jjSSŠS; i 7-1 1H PRAKTI8CHE PHILOSOPHIE. EIN HILFSBUCH FUB OFFENILICHE UND PRIVATE ERZIEIIUNG. VON D R JOHANN PAJK. Wien. In Commission bei Carl Konegen 1899 . I .. Von demselben Verfasser sind bisher folgende philo- sophische und padagogische Schriften erschienen: Principien der Newton’schen Forschungsmethode. Briinn 1880. Jžfrundsatze der wissenschaftlichen Forschung Briinn 1882. Ueber einige psychophysische Elemente der Padagogik. Briinn 1885. Zum Propaedeutikunterrichte. \Vien 1886. Zur Theorie der menschlichen Nachahmungen. Psycho- logische Studie. Briinn 1887. Platon’s Metaphysik im Grundriss. Wien 1888. Zur Gymnasialreform. Wien 1890. ^.Sallust als Ethiker. Wien 1896. Praktische Philosophie. Wien 1896. Ausserdem viele philosophische Recensionen, bes. in der ,Zls. f. d 6. G.‘ PRAKTISCHE PHILOSOPHIE. ~l j < U^(_ VON D B - JOHANN PAJK. Wien. In Commission bei Carl Konegen. 1899 . /'"/'O// 1142U Buchdruckerei »Reichswehr« G. David & A. Keiss, W ien. InMIsverzeicImis. Vorrede. Einleitung .... Erster Abschnitt InductionundErklarung derBegriffe Han deln, praktisch, sittlich und praktische Philosophie . Analyse des Begriffs Handeln. Die Sittlichkeit und ihte Beziehungen . Das in der Menschennatur enthaltene Sittengestz . Das in der Aussen natur enthaltene Sittliche. Begriff der sittlichen P f 1 i c h t und V e r- pflichtung. Die praktische Sittlichkeit oder der ethische Charakter . Topik der Tugenden und La st er . . W i 11 e und Willensfreiheit . . . . Zurechnung und Verant\vortung . Der s i 111 i c h e C o n f 1 i c t. Seite III 1 6 19 26 40 77 99 122 138 IGO 168 175 Berichtigungen, 2 Zeile 5 v. o. 5 , 12 „ „ 10 letzte Zeile 34 Zeile 25 , . 36 , 12 1 I 69 (Anmk.) 138 Zeile 11 , „ lies Fouillže „ in Frankreich. „ Dantec. „ in der. „ Hartmann. „ Spencer. , zuriick — Vorrede. Auf das Studium der Philosophie wurde ich durch einen machtigen inneren Drang gefuhrt. Diesem folgend, liess ich mich im Jalire 1878 in die philosophischen Vorlesungen des Professors Alois Riehl — gegenwartig an der Universitat in Kiel wirkend — einschreiben. Er war mir Lebrer und Ereund zugleich; durch haufige, mir stets bereitwillig gewahrte Riicksprache mit ihm wurde ich in die wichtigsten Zweige der Philosophie eingefuhrt. Daher widme ich ihm hier ein Gedenkblatt treuer, freundschaftlicher Erinnerung. Einmal in diese AVissenschaft eingefuhrt, ftihlte ich bald das Bediirfnis, mich in derselben auf die eigenen Eiisse zu stellen. In der „philosophischen Gesellschaft an der Universitat in Wien l< machte ich mich mit den Fort- schritten der philosopliischen Untersuchungen bekannt. So entstand durch aussere Einfliisse, mehr aber noch durch Lectiire und eingehendes Nachdenken diese Schrift. Sie ist das Ergebnis vielfacher ethischer Analysen. In der E t h i k vereinigen sich die verschiedensten Zweige der menschlichen Erkenntnis: das gesammte theo- retische AVissen und der gesammte Umfang des praktischen Lebens, von seiner inneren oder geistigen Seite betrachtet. Aus dieser ihrer Eigenschaft wird es erst begreiflich, wie 'Spinoza dieselbe zur Philosophie selbst erheben konnte. Diesem ihren AVesen suchte ich in der vorliegenden Schrift sowohl durch eine Erklarung der ethischen Principien als auch durch synthetische Anwendungen derselben auf die Praviš gerecht zu werden. Im Bestreben, eine moglichst ausgleichende Bearbeitung dieser beiden Theile, und zwar in ihren Hauptumrissen zu bieten, musste ich von der Aus- fiihrung einiger Partien der Ethik absehen, wenn ich nicht ein AVerk in Banden schreiben wollte. So liess ich die vielfach lolmende Erorterung der sociologischen Principien, welche heutigentags die AVelt bewegen, ebenso die Be- ziehungen der Ethik zum Recht^ woruber ich rnich bereits in zwei friihe r gedruckten Abhan dlungen ausge- sprochen habe, beiseite nnd beschrankte mich anf ge- legentliche Bemerkungen iiber dieselben. Bei der Abfassung dieser Schrift genugte es mir nicht, meine eigenen Ergebnisse mitzutheilen, sondern ich -volite dem Leser auch Hhrveisungen anf die Ansichten Anderer, welche mit den meinigen iibereinstimmen oder ihnen entgegengesetzt sind, geben. Allerdings musste ich auch diese Umschau anf das Notlnvendigste beschranken. Von den AVerken und Schriften, die von mir bei dieser Arbeit zu Rathe gezogen vmrden sind, habe ich einige hier nicht ausdriicklich angefuhrt, andere werden ofters erwahnt. So z. B. habe ich von den zahlreichen Schriften, die sich anf die Ethik des classischen Alter- thums beziehen, nur bei den Untersuchungen specieller, detaillierter Pragen, welche frir das System von AAhchtig- keit sind, die betreffenden Stellen citiert, wenn es mir zur besseren Beglaubigung des im Texte Bemerkten erspriess- lich schien. Hieher gehoren auch die alten Classiker selbst. Die ethischen AVerke des Mittelalters bieten wenig Originelles und in der That Neues, von dem ein wissen- schaftlicher Umschwung der Ethik zu erwarten ware. Namentlich die theologisch-ethischen „Schulfragen“, vvie sie Jodl in seiner „Geschichte der Ethik 1 ' nennt, liess ich unberiihrt. Erst von dem Zeitalter der erwachenden Wissenschaft an werden die Versuche einer Neubegrtindung der Ethik anregend und lehrreich. Daher beziehen sich meine Citate haufig anf die AVerke Descartes’, Leibnitz’s, Locke’s, Hume’s, uberhaupt der Philosophen und Ethiker der Renaissance und ihrer Poleezeit bis auf Kant selbst. Dies sind in der That Schriften, -vvelche ihrern AVer te nach den Quellemverken der alten Classiker gleichkommen. Diesen schliessen sich zahlreiche Schriften englischer, franzosischer und deutsclier Ethiker an, welche bis zum Neuaufbau der Philosophie in der Glegenvvart reichen. Enter diesen scliienen mir Gonite, Schopenhauer, Herbart besonders beachtenswert. Von den Autoren der jiingsten Vergangenheit nnd der Gregenwart nenne ich bier solche, die siclr eine Gresammtbearbeitung der Ethik zur Aufgabe stellten, wie Herbert Spencer, "VVundt, Paulsen, G-utberlet, sowie jene Philosopken, ivelche sich in iliren Schriften zwar nicht ausschliesslich mit den Principien der Ethik befassen, aber wichtige Aufklarungen liber dieselbe bieten. Dahin gehoren z. B. J. St. Mili („Logik u ), Maudsley („Physiologie nnd Pathologie der Seele 11 ), Al. BAehl („Der philosophische Kriticismus“), H. Spencer („System der svnthetischen Philosophie“) u. A. Am Ende erwahne ich noch einige ethische Special- schriften, die ich besonders eingehend verglich, und zwar: Diihring („Wert des Lebens 11 ), Lombroso („Der Ver- brecher“), Masaryk („Die sociale Prage 41 — Socialni otazka), Paulsen (»Ethik 11 ), Eee („Die Illusion der Willens- freiheit 11 ), H. Spencer („Die Thatsachen der Ethik 11 ), Stein- thal („Allgemeine Ethik 11 ), Wallaschek („Ideen zur prakti- schen Philosophie 11 ), Wundt („Ethik“). Damit ist jedoch die Eeihe der von mir beniitzten und verglichenen Schriften liber die praktische Philosophie nicht geschlossen; es miissen auch die mitunter hochst wertvollen Abhandlungen, ivelche in den verschiedenen philosophischen Zeitschriften, namentlich deutschen, franzo- sischen, englischen, amerikanischen und anderssprachigen enthalten sind, in Anschlag gebracht werden, ivelche mir nebst den erwahnten Werken den Stoff zum Aufbau des hier in Umrissen aufgezeichneten ethischen Systems ge¬ li e f er t haben. Wien, im October 1898. Dr. Johann Pajk. ' Einleitung. Quae homines arant vavi- gant aedificant, virtuti omma par eni. Sallust. Cat. 2, 7. Die Thatsachen, welche unter die Gemeinvorstellung des Sittlichen ode r Moralischen fallen, sind durch den Glauben von Jahrhunderten, sogar Jahrtausenden als solche anerkannt. Anders steht es mit dem obersten Princip der Moral : das- selbe ist wandelbar, und keine Zeitepoche, die uns historisch bekannt ist, hat mit Einhelligkeit an einem und demselben moralischen Principe festgehalten. — Woher dies ? — Aus der nattirlichen Folge alles analytischen Denkens : man kann von gegebenen Erscheinungen ausgehend zu immer hbheren Ursachon derselben aufsteigen, allein es werden selten zwei Forscher bei denselben Ursachen ebenderselben Erscheinungen stehen bleiben. Bekanntlich ist es leichter, von den Ursachen zu deren Erscheinungen, als von den Erscheinungen zu deren Ursachen zu gelangen. Doch, hat man es durch Analyse zu einer hbchsten Ur- sache gebracht — am besten geschieht dies durch Zerlegung jeder einzelnen fur ethiscli erklarten Erscheinung in deren psychische Elemente — , so taucht sofort ein neues Problem auf, ob denn alle iur sittlich erklarten Erscheinungen in der That nur einer Quelle entstammen. Es ist namlich mehrmals der Zweifel erhoben worden, ob sich wohl alle Formen des sittlichen Lebens, wie z. B. die Wahrheitsliebe, das \Vohl- w.ollen, die Gerechtigkeit, die Keuschheit u. s. w. auf eine / einzige ethische Formel zuruckfuhren lassen. Die Skeptiker ' verneinen es ; im vorliegenden Werke dagegen wurde ein union isti scher Versuch gemacht. 1 2 Einleitung. Doch weniger Berechtigang hat der ethische Pyrrhonis- mus, der alles Sittliche als in die blauen Liifte gebaut an- sieht und seine Augen vor der ungeheuren Macht desselben zu verschliessen sucht ; freilich vergebens. Mit Recht zahlt der franzosische Moralist und Forscher Feuillee schon den ethischen Skepticismus unter die Uebel. Ebenso unbillig wie der absolute ethische Skepticismus ist die Forderung, dass die aufgezeigten ethischen Gesetze den Menschen mit Gewalt zum Guten ziehen sollen. Solches vermogen selbst die drakonischesten Gesetze nicht. Immer \vird die Erfiillung der sittlichen Pflichten von der Einsicht j und dem guten Willen der Menschen, nicht v or). einem ausseren ( Zwange abhangen. Dass sittliche Einsicht und eine gute moralische Er- ziehung gegeniiber dem Schlechten machtlos seien, ist der schadlichste Irrthum. den die sogenannten Jung-Ethiker er- sinnen konnten. Wenn einmal die Einsicht nicht hilft, dann war sie eben ein Schein und keine wirkliche und wahr- hafte Einsicht. Scheinwissen gibt es bekanntlich mehr als wahres Wissen. Gerade weil wahre Einsicht so selten ist. daher das Vorurtheil, dass die Einsicht in sittlicher Beziehung nutzlos sei. Allein, wer das lebendige Gefiihl und die sichere Ueberzeugung gewonnen hat, dass das sittlich Schlechte das grosste Uebel. die Tugend aber den grossten Segen fiir die Welt bedeutet. der kann gegen das Moralische auch unmog- lich gleichgiltig bleiben. Wissen und Einsicht streuen im sittlichen Leben, wie auf jedem Gebiete der menschlichen Thatigkeit, unzahligen Sarnen des Gliicks und der Wohl- fahrt aus. Freilich gehort dazu. dass der Same in nahrende Frucht aufgehe. Da jedoch die Menschen alle Arten von Šport mehr lieben als niitzliche Arbeit und eine wirklich preiswiirdige An- strengung ihrer Krafte, darum erscheint die moralische Arbeit in ihren Augen als ein unfruchtbares, wo nicht ein veracht- liches Beginnen. Die Ethik erheischt namlich nicht blos eingehende theoretische Bearbeitung, sondern auch unerschrockene prak- tische Anwendung. Nichts ist ihrem Zwecke schadlicher, als 1 dass man sie lediglich fiir eine descriptive Wissenschaft an- 1 sehe. Fiir ihre Zwecke ist zu wenig gethan, wenn. Theo- ' retiker die verschiedenen Handlungsweisen der Menschen deuten, erklaren und auf Griinde zuriickzufiihren suchen. j Vielmehr ist es geboten, dass sie auf den Plan des offent- l.lichen Lebens hinaustreten, die Folgen des Guten und Schlechten schlagend nachweisen und die Anwendung der Einleilung. 3 gefundenen Principien nicht bloss fiir das private, sondern auch fiir das gesammte Leben energisch urgieren. Gerade das offentliche, namentlich das sociale Leben bedarf der Moral, damit es nicht verwildere. Die Irrlehre Schopenhauer’s, dass die Ethik rein theo- retischer Natur sei und der Praxis zu entbehren habe, ver- dient nachdriicklich bekampft zu werden. Dies sind die Beweggrunde, welche mich bel der Ab- fassung des vorliegenddn Werkes geleitet haben. Um dieselben moglichst deutlich hervortreten zu lassen, habe ich mich absichtlich grosserer Ausfiihrlichkeit beflissen, indem ich um dieses Zweckes willen lieber nicht vor Wieder- holungen oder Umschreibungen desselben Gedankens zuriick- scheute, als dass ich dunkel und unverstandlich wiirde. Darum bilden die einzelnen Abschnitte des Buches jeder fiir sich eine Art Ganzes. Was nun das vorliegende ethische System als solches anlangt, so dtirfte vielleicht Mancher. der mit den ethischen Problemen vertraut ist, die Grundidee barock finden, gegen-, wartig — fin de siecle — das Sittliche auch in der Aussen-J natur suchen zu wollen. da dieses einzig in der Menschen- natur, wie schon der Name Ethik es besagt, liegen konne. ■ Darauf erwidere ich zunachst, dass das Sittliche nach meiner Ueberzeugung sowohl im menschlichen Wesen als auch in der Aussennatur residiert. Mir ist wohl bekannt, dass die. gegenwartig vorherrschende ethische Richtung die sociolo- gische ist. derzufolge der ethische Mensch ganz im socialen, Menschen aufgeht. Die saci0logisehe-~Str6mung ist heutigen- tags so machtig, dass ihr gegeniiber die individual-ethische ganzlich zurucktritt. Doch frage ich: hat ein auf eine ein- same, herrenlose Insel verschlagener Schiffer, \velcher ein isoliertes Leben zu fuhren gezwungen ist, noch irgendwelche ethische Vorschriften anzuerkennen und zu befolgen ? — Ich antworte darauf: wofern er atrf seine Rettung und Erhaltung nicht verzichten will, wird er sowohl gegen sich selbst als auch gegen die Aussennatur Riicksichten der Pflicht und Klugheit zu beobachten haben. Ein solches Benehmen aber fallt bereits unter die Gemeinvorstellung des Sittlichen. Neben der sociologischen Ethik diirfte die nachststarkste die biologische ^ein, als deren bedeutendster Anwalt wohl Herbert Spencer gelten kann. Sie zieht sowohl den socialen als den individualen Menschen in Betracht und hat somit ein freieres Feld als die streng sociologische. Allein die Ur- theile iiber Spencers und Maudsley’s Richtung lauten, mindestens in Deutschland, minder gunstig. Ich berufe mich 4 Einleitung. dabei auf W. Wundt’s und. Alois RiehFs Urtheil. Selbst die scheinbar glanzende Vertretung der biologischen Richtung durch Lombroso’s imposantes Material konnte mir nicht vollen Glauben an dieselbe abge\vinnen. Lombroso’s und De FerrFs Darstellungen des Verbrechens hat iibrigens in Italien selbst hochst scharfsinnige \Viderlegungen hervorgerufen. Ich erwahne nur eine der jiingsten: Bernardino Alimena’s bedeutende Schrift iiber die Zurechnnng. In \vohlthuender Weise gesellt sich in Frankreich zur biologischen die psychologische und metaphysische Richtung. Besonders hervorragend sind die Werke und Abhandlungen Feuillee’s, denen sich Detailforschungen von Gaston Richard und Fr. Paulhan an die Seite stellen. .Inn g-Amer ik a neigt entschieden der naturalistischen und empiristischen Richtung zu. Doch nimmt man bei der Lectiire dieser Schriften mit einigem Bedauern wahr, dass die selir emsigen amerikanischen Ethiker nicht mit voller Energie an der begonnenen Ankniipfung an die deutschen und englischen Forschungen festhalten, sondern eigene, anderwarts iiber- wundene Wege einschlagen. In der neuesten deutsche n Ethik finde ich einen Weg eingeschlagen, der sich, wie ich hoffe, neben dem psycho- logischen und sociologischen behaupten wird. Dies ist der von Raulsen betretene. Es liegt in Paulsen’s Ethik ein entschieden metaphysischer Zug. Man wirft, wie ich sehe, Paulsen’s Ethik vor, sie bleibe etwas auf der Oberflache und lasse ihre Tiefen mehr errathen als sehen. Ich moclite dem noch hinzufiigen, dass ich an mehreren Stellen seines Werkes einigen Unentschiedenheiten begegne. Paulsen hat ein Juste- Milieu von Principien zugelassen und daher manches zu wenig kraftig hervorgehoben; allein Paulsen’s und A. RiehFs ethische Anschauungen haben mich am meisten angemuthet. Noch Eines sei mir erlaubt zu bemerken : ich Ande bereits bei Richard Cumberla nd, welcher 1672 sein Werk De legibus naturae zu Ende schrieb, und den die englischen Kritiker von heutzutage den „Vater des Utilitarismus “ nennen. eine Verquickung von sociologischen und metaphysischen Principien. Indes wiegen letztere Principien ganz ent¬ schieden vor. Ich gestehe, dass mir in CumberlamFs Systern Vieles acceptabel erschien. Doch genug der Vorbemerkungen ; nur ein kurzes Schluss- wort sei mir noch gestattet. J Meine Ansicht in Betreff der Behandlung der Ethik ist die: eine conventionelle Unterlage derselben geniigt keinesfalls. Poli die Ethik mehr sein, als eine Darstellung conventioneller Einleitung. 5 Formen des gesellschaftlichen und geselligen Lebens der Menschen, so muss sie von den rein utilitaristischen Maximen losgelost und auf Grundsatze, die aus der Naturbetrachtung zu holen sind, gestellt werden. Diese Grundsatze miissen jedoch den Begriff des Sittlichen erschopfen, ihm daher eine universelle Bedeutung geben. Die Geschichte der antiken und auch jene der englischen Ethik, vom 16. Jahrhundert an bis herauf in unsere Zeit, zeigt uns klarer und instructiver als jede andere die immer weiter sich verzweigenden Entwick- lungsgange, die eine rationelle, von religiosen Bedenken sicli loswindende Ethik bei einem freien Volke einschlagt. Von Gharron. dem Urheber der rationalistischen Moral in England, an tiber Hobbes und dessen zahlreiche Gegner, die Intellec- tualisten, Naturalisten, Metaphysiker und Empiristen heraut' bis auf die Zeit Spencers und Stephen’s fiihrt die ethische Forschung fortwalrrend liber extreme und einseitige Pfade. Es heisst nun nicht eklektisch, sondern systematisch sein, die speciellen Wege zu einer Gesammtmethode zu verbinden. An etwas Aehnliches scheint schon J. H. Fichte gedacht zu haben, indem er das Moralische fiir etwas vielfach Zusammengesetztes und sogar Kiinstlerisches erklarte. Die Kunst einer Losung desselben besteht nun. wenigstens meiner Meinung nach, ausser in einer genauen psychologischen Analyse der ethischen Erscheinungen in der Anwendung noch eines Mittels, welches in keiner noch so concreten Wissenschaft entbehrt werden kann. namlich des metaphysisch eii Intearrals . Als ein solches aber ist selbst der einfachste Begriff anzusehen, auf den die analytisch gefundenen Elemente gebracht werden miissen. Zum Schlusse bemerke ich noch, dass ich auf K5nt’s Ansichten besondere Riicksicht nahm. Dazu bewog mich nicht bloss die grosse Verehrung fiir diesen Mann, der tiber die griissten philosophischen Probleme auf das griindlichste nach- dachte. sondern auch das ausgezeichnete Verdienst, welches sich derselbe fiir die praktische Philosophie envorben hat. Und wenn ich auch nicht iiberall den Resultaten dieses grossen Denkers beistimmen konnte, den die Spateren nicht an Geistes- \ tiefe. sondern mit Hilfe der Alles iiberholenden Zeit an \Vissen hinter sich gelassen haben. so hielt ich es doch fiir eine hochst preiswiirdige Aufgabe, dieselben zu priifen und wo niithig zu widerlegen. Kant zu ■ verstehen und vollends zu widerlegen halte ich fiir ebenso schwierig, als fiir das Kennzeichen eines grtindlichen Versuehs. in den Geist und das Studium der Philosophie einzudringen. ’ Erster Absehnitt. Induction und Erklarung der Begriffe handeln, praktisch, sittlich und praktische Philosophie. tDie grosste Schwierigkeit bietet jeder Wissenschaft die Aufflndung des richtigen Ausgangspunktes, um von dem- selben aus zu einer verlasslichen Definition ihres Hauptbegriffes zu gelangen. Hat man einmal den Hauptbegriff gefunden, dann kann man durch dessen Analyse Einsicht in den gesammten Inhalt und Umfang einer Wissenschaft gewinnen. In unserm Falle- handelt es sich also um den Hauptbegriff, auf dem die Wissenschaft der praktischen Philosophie begriindet werden soli. Diesen Begriff werden wir am besten finden. wenn wir von jenen Vorstellungen ausgehen, welche mit dem Ausdrucke handeln verbunden sind. Handeln nun heisst, wie die Erfahrung lehrt, seine leiblichen und geistigen Krafte auf die Erreichung bestimmter Ziele richten. — Dem Handelnden schwebt irgendein bestimmtes Ziel vor, das er erreichen mochte, und um dies zu konnen, fiihrt er eine Reihe psychischer und pliysischer Bewegungen und Anstrengungen aus. Die einzelnen Stationen eines solchen Bestrebens bezeichnet man mit dem Worte Handlungen. In \Virklichkeit ist jede Handlung ein Complex vieler Bevvegungen, welche nur durch deren einheitliches Ziel als ein einfacher Act erscheinen. Es wird sich spater Gelegenheit finden, das Handeln einer Analyse zu unterziehen. In die Sphare des Handelns nun fallt der Begriff pr ak¬ tisch. Zur Erkenntniss desselben werden wir am besten durch eine Betrachtung der verschiedenen Arten des Handelns gelangen. Wir finden namlich drei Formen desselben: ein Arten des Handelns. 