „Was ich darüber meine, dient denn auch dazu, das Maß meiner Wahrnehmung zu geben, nicht das Maß der Dinge." 73 Formen - etwa Autobiographie, Memoiren, Bekenntnis, Tagebuch - gleichermaßen aufweisen. Desgleichen ist es abzulehnen, hinter diesem „persönlichste(n) Buch der Weltliteratur" (ebd, 17)" die Realisierung eines narzistischen Konzepts zu vermuten. Montaignes Selbstdiskurs ist die Reflexion eines kritischen Weltbürgers, der die individuelle Unversehrtheit zum gültigen Maßstab erhebt. Dieses Oeuvre kann mit Recht in jeder Hinsicht ein Unikat genannt werden, obwohl es an Nachahmern nicht gerade gemangelt hat; gleichwohl läßt sich nur schwer, wenn überhaupt, von Nachfolge sprechen. Großartig und pathetisch zugleich sagt Herbert Lüthy (18 f.), weshalb dem so ist: [...] weil alle Nachfolge belastet ist. Bei Montaigne fehlen alle uns gewohnten Motive der Selbstdarstellung. Er hat nicht aus einem Bewußtsein seiner eigenen Ungewöhnlichkeit, seines „Andersseins" oder seiner Beispielhaftigkeit, weder im Guten noch im Bösen, geschrieben [...] So ist er den Gefahren aller gewollten Selbstdarstellung entgangen, der Gefahr der Selbsterhöhnung und der vielleicht noch größeren Gefahr der Selbsterniedrigung, jener .listigen Demut' der Bekenntnisbücher, deren Verfasser sich selbst mit Füßen treten, um zu zeigen, wie hoch sie sich über sich selbst erhoben haben. Da ist nichts von Weltschmerz, Reue, Auflehnung, Anklage, Zerrissenheit, Leiden an andern und an sich selbst, nichts von all dem, was seit Rousseau so viele Mißratene dazu treibt, sich der Welt ins Gesicht zu speien, so viele Gescheiterte, ihr De Profundis zu schreiben, so viele Sünder, die Welt zum Jüngsten Gericht über sich zu laden, so viele Genies, ihr Genie zu behaupten statt zu beweisen.12 Das also macht die Singularität dieses Werkes aus. Was aber erhält es aktuell? Es ist vielleicht doch seine Liebe zur Widersprüchlichkeit und, nicht weit davon entfernt, Montaignes Einladung zum Widerspruch, zum „audiatur et altera pars" (auch die Gegenpartei soll gehört werden). Dabei weist Montaignes Skepsis über die Unduldsamkeit seiner Zeit hinaus; sie gehörte nicht, wie zu anderen historischen Epochen, einem nihilistischen Relativismus an, der alle möglichen Ansichten aus Gleichgültigkeit nebeneinander gelten läßt, sondern der Einsicht in die blutigen Verstrickungen eines fanatischen Dogmatismus. Seine Skepsis ist nicht so sehr Ausdruck einer vermeintlichen Unparteilichkeit als viel mehr eines unabhängigen Geistes, der einem Humanismus entstammt und auf eine mögliche historische Stufe verweist (vgl. auch Horkheimer). Es wurde bereits auf die Bedeutung des Skeptizismus des Sextus Empiricus für Montaigne hingewiesen, der bekanntlich die Wahrheitserkenntnis durch den Menschen dezidiert negiert. Politisch hat diese Philosophie eine doppelte Sichtweise. Erstens, sie erklärt Montaignes Konservativismus, denn seine Treue zum Bestehenden begründet sich vielfach im Mißtrauen gegen das Neue; hier zeigt sich einmal mehr die Macht der 11 Ähnlich Friedrich (13), wenn er vom „intimsten Buch, das bis dahin entstanden war", spricht. 12 Anders als Lüthy kommt Friedrich (20 ff.) zum Ergebnis, daß Selbsterniedrigung für die Essais sehr wohl typisch ist und wichtige Funktionen erfüllt, u.a. dient sie als Trick, kühnen Aussagen „die gefährliche Spitze zu nehmen" (ebd., 23). 