7 durch zufallige Motive bestimmtes, ein planmassiges d. h. vollbewusstes und wohliiberlegtes, endlich ein auf alle gleichartigen Falle berechnetes d. h. grundsštzliches Handeln. In allen drei Formen konnen zwar dieselben bestimrnten Ziele und Zvvecke des Handelns angestrebt vverden, doch ist die Methode der Erstrebung in allen dreien eine grundver- schiedene. Im ersten Falle bestimmt den Handelnden der Zufall. im zweiten ruhige Ueberlegung, im dritten ein fester Grundsatz, der zur zweiten -Natur wird und in Gewolmhei%" iibergeht. Nun aber lassen sich die Menschen bei ihren Ha.nd- lungen zumeist durch zufallige, entweder aussere oder von innen kommende Motive, z. B. durch die Reden und Beispiele Anderer, durch plotzliche Einfalle, durch Furcht und andere Affecte bestimmen; die \Venigsten lassen sich von Grundsatzen, z. B. von Rticksichten der Nachstenliebe, Gerechtigkeit. Ent- haltsamkeit u. s. w. leiten. — In einigen Fallen verbindet der Handelnde plotzlich ihm beifallende Motive mit ruhiger Ueber¬ legung, aber nicht, weil Ruhe und Ueberlegung bei ihm zu einem Grundsatze oder einer Gewohnheit des Handelns ge- worden sind, sondern weil er in einem bestimrnten Falle aus besonders lebhaftem Interesse alle seine Gedanken und Bewe- gungen auf die Erreichung eines ihn beschaftigenden Zieles gerichtet hat ; sonst pflegt er leichtsinnig und unbedacht zu handeln. — Man ersieht aus den verschiedenen Methoden die Stellung des Willens gegeniiber den Motiven: bei dem zufalligen Handeln erscheint der Wille pas siv, bei dem grund- satzlichen activ und wahlend, bei sporadisch planmassigem Handeln aber ist derselbe schwankend, bald passiv, bald wieder activ. Letzteres ist im Leben rneist der Fali, da das Gemtith etwas Unbestandiges, Unregelmassiges, Unberechen- bares, und nur in seltenen Fallen etwas Festgewordenes, Unerschiitterliches, Consequentes, Actives darstellt. Das Psy- chische ist eben flottanter Natur. Nun wiirde nichts natiirlicher scheinen, als das Prak- tisclie, dessen Begriff wir suchen, dem grundsatzliehen Handeln zuzuweiseri, da dieses jenes Merkmal des Gesetz- miissigen an sich tragt, das ja die Wissenschaft so sehr an- strebt und sucht. Denn ein gesetzmassiges Thun und Schaffen. kurz ein gesetzmassiges Erscheinen lasst sich am besten berechnen, fassen und begrifflich verarbeiten. In der Ethik als einer Wissenschaft, die also auf Erforšchung eines Gesetzmassigen ausgeht, wiirde dieses doppelt willkommen sein, erstlich, um begrifflich dargestellt, da.nh um als Muster oder Ideal des menschlichen Handelns aufgewiesen zu werden. Etvvas Ideales stellt jede \Vissenschaft auf, mag sie sonst die 8 Erster Abschnitt. realste sein. Wurde es also im Ethischen bloss auf das Wie oder das Formale des menschlichen Handelns ankommen, so wiirde dasfgrundsatzliche oder mit Kant gesagt, das gesetz- massige Handeln schon ein ideales sein. und wir hatten bereits den Begriff des Praktischen gefunden. — Allein so einfach liegt die Sache nicht. Bedenken erregt schon der Umstand, ^dass jene formalen Eigenschaften am Ergebnisse der That oder an der Qualitat ihres Objectes nichts andern, hochstens dass sie einen graduellen Unterschied der Betheiligung des .Sub- jectes an derselben bestimmen. Eine Wohlthat z. B. verliert nichts von ihrer Qu a lit at. ob sie aus einem plotzlichen, an sich edlen Impulse des Gemiiths, oder aus einer plan- massig eingeleiteten Wohlthatigkeitsaction, oder aus einem Grundsatze. etwa dem der Humanitat hervorgeht. mag man auch die stationare oder grundsatzliche Gesinnung des Wohl- thuns hoher schatzen als den unerwartet und ohne vieles Nachdenken ausgefiihrten Antrieb zu einem wohlthatigenWerke. Das mag fraglich sein. Ebenso bleibt der Todtschlag eine un- lobliche, verruchte That, ob er nun aus Jahzorn, oder aus kalt tiberlegender feindseliger Gesinnung, oder aus grund- satzlicher Mordgier hervorgegangen ist. Nur an dem Grade seiner Scheusslichkeit wird man etwas zu beurtheilen haben, sei es, dass man ihn heftiger tadelt, sei es, dass man ihn zu mildern ftir gut findet; allein kein Mensch, der sittliches Urtheil besitžt, wird das Wohlthun und den Todtschlag in eine Kate- gorie von Handlungen stellen. weil beide formal in gleicher Weise, etwa aus Ueberlegung, ausgefuhrt wurden. Der Grund dieses verschiedenen Urtheils liegt also nicht blos im Formalen der That, sondern v lelmehr in deren Objecte und deren F o 1 g e n. dann in der Gesinnung und in den Motiven des Handelns, endlich in den M i 11 e 1 n d. h. Zwischen- actionen. welche zur Erreichung des Zieles — Objectes — fuhren. Das sind die fiinf wichtigsten Seiten einer Hand- lung, welche bei der W e r t b e s t i m m u n g des Praktischen in Betracht kommen. In den obgenannten Eigenschaften des Handelns ist nun der Begriff des Praktischen zu suchen. Dieses milssen wir mit dem Inhalte und der Qualitat einer That in Ver- bindung setzen. Der Inhalt einer That oder dessen Qualitat fiillt unter den Begriff des S i 111 i c h e n oder Moralischen. Und so gelangen wir vom Begriffe des Praktischen d. i. des Handelns zum Begriffe des Sittlichen, welches wir naher zu bestimmen haben. Die Anforderungen. welche man an die Beschaffenheit einer That und ihrer Folgen. an die Gesinnung der handelnden Das Praktische cin Sittliches. 9 Person und an die Qualitat der Zwecke and Mittel deš Handelns stellt, betreffen ein ubereinstimmendes, gemein- sarnes Merkmal der genannten Acte und Eigenschaften, nam- lich dass sie an sich loblich. in jeder Beziehung wertvolI und stets anstrebenswert seien. Alle diese Eigenschaften kann man mit dem einen \Vorte sittlich gut bezeichnen. Sind jene Eigenschaften das. dann werden sie nach einer allgemein - menschlichen Vorstellung fiir sittlich oder mo r al i s c h erklart. So fasst namlich eine althergebrachte Vorstellung die Bedeutung des Sittlichen auf, an die \vir an- kniipfen mussen.‘| Nun muss das Sittliche, um ein so Wert- i volles zn sein, der Anforderung entsprechen. dass es im S ein t der Dinge d. i. in der Welt begriindet. also ein obie c- ti ves sei. Denn nur was im Sein der Welt enthalten ist, gibt einem Dinge wahren Wert. Den Wert aber, der im Sein liegt und aus dem Sein folgt, erhalt jedes Ding aus dessen Eignung fiir den caus ativ en Zu sammen hang aller Ding e.-. Das Wort c a u s a t i v , eigentlich beschuldigend, nehme ich hi er nicht in dem Sinne von „causal“ d. i. den Zusammenhang der Dinge und ihrer Existenz durch Noth- wendigkeit und Zwang bedingend, sondern durch \Vohl- meinung und Beihilfe fordernd, also nicht durch die necessitas causandi, sondern durch das benevolen tia.e.causa. sublevando,. Das Praktische als ein Sittliches bedeutet so- nach eine Verbindung der objectiven Sittlichkeit mit der Gesinnung des handelnden Dings, in dem sich. dessen Wille und Tiichtigkeit fiir das allgemeine Wohl oder fiir den cau¬ sativen Zusammenhang der Dinge ausdruckt \— Dies bedart' einer weiteren Auseinandersetzung. \velche im Nachfolgenden versucht \verden soli. Alle Dinge der Welt — so schliessen wir aus dem Umkreise unserer Erfahrung — stehen unter einander nicht bloss in einem rein mechanischen d. i. causalen. sondern auch in einem causati ven d. i. zweckfordernden Zusammen- hange, indem sie nach ihrer Beschaffenheit und Natur, in hoherem oder minderem Grade, fordern d ode r hemme nd auf ^ einander wirken. Es ist damit unserer Annahme nach im Grossen gerade so oder doch ahnlich als im Kleinen, sagen wir in der menschlichen Gesellschaft. Wir alle wissen es aus der Erfahrung. dass es innerhalb der Gesellschaft Menschen gibt. '1 S triimpell: Vorschul. d. Eth. 1844. S. 8 —9 kennt dreierlei ethische Urtheile: a) »Lob und Tadel, Beifall und Missfallen, Achtung und Verachtung; 6' Zumuthung oder Forderung, Sollen oder Miissen; e) Wohl und Weh, Giiter und UebeL« Erster Abschnitt. 1 t \velche sogar mit Selbstaufopferung die Wohlfahrt der iibrigen Mitglieder sowie des Ganzen fordern, allein ebenso wahr ist es, dass es innerhalb der Gesellschaft auch Individuen gibt, welche die Forderung des Gemeinwohls nnd der Einzelnen thatsachlich und grundsatzlich hemmen und zu hintertreiben suchen. Die Sprache nennt solche Individuen ca til in ari seli e Existenzen. Wenn wir uns in der Thier- und Pflanzen- \velt, soweit uns diese bekannt ist, umselien, so bemerken wir Aehnliches. AVir finden namlich. dass gevvisse Species das Gedeihen der ganzen Gattung oder ilirer eigenen Art entweder fordern oder hemmen, dass die Einen die eigene oder fremde . Gattung entweder propagieren oder aber verkummern und zu- grunde gehen lassen. Und ahnliche Vorgange finden wir im Grossen und Kleinen der Natur, im sogenannten Makro-und Mikrokosmus, was im Nachstehenden gezeigt werden soli. Ich weiss, dass von Lotze, Fechner, Hermann AVolff, Eisler, Paulsen, Feuillee n. A. Versuche gemacht worden sind, Functionen des Fiihlens, Begehrens und AVollens auch in der Aussennatur nachzuweisen. Diese Art Panpsychismus oder Animismus hier zu priden ist nicht der Ort, und es wurde dessen Nachweis flir die Ethik auch nicht von der erwarteten AVirkung sein; denn ich soli hier den causativen Zusammenhang, wie ich ihn nenne, aufzeigen. — Gibt es nun in der Aussen- und Menschennatur eine solche gegenseitige Forderung der Dinge, wie ich sie oben definiert- habe? — leh will einen empiristischen Versuch \vagen. Beweise fur denselben beizubringen. Das Princip der gegenseitigen Forderung der AVohlfahrt liisst sich im Umfange der Aussennatur sowohl an organischen als a n o r g a n i s c h e n Dingen beobachten. Einige Ethiker, darunter Paulsen, machen es zunachst fur die chemischen ■ A^orgiinge geltend. Sie \vollen in der Auswahl derjenigen Stoffe, die sich miteinander zu neuen Stoffen verbinden, ein Bestreben sittlicher Art entdecken. AA^enn gewisse Stoffe auf Sauren, gewisse auf Alkalien reagieren, \venn sich nur bestimmte Stoffe oder nach Mendelejeffs Theorie der natiirlichen, periodischen Chemie nur bestimmte Aequivalente der einen arigenommenen Ursubstanz mit anderen, nur wieder bes ti mm ten Aequivalenten zu neuen Stoffen verbinden oder aber, wie das Argon, alle Verbindungen ablehnen, so kann sich dies nicht aus einem zufalligen, sondern aus einem gesetzmassigen Verhalten der Dinge zu einander erklaren. Ebenso findet in der Auf- saugung oder Ausscheidung von Aussenstoffen durch die Sarkode eines Protoplasrnas — woruber vom Deutschen Verworn und vom Franzosen Dontec neuester Zeit hochst Der Begriff des Sittlichen. 11 belehrende Versuche gemacht worden sind — mehr als eine zufallige Begegnung oder Function primitiver Lebewesen statt. Sollen wir die Lebenserscheinungen im Grossen verstehen, so miissen wir sie bereits im Kleinen nachvveisen oder min- destens voranssetzen, da sich alles Grosse aus Kleinem nnd Kleinstem zusammensetzt. Wir mussen in der PhilosOphie die chemischen und biologischen Forschungen nicht rninder zu Rathe ziehen und veriverten, als die rein logischen und metaphysischen, wenn die Aufgabe der Philosophie vvirklich in der Auffassung und Erkliirung der Gesammtwelt bestehen soli. — Bedeutungsvoller in dieser Hinsicht sind dieErscheinungeii, welche die Kry stallbildung, zunachst die Regeneration der Krystalle betreffen. Ueber letztere Erscheinung sind in neuester Zeit von Dr. Rauber sehr zahlreiche Thatsachen theils gesammelt, theils neu beigebracht worden. *) Darnach kanu ein bis zur volligen Undeutlichkeit verstiimmelter Kry- stall, in eine entsprechende Stofflosung gebracht, seine Eanten nnd Flachen erganzen. Man wird in dieser Verbindung von Stoffen zu festen. bestimmten Formen kaum ein zufalliges, sondern vielmehr ein grundsirtzliches Verhalten der Theile der Materie zu einander zu erblicken hahen. Sicherlich for- dern sich hier die Theile bei ihrer Formbildung, deren Endzweck uns allerdings nicht bekannt ist. — In der bestimmten Flachen- und Gestaltbildung der Krystalle ersehe ich iibrigens ein anderes Moment, das mir 1'iir die Ethik wichtig erscheint. namlich das Bestreben der anorganischen Materie, korperlich abgeschlossene, selbstandige Individualitaten zu bilden, welche — mag die Ursache und der Zweck dieser Bildung welcher immer sein — sich dadurch ihren Bestand wenigstens auf eine ungewisse Zeit zu sichern suchen. Das ethische Gesetz der Individualitat will ich damit hier blos andeuten und an- ktindigen. Was nun das Verhalten der Pflanzen anlangt, so konnen wir an ihnen schon etwas mehr vom sittlichen Bestreben wahrnehmen. Der Pflanze geniigt es nicht, fur ihren individuellen Bestand zu sorgen, sondern sie sorgt auch tiir ihre Species und Gattung, indem sie den Samen bildet und ihre Fortpflanzung auch durch Setzlinge erzweckt. Allein sie ist nicht bloss auf die Erhaltung ihrer eigenen Art bedacht, sondern einige Pflanzen denken auch an die Erhaltung anderer Arten, indem sie unzweideutige Beweise von egoaltruistischer Thatigkeit ablegen. Dies ersehen wir aus der Sy m bi o s e. in ’) Dr. A. Rauber: Die Regeneration der Krystalle. 1895. 12 Erster Abschnitt. welcher gewisse Pflanzen mit einander leben. So stellt jede Flechte ein Zusammenleben von Algen und Pilzen vor, wodurch beide an den Vortheilen der Luft- und zugleich Bodennahrung theilnehmen. Uebrigens gehen Pflanzen auch mit Thieren Symbiosen ein. So leben in der Haut der Siisš- wasserpolypen grtine Algen. Beide Falle sind. wie ich von einem Fachmanne erfahre, keineswegs als Beispiele von Parasitenthum, sondern als Arten eigentlicher Symbiose zu betrachten. deren Zweck in gegenseitiger Existenzforderung liegt. Sonach finden \vir bereits im Pflanzenreiche als einer hoher als die Krystalle organisierten Gruppe von Wesen jene Erscheinungen des geselligen Lebens, die wir in viel mannigfaltigeren Formen in gewissen Thiergattungen an- treffen. Bevor ich jedoch zur Betrachtung dieser iibergehe, darf ich nicht die ethischen Beobachtungen ausseracht lassen, welche Lombroso in seinem Werke „Der Verbrecher" anfuhrt. Lombroso’s Be mlihen geht dahin. die Kennzeichen und Merkmale, die Ursachen und die Umstande der Ver- brechen im Umfange der ganzen Natur aufzuspiiren und festzustellen. Und da glaubt er. auch unter den Pflanzen und Thieren zahlreiche „ Verbrecher“ ausfindig gemacht zu haben. 1 ) Dabei citiert er aus Werken beriihmter Forscher und Be- obachter. wie aus Espinas. Romanes, Ch. Darwin, Brehm und vielen anderen. Namentlich fiihrt Lombroso die von Darwin in dessen Werke ,Insectivorous Plants“ beschriebenen Pflanzen als Beispiele von , Mordern an Insecten“ und als Anzeichen „ eines ersten Aufdammerns verbrecherischen AVesens “ an. Unter diesen Pflanzen hebt er das auch sonst vielfach besprochene „Droserablatt“ oder den „Sonnenthau“ hervor. — Wie ich aus einem offentlichen Blatte ersehe, zahlt man gegenwartig 1'iinf grosse Pflanzenfamilien mit zweiund- dreissig Species von „Insectenfressern“, unter denen die sogenannte Dionaea eine sehr markante Stellung einnimmt. — Was nun Lombroso’s ethische Anschauung in Betreff jener Pflanzen anlangt, so konnen diese von mir nur als negative Instanzen hier benutzt werden. u. zw. in dem Sinne, dass sicli in der Natur thatsachlich \Vesen vorfinden, welche sich zum Principe der Forderung fremder Gluckseligkeit in deut- lich ablehnendem Sinne verhalten. fAUein vorausgesetzt. dass die rauberische Thatigkeit und Intention jener Pflanzen wirklich eine liber alle Zweifel er\viesene ist, so geht daraus fiir eine auf objectiven Grund- ’) C. Lombroso: Der Verbrecher. I. 1887. S. 2 ff. [der deutschen Uebers.] Der Begriff des Sittlichen. 18 lagen aufgebaute Ethik die' Thatsache hervor, dass sich bereits im Leben der Pflanzen eine ethische Willens- thatigkeit aussert, die man gemeiniglich erst an thierischen Lebewesen wahrzunelimen vermeint. Damit aber ist ein Beweis mehr fiir die allgemeine oder objective Giltigkeit des sittlichen, sei es guten, sei es bosen Princips in der Natur beigebracht. Der Begriff des Sittlichen muss dann formuliert werden: als ethisch gelten alle Thatig- keiten in der Natur, aus denen eine grundsatzliche das ist gesetzmilssige Forderung oder Storung selbstandig gestalteter Wesen durch andere Wesen nachweisbar ist. ] — Solches ist dann bei den insecten- fressenden Pflanzen der Fali, gleich viel, ob dieselben ihre genannte Thatigkeit in bewusster oder unbewusster, wenn nur in gesetzmassiger d. h. in einer zu ihrem \Vesen gehorigen, i lin e n e i g e n t h u m 1 i c h e n W e i s e aus- fiiliren und dadurch ihren C h ara k ter kundgeben. Unter den T h i e r e n weisen einige ganz ausgesprochene Ziige von Forderung einer generellen Wohlfahrt auf. Audi liier finden wir die oben erwahnte Sorge fiir die Species und jene Art des Zusammenlebens, welche Symbiose genannt wird. So wohnt die A d a m s i a auf dem vom Einsiedler- krebs (Eupagurus) bewohnten Schneckengehause, u. zw. um als dessen Wachter zu fungieren. Hieher kann man auch das Zusammenleben des Muschelvvachters (pinnoteres) mit der Steck- muschel beziehen. Bekannt und viel besprochen sind die socialen Einrichtungen der Bienenstaaten, ebenso die der Ameisenvolker, denen die alten Ethiker noch das Zu¬ sammenleben der Stbrche beizahlten 1 ). Die socialen Ein¬ richtungen der eben genannten Thiere sind nicht bloss in oko- nomischer, sondern auch in socialer Beziehung hochst interessant, da sie uns die Forderung der gegenseitigen Wohlfahrt einzelner Classen der Gesellschaft, sowie die Erhaltung des Ganzen und der einzelnen Theile in unzweideutiger Weise darthun. Uebrigens zeigen die Bienen nicht bloss sittlich gute, sondern auch , verbrecherische Neigungen", was Lombroso des nahern aus- fiihrt. 2 ) Auch an den Ameisen weist Lombroso „Yerbrechen“ u. zw. Verbrechen aus Habsucht nach. 3 ) Verbrechen und bose Neigungen sagt er verschiedenen Thieren nach, so gewissen Affen, dass sie andere gern qualen, den Pferden Eifersucht, mehreren Thieren Hass und Eifersucht, den Miiusen, Ratten, Kafern, Plechten Cannibalismus, gewissen Pferden Hinterlist, nament- ‘) Cicero: Fin. III § 63. ’) Lombroso: Der Verbrecher I 5. 8 ) 1. c. I 7. 14 Erster Abschnitt. lich den mit gebogenem Stirnbein — au nez busque —. den Elephanten gewisse Abneigungen, den Bibern tiickischen Mord an einsam lebenden Thieren ihresgleichen, mehreren Thieren Rachegefiihl, andern Verbrechen gegen den Geschlechts- trieb, Todtschlage infolge Uebervolkerung, gewissen Thieren Sodomie und so weiter. Doch findet Lombroso an manchen Thieren auch gute Eigenschaften: an einigen Affen Gefiihle der Rene, an vielen Thieren Enthaltsamkeit, allerdings infolge der Furcht vor Strafe, an den Storchen eheliche Treue, aber auch strenge Bestrafung des Ehebruchs an Weibchen, die Unverbesserlichkeit der Katzen u. s. w. — Interessant ist Lombroso’s Bemerkung, dass die „ Verbrechen 11 einiger Thiere ,,in offenem Gegensatze zu den allgemeinen Gewohnheiten der Art stehen c , dass z. B. von 100 Hunden oder Elephanten. deren nur 1 — 2 „schlecht" sind. Man mag in den von Lom¬ broso angefiihrten Beispielen wirkliche „Verbrechen" oder ein- fache Nahrungsbeschaffung erblicken, ein hochst verschieden- artiges Benehmen der Thiere bleibt Factum. Inwieweit der Me n s c h sittlich ist, wurde bereits kurz angedeutet. Bei der Anschauung, dass das Sittliche sich durch die Aussenwelt verfolgen lasst, ist dasselbe kein Pri- vileg. kein eigentlicher Vorzug des Menschen, wofiir es die stoische Ethik ansah, wenn sie die Gotter und Menschen in den Mittelpunkt der Weltinteressen stellte und zum aus- schliesslichen Objecte der sittlichen Betrachtung machte. ‘) Nur weil die praktische Philosophie fiir Menschen geschrieben wird, claher wird das Ethische als ein Humanitares, als ein echt Mensch liches angesehen und fiir ein solches ausgegeben. Allerdings diirfte kein Wesen soviel ethische Anlagen besitzen als' gerade der Mensch, obwohl ihn viele Thiere in einzelnen Tugenden und manche vielleicht gerade. in der Geselligkeit iibertreffen diirften. Dazu noch sind die socialen Verhaltnisse vieler Volker heutigentags wohl noch weit von einem zufriedenstellenden, vemiinftigen Zustande entfernt, und in so manchen Staaten ist es heute noch mit denselben hochst klaglich bestellt, da und dort sogar in einer allen Fortschritten der Civilisation hohnsprechenden \Veise. Solche Zustande konnen nun kaum als Beweise fiir eine ausschliessliche Eignung des Menschen zur Sitt- lichkeit dienen. Wenn wir nun die Welt als ein verniinftig geordnetes Ganzes betrachten und die kleinliche Rolle des Menschen in derselben veranschlagen, so finden wir, dass derselbe nur sich selbst, keineswegs aber der Welt gegen- ‘) So lehrt Chrysippus bei Cie er o: Fin. III § 67. Der Begriff des Sittlichen. 15 liber in sittlicher Beziehung gross dasteht. Dann miissen wir aber auch eingestehen und sagen, er sitze als ein nur sehr bescheidener Gast an dem Tische, wo iiber die Weltinteressen entschieden wird. Wenig begrfindet erscheint mir daher der Ausspruch Steinthal’s. wenn er iiber den sittlichen Wert des Menschen sagt: „Das Ali an sich ist nichtig, wertlos; wenn es aber et\vas ist und wertvoll, so ist es dies lediglich durch uns, durch unsere Sittlichkeit.“ ') — Dies hiingt mit dem beruhmten „Selbstzwecke“ des Menschen zusammen, den besonders Kant betont liat. Wir wissen weder vom End- zwecke der Welt noch des Menschen etvvas bestimmtes; wohl aber wissen wir durch Erfahrung und Nachdenken. dass. wenn der Mensch etwas ist und einen sittlichen Wert besitzt, er diesen nur durbh seinen Anschluss und seinen Zusammen- hang mit der ganzen Welt und in der Accommoda tion an ihre Ordnung erhalt. Wie in unserm Streben nach Wahrheit und Erkenntniss, so sind wir in unserm sittlichen Thun und Lassen an die Natur angewiesen. Wenn wir auf die Entwicklung des Begriffes Sittlich¬ keit zuruckblickcn, so erhalten wirfolgende Definition derselben: Das Sittliche oder M o r a 1 i s c h e s t e 111 den W e r t dar. den j e d e s D i n g im S e i n f ti r die Forderung der tih r i gen Dinge h a t, oder. wie oben bereits gesagt worden ist: das Sittliche besteht in der Eignung. die j e d e s D i n g f ti r d e n c a u s a t i v e n Zusammen- hang aller Dinge der Welt besitzt. — \Vas den Wortlaut dieser Definition anlangt, so wird eine kurze Er- klarung derselben geniigen. Erstlich suche ich den Wert des Sittlichen in einer objectiven Qualitat aller Dinge, nicht in den menschlichen Handlungen allein; zweitens vindiciere ich diese Qualitat dem Sein im Allgemeinen, nicht dem Menschen allein; drittens suche ich diese Qualitat in der gegenseitigen Forderung der Dinge. Alles tibrige zum Ver- standnisse dieser Definition Nothige ist bereits oben gesagt worden und wird noch in den nachfolgenden Abschnitten genauer dargelegt werden. Das Pr a k tische im Menschen setzt sich nun haupt- sachlich aus zwei Elementen zusammen: aus dem oben an- gefiihrten Formal- und dem eben defSnierten Objectiv- Sittlichen. Das Praktische ist das in die Handlungsweise des Menschen iibersetzte und durch dieselbe geiibte Sittliche; es macht sittlich, insofern es in die Handlungen oder in die Praxis des' Menschen iibergeht. Fragen wir uns nun, in- ’) Steinthal: Allg. Ethik 1885. S. 395; vgl. 335—402, 403—413. 16 Erster Abschnitt. wie\veit das im Vorangehenden von mir inducierte Sittliche als eine Forderung des causativen Zusammenhangs der Dinge der traditionellen und iiblichen Darstellung des Moralischen I entspricht. — Das Sittliche. iibergehend in einen habitu- ellen oder stationaren Znstand des Subjects. wirdzumPrak- tischen. Tn dieser Eigenschaft treffen der griechische Ausdruck r,8-s/»o; und der deutsche sittlich iiberein; beide bezeichnen eine in den Charakter eingegangene und dort festsitzende Kraft, das Sittliche auszuuben. Ein solcher geistiger H a b i t u s — Tjih/cr, šjji; — unterscheidet sich vielfach von dem v o r- iibergehenden. ineinzelnenFallendesHandelnsauftretenden sittlichen Urtheil und Entschluss — Stavotz, /.oviigdc-. bildet also einen Bestandtheil oder Fundus des Gemiiths. ■?,&oc, \vie Aristoteles diesen Unterschied auffasste 1 ). Nach Ari¬ stoteles, der die Ausdriicke E t h i k und e t h i s c h zuerst terminologisch angewendet hat, kommt das Moralische nur durch die menschliche Handlungsweise — icpooiT v/Sr, — zustande und macht sittlich. insofern es zu einer Gewohnheit oder einem Habitus. der Person \vird. So \vird nach Aristoteles das Sitt¬ liche lediglich vom Menschen oder eigentlich von dessen Willen abhangig gemacht, wie wenn der Mensch der Schopfer desselben \vare , was eben eine irrthiimliche Auffassung ist: der Mensch hat die Sittlichkeit nicht erfunden. a m wenigsten aber geschaffen. — M o r a 1 i s c h oder e t h i s c h sein heisst nun nach meiner Definition soviel als zur gegen- . seitigen Forderu ng der \Vohlfahrt tauglich sein. und sich in den Dienst der Weltinteressen stellen. Darin besteht nach meiner Auffassung die sittliche Aufgabe des Menschen; denn er ist ein Theil des Ganzen und nnjss als solcher an den Schicksalen des Ganzen theilnehmen. Der Ausdruck pr a k tis c h kommt nun dem Begriffe der menschlichen Sittlichkeit ausserordentlich zustatten. Denn in demselben liegt erstlich die Bedeutung g e s c h i c k t d. i. zum sittlichen Handeln tiichtig, dann thatig und kraftig handelnd, endlich auch w ir k sam d. i. sein Ziel erfolgreich suchend. Im Ausdrucke praktisc.h liegt somit nifihr_ Inhalt als im Worte ethisch. In sittlicher Beziehung praktisch sein bedeutet also gut sein, oder sittlich handeln kbnnen, wirklich sittlich und zweckentsprechend handeln, 2 ) ausserdem einem Muster oder Ideal des Handelns nachstreben. ^ c Vergl. H. Bo ni tz : lndex Aristotelicus s. v. Tilloc ; vgl. Sitte und Sitz. — a ) So umschreibt Schopenhauer: Grundl. d. Mor. Werke, 4, B. S. 270 den Ausdruck »praktischer Philosoph« mit >der Gerechte. der Wohlthatige, der Edelmiithige«. i Begriff der praktischen Philosophie. 17 Wenn wir den Ausdruck praktisch auf Handlungen iibertragen und mit dem Begriffe sittlich verbinden. so er- lialten wir folgende Bedentungen desselben: praktisch isfl eine Handlung, wenn sie auf sittliche Zwecke gerichtet, von sittlicher Gesinnung begleitet und von sittlichen Motiven und Momenten bestimmt wird. — - Kant, der die iiberkommenen philosophischen Kunstausdrucke meist in einer eigenthiimlichen Weise gedeutet und in seine Begriffs- welt eingezwangt hat, wendet auch dieses Wort anders, n. zw. in folgenden Bedeutungen an: „ praktisch” ist ihm soviel als „auf den Willen einwirkend“ (z. B. „praktische Gesetze” 1 ), _als den Willen zur That bestimmend” 2 ), folglich „aus Griinden a priori gewollt“ d. h. aus freiem Willen ent- springend, im Gegensatze zu„physisch“ d. h. „aus N e i g u n g” hervorgehend 3 ), endlich „was durch Handlung moglich ist“ (z. B. „praktisches Gut”) 4 ). — Teh fiihre Kant’s Sprach- gebrauch lediglich zur Vermeidung von Missverstandnissen an, da ich denselben nicht acceptiere. : Aus dem eben entwickelten Begriffe des Praktischen ergibt sich die Definition der ,, Praktischen Philosophie”. Letztere ist die Wissenschaft vom Handeln nach ethischen Gesetzen, und dies in zweifacher Beziehung: erstlich als Wissenschaft vom Sittlichen, dann als Anleitung zum praktischen Handeln. In letzterer Beziehung unterscheidet sie sich ihrer Tendenz nach von der Ethik, welche vorwiegend theoretischer Natur ist, da sie die als sittlich erkannten Erscheinungen auf einen gemeinsamen, dieselben erklarenden Begriff zu bringen sucht. Indes ist dies ein mehr ausser- licher als wesentlicher Unterschied beider. — Die praktische Philosophie zerfallt somit in zwei Haupttheile: in einen theoretischen, dem die Erforschung der Natur des Sitt¬ lichen und dessen Zuruckfiihrung auf ein Princip obliegt, und in einen praktischen, welcher die Sittengesetze als sitt¬ liche Muster und Ideale und die Regeln fur das praktische Leben aufzuzeigen hat. Der theoretische Theil ist ana- lytischer oder inductiver, der praktische synthe- tischer oder deductiver Natur. Etwas zu enge scheinen mir zwei Ethiker den Zweck und Inhalt der praktischen Philosophie zu fassen: Herbert Spencer, der dieselbe als eine empirische, also aus der Praxis allein ab- geleitete Wissenschaft auffasst, deren Z\veck lediglich ein rein rationaler, also theoretischer sei 5 ), und Wundt, der sie ') Kant: K. d. p. V. (Kirchmann) S. 21—22. *) Kant: ebend. 50. 3 j Kant: ebend. 29. 4 ) Kant: ebend. 136. 5 ) H Spencer: Thats. d. Eth. 165. 2 18 Erster Abschnitt, in seiner „Ethik“ fiir eine lediglich normative, also rein praeceptive Lehre erklart. Mir erscheint die Aufstellung von Normen fiir das menschliche Verhalten ohne eine grundsatz- liche, principielle Theorie ebenso unfruchtbar, wie die Auffindung von Principien ohne eine Erprobung derselben an Thatsachen, zumal da den moralischen Principien bei der keineswegs nochausgereiften ethischen Wissenschaft sonst dieEvidenz wenn nicht ganz, so doch zu grossem Theile mangeln wiirde. Doch muss zwischen der praktischen Klugheits- lehre nnd der praktischen Philosophie genau unterschieden werden. Die Klugheit des sogenannten „ prak¬ tischen Mannes“, des Kaufmanns, Weltmanns, Diplomaten ist auf die leichteste und rascheste Erreichung des Begehrten gerichtet, wobei die sichere Erreichung die Hauptsache bildet; der sittlich Kluge dagegen sieht auf die Erreichung der hochsten, wertvollsten Zwecke des Lebens, u. zw. nicht nur in Bezug auf seine Person oder den engen Kreis jener Gesellschaft, der er angehort, sondern auch unter steter Bezugnahme auf die Gesammtinteressen, das Weltganze, mit welchem er in Uebereinstimmung bleiben will. Auch nicht das Nachste und das fiir seine Person Vortheilhafteste bildet den Zweck des sittlich Handelnden, sondern ihn bestimmt einzig und allein das sittlich Vollkommene, das sittlich Ideale. Daher sind, wie Kant bemerkt, von der praktischen Philo¬ sophie die sogenannte weltliche „Klugheit“ (Lebensklug- heit 1 ), dann die geschaftliche Routine sammt allen materiellen Calculationen, und die „Geschicklichkeit !: des Erwerbs, wie er sich ausdriickt, 2 ) auszuschliessen, da diese Eigenschaften rein materiellen, nicht aber auch idealen Z w e c k e n dienen. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Lebensklugheit und die praktische Philosophie in einem Widerspruche oder gar Gegensatze zu einander stehen, in den sie ein Platon und andere Philosophen in der Verzweiflung iiber die verderbten Zustande ihrer Zeit zu bringen suchten, sondern dass die Zwecke beider weit von einander liegen. Es wiirde die pr. Phil. oder Ethik oder wie immer wir die wissen- schaftliche Betrachtung des Sittlichen nennen wollen, wenig Wert fiir das praktische Leben besitzen, wenn sie zu demselben in einem Gegensatze stiinde, da vielmehr beide einander zu er ganz en und zu unterstiitzen bestimmt sind. Kant: Kr. d. p. V. 43. ! ) Kant: ebend. 28. Zweiter Absehnitt. Analyse des Begriffs handeln. Die Thatigkeit des Handelns ist aus verschiedenen Be- wegungselementen zusammengesetzt, die nur durch ihr gemein- sames Ziel ihre Einheit und ihren Zusammenhang erhalten. Wir wollen es von seiner psychologischen und ethischen Seite betrachten. Alles Handeln entspringt aus Motiven oder B e w e g- g r ii n d e n, welche entweder im handelnden Subjecte von selbst entstehen oder von aussen in dasselbe hineingetragen werden. Bas Subject befindet sich namlich in einer fortwahrenden TJ n r u h e. indem es von einem Impuls zum andern bewegt und hingezogen wird. Jene Unruhe heisst B e gier d e. Diese Eigenthiimlichkeit des Gemiiths haben sowohl alte als neuere Ethiker beobachtet. So kennt Thukydides, ein Schiller des Philosophen Anaxagoras, nach ihm Sallust, des Thukydides beriihmter Nachahmer, eine stetige Unruhe des Gemiiths, welche er inquies et indomitum ingenium nennt, ebenso M. T. Cicero, der von einem turbulentum in hominibus spricht. 1 ) Bekannt aus neuerer Zeit ist J. Locke’s Bemerkung iiber das TJnbehagen — uneasiness — desmenschlichenGemiiths, aus dem alle Arten von Begierden und Leidenschaften entspringen. 2 ) Die fortwahrend im Gemiithe ein- und austretenden Motive sind die erste Ursache, dass der Mensch handelt, ja, dass er handeln muss. Denn er hat stets Bediirfnisse, die ihn zur Befriedigung drangen. Die Bediirfnisse aber sind unauf- schiebbar, jagen einander, lassen dem Menschen keine Zeit zu ihrer Nichtbeachtung, also zur Unthatigkeit, und so wird derselbe von ihn en fortwahrend in Athem gehalten. Verlasst S ali. Hist. Fragm. I. 7. Dietsch, wozu I. 48 zu vergleichen ist. — Cie. De r. p. III. § 49. ! ) Locke: Essay. II 21 § 39. 2 * 20 Zweiter Abschnitt. ihn das eine Motiv, so stellt sich sehr bald ein zweites und ein nachfolgendes ein. Die Richtigkeit dieses Satzes wird am besten durch die Erfahrung bestatigt. Streng genommen mtissig ist kein menschliches Lebensalter, wenn auch das verniinftige, zweck- bewusste Handeln hauptsachlich dem kraftigen Mannesalter zufallt. Das Kind handelt spielend, der Knabe und das Madchen tandelnd, der Jiingling hastig und stets planend, der Mann fest und entschlossen, der Greis zogernd oder aber blindlings, indem er allmahlich, falls er nicht erschlafft, žum jugendlichen und knabenhaften Renommieren zuriickkehrt. Die Volker handeln wie die Individuen verschiedener Lebensalter. \Vehe demje- nigen Volke, das in dumpfem Dahinbriiten traumend lebt; ihm entgeht das Reich dieser Welt, sein Los ist Rnechtschaft; heil demjenigen Volke, das mit stetigem, unermudetem und unerschrockenem Handeln seine Lebenszeit ausfiillt; sein An- theil am Segen der Arbeit ist ihm gewiss. — Das Handeln hat aber ausser seiner psychologischen noch eine e t h i s c h e Seite. Der Mensch muss namlich, wie Kant be- rnerkt, nicht blos infolge des „Gesetzes der Natur- nothwendigkeit“, also durch aussere Motive bewogen, handeln 1 ), sondern auch infolge der „sittlichen Causalitat“ 2 ), namlich bewogen durch seinen eigenen „ reinen Willen “, oder mit anderen Worten, „in praktisch consequenter Denkungs- art nach unveranderlichen Maximen.“ 3 ) Die Einsicht in das Gute namlich, das ihm in praktischer Hinsicht als das Beste vorschwebt, zwingt den Menschen mit innerer Nothwendig- keit zu einem mit dieser Einsicht ubereinstimmendenHandeln. Die praktische Consequenz also, mochte ich erklarend sagen, drangt den Menschen zum Handeln. \Venn wir auf die Natur der Motive, v/elche den Menschen zum Handeln bewegen, unsere Aufmerksamkeit richten, so finden wir drei Arten derselben. Die Motive bestehen in Eindrucken der Aussenwelt, welcheman auch Umstande, aussere Einfliisse, Medium oder M i 1 ieu nennt 4 ), in psychischen Motiven oder in Vorgangen des psychischen Lebens, endlich in ethischen Motiven, solchen Beweg- griinden namlich, welche aus der Einsicht in die Vortrefflichkeit des objectiv Sittlichen hervorgehen und das Subject zum Handeln antreiben. Diese dreifache Nothwendigkeit entspricht ganz der dreifachen Abhangigkeit des Menschen als Natur- wesens: seiner Abhangkeit von den unabanderlichen Gesetzen ') Kant: Kr. d. p V. 114. 2 ) ebend. 59. 3 ) ebend. 182. *) Ueber die ausseren sittlichen Factoren handelt ausfiihrlich J. St. Mili: Syst. d. ded. u. ind. Logik, VI. Buch (Gomperz). Analyse des Handelns. 21 der Natur, von dem unaufhaltsamen Verlaufe seines inneren oder psychischen Leben s und seiner Abhangigkeit von den ebenso verbindenden Gesetzen, die ihm seine eigene Vernunft vorschreibt. Das Subject ist also in seinen Handlungen durch die eben genannten Motive determiniert. Dies sind fur die praktische Philosophie hochst wichtige Schlussfolgerungen, auf denen ein grosser Theil dieser Wissenschaft beruht. Im Begriffe des Handelns ist ferner ein zweites Element enthalton. ohne welches dasselbe gar nicht denkbar und fassbar \vare. Dieses Element ist die Vorstellung eines bestimmten Zweckes, das der Handelnde zu erreichen strebt. Die Vor¬ stellung von Zwecken folgt aus der Natur des Handelns als eines Erstrebens. Was durch das Handeln angestrebt wird, das ist die Befriedigung eines oder mehrerer Bediirfnisse. Zu den Motiven, welche aus verschiedenen Bedurfnissen ent- springen . verhalten sich die vorgestellten Befriedigungen d. i. die Zwecke als correlate Begriffe. Die Motive treten im Gemiithe als Gefiihle, die Zwecke als V orst e 1 lungen auf. Beide sind, psychologisch betrachtet, Parallelvorstellungen des- selben Dings ; beide sind an sich derselbe psychische Act, aber in verschiedenen Wirkungen auf das Subject verschieden erscheinend. Wer einen bestimmten Zweck vor Augen hat, rnacht sich ein Bild oder eine I d e e desselben. indem er das An- gestrebte in irgendeine Zeit verlegt und unter irgendeine Form bringt. Zugleich empfindet er bei dessen Vorstellung ver- schiedene Gefuhle, namlich der Lust, Sehnsucht, Erwartung, Furcht u. a., je nachdem er begehrt oder ablehnt. Die einander begleitenden Vorstellungen und Gefuhle, welche untrennbar mit einander verbunden sind, bestimmen die Richtung des Handelns. Man kann sie zu den Momenten oder Aus- schl aggr iinden des Handelns zahlen. Die Zwecke des Handelns sind von zweierlei psychischen Bewegungen begleitet, entweder von Erstrebungen oder Ablehnungen. In ersterem Falle werden wir den Zweck positiv, im zweiten negativ nennen. Etwas, das uns fur unsere Existenz oder an sich wertvoll erscheint, streben wir an d. h. suchen es zu erreichen, etwas, das uns schadlich scheint. suchen wir von uns fernzuhalten oder zu entfernen. Der an- gestrebte positive Zweck heisst ein G u t, der abgelehnte negative ein Uebel. Dadurch jedoch, dass ein Zweck von dem Handelnden in diese oder in jene Kategorie des subjectiven \Vertes gesetzt wird, erscheint er bloss subj e čtiv lob lic h oder subjectiv verwerflich; ob er dies auch objectiv sei, muss erst nach dessen ethischen E ig e ns ch aft e n 22 Zweiter Abschnitt, beurtheilt werden. Aus diesem Grnnde will der Mensch etwas entweder thun, oder etwas nicht thun d. h. meidenoder unterlassen. Wenn er keines von beidem kann, verhalt er sich indifferenh Alle Zwecke des Handelns laufen im Grunde auf einen e i n z i g e n Zw e c k hinaus: auf Befriedigung des nimmer ruhen- den Gemiiths des Handelnden. Alle Zwecke sind daher mit diesem einenEndzwecke gleichbedeutend undnur ihrer Form nach unter einander verschieden. Alle Menschen wollen bei ihren Bestrebungen gliickselig werden d. h. eine gewisse Befriedigung des Gemiithes erlangen; die Formen dieser Befriedigung und ihres Inhalts aber sind bei ver- schiedenen Menschen hochst verschieden. Daher sind trotz des einen Endzweckes, den wir ganz allgemein und noch un- bestimmt mit dem Worte Gliickseligkeit bezeichnen vvollen, die Gegenstande, durch welche diese letztere angestrebt wird, sehr verschieden. Die Objecte des Handelns, die man Z i e 1 e nennt, weil die Motive auf dieselben alswie auf aussere Gegenstande hinweisen, sind entweder concreter oder abstracter Natur. Die einen Menschen suchen in materiellen Giitern, die andern in gewissen Beschaftigungen : Jagd, Krieg, Studien, oder im Nichtsthun, Traumerei u. a. D. ihr Gliick. Allein bei aller Verschiedenheit ihrer Ziele wollen die Menschen dennoch den einen Z w e c k erreichen, den der Gliickseligkeit. Daher kann der eine oder andere Zweck nur als Mittel zur Er- reichung jenes hoheren Zweckes dienen. Dieser Zusammen- hang bildet eine Kette von Unterordnungen, eine Seal a von sogenannten nie deren und hoheren Zwecken. Bei dem Endzwecke handelt es sich um die Frage W ozu, bei den Mitteln oder Nebenzwecken jedoch um die Frage Wo- durch. Soviel in Betreff der psychologischen Seite des Zweckes und der Ziele des Handelns ; die ethišehe Natur derselben muss einer besonderen Erorterung vorbehalten bleiben. Vor- bemerkt sei noch, dass die Zwecke und Ziele sowie auch die Mittel des Handelns in ethischer Hinsicht loblich sein miissen. Kiirzer konnte man dies durch die Redensart ausdrucken: Gliickseligkeit durch Tugend! 