74 Gewohnheit. „Nach ihm", so Max Horkheimer (250) in seiner Studie zu Montaigne, „hat niemand recht, es gibt kein Recht, sondern Ordnung und Unordnung." Montaignes Festhalten am Bestehenden, wie dies aus derselben Analyse deutlich hervorgeht, resultiert also nicht aus ideologischen, sondern primär aus pragmatischen Überlegungen. „Die Menschen handeln nicht aus absoluten Einsichten heraus, die es gar nicht gibt, sondern zumeist aus Vorurteilen und Gewohnheit. Da keine Ansicht einen Vorzug vor der anderen hat, so ist es auch niemals ratsam, den gegebenen Sitten und Einrichtungen entgegenzuwirken." (Ebd., 242)13. Horkheimer (ebd.) bringt es dann auf die allgemeine Formel, wenn er folgert: „In der Praxis bedeutet die Skepsis Verständnis für das Hergebrachte und Mißtrauen gegen jede Utopie." Diese untätige Skepsis läßt Montaigne suspekt erscheinen, ist aber als epistemologische Konsequenz erklärbar. Das ist die eine politische Dimension eines solchen Skeptizismus. Die andere Sichtweise bringt Montaigne in Gefahr, weil er seinerseits gefährlich wird. Denn die negierte Wahrheitserkenntnis impliziert Kritik an jeder Form von Dogmatismus. Ohne in den politischen Status quo eingreifen zu wollen, wird der Wahrhaftigkeitsanspruch der Machtelite - und somit ihre Legitimation - in Frage gestellt (vgl. auch Lüthy; Friedrich). So sehr er sich gewählt und diplomatisch ausdrückt, so sehr fällt er nicht zurück in eine unverbindliche Sprache, die eher geeignet ist, die wirklichen Zustände zu vernebeln denn zu durchleuchten. Solche Authentizität in Denken, Sprache und Lebensweise eines Menschen, der freilich nicht an der historischen Realität und Notwendigkeit seiner Zeit vorbei lebt, vermag vielleicht die Frage nach Montaignes zeitloser Aktualität zu beantworten. Universität Ljubljana LITERATUR Adorno, Theodor W. „Der Essay als Form." Gesammelte Schriften. Ed. Rolf Tiedemann. Unter Mitw. Von Gretel Adorno.... Bd. 11. Noten zur Literatur. 4. Aufl. - Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996. Burke, Peter. Montaigne zur Einführung. 2., Überarb. Aufl. - Hamburg: Junius 1993. Friedrich, Hugo. Montaigne. Zweite, neubearb. Aufl. - Bern; München: Francke 1967. Haas, Gerhard. Essay. - Stuttgart: Metzler 1969. _. „Essay." Ricklefs, Ulfert (Ed.). Fischer Lexikon Literatur A-F. - Frankfurt a. M.: Fischer 1996. Horkheimer, Max. „Montaigne und die Funktion der Skepsis." Gesammelte Schriften. Eds. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid-Noerr. Bd. 4. - Frankfurt a. M.: Fischer 1988. Lukäcs, Georg. „Über Wesen und Form des Essays: Ein Brief an Leo Popper." Ders. Die Seele und die Formen. Essays. Sonderausgabe. - Neuwied; Berlin: Luchterhand 1971. Lüthy, Herbert. „Dass man bei Montaigne nicht suchen soll, was er nicht hat." Der. (Übers.):&.sa/.s Montaigne, Michel de. Essais. Auswahl und Übersetzung von Herbert Lüthy. - Zürich: Manesse 1953. 13 Auf die Ursachen und Funktionen des religiösen und politischen Konservativismus bei Montaigne geht Friedrich (105 ff.; 183 ff.) detailliert ein. 75 _. Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. - Frankfurt a. M.: Eichborn 1998. Nietzsche, Friedrich. „Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher." Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Eds. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. - München (et al.): Dt. Taschenbuch-Verl, (et al.) 1980. Rohner, Ludwig. Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. - Neuwied; Berlin: Luchterhand 1966. Schlaffer, Hannelore. „Der kulturkonservative Essay im 20. Jahrhundert." Dies./Heinz Schlaffer. Studien zum ästhetischen Historismus. - Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975. Schon, Peter M.: Vorformen des Essays in Antike und Humanismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Essais von Montaigne. - Wiesbaden: Steiner 1954. Weissenberger, Klaus. „Der Essay." Ders. (Ed.). Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. - Tübingen: Max Niemeyer 1985. 76