1 ) Dies ist ein ftir die Ethik hochst wichtiger und bedeutender Satz. Ein weiteres und zwar drittes Element des Begriffes Handeln liegt in der Festigkeit des Wollens, das vor- gefasste Ziel zu erreichen. Der Wille hangt nicht bloss von ’) Diesen Zusammenhang gibt sogar Kant’s asketische Ethik zu; vgl. dessen Erorterung iiber den Zusammenhang von Tugend und Gliickseligkeit: Kr. d. p. V. 135, bes. 138, ausserdem 133. Determiniertheit der That. 23 klarer Erkenntnis eines Gutes, sondern auch vem der Ueberzeugung seiner Nothwendigkeit, ausserdem von ausseren Umstanden ab. Die Erkenntnis des Guten und die Ueberzeugung von dessen Notlrvvendigkeit sind zunachst Sache der Einsicht, also Acte des Intellects, dann auch Sache der Erfahrung, also Acte der Uebung im Beobachten des ethischen Lebens, zuletzt aber auch Sache des Charakters, der sich am besten in der Consequenz und Energie des Handelns kundgibt. Dies sind drei psychische Functionen, auf denen das W o 11 e n beruht, das selbst wieder eine zusammenge- setzte psychische Thatigkeit bildet. Der grosste Theil der Menschen hat zwar Einsicht in das Gute, kennt zwar aus eigener oder fremder Erfahrung dessen Vortrefflichkeit, besitzt aber nicht die nothige Kraft es zu thun, noch weniger es zur alleinigen Richtschnur seines Handelns zu machen. Also bleiben die meisten Menschen auf halbem Wege zum Ziele stehen, nachdem sie einen loblichen Anlauf genommen. Sprach- lich bleibt es dasselbe, wenn wir statt Wille Gesinnung sagen. Ohne diese Eigenschaft bleibt das Handeln nur hal- bes Thun. Die Ausftihrung des Gewollten heisst That. Die That hangt, wie wir bemerkt haben, zumeist von den Umstanden, also vom M i 1 i e u ab. Dieses zu beherrschen ist dem Handeln- den nicht gegeben; er kann, wenn es gut geht, den giinstigen Augenblick erspahen und beniitzen. Nur insofern durfen wir die Umstande, Verhaltnisse und Gelegenheiten als ein viertes Element des Handelns gelten lassen. Die Thatbesteht in ausseren oderleiblichen Bewegungen und in einer Veranderung, die vom Handelnden in der Aussenwelt hervorgebracht wird. Die That erzeugt im Handeln¬ den in psychischer und physischer Beziehung eine Ruck- w i r k u n g, welche man die F o 1 g e der That nennt. In den Folgen liegt das Ergebnis der Handlung; an der Riick- wirkung der That auf den Handelnden ist es letzterem zunachst und zumeist gelegen. Denn eben um giinstiger Folgen \villen werden Handlungen unternommen, da alles Handeln auf Erreichung bestimmter Zwecke ausgeht. Von den Folgen gilt dasselbe als von der Ausfiihrung der That: dieselben hangen vvohl zumeist, jedoch keineswegs vom Handelnden allein ab. Der Grund liegt in der Ab- hangigkeit des Subjectes von den verschiedenen, bereits angefiihrten Factoren, welche uberhaupt das menschliche Handeln beeinflussen. Der Mensch ist, wie wir uns oben aus- gedruckt haben, im Handeln determiniert, und zwar ebenso in physischer als psychischer Beziehung. Niemand 24 Zweiter Abschnitt. f kann daher fiir den E r f o 1 g seiner Handlungen mit Sicherheit einstehen. Die Folgen der That sind zwar in ethischer Beziehung infolge reicher Erfahrung so ziemlich, wenn auch nicht ganz berechenbar, aber das Gelingen der That d. h. der Erfolg ist selbst bei scheinbar klarer Einsicht in die Umstande und Verhaltnisse sehr ungewiss. Daher liegt im Gelingen oder Misslingen der That noch kein sicheres Kennzeichen, dass die Handlung unzweifelhaft eine sittliche oder unsittliche sei. Sowohl die Motive konnen tauschen, so sehr sie aus sittlichen Grundsatzen za entspringen scheinen, als insbesondere die Mit tel, welche angewendet werden, ausserdem freilich am meisten die Um¬ stande, welche gar oft die besten Erwartungen znschanden machen. Es kommt im Handeln nicht selten vor. dass die erwarteten gtinstigen Folgen sich als ein vollstandiger Miss- erfolg erweisen und ins gerade Gegentheil, namlicli zum Schaden der handelndeln Person ausschlagen. In solchen Fallen ist oft schwer zu bestimmen, wo und an wem die S chuld gelegen sei. Daher muss fiir alle Falle das B e w u s s t- sein redlich unternommener und kraftvoll ausgefuhrter That Trost und Ersatz bieten. fSowohl die Nothwendigkeit, unter dem Drucke bestimmter Motive zu handeln, als auch die unsichere Berechnung des Erfolges einer That sind deutliche Beweise, dass das Handeln wie etwas Naturnothwendiges, Absolutes und vom Subjecte Unabhangiges sich vollzieht, dass also der Mensch im Handeln unter objectiv gegebenen Gesetzen steht. Wenn er dieselben erkennt und sich ihnen unterordnet, so kann es ihm gelingen, die gewunschten Folgen zu erzielen; verkennt oder missachtet er diese Gesetze, dann kommt er nicht an das Ziel. Die Folgen belehren ihn, ' soweit sie das physische Milieu betreffen, liber die Souveranitat eines liber dem menschlichen \Villen stehenden Sittengesetzes. — Alles, was hier nur kurz angedeutet werden konnte, soli spater eingehender nachgewiesen werden. Wenn wir nun die psychischen und ethischen Elemente des Handelns liberblicken und auf Ursachen zurlickflihren, so erhalten wir zwei Arten derselben, wie sie sich wenigstens der ausseren Beobachtung darbieten, namlicli subjective d. h. im Handelnden, und obje čtiv e d. h. ausserhalb des Handelnden liegende Ursachen des Handelns. Zu den sub- jectiven gehoren die aus dem inneren Leben hervorgehenden Motive, ferner die infolge eigener Initiative, des eigenen Nach- denkens und der eigenen Erfahrung im Geiste auftauchenden Zwecke des Handelns, dann die durch geistige Arbeit er- Cooperation innerer und ausserer Factoren. 25 worbene Kraftigung der sittlichen Gesinnung, endlich die durch vollbewusste Einsicht und Kraft des Geistes vorberechneten Folgen der That. Auf die objectiven Factoren des Han- delns sind zuriickzufuhren: die ausseren Antriebe, die von der Natur dem Subjecte vorgesteckten Ziele und Zwecke. die durch die Gunst des Gliickes dem Subjecte verliehenen Anlagen und Fahigkeiten, die ausseren, dasSubject bestimmen- den Verhaltnisse, endlich die durch den Gang der Naturgesetze bedingten Folgen der That. Bei der hochst wahrscheinlichen Cooperation der beiden angefiihrten Factoren des Handelns d. i. der Selbstthatigkeit und des Sittengesetzes ist es sehr schwierig zu entscheiden, welche Erfolge speciell dem subjec- tiven und welche dem objectiven, ausseren Factor zuzu- schreiben sind. Bei volliger Determiniertheit des menschlichen Handelns ist sogar eine Ausschliessung des subjectiven undi die alleinige Herrschaft des objectiven Factors denkbar,/ jedoch als praktischer Grundsatz kaum durchfuhrbar. Aun Grand der wahrscheinlicheren Cooperation der beiden Factoren und im Interesse einer klaren Darstellung, welche jedoch der endgiltigen Entscheidung dieser Frage nicht vorgreifen soli, wollen wir im Nachfolgenden die beiden Factoren des Handelns getrennt halten. Soviel liber die Natur und die Elemente des mehščhlmEen Handelr Dritter Absehnitt. Die Sittlichkeit und ihre Beziehungen. Ein wichtiges Problem der praktischen Philosophie ist jenes liber den Zusammenhang von Sittlichkeit und Gluck seligkeit. Wir konnen es in die Frage fassen: muss der Sittliche nothwendig gliicklich sein? — Nach Kant’s Vor- gange in logische Form gebracht, lautet das Problem: bildet der Zusammenhang von Sittlichkeit und Gllickseligkeit ein synthet is c hes oder analytisches Urtheil? 1 )— Ichwill es versuchen, das Problem zunachst aul positivistischem, spater auf metaphysischem Wege zu losen. Das Handeln, so hiess es im zweiten Absehnitt, geht aus Bediirfnissen hervor und ist auf deren vollste Be- friedigung gerichtet. Wiirde es sich im Praktischen um weiter nichts handeln als um die Befriedigung nachstliegender Bediirfnisse, so wiirde die Deflnition des Sittlichen, auf welches sich das praktische Handeln bezieht, sehr einfach lauten, etwa: sittlich ist alles, was die handelnde Person befriedigt; denn durch Befriedigung auch augenblicklicher und nachst¬ liegender Wiinsche wtirde das Gemiith des Subjectes auf Augenblicke oder doch auf einige Zeit zur Ruhe kommen und sich gliicklich flihlen. Allein zur Gliickseligkeit gehort inehr; denn das menschliche Gemiith verlangt volle Be¬ friedigung. Daher begniigt es sich nicht mit der nachst- besten Art der Befriedigung, und diese tritt auch nicht so leicht ein. Erstlich ist es fraglich, ob das, was den Menschen fiir den Augenblick oder einmal begllickt, demselben spater oder ein andermal nicht Uebel einbringt. Eine augenblickliche Befriedigung kann oft nur eine Selbsttauschung, ein Schein- Kant: Kr. d. p. V. 133 u. 136. Sittlichkeit und Gluckseligkeit. 27 gliick sein, das sogar ein ungeheures Uebel in sich birgt. Ein Trunk frischen Wassers, zur Unzeit genommen, kann den Tod nach sich ziehen ; eine Erkaltung, im Augenblick als angenehme Erfrischung empfunden, kann ein langwieriges Leiden zur Folge haben; eine Lust, im Augenblick genossen, kann verhangnisvoll nachwirken; ein AVunsch, im Augenblicke erfiillt, kann spater den Menschen um die grossten Giiter bringen. Und dann, was Ejriem frommt, kann Tausenden zum Verderben gereichen. IKurz, fehlt dem Erreichten das Merkmal eines allgemeiri-giltigen, absoluten Gutes, so ist es erstlich kelh Giit: im Sinne der praktischen Philo- sophie, und dann auch keine Gluckseligkeit fur den, der es besitzt. Ein sittliches. G u t ist namlich alles, was den causativen Zusammenhang der Dinge fordert, was da macht, dass ein Ding seinen Zweck sich selbst und den tibrigen Dingen gegeniiber erfiillt und dass es jener Bestimmung entspricht, die ihm seiner Natur nach zukommt, die es in sich tragt oder sich selbst vorsetzt. Gluckseligkeit kann ein Ding nur dann bieten, wenn die Befriedigung eine dauerhafte, voll- standige ist. Eine solche Befriedigung wiirde also dasjenige sein, was wir unter dem Worte Gluckseligkeit verstehen. Doch ist hiebei zu iiberlegen, an welche Bedingungen die Befriedigung gebunden ist, um Gluckseligkeit zu bewirken. Wir konnten uns recht wohl eine Gluckseligkeit denken, die mit der Sittlichkeit nichts zu thun hat. So z. B. konnte sich ein Volk durch eigene Macht oder durch gliickliche Umstande die Unab- hangi gkeit von einem andern, dasselbe beherrschenden Volke erringen und diese Freiheit zu seiner Wohlfahrt beniitzen, wovon uns die Geschichte mehrere Beispiele liefert. Was wir aber mit Bestimmtheit wissen, ist, dass der habituelle Besitz der Tugend solche Gluckseligkeit schaffen kann, freilich oft nicht zu schaffen scheint. Eine Art Befriedigung ist dem Tugendhaften allerdings gewiss: die innere, subjective Be¬ friedigung, die schon der blosse Besitz der Tugend verleiht. Wir wissen alle, welches innere Gliick z. B. das Wohlthun, die Hilfe, die wir einem Ungliicklichen gewahren, einbringt. Und so erzeugt eine jede Tugend einen Theil Gluckseligkeit, alle Tugenden zusammen die volle Gluckseligkeit. Allein es handelt sich um eine objective d. h. in Kant’s Sinne: um eine all- gemeingiltige Gluckseligkeit, welche als solche auch allgemein als Wahrheit anerkannt ware. Und da kommt uns eine zweite Beobachtung zu Hilfe, dass namlich die Tugenden auch als sichere Mittel zur Gluckseligkeit dienen. Wir konnen diese Eigenschaft z. B. an der Gerechtigkeit 28 Dritter Abschnitt. nachweisen. So kann eine Gesellschaft, sagen wir ein Staat, durch stricte und gewissenhafte Ausfiihrung des Princips der gleichen privaten und staatsbiirgerlichen Rechte seine Burger zu Wohlstand, Macht und Gedeihen bringen, wie es in England der Fali ist, wo die Gesetze auf das sorgsamste und scrupu- loseste durchgefiihrt- zu werden pflegen. Die Gliickseligkeit hat ein solcher Staat dann sicherlich der Tugend der Gerechtig- keit zu verdanken, und es kann kein Zweifel obwalten, dass sie es ist, die einen Staat zur Bliite bringen kann. Dies lasst sich auch indirect, durch den Hinweis auf andere Staaten zeigen, in denen Uebergriffe und Gewaltacte seitens der ober- sten Macht oder seitens der Burger unter einander an der Tagesordnung stehen und solche Staaten dadurch in fort- ■vvahrende Krišen versetzen. Ein Gleiches kann von anderen Tugenden, z. B. von der Eintracht, behauptet werden, fiir die der bekannte Spruch Sallusfs gilt : Concordia parvae res crescunt, discordia maxumae dilabuntur. — Es gibt jedoch auch Falle, in denen der Tugendhaite gerade wegen seiner Tugend hochst ungliicklich werden kann. Beispiele dieser Art bietet die Geschichte in reichlicher Anzahl. Es gab zu allen Zeiten Manner, die fur Recht, Menschlichkeit und ihre Ueber- zeugung eintraten und dafiir verfolgt, mitunter den grau- samsten Qualen ausgesetzt wurden. Da scheint denn der feste Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und Gliickseligkeit in der That gelockert, wenn nicht etwa die innere Befriedigung des Tugendhaften, der Sittlichkeit treu verblieben zu sein, fur eine Art Gliickseligkeit angesehen wird. Und diese Gliick¬ seligkeit ist erwiesenermassen die schonste, die sicherste. — Somit bleibt folgende Verbindung der Begriffe iibrig: soli die Befriedigung, welche die Menschen bei ihren r Handlungen anstreben, eine vollstandige, also Gliick- j seligkeit sein, so ist dazu eine praktische d. i. ! sittliche H an dl ung s wei se unerlasslich; ohne diese s gibt es keine wahre Gliickseligkeit. Dies folgt aus der Natur des Sittlichen als eines hochsten, absoluten Gutes, dessen Wert ein allgemeingiltiger ist. Wenn wir nun das Ve r haltnis erwagen, in welchem die Sittlichkeit zur Gliickseligkeit steht, so finden wir, dass zwischen beiden in dem Sinne eine Abhangigkeit herrscht, dass die Sittlichkeit als G run d oderUrsache, die Gliick¬ seligkeit als F o 1 g e oder \V i r k u n g fungiert. So fasst auch Kant das Verhaltnis beider auf.') ') Kant: Kr. d. p. V. 133. Sittlichkeit und Gliickseligkeit. 29 Eine Klarstellung dieses Zusammenhanges ist fiir das Wesen der Sittlichkeit von grosser Bedeutung. Da es sich bei der Erlangung der Gliickseligkeit um ein sicheres, gewisses und absolutes Gltick handelt, das nicht dem Zufall oder der Unbestandigkeit unterworfen ist, so muss die Bedingung ins Auge gefasst werden, unter welcher ein solches Gliick zu erlangen ist. Dariiber belehrt uns der eben genannte Zu- sammenhang zwischen Gliickseligkeit und Sittlichkeit. Derselbe will sagen: willst du, o Mensch, gliickselig sein, so beachte bei der Erlangung der Gliickseligkeit deren Gesetz d. h. deine Handlungsweise sei sittlich ! — Die Sittlichkeit erscheint somit als eine Schranke, als eine Bedingung oder als ein Gesetz fiir die Handlungsweise, durch dessen Er- flillung die Gliickseligkeit zu erlangen ist. — Und als eine solche Schranke oder Bedingung der Gliickseligkeit hat die Etliik das Moralische stets angesehen. Wenn namlich aus der Natur des Handelns, als eines Aufgebotes aller Krafte zur Erlangung bestimmter Ziele, die Erstrebung einer ab¬ soluten Gliickseligkeit als Endzweck desselben folgt, so ist in der Sittlichkeit die Bedingung oder das Gesetz vor- gezeichnet, an welches die Erlangung der Gltickseligkeit ge- bunden ist. Nun aber ist ein Gesetz nichts weiter als der Aus- druck des Zweckes, welchem das Gesetz dient; denn derjenige, der ein G e s etz gibt, ist identisch mit dem, der den Zweck des Gesetzes erreicht wissen will. Offenbar hat der Gesetzgeber den Zweck und das dem Zwecke entsprechende Gesetz zu- . g 1 e i c h im Sinne ; sonst miisste man annehmen, er gabe zwecklose Gesetze oder wer Gesetze gibt, habe keinerlei Zwecke derselben im Auge. Dadurch werden das „Wodurch“ und das „Wozu“ des pralctischen Handelns als eine gedankliche Einheit und als Ausfliisse gleichen W e r t e s erkannt. Das aber will besagen : du solist deinem Triebe zufolge gliickselig sein, allein du kannst ebenso auch nur in dieser Form: unter Wahrung des sittlichen Gesetzes gliickselig sei n. j — Fiir den ethisch denkenden Menschen liegt in diesem Satze die Lehre enthalten, dass er auf die Jagd nach zufalligem Gliicke zu Gunsten der zwar schwer erlangbaren, aber desto sichereren, von der Tugendhaftigkeit abhangigen Gliickseligkeit verzichten solle. Zugleich ist in derselben der trostliche Gedanke enthalten, dass der ernstlich nach Sittlichkeit strebende Mensch trotz aller Ungunst ddr Verhaltnisse eine Gliickseligkeit erringen kann, um welche sich lasterhafte oder leichtsinnige Menschen umsonst bewerben, da dieselbe nur durch Tugend zu erlangen ist. In dieser Erkenntnis wachst 30 Dritter Abschnitt. die Lebensaufgabe des Menschen liber die tausenderlei Schranken und Gehege der ihn bedriickenden Verhaltnisse hinaus und wird zu einem machtigen, freien, beseligenden Streben nach dem hochsten Preise, den ihm kein Neider und kein Tyrann entreissen kann. Durch solche Gliickseligkeit wird der Mensch wahrhaft f r e i, und das Gefiihl dieser begliicken- den Freiheit ist ein Lohn, der des besten Strebens wert ist. Schon diese Erkenntnis allein vermag dem Menschen innere Ruhe zu gewahren. •— Doch verfolgen wir das Verhaltnis zwischen der Gliick- seligkeit und Sittlichkeit weiter, zunachst, sofern es den Begriff der Gliickseligkeit anlangt. Bereits oben habe ich die Gliickseligkeit als eine allgemeingiltige, absolute Wohl- fahrt bezeichnet. Als eine solche aber ist sie nicht bloss materieller, sondern auch geistiger Natur. ?AVenn gewisse Tugenden mit keiner solchen allgemeinen Wohlfahrt verbunden erscheinen, sondern bloss geistiger Art sind — so beschaffen ist z. B. das Schicksal des Gerechten, der sich durch seinen Gerechtigkeitssinn den Hass.Anderer zugezogen hat —, so kommt dies theils auf Rechnung der UnTollkommen- heit zu stehen, die allen Dingen mehr oder weniger an- haftet, theils aufRechnungdesSchlechten, das ein nothwendiger, unvermeidlicher Verfolger des Guten ist. Ich habe im er sten Abschnitte auf diesen sittlichen Dualismus der Dinge hin- gewiesen und werde noch spater Gelegenheit finden, auf die Ursachen des Bosen, das eben eine Unvollkommenheit der Welt darstellt, zuriickzukommen. j Alles Gute findet seine Neider, seine Hasser, seine Widersacher, seine natiirlichen Feinde — ganz so, wie die persische und indische Religionsmoral ein zweifaches moralisches Princip annimmt. Auch die alt- griechische Philosophie kennt diesen Gegensatz des Guten und Bosen, welcher die Schuld tragt, dass in der Welt nichts vollkommen werden will, dass die Vollkommenheit nur eine ideale, nur eine vorgestellte bleibt. — Allein trotzdem fiihrt das sittlich Gute immer ein Stiick Gliickseligkeit mit sich, und ware dies auch keine andere als eine nur den Geist erfreuende, eine rein gedankliche, innerliche. So ist die Wahrnehmung, dass richtige Ideen friiher oder spater zum Siege fiihren, eine hochst begliickende. Ja, es fragt sich, ob nicht gerade dieser Theil der Gliickseligkeit der starkere, dauerhaftere, daher bessere ist, der deshalb auch als ein vollgiltiger Ersatz fiir die ganze Gliickseligkeit angesehen werden darf. — Da nun der Endzweck alles Handelns auf eine solche Befriedigung des menschlichen Gemiithes gerichtet ist, welche eine vollstandige oder eine allgemeine genannt werden darf, Die Sittlichkeit und der Endzweck der Natur. 31 und dies eben jene Gliickseligkeit ist, welche nur durch sittliche Handlungsweise erlangt werden kann, so darf man von ihr mit Recht behaupten, sie sei als der dem sittlich Handelnden vorschwebende Endzweck seines Thnns, alswie eine entferntere Ursache desselben im Praktischen mitenthalten und mitwirkend. Die Verbindung der Gliickseligkeit. steht somit in cau- salem und zwar in einem nothwendigen Zusammenhange mit den Motiven zum sittlichen Handeln. Da auch der Grad der Gliickseligkeit von dem Grade der Sittlichkeit abhangt, und ausserdem zwischen beiden keinerlei Gegensatz vorhanden ist, sondern vollste Harmonie herrscht, so diirfen wir zwischen beiden Begriffen ein analytisches Verhaltnis annehmen. i — Dies wird noch durch eine-weitere Schlussfolgerung bestatigt. Wenn wir uns namlich nach der Ursache des Verhaltnisses 4 - fragen, in welchem die Gliickseligkeit und die Sittlichkeit zu einander stehen, und diese beiden Begriffe auf einen weiteren, hoheren Begriff zuriickzufiihren suchen, so ergibt sich als solcher jener bereits erwahnte Zusammenhang aller Dinge des Seins, welche einem uns zwar unbekannten, aber 'sicheren Endzwecke zusteuern, den sie alle unter Einhaltung strenger Bedingungen oder Gesetze zu erreichen gezvrangen sind. Die Uebereinstimmung mit j enem Endzwecke des Seins und mit der Form seiner Erfiillung, welche Form eben auf bestimmte Gesetze, die Sittengesetze, hinweist, bringt Gliick¬ seligkeit, die Disharmonie mit jenem Endzwecke und dessen Erfiillung allerlei moralische und physische Uebel mit sich. Also sind beide Begriffe, von denen eben die Rede ist, in dem Vor- handensein eines hoheren, uns nur dunkel zur Kenntnis gelangen- den Endzweckes aller Dinge, alles Seins und Werdens wesent- lich enthalten. ,— Fiir den Begriff des Sittlichen ist diese Zuriickfiihrung von der grossten Bedeutung, da uns dasselbe so nicht mehr als ein specifisch menschliches, sondern als ein allgemeines, als ein Weltinteresse erscheint. Ausserdem wirft die moralische Untersuchung, wenn sieiiber die sociologische hinausgehend das Weltganze ins Auge fasst, durch eine der- artige metaphysische Auffassung Licht auf die iibrigen Gebiete der menschlichen Forschung. Die Ethik reiht sich so in das System der ganzen Philosophie ein und hilft mit am Baue der Welterkenntnis, indem sie das Sein als ein nach einem Endzwecke ringendes, gesetzmassig handelndes und gesetz- geberisch auftretendes, lebendiges Ganzeš erscheinen lasst, wofiir es bereits in der altgriechischen Physik, aber auch in mehreren Systomen neuerer Zeit angesehen wird. j Bei dieser Betrachtung konnte es sich sogar herausstellen, dass bei der 32 Dritter Abschnitt. Geltendmachung eines solchen Endzweckes der Welt, den, wie gesagt, kein Mensch seinem Wesen nach kennt, sondern nur als existierend vermuthen kann. der Natur nicht die specielle Gluckseligkeit der menschlichen Wesen vorschwebe, dass ihr deshalb die Befriedigung des Menschen durch die Sitt- lichkeit nur als Nebenzweck erscheine, der sich aus dem Anschlusse an den Endzweck von selbst ergibt ; uns, als handelnden. Zwecke verschiedener Art verfolgenden. schwachon menschlichen Wesen mag jene Gluckseligkeit allerdings als et\vas Wesentliches, als etwas Grosses und Nothwendiges erscheinen, da wir bei unserm Handeln gliickfordernde Ziele verfolgen. Also nehmen \vir dann. der miihsam erworbenen Erfahrung folgend. welche uns in Ermanglung eines helleren Lichtes durch das Dunkel der Welterforschung mit ihrer matten Flamme voranleuchtet, mit den nachsterspahten Merk- malen des Sittlichen hier der Gluckseligkeit — dankend vorlieb. Soweit reichen positivistische, auf Erfahrung beruhende Schlussfolgerungen ethischer Erwagung; von hier ab jedoch gehen die Ethiken der verschiedenen Religions-. sowie auch einiger Philosophiesysteme noch viel weiter, indem sie einen bewussten, personlichen Drheber der Moral an- nehmen, der sowohl den Endzweck als auch die Gesetze der Moral aufgestellt habe und fortwahrend iiber deren Erfullung \vache. Ich tiberlasse dm Begrtindung solcher anders ge- zogener Schlussfolgerungen deren Vertretern, und begntige mich mit der bereits im ersten Abschnitte gegebenen Definition des Sittlichen. Nach dieser ist das Sittliche an der Forderung des causativen Zusammenhangs der Dinge zu erkennen, zu dessen Begleitschaft die Gluckseligkeit der diesen Zusam- menhang fordernden Dinge gehort — ein Nexus, den Kant ftir einen synthetischen ansah und ihn auf seine „a priori nothwendige“, „ durch die Freiheit des Willens hervorge- brachte,“ nicht etwa auf empirischen Principien beruhende Anschauung des Sittlichen zuriickfuhrte. 1 ) Das heisst aber soviel, als dass Kant den zugestandenen Causalnexus nicht auf Grund der Erfahrung, sondern infolge seiner transscendentalen Anschauung als einen willentlich nothwendigen ansehen wollte und sich zu cliesem Nexus nicht aus ausseren, sondern aus „reinen“ Vernunftgriinden bewogen fiihlte. Nur dadurch, dass Kant das Sittliche und Angenehme nicht auch ftir ana- lytisch nahm, glaubte er der Gefahr, in den Hedonismus oder Utilitarismus zu verfallen, entronnen zu sein. Meine *) Kant: ebend. 135 u. 136. Der gesetzroassige Charakter des Sittlichen. 33 Zusammenstellung der Gliickseligkeit mit der Sittlichkeit dagegen beruht. wie ich oben gezeigt babe, auf der Zuruckfiihrung beider Begriffe auf einen vorausgesetzten Endzweck der Dinge, aus dem sicli wie aus einem nothwendigen und gesetz- massigen Nexus durch die Uebereinstimmung der Handlungs- vveise mit diesem Endzwecke sowohl die Gliickseligkeit als die Sittlichkeit als nothwendig herausstellt. Dass es einen Enct- zweck des sittlichen Handelns wie auch in der Welt gibt, das zu beweisen ist einer spateren Stelle dieses Buehes vorbehalten; dagegen soli im Nachstfolgenden das zweite gewonnene Merk- mal der Sittlichkeit, namlich der gesetzmassige Charakter derselben, erortert werden. — iNach einer allgemeinen Auffassung ist das Sittliche ein regulatives Princip des menschlichenHandelns.Wie eine jede andere menschliche Thatigkeit, so erfordert auch die moralische ihre Principien, Grundsatze, Norrnen und Maximen, da man mit einem unbedachten, auf gut Gliick unternommenen Handeln nicht zum erwunschten Ziele kommt. Die angestrebte Gliickseligkeit ist eines der hochsten Giiter und lasst sich nicht so leichten Kaufs erwerben. Das blinde Gliick, derZufall kann einem Menschen wohl irdišche Giiter in den Schoss werfen, allein diese sind verganglicher Natur wie die Laune der Gliicksgottin selbst; Giiter dagegen, welche dauerhaft sind und ihren Wert trotz aller Widerwartigkeiten behaupten, sind selten, dafiir aber kostbarer und schwieriger zu erwerben. Nach dem friiher Gesagten ist Tugendhaftigkeit der Preis, um welchen die Gliickseligkeit erkauft werden muss. Schon daraus ersieht man, dass die Erlangung der Gliickseligkeit an Bedingungen geknripft ist. In der Erkenntnis dieses Ver- haltnisses liegt der Angelpunkt fiir das richtige Verstand- nis der Sittengesetze. Es ist eine uralte ethische Ueberzeugung, dass der Mensch seine Sittlichkeit nur im Anschlusse an die Gesetze der eigenen, d. i. der Menschen- und der Aussennatur, erreichen konne. In diesem Anschlusse oder in der Ueber¬ einstimmung des menschlichen Handelns mit den Gesetze n der Natur liegt eine wesentliche Eigen- scliaft des praktisch Sittlichen. Dies folgt aus der Thatsache, dass der Mensch der eine, die Natur der andere Factor des Praktischen ist, von dem der gewtinschte Erfolg abhangt. Wir konnten uns zwar vorstellen — und einige Ethiker behaupten dies auch —, dass der Mensch ein blindes \Verkzeug, ein blosses Instrument der Natur sei, durch vvelches diese wirke; allein diese Lehre iibersieht die Macht des menschlichen Geistes sowie den Umstand, dass auch der Mensch pro parte rata 3 34 Dritter Abschnitt. als ein allerdings kleiner Theil des Seins, als ein mitbe- stimmender Factor desselben angesehen werden muss. Daher stellten die alten Ethiker den Satz auf: g ut oder sittlich ist, was d er Natur gemass — mv.v — ist; schlecht dagegen, was wider die Natur — Trapa cpuuov ist.') Der Ausdruck Natur wird von ihnen in doppeltem Sinne, einmal als Aussennatur, ein andermal als Menschennatur genommen. Uebrigens ist dies nur ein kiirzerer Ausdruck ftir Gesetze der Natur. — Die Geschichte bestatigt diese Anschauung. Wir \vissen heute aus vielfachen Versuchen vergangener und gegenwartiger Zeitepochen, dass sanitare. religiose, sociale, okonomische, staats- und privatreehtliche u. a. Verhaltnisse innerhalb einer menschlichen Gesellschaft nur dann gedeihen, sich festigen und Gliickseligkeit schaffen. wenn sie mit den eigenthumlichen Erfordernissen des Bodens. Klimas und Volkes, kurz mit den Eigenthtimlichkeiten der betreffenden Natur im Einklange stehen. Diese Eigenthumlich- keiten aber sind eben Producte der Naturgesetze. Um diesen Gedanken im Einzelnen nachzuweisen, miisste eine Cultur- geschichte der Menschheit vorgefiihrt werden, wozu jedoch hier nicht der Platz vorhanden ist. Die Arbeiten eines Lubbock. Lecky, Laveleye, Quatrefages, Waitz, Joh. Ranke, R. Virchow. A. Bastian und v. a. haben dariiber massenhaftes Material gesammelt. Es wiirde sich aus den vorgefiihrten Thatsachen ergeben, dass der Mensch an Sittlichkeit nur insoweit fortschreiten konnte, als er die Gesetze der Natur erforschte und anwandte. Da es mir in diesem Abschnitte bloss um die Aufstellung der Principien. nicht um deren nahere Ausfiihrung und Begriindung zu thun ist. so muss ich liber diesen Punkt auf spater folgende Abschnitte verweisen. Zu einer Zweitheilung der Sittengesetze, in die der Menschen- und Aussennatur, zwingt die ethische Forschung noch ein methodischer Grund, dass narnlich nicht alle als sittlich erkannten Erscheinungen in der einen dieser beiden Spharen allein enthalten sind, sondern aueh in der anderngenann- ten gesucht werden miissen. So z. B. diirften sich die v.i~' e?oyj,v human genannten Tugenden. wie Milde, Barmherzigkeit, Gross- muth, Mitleid kaum aus den Vorgangen der Aussennatur nachweisen lassen, da, keinerlei Anzeichen dafiir sprecheji. dass letztere solchen Gefiihlsregungen zuganglich sei. Ernest Renan findet sogar, dass die aussere Natur das Schauspiel der unerbittlichsten Fiihllosigkeit und der grossten Unsittlich- keit biete. Deshalb konnte der Vorgang der Aussennatur kaum ') Cic^ro: Fin. III § 12 ff, Fin. IV § 27 ff. u. s. w. Der gesetzmassige Charakter des Sittlichen. 35 als ein ausreichendes Vorbild fiir alle sittlichen Erschei- nungen dienen. Umgekehrt wird man im menschlichen Handeln schwerlich jene eiserne Consequenz entdecken konnen, die sich im Wirken der Naturgesetze knndgibt. Also erganzen sich beide Gesetze zu einem einzigen grossen Sittencodex. Indes sieht sich die praktische Philosophie aus mehreren Griinden bewogen, der rein menschlichen Sittlichkeit ihre Hauptaufmerksamkeit zuzuwenden, wenn auch nicht die ausschliessliche. Der Mensch. nimmt in der Welt eine aus- gezeichnete Stellung ein. wozu ihn sein supertellurischcr Wohnsitz befahigt, von dem aus er einen freieren Ausblick in seine kosmische Umgebung geniesst. Man bedenke den Fali. dass ihm ausschliesslich ein subtellurischer angewiesen worden ware. So aber spiegelt sich im menschlichen Ge- miithe in der That ein gut Stiick des Kosmos ab. — Nun nocli einige historische Rtickblicke! Die Auf- fassung des Sittlichen als eines Mittels der Gliickselig- keit ist eine uralte. Wir konnen dieselbe fiir ein Axiom der altgriechischen Ethik ansehen, und z\var als ein solches. das schon vor Aristoteles bestanden hatte, der es dann zur Grundlage seines Systems, des Eudamonismus, machte. Erst die Cyniker und Stoiker erschiitterten dieses Axiom, indem sie zwar die Tugend d. h. Sittlichkeit fiir ein hochstes Gut erklarfen, aber in dieses nicht den Begriff der Gliickseligkeit in unserm Sinne hineinlegten. Das Christenthum hat die aus der Sittlichkeit stammende Gliickseligkeit als einen vollig geistigen, idealen Genuss aufgefasst, der in der Anschauung Gottes und seiner Werke bestehe. Zu einer ahnlichen Hohe suchte sich die mittelalterliche und spater die Ethik Spinoza’s zu erheben, welche die Sittlichkeit in eine reine speculative und wissenschaftliche Anschauung des Seins endigen lasst. Die Verquickung der Sittlichkeit und Gliickseligkeit machte jedoch mit der Zeit den Philosophen grosse Schwierigkeiten, was bereits aus den heftigen Streitigkeiten der Epikureer. Stoiker und Peripatetiker hervorgeht. Es bildeten sich nach und nach selbst innerhalb derselben Schulen, z. B. selbst innerhalb der stoischen zwei Parteien, von denen die rigo- rose alle Gliickseligkeit aus der Ethik verbannt wissen wollte, die mildere eine Transaction zwischen der Sittlichkeit — „ Tugend “ — und der Eudamonie herzustellen suchte. Dieser Gegensatz lasst sich auch in den orientalischen Religions- ethiken verfolgen. Die positivistische, vom Triebe des Menschen ausgehende Anschauung musste bei der Annahme des Euda¬ monismus anlangen. die rein rationalistische dagegen ver- scharfte sich zur strengen Asketik. Dieser Gegensatz dauerte 3 * 36 Dritter Abschnitt. bis auf Kant fort, dem- die Vereinigung seiner asketischen Moral mit dem Eudamonismus sichtlich Schwierigkeiten machte und ihn — kaum aus religiosen, als vielmehr aus transcendentalen und rationalen Grtinden — in die be- kannten \Vidersprtiche verwickelte, durch die sich jene um iiberbriickbare Kluft zwisehen seiner „reinen“ und „praktischen Vernunft“ aufthat. Die nachkantische Schule fiihrte den Zwie- spalt zwischen der Sittlichkeit und Gltickseligkeit ihres Meisters noch weiter und ubertrieb ihn bis zur „Negation des Lebens", so dass ihre Ethiken in eine zum Triebe nach der Gliickselig- keit gerade entgegengesetzte Richtung miinden. Man kennt Schopenhauer’s, E. v. Hardtmann’s. und F. Nietzsche’s Stellung zu diesem Probleme. Die positivistische, von den Gesetzen der lebendigen Natur des Menschen ausgehende Ethik bat jedoch immer an dem Gllickseligkeitsprincipe festgehalten, so die naturalistische Schule Epikurs, ebenso die biologische und idealistische, wie nicht minder die sociologische von heute. Welche Bedeutung konnte eine Moral auch haben, die, von den Bedlirfnissen der menschlichen Natur absehend, le- diglich einem theorischen Selbstzwecke nachgehen vrollte? Zur Gltickseligkeit kann jedes Ding beitragen, soweit dessen Erwerbung und Benutzung mit der Sittlich¬ keit d. h. mit dem Begriffe der Wohlfahrt vertraglich ist. Daher war die stoische Eintheilung der Dinge in sittliche, unsittliche und indifferente vollig miissig, da in den Dingen selbst das Merkmal des Sittlichen nicht zu erkennen ist. .Ebenso miissig ist das Bemiihen Strumpelks, der die ethischen „Objecte“ nach deren Inhalte aufsuchen zu miissen glaubt, indem er deren 28 aufzahlt, z. B. Geftihle, Neigungen, Entschllisse, Maximen, das Wollen, die Rede. das Handeln, das Leben in Familienverhaltnissen, jenes in Gesellschafts- f gruppen u. s. w. ‘) Eine der trivialsten ethischen Anschauungen war wohl jene, welche alles Materielle als stindhaft, alles Geistige dagegen als sittlich gut ansah. Nach dieser An- schauung ist der Leib das bose, der Geist das gute Princip im Menschen, und das Sittliche bedeutet Herrschaft des Geistes iiber den Leib, die „Materie“. Diese Theorie ist in den orientalischen Religionsethiken die vorherrschende ge\vesen ; in Griechenland wurde sie hauptsachlich durch die Cyniker vertreten. Selbst ein Platon war von derselben nicht frei, indem er die Regungen des Korpers fur stindhaft und nur die Seelenthatigkeit ftir sittlich ansah (Phaedrus). — Wir miissen daher, um einen generellen Begriff des Sittlichen zu haben. an ’) S t r ii m p e 11: Vorschule d. Eth. 10 — 11. Der gesetzm&ssige Charakter des Sittlichen. 37 der Anschauung iesthalfcen. dass sittlich gut alles dasjenige ist. sowohl was, wie Wallaschek sich ausdruckt, zur „Forderung des ,allgemeinen materialen Wohles“ beitragt 1 ), als auch was, wie H. Spencer sagt, ,,die Wohlfahrt des Ich oder der Andern auf directem oder auch indirectem Wege“ fordert. 2 ) Je weiter wir den Umfang des Begriffes „Gut“ nehrnen. desto besser, nur muss die Forderung des Wohls eine allgemeine oder mindestens eine, wie es W. Wundt fordert, von „altruistischen Gefiihlen“ begleitete sein. 3 ) Noch einige Bemerkungen zum Sittlichen als einem Ge setzmassigen oder einer Vorschrift! Durch die ganze Geschichte der Ethik zieht sich wie ein rother Faden die Unterscheidnng zweier Quellen der Moral; die eine wurde in den Gesetzen der Aussenwelt, die andere in der M e n s c h e n n a t u r gesucht. So glaubten die Pythagoreer in dem Weltganzen eine mathematisch-geometrische Ordnung zu finden, die sie dann auch in ihrem Innern herzustellen suchten. die sogenannte Harmonie mit sich selbst. Sokrates jedoch verlegte den \Vohnsitz des Sittlichen in die Menschen- natur und Gesellschaft, verponte dagegen die moralische Welt- anschauung der Physiker. Indes verrathen wenigstens die Denkwurdigkeiten, welche liber Sokrates sowohl Xenophon als Platon aufgezeichnet haben, einiges Schwanken desselben in Betreff der Quellen des Ethischen, indem derselbe auch von der zweckdienlichen und sittlichen Einrichtung der Aussen- natur spricht. Platon selbst bietet keineswegs ein einheitliches und festgehaltenes ethisches System, indem er in verschiedenen Schriften verschiedene ethische Grundgedanken vortragt, bald sokratische und psychologische. bald wieder pythagoreische und biologische (letztere im Timaeus). Aristoteles neigte der sokratischen Anschauung zu, doch ward seine vorherrschend psychologische Ethik durch die theologische des Christenthums in den Hintergrund gedrangt. Uebrigens verrath bereits Aristoteles’ System wie das sokratische starke sociologische Beimischungen. Von da an schwarikt die philosophische Moral fort\vahrend zwischen der pythagoreischen und sokratischen Grundanschauung, indem sie sich ausschliesslich bald der einen bald der andern zuneigt. Spater ward ztvischen beiden Anschauungen eine Ueberbriickung versucht. Die neueren bio- logischen, psychologischen, monistischen und sociologischen Systeme sind ihrem Ausgangspunkte nach nur Fortsetzungen und Ausbildungen altgriechischer Systeme. Selbst Spencer’s ') W a 11 a s c h e k : Ideen z. pr Philos. 65 2 ) H Spencer: Tbats. d Eth. 305. W. Wundt: riyst. d. Philos. 1869 u. ebenso in seiner Ethik. 98 Dritter Abschnitt. und Maudsley’s biologisch-ethische Versuchehabenin Demokrit, Empedokles, Platon und in der griechischen Iatrik ihre An- fange. — Der Gedanke, dass die Aussenwelt als eine Quelle der Sittengesetze zu betrachten sei, wurde auch von einigen neueren Ethikern wieder ausgesprochen. So von VVallaschek, welcher bemerkt: „ Wir Menschen sind in der Einsicht und Ab- sicht an die Aussenvvelt gebunden. “ ‘) Ebenso schreibt Schopen- hauer: „Die Ethik muss notlrvvendig auf irgendwas thatsachlich und nachweisbar Vorhandenes, sei es nun in der Aussenvvelt oder im Bewusstsein gegeben, gestutzt werden. “ 2 ) Besonders instructiv fiir die Aufstellung der sittlichen Principien ist die Geschichte der englischen Ethik, welche vom 16. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag die verschiedenartigsten Ausgangs- punkte der principiellen Forschung aufweist und hochst namhafte Vertreter der verschiedensten ethischen Elemente zahlt. In ihr finden wir reichlichst den Naturalismus, Intellectualismus, Conventionalismus, Utilitarismus, Sensualismus, Hedonismus, Biologismus, Sociologismus, die metaphysische, wie auch die monistische Richtung vertreten. Eine ganz merk- vviirdige Stellung nimmt unter allen Ausgangspunkten der praktischen Philosophie Kant ein, der trotz seiner von der empiristischen vollig abgekehrten Richtung eine Fiille der treffendsten Bemerkungen ausgestreut hat, welche sich trotz ihrer Einfugung in ein hochst kiinstliches System durch ihren Gehalt dennoch Bahn zu verschaffen wussten. Indes zahlen Kanfs praktische Deductionen weit zahlreichere Anhanger als dessen ethisches Princip selbst. Dem Begriffe des Sittlichen als eines Gesetzmassigen steht es nahe, dasselbe auch als eine Norm, ein Muster oder ein V o r b i 1 d fiir das mensch- liche Handeln aufzufassen, wie es Striimpell u. A. thun. 3 ) ZumSchlusse dieses Abschnittes soli noch zur Vermeidung von Missverstandnissen die Grenze zvvischen dem Sittlichen einerseits und dem A e st h e t is chfen, Religiosen und Oekonomischen andrerseits gezogen werden. Ich kann hierinKanfs Unterscheidung zu der meinigen machen. Nach Kant ist das asthetische oder, wie er es nennt, das „Geschjnacks- urtheil 0 bloss „contemplativ“ 4 ), das religiose Gefiihl' von der Achtung beherrscht, da es „Dankbarkeit, Gehorsam und Demiithigung 11 erfordere s ), vvahrend das Sittliche jenen beiden Geftihlen und Urtheilen gegeniiber vor allem einen „Zweck- Begriff“ zum bestimmenden Grunde hat, da man bei ihm „am Dasein eines Objects oder einer Handlung Interesse ') Wallaschek: Ideen z. pr. Philos. fi8. Schopenhau er: Die beiden Grundprobl d. Eth. 1841. S 2R3. 3 ) Striimpell: Vorsehul. d. Eth. 12. ‘) K a n t: Kr. d. Urth 49. iKirchm.) 5 ) Kant: ebend 338. Verschiedene Beziebungen des Sittlichen. 89 habe“'), — vielleicht genauer ausgedriickt: da man beim Sittlichen den causativen Wert eines Objectes oder Zweckes fiir das Ganze in Ansclilag bringen muss. Aehnliche Be- trachtungen iiber das Verhaltnis des „Guten“ und „Schonen“ stellt Wallaschek am Schlusse seiner „Ideen z. p. Ph.“ an * 2 ). Man konnte obige Gedanken etwa auch in folgender Weise um- schreiben: das asthetische Urtheil fasst den formalen und inhaltlichen Zusammenhang eines Objects ins Auge, das religioso bewertet einen Gegenstand nach dem Gefiihl der Autoritat, welches derselbe einflosst, wahrend das ethische denselben nach dessen Eignung oder Tauglichkeit fiir den Zusammenhang der Dinge des Seins abwagt. Kiirzer konnte man sagen : das asthetische Urtheil fasst den anmuthenden Eindruck, das religiose das durch einen Gegenstand erregte Gefiihl der Verehrung, das ethische den allgemeingiltigen Wert fiir die gesammte Welt ins Auge. Der okonomische \Vert eines Objects, den Paulsen unter die ethischen Werte rechnet 3 ), betrifftj ausschliesslich die materielle Geltung desselben fiir das Einzelne und Ganze. Jedenfalls steht das Oekonomische dem Sittlichen in dieser Hinsicht als ein Wertvolles sehr nahe, darf jedoch nicht in so weitem Sinne genommen werden wie das Moralische, welches auch rein geistige Werte in sich befasst. Die Vergleichung des Ethischen und Rechtlichen wiirde eine liingere Auseinander- setzung erfordern, die hier nicht Raum finden kann. Auf den Unterschied zwischen dem Ethischen und Sociologischen habe ich bereits in Kiirze hingewiesen. Ich kann dem nur bei- fiigen, dass die Idee der Sociologie der Ethik unterzuordnen istP ') Kant: ebend. 46. 2 ) W a 11 a s c h e k: ebend. 150 ff. 2 ) Paulsen: Ethik. S. 435, ff. bes. 440 ff. Vierter Absehnitt. Das in der Menschennatur enthaltene Sittengesetz. Der menschliche Organismus wird von inneren und ausseren Impulsen zum Handeln veranlasst. Die Ursachen der inneren Impulse liegen ganzlich in der Zusammensetzung' und Function des Korpers als eines lebendigen Organismus; sie werden uns zunachst durch Gefuhle bewusst. Die Tendenz, der Zweck sowie selbst der Inhaltderselben — Trieb genannt — ist dem Individuum urspriinglich vollig un- bekannt; erst mit der Zeit und durch Erfahrung lernt dieses das wahre Wesen und die 1 rechte Natur des Triebs kennen. Als einen dunklen, anfanglich unverstandenen Drang, als eine Unruhe kennzeichnen den Trieb sowohl die alteren Psychologen \vie z. B. Descartes. Hume, als auch die neueren. 1 ) Oft erscheint der Trieb, wie Descartes bemerkt, geradeZu zweckwidrig, wenn z. B. der Wassersiichtige drirstet. 2 ) — Die Thatigkeit des Triebs ist eine zweifache: eine positive oder anstrebende, und eine negative oder abwehrende. 3 ) Die positive hat die Befriedigung eines Bediirfnisses, die ne¬ gative die Abwehr eines Unbehagens zumZwecke. 4 )BeiKindern. Idioten, gewissen Kranken und Irren bleibt der Trieb zu- meist auf der Anfangsstufe seiner Unbewusstheit stehen und bewegt deren Trager zu unwillkurlichen, ungehemmten Handlungen; der verniinftige Mensch lernt seine Triebe ziigeln und sucht sich von deren Herrschaft zu befreien. — Als Z w e c k des Triebs wird sowohl von den alteren als den neueren ‘) Vgl. bei Lotze: Medicin. Psvchol. § 26i, S. 297—298 die Bescbreibung der Triebgefiihle. 2 ) Descartes: Meditat. VI., S. 111 in Kirchmann’s Ausg. 3 ) Descartes: Ueber die Leidensch. d. Seel. II Th., Art 87, S. 68 in Kirchmann’s Ausg. 4 j Maudsley: Physiologie u. Patho- ogie d. Seele. S. 137. C Die einheitliche Tendenz des Triebs. 4 Psychologen die Selbsterhaltung des Individuums angegeben. So von Hume, der diesen namlichen Zweck des Triebs bei Thieren und Menschen annimmt; ‘) ebenso von Maudsiey, der den Trieb fur eine \vesentliche Bedingung des Fortbestandes alles Organischen ansieht 2 .) Indes sind dies nichts als \Vieder- holungen der alten peripatetisch-stoischen Lehre vom Triebe — op!A7i, appetitio —, iiber welche sehr ausfuhrlich Cicero in De flnibus berichtet. 3 ) Als Endzweck des Triebs lehrten namlich die Stoiker : unum esse omnium extremum . . idque habere propositum quasi finem, se ut custodiat in optimo sni generis statu. 4 ) — Was die Anzahl und Eintheilung der Triebe anlangt, so hat man dieselben auf bestimmte Arten zu bringen gesucht. So kennt H. Spencer 'dreierlei Triebe: egoistische, altruistische und egoaltruistische. 5 ) Nach Aug. Comte’s Vorgange unterscheiden Einige bloss einen egoi- stischen und einen altr uistischen Trieb, so W. Wundt, der einen S e lb ste r hal tu n g s- und Gattttngstrieb kennt 6 ), in Betreff des sogenannten Nachahmungstriebes jedoch schwankt. Ich halte die Annahme einer grosseren Anzahl von Trieben, wie sie G. H. Schneider annimmt, fur kaum berech- tigt, mindestens ftir unzweckmassig. 7 ) Es geniigt vollkommen, | einen einzigen Trieb, den der G1 u c k s_eJ„i_g'keit, -anzunehmen-/ und es fallt durchaus nicht schwer, aus diesem einen alle Erscheinungen des Triebes zu erklaren. Sobald manfiirjedes Object des Triebs eine eigene Art desselben statuieren wollte. \viirde man damit niemals zu Ende korr.men. Denn, was vermag der handelnde Mensch nicht alles zu begehren? Die menschliche Begierde — die Begi er d e ist der nach aussen tretende Ausdruck des Triebs • — ist ein Proteus von hun- dert und mehr Gestalten. Sowie es also nur Eine Art Be- friedigung des Begehrens und Strebens gibt, namlich das Gefiihl der Gliickseligkeit, ebenso gibt es nur Einen Trieb, den Trieb nach Gliickseligkeit, der eben 'unzahlige :Formen annehmen kann. Bemerken will ich noch, dass iclj den Trieb vom Instincte, als dem Besi d n nm von Willens- handlungen, scharf getrennt wissen mochte, Die Annahme hervorr agender oder besond er s auffalliger Form en des Triebs ist jedoch der ethischen Forschung willkommen ') Hume: Enquiry IX, S 99 in Kirchmann’s Ausg. 2 ) Mauds- ley: ebend 136 3 ) Cicero: Fin. III. § 20 ff., III. § 65, IV. § 25, V. § 24 s. u. ofters. 4 ) Cicero: Fin. V § 26 5 ) H. Spencer: Principien der Psychologie II. Bd., S. 681—706. ‘)W. Wundt: Phys. Psych. II S. 342. ’) Vgl. G. H. Schneider’s Werk: Der menschliche Wille, 1882. — Doch stimme ich Spinoza’s einzigem »egoistis hem< Triebe (Ethik IV. S. 18-23) nicht hei. 42 Vierter Abschnitt. und diese sollen nicht iibersehen werden. Von der methodischen Regel der Instantiae praerogativae werde ich ofters Gebrauch maehen. Die sittliche Natur des Triebs — diese nachzu- weisen ist meine Aufgabe — hat niemand genauer und besser erkannt als die peripatetisch stoische Ethik. Diese begnugte sich keineswegs mit einer Erorterung seiner Erscheinung, sondern fasste aueh dessen Ursprang ins Auge, den sie aus einer un- mittelbaren Fiigung der Natur ableitete, und suchte auch die verschiedenen Arten des Triebes,namentlich auch dessen ethisohe Seite klarzulegen. Sie begieng dabei den einzigen Fehler, dass sie etwas zu stark die materielle Wohlfahrt des Menschen betonte, liber derselben jedoch die hohere, liber das vergang- liche Irdische reichende Bestimmung desselben ubersah. Vermoge. des Triebs also liebe jedes Lebewesen sich s e lb st — omne animal se ipsum diligit — bemerkt Cicero, dem man wegen seines Umgangs mit den besten Vertretern der Philosophie schon etwas rnehr Kenntnis der griechischen Philosophie zutrauen darf als einige Moderne es erlauben wollen — und suche sich so gut als nur moglich zu er hal te n. 1 ) Weiters folgert die Stoa, dass die mensch- liche Natur aus diesern Grande alles ihr Angemessene anstrebe — quod accommodatum est, appetere 2 ). Daher komme es, dass alle Lebewesen sich vermoge des Triebes durch Auswahl — selectio — und Ausniitzung aller ihnen gunstigen Umstande 1 ebenskraftig zu ent- wickeln suchen 3 ) und so dem Ziele der Vervoll- kommnung sich annahern. 4 ) Das Verdienst, Satze sol¬ eh en Inhalts durch Beobachtung des Einzelnen als richtig nach- gevviesen zu haben, kann der durch Ch. Darwin angebahnten und begrlindeten Ent\vicklungslehre nicht abgestritten werden; ebenso kann aber die Tliatsache, dass der Grundsatz der Zuchtwahl — selection — bereits bei den peripatetischen und stoischen Physikern lange vor Darwin feststand. trotz aller in England und Amerika neuester Zeit dagegen vor- gebrachter Versuche nicht aus der Welt geschafft werden. ’) Ein stoischer Satz vom Triebe ist noch besonders anzumerken, namlich dass alle Lebewesen — animantes — ihre Lebens- zwecke theils gemeinschaftlich, theils individuell verfolgen, dass sie also ebenso auf die Erhaltung ilirer ‘) Cicero: Fin. V. § 24. 2 ) Cicero: ebend. 3 ) Cicero: Fin. III § 20, V § 24. *) Cicero: Fin V § 26. i ) Ich verweise zur Bt*griindung des Gesagten bes. auf Fin. V § 26 , \vas da von den sich selbst — ipsa šibi per se — helfenden Pflanzen und deren Veivoll- kommnung vorgebracht wird. Der sittliche Charakter des Triebs. 43 besonderen Art als ihrer Gattung bedaclit sind. 1 ) Die socialen Einrichtungen, sowie die allgemeine Menschenliebe hatten also bereits die Stoiker aus dem Triebe a.bgeleitet. 2 ) Man tindet sonach, dass die Stoiker, denen in diesem Punkte die Peripatetiker und Epikureer nicht viel nachstanden, bereits eine erschopfende Theorie der in der Menschennatur liegenden Sittengesetze geliefert haben, welche die heutige Wissenschaft bloss in richtigerAVeise zu ver\verten braucht. — Man wird fragen, worin donn die sittliche und gesetz- massige Wirksamkeit des Triebs bestehe, und wodurch sich derselbe als eine Norm und als ein Zweck des menschlichen Handelns erweise. Man konnte namlich einwenden und sagen, der Trieb sei Verirrungen unterworfen. was ja die Erfahrung sattsam bestatigt, derselbe treibe auch zu zweckwidrigem Handeln an, und es bedurfe eines testen, verniinftigen Willens, ihn im Zaume zu halten. Ausserdem kommt, Kant diesen Vorwurfen noch mit kritischen Griinden zuhilfe, indem er den Z\veifel ausspricht, ob „an einem Wesen, das Vernunft und einen Willen hat, .seine Erhaltung, sein Wohlergehen. mit einem Worte seine Gliickseligkeit der eigentliche Zweck der Natur sei. “ 3 ) Vom Zweifel an der sittlichen Natur der Gliick- seligkeit, die Kant spater,, namlich in der „Kr. d. pr. Vr.“, als solche zuzugeben sich genothigt sieht 4 ), will ich als von einem bereits im vorangehenden Abschnitte widerlegten sittlichen Grundsatze hier absehen, und \vende mich gegen die iibrigen Eimvtirfe. Was den Trieb anlangt, so tragt derselbe das Correctiv und die Remedur seiner Verirrungen und seines Mis.sbrauchs in sich selbst, wenn das Subject nur auf dessen Stimme recht achten will. Ist namlich der Trieb, der ein Werk der Natur und der Geschichte des Individuums ist, gesund — es gibt bei krankhafter Anlage auch krankhafte Triebe —, so reagiert derselbe von selbst gegen seinen Missbrauch und weist durch die dem Subjecte aus seiner Gebarung er- wachsenden Folgen auf seinen naturgemassen Zweck zuriick. Der Nahrungstrieb z. B. zeigt durch die richtige Ernahrung des Leibes und durch dessen Gedeihen an, dass bei seiner Befriedigung das von der Natur geforderte Gesetz der Massig- keit beobachtet wurde; die Ueberfiillung des Leibes und das aus derselben folgende Unbehagen sowie die infolge dessen entstehenden Krankheiten zeigen, dass jenes Gesetz nicht beobachtet worden ist. Das namliche kann man an den ‘) Cicero: V § 25; bes V § 26 2 )Cicero: Fin. III § 62, bes' § 63 u. § 65. 3 ) K a n t: Grundlegung z. Metaphys. d. Sitten. Hartenstein’s Ausg. Bd. 4 , S. 24H. *) Kant: Kr. d p. V. 23. 133 ff 4 - 44 Vierter Abschnitt. fibrigen Formen des Triebs aufzeigen, woraus sich der Satz ergibt: an der A rt, wie der Triebbefriedigt wird, undan den Folgen der Erfullung seines Zweckes zeigt sich das Gesetz seiner Wirksamkeit, Dass der Trieb von bestimmten Gesetzen beherrscht wird, und derselbe nur ein Ausdruck dieser Gesetze ist, das zeigen, wie gesagt, die Folgen der Behandlung des Triebes. Wird also durch die Folgen die Gluckseligkeit des Subjects vereitelt, so wurde der Trieb nicht in richtiger \Veise befriedigt, wird der Trieb aber ganz unterdruckt, so kann noch weniger ein e Gliick- seligkeit erzielt werden. Denn die Triebe unterdriicken, heisst alles Streben unterdriicken, und dies kann un- moglich Gluckseligkeit herbeifiihren, da diese etw r as Po- sitives ist .— wie schon die etymologische Bildung des Wortes es besagt — und keineswegs etwas Negatives. Mag nun auch der Begriff der Gluckseligkeit, auf deren Er- reichung der Trieb zunachst gerichtet ist, noch so vieldeutig sein, was H. Spencer ja mit Recht bemerkt 1 ), so ist doch schon das Streben nach Gluckseligkeit an sich, das eben aus dem Triebe entspringt, etwas beseligendes, dagegen der Mangel alles Streben s schon an sich ein Unheil, wie Maudsley ebensO wahr als schon bemerkt: „Aufhoren zu streben ist gleichbedeutend mit Sterben." 2 ) So liegt dann schon im Streben allein ein Stiick Gluckseligkeit, das ganz unmittelbar aus dem .Triebe entspringt. Sehen wir uns nun nach den prserogativen Instanzen des Gliickseligkeitstriebes um und tmtersuchen wir, \vie weit an demselben die Merkmale des Sittlichen zutreffen. Bei genauerer Betrachtung werden wir finden, dass an den hervor- stechendsten Arten des Triebs sowohl dessen Zweck als auch Erfolg ein sittlicher ist, d. i. dass beide den causativen Zu- sammenhang der Dinge zu fordern geeignet sind. Wir konnen aus den von den Stoikern, Peripatetikern und Epikureern am Triebe gemachten Analysen drei Haupt- formen desselben entnehmen und z\var : n^Den menschlichen Selbsterhal tungs- undGattungs- trieb, dessen Impulse sich gegenseitig verstarken und zu einem einzigen Triebe vereinigen, den ich den phyletischen nennen mochte. Darunter verstehe ich den auf die leibliche und geistige Erhaltung der menschlichen Gattung — M — gerichteten . Antrieb; Diesen Zweck seiner Thatigkeit haben besonders die Stoiker hervorgehoben. ’) Spencer; Thats. d. Eth. 179 — 180. 2 ) Maudslcy: Physiol. h. Patholog. d. Seel. 187. Die Formen des Triebs. 45 2. Den Trieb nach leiblicher und geistiger Selbstbildung und gleicher Bildung Anderer, welchen ich den Ver- vollkommnu ngs- oder Pe r f e cti o n s t ri eb nenne. Der- selbe nmfasst und fordert das gesammte Bildungs- und Er- ziehungstvesen der Menschheit als ein Mittel zur besseren Erlangung der Sittlichkeit und Gluckseligkeit. Seine eifrigsten Vertheidiger waren die Peripatetiker. 3. Den e go alt r u i s t is ch en Trieb oder die Selbst- und Nachstenliebe, die ich mit einem Worte die all- gemein-ilienschliche Sympathie nenne. Darnach liebt jedes Lebewesen sich selbst und in sich alle iibrigen Mitglieder seiner GattungjDen Egoaltruismus lehrten, allerdings in der beschrankteren Form der staatlichen Gesellschaft, die Peri¬ patetiker uiid Stoiker, in der Form der Freundschaft besonders eifrig die Epikureer, in der allgemeinen Form der socialen Menschenliebe jedoch nebst einzelnen griechischen Philosophen, wie Plato'), besonders die Peripatetiker. 2 ) Die Forderung der allgemeinen. uneingeschrankten Menschenliebe hat nachst dem Buddhaismus erst das Christenthum als religiosen Grundsatz eingefuhrt. . Dies sind die drei wichtigsten Erscheinungen des Gluck- seligkeitstriebes. Man konnte nach dem Vorgange der alt- griechischen Ethiker noch einen Antrieb zur Ehrbarkeit — honestum, decorum —, zur personlichen Wiirde, zu einem zweck- und naturgemass eingerichteten Leben, auch einen besonderen Thatigkeits'trieb: — ut appetat animus agere semper aliquid neque ulla condicione quietem sempiternam possit pati, sagen die Peripatetiker 3 ) — u. s. w. unterscheiden, allein die genannten und viele andere Erscheinungen des Triebs lassen sich unter die obigen drei Hauptarten und unter den Hauptbegriff des Gluckselig- keitstriebes bringen. Dass es wirklich nur Ein Trieb ist, dessen verschiedene Erscheinungen wir vor uns haben, das ersieht man aus Versuchen, eine logisch teste Reihe seiner Hauptarten zu entwickeln. Ich habe den Trieb der Selbst- erhaltung vorangestellt, da der Mensch zunachst exi- stieren muss, um gliickselig zu sein; unmittelbar daran den Vervollkommnungstrieb angereiht, da die Ausbildung zur Erlangung der Gluckseligkeit fahiger macht, und an die letzte Stelle die allgemeinmenschliche Sympathie gesetzt, welche zur Pflege der socialen Interessen antreibt, durch welche die Individuen sowie die Gatturig Mensch ihre Gliick- ‘) vgl. Cicero: Fin. II § 45, wo Platon mit Bezug auf dessen Timaeus 'il B fiir einen echten .VVeltbiirger* erklart wird. 2 ) Cicero: Fin. IV § IH (societas); Acad. poster. I § 21. Cicero: Fin. V § 5o. 46 Vierter Abschnitt. seligkeit am besten und sichersten zu erlangen vermogen. Ich hatte jedoch ebensogut die Selbstliebe voranschicken konnen, wie dies die Peripatetiker und Stoiker gethan hatten, die auf Grund des Egoismus ein vollstandiges System der Ethik herstellten. Ebenso konnte man aus der allgemein- menschlichen Sympathie die iibrigen Arten des Triebs ableiten, wie es in ahnlicher Weise Schopenhauer versuchte. der anfangs sein ethisches System auf dem Mitleide aufbaute. Indes, wie gesagt, gerade die Moglichkeit, die Haupterscheinungen des Gliickseligkeitstriebs verscliieden zu ordnen, beweist am besten, dass wir es nur mit Einem Triebe und nur mit Einer Grundidee desselben zu thun haben, namlich mit dem der Gliickseligkeit. j Soviel iiber die Ein- theilung und methodische Seite des"Gegenstandes. Was das moralische ,lumen naturale 1 anlangt, welches im Triebe liegt, so wird dem Menschen dasselbe nicbt durch den Funken des eigenen Geistes, sondern durch die Erfahrung und die Folgen der Triebhandlungen angeziindet, indem der Geist auf diese Art des Z w e c k e s, auf den der Trieb bei seinen. verschiedenartigen Aeusserungen hiirvveist, sowie der M i frt el seiner Befriedigung sich bewusst wird. Dieses Bewusst- seinwirkt auf den Geist mit der Kraft eines Gesetzes zuriick, und nur eine unzureichende ethische Anschauung, welche zwischen den objectiven Ursachen des Bewusstwerdens und dem sub- jectiven Bewusst\verden selbst nicht zu unterseheiden ver- steht. kann die Erkenntnis des Triebes deni Willen zuschreiben. . 1 ;. D er n h v ln -ti-sn-h e Trieb, so wurde oben bemerkt, er- scheint in zwei Formen: als Se lb ste r ha It. u n g s- und G a 11 u n g s t r i e b, welche gegenseitig ? uf einander wirken und ihrem Ursprunge nacli unzertrennlich sind. Indem das Individuum sich selbst zu erhalten sucht, sorgt es zugleich unbewiisst fiir dio Erhaltung dgr Gattung, und umgekehrt. Beide Triebausserungen entspringen einer einzigen Quelle: dem einen Triebe nach der Erhaltung des Menschenge- schlechtes. Die S e 1 b s t e r h a 11 u n g. vielleicht richtiger die i n d i v i d u e 11 e Erhaltung genannt, hat die leibliche, aber ebenso auch die geistige Fortdauer zum Ziele; daher ist dieselbe eine zweifache, was fiir die Psychologie und Eschatologie von grosser Bedeutung ist. Die geistige Selbsterhaltung besteht in der Sorge fiir die Fortdauer des eigenen Geschleclites. des eigenen Narnens, Rulimes und An- j gedenkens. In der Sorge fiir den geistigen Fortbestand liegt der Unterschied zwischen dem crassen Materialismus, E u da¬ ni o n i e genannt, und der ivahren, zeitlich unbegrenzten V G 1 ii c k s e li g k e i t. ivelche sich nicht mit dem physischen Die Formen des Triebs. 47 Leben zufriedenstellt. Riicksichten auf die mit der Sittlichkeit verbundene Gliickseligkeit konnen daher auch die Anfopferung des physischen Lebens zugnnsten des geistigen erfordern. Die Civilisation kennt schon langst hohere Giiter, als es das physische Leben ist, und der Ausspruch des Dichters: „ das Leben ist der Giiter hochstes nicht “ muss nicht als eine pathetische, sondern als eine tiefernste, vollkommen wahre und etliisch wohlbegriindete Sentenz verstanden werden. Die individuelle Selbsterhaltung ist ein Gebot der Natur, welche durch den Trieb zum Menschen spridit. Sie bezweckt die Erhaltung dessen, was man in Kiirze die Personlichkeit nennt, in der sich das gesammte Sein und Wollen eines Individuums ausdrtickt. Die menschliche Personlichkeit ent- halt soviele Vorziige und eine solche Fiille von Tiichtigkeit. wie kein zweites Wesen auf Erden. Vor allen iibrigen Vor- ziigen kommt die sociale Bedeutung des Menschen in Betracht. welche Sokrates und Aristoteles mit Recht so nach- driicklich hervorgehoben haben. Eine mit Ideen und That- kraft ausgestattete Personlichkeit ist der grosste Schatz einer Gesellschaft, da bekanntlicli alles Wohl und Weh derselben von kraftigen, fiihrenden Personlichkeiten abhangt. Wie viel aber ist nicht gegen diese Wahrheit in der menschlichen Gesellschaft schon gesiindigt worden! Gerade die besten und niitzlichsten Menschen fallen der offentlichen Thorheit oder der privaten Ranciine zum Opfer. Welcher Schaden wird nicht durch solche Verluste dem Menschengeschlechte zugefiigt! Im Gesetze der individuellen Selbsterhaltung ist die Erweiterung der personlichen Machtsphare enthalten, welche man mit einem andern Namen Individualitat nennt. In derAus- bildung der Eigenthumlichkeit liegt zugleich die Biirgschaft fur die Freiheit und moglichste Selbstandigkeit, fiir die E h r e und Wii rde. demgemass auch fiir den Charakter und die Selbstachtung der Person. Ohne das Bewusst- sein seiner Individualitat wtirde der Mensch niemals wohl- gerustet in den Kampf ums D as ein, der ihm durch die Naturverhaltnisse nicht erspart bleibt, eintreten konnen. Doch muss dieser Kampf, soli er sittlich bleiben, nur zum Zwecke der Nothwehr und Selbstbehauptung, nicht zu Eroberungs- z\vecken unternommen werden, da solche fiir das Individuum sehr gefahrlich werden konnen und unmoralisch sind. Ein grundsatzlicher Kampf „Aller gegen Alle“ liegt daher nicht in der Tendenz des phyletischen Triebes. Indem das Individuum fiir seine Existenz und seine Fortdauer eintritt, fordert es auch den Fortbeštand der G e- sellschaft, dadurch auch die Fortdauer der ganzen 48 Vi er ter Abschnitt. -+ Ga t tun g, da diese aus Individuen' besteht. Die Tendenz des Gattungstriebes liegt, wie dessen Erfolg zeigt, in der FortpflanzungdesMenschengeschlechtes, und kann, verniinftiger- weise betrachtet, auch keinen anderenZweck haben als diesen. Damit šind ihm auch seine natiirlichen Grenzen und Gesetze bestimmt, die nur ein unvernimftiger, die eigene Existenz unter- grabender und bedrohender Missbrauch iibersehen kann. Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, weiden die Fehler und schweren Versiindungen gegen den G e s c h 1 e c h t s t r i e b begreiflich. Die verderblichen Folgen dieses Missbrauchs bestatigen das Gesagte in ganz augenfalliger Weise. Ebenso er- scheint die Monogamie von diesem Standpunkte aus ver- standlich. Die P o 1 y a n d r i e und Polygynakie sind Ausschreitungen des Geschlechtstriebs, welche ebenso, dem Zwecke des Gattungstriebes als der individuellen Erhaltung ent- gegenarbeiten, da solche Missbrauche erfahrenermassen einer- seits die Fortpflanzung und Erhaltung der Gesellschaft, andrerseits den Bestand des Individuums gefahrden. Evidenter als beim Geschlechtstriebe kann die Unsittlichkeit d. h. der Widerspruch gegen die Forderung der Gluckseligkeit nicht hervortreten. A Die zweite prserogative Form des Gliickseligkeitstriebes besteht im Drange nach leiblicher und geistiger Perfection, welche am deutlichsten an den Fortschritten der Menschheit wahrzunehmen ist. Es wiirde iiberfltissig sein, im Einzelnen auf die grossen Culturunterschiede hinzuweisen, welche sich durch das immer weitere, wenn auch mitunter langsame Fortschreiten der Bildung innerhalb der Menschheit ergeben haben; ich will lieber auf das Wesen der Perfection und der en Zusam- menhang mit der Gluckseligkeit hinweisen. Die menschliche Perfection vollzieht sich unter dem Drange der Bediirfnisse und hangt von der Fahigkeit der Lebewesen ab, sich an das Milieu zu accommodieren, wie die Vervollkomrnnung schon die alten Ethiker erklarten. Unter welchen Bedingungen sonst dies geschieht, das des genaueren zu erortern ist hier nicht der Ort. Jedenfalls zeigen hinsichtlich der Accommodation nicht alle Menschen gleiches Geschick und erzielen daher auch nicht gleiche Erfolge. Die zufallige Gunst der Ver- haltnisse kommt hierin wie in allem dem strebenden Menschen zuhilfe, obschon sich im grossen Ganzen ein causaler Zu- sammenhang zwischen der Bildung und der Gluckselig¬ keit nicht leugnen lasst. Denn im allgemeinen gilt so- wohl fiir die Individuen als fiir die Gesellschaften der Satz: je hoher und allgemeiner die Cultur und Ci vilis ation, desto grosser die Segnungen d^r Der Trieb und die Perfection. 49 Wohlfahrt. Ich fiige jedoch diesem Satze die nothwendige Clausel an, ohne \velche derselbe seinen Wert verlieren wurde, indem ich sage: doc h muss die Cul tu rund Civilisation von sittlichem Geiste erfiillt sein. Denn es gibt auch eine Scheincultar und eine Scheincivilisatiofrr welche arger ist als jede Barbarei, da in dieser wenigstens noch einige naturliche sittliche Antriebe fortwirken, wah- rend in der Scheincultur auch diese sittlichen Reste ver- schwinden und dem Raffinement den Platz iiberlassen. Auf diese Weise lost sich der Widerspruch, in welchem die that- sachliche Gliickseligkeit zur Bildung zu stehen scheint, aber in Wirklichkeit nicht steht und stehen kann. Es ist mitunter geschehen, dass ein feiner und geriebener Gauner unter den ehrlichsten und gebildetsten Menschen einen Trick mit Gliick durchfiihrte; doch kommt dies nicht auf Rechnung eines etwaigen grundsatzlichen Widerspruchs zwischen der Bildung und Gliickseligkeit, — wie iiberdies ein Gauner nicht „gliick- selig“ genannt zu werden verdient —, sondern auf das Conto eines Betrugs zu stehen, gegen den niemand gesichert ist sowenig als gegen irgendein Ungliick. Wenn mitunter Gebildete gegeniiber Ungebildeten im Kampfe ums Dasein erliegen, was ja vorkommen mag, so liegt die Ursache dessen anderswo als in der Bildung oder Einsicht, vielleicht in gewissen Defecten des Charakters, oder in gewissen mangel- haften Anlagen des Geistes, oder im bosen Zufall. Wollteman den causalen Zusammenhang zwischen der Gliickseligkeit und Perfection aufheben, so miisste man den Factor Bildung aus dem praktischen Leben einfach streichen. Da wiirde man bald sehen, zu welchen Consequenzen dies fiihrt. Es wiirden sich daraus die schreiendsten Widerspriiche gegen die Erfahrung herausstellen. — Mit Recht dringen daher Staaten und Gemeinden auf eine moglichst allgemein zugang- liche und moglichst gute Schulbildung und Erziehung, weil der Einfluss dieser Institutionen auf die Sittlichkeit und Gliickseligkeit ein evidenter ist. Einige Ethiker scheinen in der Perfection schon den Endzweck der Sittlichkeit selbst zu erblicken; doch darf aus der stetigen Perfection auf nichts weiter als auf ein Streben nach praktischer Voll- kommenheit geschlossen werden, welche selbst wieder hoheren Zwecken — welchen, das \vissen wir Menschen nicht — dienstbar ist. Indem ich noch bemerke, dass der Thatigkeitstrieb als Quelle der Arbeitsamkeit, des Fleisses und aller gewerblichen und okonomischen Reg- samkeit am besten der Perfection unterzuordnen ist, obwohl derselbe auch aus der Selbsterhaltung sich ableiten liesse, 4 50 Vierter Abschnitt. habe ich, wie ich glaube, das iiber den menschlichen Fort- bildungstrieb Nothige angefuhrt. . Die dritte Hauptart des Triebs aussert sich als a 11- g e meinm ens c h ličke Sympathie. Sie regelt die socialen Verhaltnisse der Menschen unter einander. Ihr charakteristisches Merkmal ist die Vorstellung und Behandlung des Mitmenschen alswie seines eigenen Ich, daher passend Egoaltruismus genannt. Man hat die Aeusserungen des Triebes auch Mens chlichkeit oder Humanitat schlecht- weg genannt; allein der Mensch schliesst zwar zumeist den Mitmenschen in seine Sympathie ein, kann jedoch ebenso auch nichtmenschlichen Wesen, lebenden wie leblosen, z. B. gewissen Thieren, Pflanzen, Kunst- und Naturgegenstanden seine Sympathie bezeigen. Wir konnen mit einem Torso, mit einem vom Blitze gespaltenen Baume, mit einem ver- wundeten Thiere ebensogut Mitlerd empfinden als mit einem Menschen. — Ich brauche kaum zu beweisen, dass der Begriff des Sittlichen gerade auf die Sympathie eine besondere An- ; wendung flndet. Wenn Kant die „ sympathetische Sinnesart !i ' deshalb frir kein allgemeingiltiges sittliches „Gesetz“ anerkennen pili, weil dieselbe keinem allgemeinmenschlichen „Bedurfnisse‘ - , dondern wohl der „Neigung“, aber nicht dem reinen prak- tischen Willen entspreche'), so wird ihm kaum jemand in seiner Beweisfiihrung folgen und beistimmen konnen. Der Wider- spruch Friedrich v. Schiller’s, der Zeitgenossen Kant’s iiber- haupt, sowie der nachfolgenden Zeiten gegen eine solche Auffassung der Sympathie kann uns schon als ein zureichen- der Gegenbeweis dienen. Wenn die allgemeinmenschliche Sympathie in der Mit- fr e u d e an fremdem Gliick und im M i 11 e i d mit fremdem Ungluck besteht, so entspricht sie ohne Zweifel einem all- gemeinen Bedurfnisse des menschlichen Gemiithes. Denn sein Wohl und Weh mit Andern zu theilen ist eine Herzens- I angelegenheit des Menschen. Fur den Menschen ist der interessanteste Gegenstand der Mensch* selbst; denn im Mit¬ menschen erblickt sich jeder wie in einem Spiegel. „Was den Mitmenschen trifft, das kann mich, kann jeden von uns treffen"; aus dieser Ueberlegung entsteht ein Solidaritatsgefuhl Aller, dessen Devise lauten muss : ,,Einer fiir Alle, Alle fiir Einen. 1 Die Kunde vom Ungluck Anderer betriibt jedes fiihlende Menschenherz. Namentlich Ungluckliche finden mehr Sympathie als Gluckliche. Menschen, die sich in einer kritischen Situation befinden, erregen unser Mitgefuhl. sobald sie gerettet sind, ’) Kant: Kr. d. p. V. 40. Die allgemeinmenschliche Sympathie. 51 unsere Mitfreude. Der Hauptreiz aller Erzahlungen liegt in der Schilderung gefahrvoller Abenteuer. In der egoaltruistischen Vorstellung liegt der Grand, dass tragische Scenen auf der Biihne unser Gemiith so tief ergreifen; denn im leidenden/ Helden erblickt der Zuschauer sich selbst. Die allgemein- menschliche Sympathie ist die Ursache der peinlichen Ge- fiihle, die sich des Zuschauers einer Hinrichtung nnd des Lesers einer Hinrichtungsscene bemachtigen. Dabei wird unser Nervensystem tief erschiittert, und schon dieser Grund spricht fiir die Aufhebung der Todesstrafe, da so viele Unsclmldige durch dieselbe in Mitleidenschaft gezogen werden. Am leb- haftesten aussert sich die Sympathie in der Form der L i e b e, und zwar zunachst der Ascendenten zu den De- scendenten. Im Kinde erblickt die Mutter ihr eigenes Ich, Hier sehen wir die Selbstliebe und die Liebe zum Andern unzertrennlich verbunden und zu Einern Gefiihle verschmolzen. Aehnlich in der E h e, ahnlich in der Freundschaft. Aus der Yerwandtenliebe hat sich nach der richtigen An- schauung der Stoiker die allgemeine Menschenliebe entwickelt. 1 ) Auch das kraftige sociale Gefiihl einer abgegrenzten Gesell- schaft zeugt von dieser Sympathie. Die allgemeinmenschliche Sympathie wird auf verschiedene Arten e r k 1 a r t. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich die^ selbe unmittelbar aus dem phyletischen Triebe ableite und > fiir eine Consequenz desselben halte. Als die starkste Trieb- feder des Mitgefiihls erscheint mir die gemeinsame Al)-' stammung des Menschengeschlechtes, der Monogene- t is mu s, fiir \velchen mehr Griinde sprechen als fiir den Polygenetismus. 2 ) Die bisherigen Resultate der Kranioskopie, auf welche die Anthropologie so grosse Stiicke halt, sind noch unzu- reichend, um in dieser Frage zu entscheiden oder etwa dem Polygenetismus als Stiitzen zu dienen, da es nach R. Virchow’s und Med. Dr. v. Ihering’s Urtheil unmoglich ist, aus vor- gewiesenen Schadeln mit Sicherheit auf die Race zu schliessen, welcher der Schadel entnommen sei. Die Abweichungen in den Schadel- und Gesichtsformen beweisen fiir den Poly- genetismus nichts, da solche Unterschiede innerhalb derselben Racen, ja mitunter zwischen den Ascendenten und Descen- denten sowie Agnaten derselben Familie vorkommen. Die Ursachen solcher Abweichungen sind hochst wahrscheinlich, ‘) Cicero: Fin. III. § 62. % j vgl. die Zusammenstellungder Grflnde fiir und wider bei J o h. Ranke: Der Mensch. 1887. II Bd. 231 ft. — Kant war Monogenetist, vgl. dessen Schrift: Von den verschiedenen Racen der Menschen. S. W. 2. Bd. 435. 52 Vierter Absehnitt. wie die Mediciner glauben, in den Fotusbildungen und Ent- \vicklungen zu suchen. Die Pigmente der Haut und Cornea, die Querschnittsformen des Haares, die Weiten des Foramen magnum, die Synostosen, die Kopfnahte und ihre Formen, die Prognathien, die Dolicho- und Brachykephalien u. a. D. sind Abweichungen vollig secundarer Art, da alle die genannten, oftmals fur „typisch“ ausgegebenen Formen auch innerhalb derselben Tribus vorkommen, wenn auch nicht in gleich grosser Ausdehnung ‘). Kurz, die bisherigen Resultate der anatomischen, physiologischen und psychologischen Forschung iiber den Menschen reichen nicht aus, den Polygenetismus zu stiitzen, wahrend der Monogenetismus iast keiner Be\veisfiihrung bedarf, fur den namlich, der die Menschen- racen nicht etwa nach ilirer Farbe oder nach ihrer Sprache nnterscheidet. Es gibt hundert und tausend Ursachen und Einfliisse, durch welche der Urtypus eines und desselben Volksstammes im Laufe der Zeit verandert und sich selbst unahnlich \vird. — Aehnlicher AVeise leitet Schopenhauer wider Cassina das Mitleid aus dem menschlichen Monogene¬ tismus ab. * 2 ) Dass die unwillkurlich sich aussernde allge- meinmenschliche Sympathie aus der „Phantasie“ stamme und kunstlich erzeugt werde, sucht Schopenhauer ebendort zu TViderlegen. 3 ) Fiir einen unmittelbaren Ausfluss des ego- altruistischen Triebes sieht sie H. Spencer an 4 ). Romberg fiihrt sie auf eine „Association der Affecte" zurtick, da schon die blosse Vorstellung fremden Leids Mitgefiihl hervorrufe. Diese „ Association “ sei so machtig, dass sie einen Menschen vom Unrechte wider Andere zuriickhalte, eine Ansicht. die in der englischen Ethik zuerst von Dav. Hartley aufgestellt 5 ), spater von H. Spencer verfochten \vurde.°) Doch scheint mir die einfache „Reflexion“ und Association" nicht machtig genug, um Mitgefiihl hervorzurufen. Wir konnen augenschein- lich geheuchelte Thranen ansehen, ohne dass diese uns riihren; um Mitgefiihl zu empfinden. miissen wir mit den leidenden oder sich freuenden Personen gleichartig denken und die Ursachen ihrer Stimmungen als wahr und bemitleidens- wert anerkennen. Dass es eine Ab- und Zunahme des Mit- ') Oesterreichs bunte Volkervertretuug in der Armee liefert hievon inferessante Proben; man kann in ihr alle Volkertypen der Erde vertreten finden. — Damit stimmt R. Virchow’s Bemerkung, dass »neger- und mongoloide Personen in Deutschland gar nicht schwer zn entdecken seien*, iiberein (Archiv f. Anthropolog. 1888. 18. Bd. S. 12). 2 ) Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Eth. S. 215—216. 3 ) ebend. 250—253; vgl. 272—276. *) H. Spencer: Princip, d. Psycbol. Bd. II. S. 684- 706. 5 ) W. W u n d t: Ethik 1186. S. 284. 6 ) H. Spencer: Thats. d. Eth. 133. Egoismus und Altruismus. 53 gefiihls in der menschlichen Gesellschaft gibt, ist nicht zu leugnen. Was an urspriinglichem Stammgefiihl mit der Zeit verloren geht, muss die gesteigerte Civilisation er- setzen. So bemerkt Schopenhauer: „Mit der Steigerung der Intelligenz halt die Empfanglichkeit ftir die Leiden Anderer gleichen Schritt. “ ‘) Manche denken zwar dariiber anders. doch bleibt es eine Thatsache, die auch Voltaire hervorhebt, dass mit zunehmender Cultur und Civilisation auch die Zahl der humanitaren Anstalten zur Linderung des mensch¬ lichen Elends zunimmt. Sehr richtig scheint mir SteinthaFs Bemerkung, dass die Menschheit durch ethische Erziehung zu „realer geistiger Einheit“ gefiihrt werde, dadurch aber zugleich zu wahrer Humanitat. 2 ) Descartes’ Ableitung des Mitgefiihls schwankt swischen dem Princip des Egoismus und Egoaltruismus. 3 ) Spinoza kennt nur ein interes- siertes Mitleid; Kant erklart die „Menschenliebe“ nur als B Pflicht“ und „ Schuldigkeit aus reinem Willen“ 4 ) da er jede sympathetische Gefuhlsregung ftir eine „Lust“, die nicht ethischer Natur sem konne, ansah. ■— Aus dem Egoaltruismus entstehen durch Differencierung zwei Richtungen, die mit einander in Conflict gerathen konnen: der absolute Egoismus und der absolute Altruismus. Keiner der beiden ist, getrennt von dem anderen, sittlich, ver- bunden und in Correlation zu einander gebracht, machen sie die Handlungen sittlich. Es gibt daher einen sittlich gesun- den und einen sittlich ungesunden Egoismus und Altruismus. Der ungesunde Egoismus ftihrt zur Selbstsucht, der ungesunde Altruismus zur Erniedrigung und zur Vernachlassigung seiner selbst. Die praktische Philosophie hat eben die Aufgabe zu zeigen, wie beide Gefuhle, zur Norm des Handelns gemacht, ein sittliches „Gut in abstracto" fordem, das der ganzen Gattung Mensch durch Pflege ihrer iVohlfahrt zustatten kommt. 3 ) — Der Trieb, so wurde im Eingange dieses Abschnittes bemerkt, aussert sich auch in negativem Sinne, und zwar in den Gefiihlen der Reue, des Abscheus, der Scham, der Ge\vissensbisse u. a. Gefuhlsregungen, welche von jeher fur eine warnende und strafende Stimme der Menschennatur galten. Vielleicht sind gerade solche Gefiihle die starksten und machtigsten Hebel der Sittlichkeit. ') Schopenhauer: Die beid. Grundpr. 256. 2 i Steinthal: Aligem. Eth. 427. 3 ) Descartes: vgl. Ueb. d. Leid. d. Seel. III Th. Art. 186 (128 in Kircbmann’s Ausg.) u. II Th. Art. 82, S. 61. 4 J Kant: Kr. d. p. V. 99. 5 ; W a 11 a s c h e k : Ideen z. pr. Ph. 64—65. Vieiter Abscbnitt. M Eine zweite, dem Triebe theihveise beigeordnete Art des in der Menschennatnr residierenden Sittengesetzes besteht in der W ahrnehmnng und logischen Denkkraft. Die Handlungsweise des Menschen wird namlich nicht bloss von Bewegungen des Triebes, sondern auch von der Ein- sicht in die realen Verhaltnisse beherrscht. Dies geschieht durch die objective Welterkenntnis. Andrerseits wieder unterliegt das Handeln den unerbittlichen Gesetzen der begrifflichen Uebereinstimmung oder des Widerspruches in den Zwecken und Mitteln, denen sich ausserdem die Macht der logischen Schlussfolgerung zugesellt. Es wird sich spater noch Gelegenheit finden, von diesen im Verstande liegen- den. das sittliche Leben machtig beherrschenden Sittengesetzen zu sprechen. Theihveise stehen tibrigens auch diese Gesetze, wie Hume bemerkt, unter dem Einflusse des Triebes. Um das in der Menschennatur enthaltene Sitten- gesetz voli und ganz zu verstehen, musste man alle psycho- logischen, logischen, anthropologischen, padagogischen, hygieni- schen, medicinischen und diatetischen Beobachtungen vor sich gesammelt und geordnet haben. Zu diesem Zwecke musste eine eigene \Vissenschaft der Seelenhygiene geschrieben \verden, •vvelche die Ethik aus sich selbst nicht zu liefern vermag. — Ich glaube nun gezeigt zu haben, dass der Trieb und der Verstand das in der Menschennatur thatige Sittengesetz re- prasentieren. Wenn der Trieb entheiligt wird, so liegt die Schuld nicht an der Natur, wie Sallust richtig bemerkt, sondern an der menschlichen Handlungs\veise, \velche auch das Heiligste mit frecher Hand zu verunehren \vagt. Allerdings geschieht dies nicht, ohne dass der Mensch dafiir von der Natur seine Strafe erhiilt, die sich in den Folgen seiner frevelhaften Hand- Tungen kundgibt. _ Funfter Absehnitt. Das in der Aussennatur enthaltene Sittliche. Die im vorigen Abschnitte aufgezeigten Sittengesetze betreffen die Menschennatur als den Sitz des phyletischen Triebes und des Verstandes; der folgende Absehnitt soli die in der Aussenwelt waltenden Sittengesetze naclnveisen. Unter der Aussennatur verstehe ich hier alle jene wirkenden Dinge, welche im menschlichen Nervenapparate Reflexe auslosen, den Menschen abgerechnet. von dessen sittlicher Natur be- reits die Rede \var. Aus der Verwandtschaft der Menschen- und Aussen¬ natur folgt, dass die Sittengesetze beider nicht nur nicht colli- dieren, sondern vollig iibereinstimmen miissen; denn der Mensch ist ein Theil der Aussennatur. \Veiters folgt aus der stoff- lichen Yerwandtschaft beider Naturen. dass einige unter den beiderseitigen Sittengesetzen ihrer Beschaffenheit und Tendenz nach vollig identisch sein mussen. Unsere nacliste Aufgabe soli daher die sein, zu untersuchen, welche Sittengesetze in den beiden Sphiiren identisch oder doch unter sich ahn- lich sind und welche von einander abweichen. Die identischen werden dann bloss angedeutet. die von einander abweichendenj dagegen naher ausgefiihrt werden. Da kommt vor allem der p h y 1 e t i s c h e T r i e b in Betracht. Kennt die Aussennatur einen solehen? Insofern als dieser Trieb auf die Selbsterhaltung seines Tragers und dessen Gattung abzielt, kommt derselbe der Aussennatur als einem Ganzen wie auch deren einzelnen Theilen zu. Die vernunft- gemasse, unwiderlegliche \Vahrheit von der Unzerstbr- barkeit der Materie, aus welcher alle Dinge bestehen, ist ein Beweis fiir die Existenz dieses Triebes. Die Btlanzen z. B. 56 Funfter Abschnilt. sorgen unzweifelhaft fur ihre generelle Erhaltung in gleicher Weise als die Thiere und Menschen. Dass die Gestirne und die verschiedenen Welten, welche wegen ihrer eigenen Bewegung und ihrer Fortdauer schon nach der vorgeschrittenen alt- griechischen Physik zu den „Lebewesen“ gezahlt wurden — mag man diesen Namen jenen Welten in dessen stricter oder erweiterter Bedeutung beilegen') —, fur ihre Selbsterhaltung sorgen, diese Ueberzeugung berechtigt zu der Annnahme. dass derselbe Trieb. wenn auch nur seiner Tendenz nach. gleich- falls fur die Aussennatur gilt. Was den Perfectionstrieb anlangt, so lasst sich auch hierin ein Parallelismus zwischen der ausseren und mensch- lichen Natur auffinden, was ich spater des naheren zeigen werde. Doch von der allgemeinen Sympathie lassen sich in der Aussennatur nur in der Pflanzen- und Thierwelt Spuren nachweisen; im grossen Ganzen mag die Herrschaft der Sym- pathie zweifelhaft erscheinen. Das personliche Moment endlich. wenigstens in seiner anthropomorphen Form, muss hier als nur durch eine entfernte Analogie aufzeigbar ausser Be- tracht kommen. Dafiir tritt in der Aussenwelt eine Reihe an- derer sittlicher Eigenschaften auf, die in der Menschennatur nur schwach vertreten sind. — Die Aussennatur bietet Stoff zu den verschiedenartigsten Betrachtungen. Wir konnen dieselbe von ihrer physikalischen, mathematischen, metaphysischen, religiosen, asthetischen Seite betrachten ; allein immer werden wir an ihr Eigenschaften entdecken. die fiir uns nicht nur belehrend und erhebend. sondern fiir unser praktisches Handeln auch mustergiltig, rnass- und gesetzgebend sind. [Der ethischen Betrachtung drangt sich vor den iibrigen Eigenschaften der Aussennatur eine gewisse I d en t i t a t in der Art ihrer Erscheinungeu auf. Unter Identitat ver- stehe ich zunachst die sich immer gleichbleibende und teste Wiederkehr gewisser Erscheinungen, welche dieselben charakte- ristischen Merkmale an sich tragen. aber auch gewisse feste Beziehungen zwischen den Erscheinungen verrathen. In beiden Beziehungen ist das Princip der C a us a lit at herrschend. Auf Grund der Identitat vindiciere ich der Aussennatur einen Charakter d. i. eine grundsatzliche, ihrem innersten Wesen zukommende Eigenschaft, sich selbst treu zu bleiben. I d e n- tisch sein heisst nicht bloss stets in gleicher Weise ver- fahren, sondern auch sich selbst d. h. seinem Wesen consequent ’) vgl. Platon: firme us p. 30 A - C, 33 C-34 A, bes. 39 D. Das Princip der Identitat. 57 und treu bleiben, heisst ein Ding sein, das sich vor seinem Innern und nach aussen hin stets als das gleiche gibt. Die Identitat der Aussennatur tritt uns am auHallig- sten in den Naturgesetzen entgegen. Nach Helmholtz ist unter Naturgesetz „irgendein Vorgang in der Natur zu verstehen, der sich in allen Fallen unter den gleichen Bedin- gungen wiederholt.“ ') Nach E. Zeller , der diesen Ausdruck mehr logisch als naturwissenschaftlich fasst, ist das Natur¬ gesetz „ ein Satz, der universelle Geltung fiir alle Falle hat. “ a ) H. Spencer hat die nach Kant synthetisch genannte Causalitat im. Šinne, wenn er in den Naturgesetzen nichts weiter als , Gleichformigkeit der Folge und Existenz“ fin det. 3 ) >. Mit Zu- hilfenahme der Helmholtz’schen und J . St. Miirsrhen Erkla- rung 4 ) mochte ich unter Naturgesetz die štete Beziehung einer Gruppe von Erscheinungen zu bestimmten anderen Erschei- nungen verstehen, ohne Riicksicht darauf, welche von diesen als Ursachen, welche als deren \Virkungen zu betrachten seien. Dabei setze ich jedoch voraus. dass die beiden Arten von Er¬ scheinungen gewisse charakteristische und sie vor den tibrigen unterscheidende Merkmale gemein haben. Der mathematische Calciil stellt diese Merkmale fest. Woher nun die Identitat ? — Helmholtz erklart dieselbe ausder „Unabanderlichkeit der Ursachen die er „ Naturkrafte“ nennt. 5 ) Dadurch, dass die Naturkrafte continuierlich wirken, erzeugen sie in uns die Vorstellung des Gleichartigen und Bleibenden, also Identitat, welche in den Vor- stellungen der Gesetzlichkeit, Gleichformigkeit, Continuier- lichkeit nur ihren aprioren Ausdruck findet. Daher sagt A „ Jiiehl: „Die Gesetzlichkeit ist der Ausdruck der Wirkung dei Bestandigkeit auf den Verstand.* 6 ) ;Aus der Eigenschaft der Identitat schliessen wir auf einen gleichformigen, continuierlichen und fort- dauernden Lauf der Naturereignisse oder auf ein fort- dauerndes Leben in der Natur. Aus demselben schliessen wir auf eine ewige Thatigkeit in der Natur, durch die alle Dinge erhalten und in ihrem Wesen gefordert werden. Also zeigt sich die Natur in der Identitat ihrer Gesetze und in der auf dieser Identitat beruhenden „Arbeit“ — sehr bezeichnend wird dieses Wort nicht bloss voiTdeF bewegenden Thatig¬ keit menschlicher, sondern auch unpersiinlicher Wesen ge- 'j Helmholtz: Popul. wissenschaftl. Vortragc. 1865. Hit. 1. S. 1311'. 2 ) E. Zeller: Vortrag. u. Abhandl. 3 Samml. 11)84'S. Ii)4 — 5. 3 ) Spen¬ cer: Thats. d Eth. bi. *) J. St. Mili: Syst. d. ded. u. ind. Log.Buch III, 1. 105 ff. ; ’) Helmholtz: ZurLehre von der Energie. VViss. Abh.l. Bd. 1882 S. 14 ff. % A. Riehl: Kritic. II. z5, 321. 68 Fiinfter Abschnitt. braucht — als ein Vorbild uncl Muster von Sittlichkeit. Aus der Causalitat aber d. i. aus der nothwendigen Coexistenz gewisser Erscheinungen schliessen \vir auf eine feste C o n- sequenz und Folgerichtigkeit der Naturthatigkeit. In der gesetzmassigen Folgerichtigkeit und Correlation von Ursache und Wirkung, Grund und Folge erblicke ich das Prototyp der nattirlichen Gerechtigkeit, die sich bei der Schaffung von Folgen nach der Qualitat der That richtet, nach dem Spruehe : „Wie die That, so die Folgen. “ In der menschlichen Gesellschaft gilt flir gerecht, wer unberiihrt von dem Einflusse der handelnden Personlichkeit deren Thaten einzig nach ihren Motiven, Mitteln, Zwecken und Folgen be- urtheilt. Vermoge der Folgerichtigkeit in der Natur wird der Zusammenhang der Dinge ein gesetzmassiger und geord- neter, dalier gefordert, was bei Mangel an Folgerichtigkeit nicht geschahe; daher auch ein sittlicher. Infolge der con- sequenten Succession oder Ordnung der Ereignisse hat die Philosophie von jeher die Welt ftir einen „Kosmos“, d. i. fiir ein geordnetes "VVesen angesehen. Nach Kant ist diese „Ordnung" allerdings nur ein Postulat der reinen „Yer- nunft“'), Spencer dagegen nirnmt sie als durch Erfahrung ausgemacht an und spricht von dem. hohen sittlichen Ein¬ flusse derselben auf das Gemiith des handelnden Menschen. 2 ) Ich finde, dass kein verniinftiges Moment gegen eine Ordnung in der Natur, wohl aber alle fiir dieselbe sprechen, namentlich die im Begriffe der Identitat enthaltenen eben angefiihrten Corollare derselben. Das Princip der Umsetzung der Kraft dient als ein \veiterer Be\veis fiir die Existenz einer solchen Ordnung. In der Eigenschaft der Identitat ist ein hervorragendes S i 11 e n ge s etz enthalten. Die Identitat besagt, dass ein Ding das ist und bleibt, als was es erscheint, und die iibrigen Dinge wissen, was sie von ihm zu halten und zu erwarten haben. Ohne Identitat ihres Wesens wiirden die Dinge leerer Schein. eitel Liige und Tauschung sein und wiirden nicht als real erkannt. Fiir den Menschen ist die Identitat in den Natur- erscheinungen besonders \vichtig, da dieselbe dadurch, dass sip Psich dem menschlichen Denken mittheilt, Einheit und Wahr- heit in dessen Vorstellungen bringt. Uebrigens iibertrifft die Identitat der Naturgesetze alle menschliche Consequenz um ein bedeutendes, so dass diese \veit hinter der Natur zuriick- ‘) Kant: De mundi sens. atque intell. for. u. princip. Werke 2 S. 424. 2 ) H. Spencer: Grundleg. d. Philos. I S. 605—506. Schlussfolgerungen aus der Identitat. 59 Eintritt von Naturerscheinungen, die als gesetzliche erkannt sind, mit Bestimmtheit erwarten diirfen, ohne hinterdrein getauscht zu werden, konnen wir auch dem charakterfestesten Menschen gegeniiber nicht das gleiche envarten. Das geschaft- liche, politische und selbst das gewohnlichste hausliche Leben belehrt uns tagtaglich, dass dem so ist. Ist die Zukunft iiberhaupt schwer zu berechnen, so ist es die Zukunft in den menschlichen Beziehungen zehnmal, hundertmal schwerer. Dies kommt von der Schwache der menschlichen Natur* von der Gewalt de-r Umstande und von den wechseln- den Stimmungen her, welche das menschliche Gemtith be- hefrschen. Jede gute Maschine limetioniert regelmassiger als der menschliche Wille. Man nehrne dazu die vielen okono- mischen und sonstigen Krišen im menschlichen Leben, durcli welche die starksten sittlichen Grundsatze und Entschliisse erschiittert werden. Da es eher von den schlechten als den guten Charakteren gilt, dass sie sich consequent bleiben, so stimme ich z\var hierin Al. Riehl bei, wenn er sagt: „Wir sehen die menschlichen Handlungen mit ebenso grosser, ja noch grosserer Regelmftssigke.it erfolgen, mit wel- cher iiberhaupt verwiokeltere Naturerscheinungen eintreten, sobald ihre Bedingungen gegeben sind“.‘) Dagegen mochte ich in Betreff der guten und mittleren Charaktere eine solehe Regelmassigkeit bezweifeln. Es kommt gar nicht selten vor, dass Leute. die dreissig Jahre in einem Hanse treu gedient haben, im einunddreissigsten eine Defraudation begehen, die kein Mensch voraus berechnet oder nur geahnt hatte. Aehnliche 'Unregelmassigkeiten sind bei ausgemachten naturgesetzlichen Erscheinungen nicht zu besorgen. Daher j bleibt die Natur in ihrer strengen Identitat — soweit wir die Naturgesetze iiberhaupt kennen — ein Vorbild und eine: Norm fiir den Menschen. — Die Erkenntnis der Identitat in der Natur fiihrt zu wichtigen Sohlussfolgerungen, die auch fiir eine tiefere Er¬ kenntnis der sittlichen Beschaffenheit der Aussennatur von Be- deutung sind. Durch dieVorstellungeinesgleichformigen undeon- tinuierlichen Geschehens kommen wir zum Verstandnisse von Z ei t und R au m; indem wir aber auf die Vorstellungen des Ge¬ schehens und Geschehenen die Begriffe Zeit und Raum zu- gleich anwenden. gelangen wir zu dem'Begriffe der Grosse, und indem wir das gleichformige Zunehmen oder Abnehmen der Grossen ins Auge fassen, zum Begriffe der Reihe. Durch den Begriff der Reihe gelangen wir wieder zur Vorstellung der 'j A Riehl: Kriticismus II 2, 231, €0 Fiinfler Abschnitt. Entwicklung nnd der mit ihr venvandten Beziehungen. Doch konnen wir zur letzteren noch auf einem andern AVege gelangen, und dies auf physiologisch-psychologischem. Die Uebung, mag sich diese, auf die Muskeln und Nerven oder auf rein geistige Operationen beziehen, beruht auf der AViederholung gewisser Bevvegungen Allein sehen wir uhs einmal den Erfolg dieser Uebungen an! Dieselben konnen. rationell betrieben, zur Vervollkommnung gewisser Organe und Functionen des Korpers und Geistes fiihren. Mit dem Princip der Uebung geht somit eine Weiterentwicklung, und zwar eine Perfectionieru pg des Organismus und seiner Functionen Hand in Hand. Die Perfection finden \vir auch in der Aussennatur, und da wir dieselbe bereits in der Menschennatur als sittlich nachgevviesen haben, so miissen wir dieselbe auch hier fiir ein Sittengesetz erklaren. Haben diese Deductionen aus dem Princip der Identitat fiir die Ethik Bedeutung? — Ich glaube, die allergrosste. Denn sie klaren iiber den hochst wichtigen Begriff der Ent- w i c k 1 u n g auf. Aus dem vorangehenden Abschnitte wissen wir, dass Entwicklung und Vervollkommnung der mensch- lichen Fahigkeiten Mittel zur Sittlichkeit und Tugend- haftigkeit sind. Es ist daher nur von Vortheil zu wissen. wie die Vervollkommnung vor sich geht. Nach der eben er- vvahnten psychologischen Anschauung wird diese durch Uebung herbeigefuhrt, die Uebung aber vermag dies durch die mit ihr verbundene Anhaufung und Ansammlung der durch sie erzeugten Kraft. Gewisse Centralstellen der Muskeln und Nerven \verden so zu Accumulatoren der Kraft. Fahigkeit und Tuchtigkeit. ’) Wie es also scheint, ist die Entvvick- ,lung keineswegs durch die Auslese — selection — allein Jbedingt, sondern auch durch Kraftansammlung infolge 'von Uebung. Allein auch die Uebung muss \vieder durch irgendein tieferes Motiv erklart werden. Was soli nun das andauernde Motiv zur Uebung sein? Etwa die blosse Ueber- zeugung von ihrer erfolgreichen AVirkung, die man einmal durch Zufall gewonnen hat? — Moglich, doch nicht so ganz vvahrscheinlich. Zur Constanz der Uebung bedarf es starkerer Impulse. zumal wenn diese unbewusster AVeise erfolgen soli, wie sie ja meistens erfolgt. ■ Vergessen wir nicht, dass die Uebung zumeist aus Triebimpulsen hervorgeht. Ich finde ein solches Motiv in dem bereits ervvahnten Endzvvecke des Handelns, dessen Macht sich im Triebe ankundigt. Ohne das ‘) Aehnlich erklaren Roux und Du-Bois-Reymond die Perfection; vgl. A. Riehl: Kriticism. II 2, 352. Existenz eines Enclzweckes. 61 Drangen nach einem Endz\vecke wiirden die Uebung, Kraft-l ansammlung, Perfection blind und unbegreiflich sein; durch Annahme der Einwirkung eines solchen Antriebs wird das Streben nach Thatigkeit, die Uebung, ferners die auf die Uebung verwandte Muhe und deren Constanz begreiflich. So wird der erwahnte gndzweek alles Geschehens zur ei gentlichen Urs acha^ der EntwicKiung. ‘Ule Erfullung jenes Zweckes kostet "aber viel Zeit, Consequenz und *Kraftaufwand, um die demselben im Wege stehenden Hindernisse zu uberwindenj Denn. er- innern wir uns an das im dritten Abschnitte Gesagte: alles Gute, Tiichtige, Vollkommene, Sittliche findet seine Wider- sacher, die iiberwunden werden mussen, wenn das Sittliche triumphieren soli. So erklart sich auch die Zeit als ein zur Ueberwindung jener Hindernisse fuhrendes Mittel, und ist daher keineswegs eine mussige aprioristische Speculation. Wie also dem Menschen bei seinem Handeln, so schwebt der Natur ein Endzweck vor, den sie durch Nebenzwecke d. h. Mittel zu erreichen sucht. Und auf einen solchen deutet die Entwicklung hin; nur geschieht dies in der Aussennatur weit kraftiger, consequenter und ausdauernder als in der kurz- lebigen, schwachen Menschennatur. Wiirde hier, wie man mitunter annimmt, die blosse Nothwendigkeit oder besser gesagt, die blosse Causalitat wirksam sein, so miisste die Entwicklung hochst einformig ausfallen. Ihre Mannigfaltigkeit, die Vari ati on der Formen, zeugt von Mannigfaltig¬ keit der Nebenzvecke. Daher sind Entwicklung und Variation correlate Begriffe. Die Existenz eines grossen einheitlichen Endzweckes der Natur kann nur theilweise erschlossen werden und zwar nur aus unzweideutigen Thatsachen'einer zweckmassigen und zweckbew ussten Thatigkeit derselben. Die Z\veck- massigkeit im Kleinen deutef auf einen Zweck des Ganzen hin. Derienige Theil der Aussennatur, welcher eine solche zunachst bietet, ist die organische Welt. Ob sich auch in der anorga- nischen dieses Princip vorfindet, ist ebenso schwer zu ver- neinen als zu bejahen. Wir besitzen keinen so ausgemacht sicheren Masstab fiir die Zweckmassigkeit, dass wir z. B. an den Steinarten. an den tropfbarflussigen und gasformigen Korpern die Existenz derselben als sicher annehmen konnten. Sobald wir aber einsehen,, dass die Aussen¬ natur ein lebendiges, thatiges Wesen ist, was wir aus den lebendigen Bewegungen und schopferischen Veranderungen in ihr entnehmen, diirfen wir zugleich auf ein žweck- massiges Schaffen schliessen, das sicherlich nicht weniger zweckmassig ist, als das des handelnden Menschen. Andrer- 62 Funfter Abschnitt. seits konnen wir in Betreff der anorganischen Natur keine triftigen Grunde vorbringen, dass sie irgendwo unzweck- m a s s i g verfahre. Die Naturphilosophie wenigstens hat stets an die Zweckmassigkeit der Gesammtnatur geglaubt. In der organischen Natur dagegen kann die Zweckmassigkeit direct nachgewiesen werden. So lasst die Natur weit mehr Pflanzen- samen entstehen, als ihrer zur Fortpflanzung der Art noth- wendig sind. Dann betrachte mali die Bliitenmenge, welche sie spriessen lasst, um die Frucht umso sicherer zu erzielen. / Allein, durch diese Yorsicht b eweist die N atur zuglaich ihre Schvvache; denn sie scheint sich ihres Erfolges nicht ' sicher zu sein. Ueber diesen ihren Zug bemerkt nun E. Diihring: „DieNatur darf weder als unfehlbar noch als allmachtig betrachtet werden.“ ') — Dies stimmt zu jener Ansicht, die ichobenaus- gesprochen habe, dass die Natur, um ihreZwecke durchzufuhren, mit Hindernissen zu kampfen habe. Ebenso auffallend verrath uns die Natur das Geheimnis ihres zweckmassigen Verfahrens im thierischen wie nicht minder im menschlichen Fortpflan- zungsprocesse. Wie klug und schlau weiss sie die miihsame Kinderaufziehung und Pflege durch die begliickende Gatten- und Kindesliebe zu versiissen, indem sie in den Erzeugern Gefiihle von Lust und Seligkeit erweckt, um sie fur alle Miihen und Sorgen umso sicherer zu gewinnen. Sicherlich konnten die Jungen so mancher Thiere ohne die sorgsame Pflege ihrer Eltern nicht auikommen. Es sieht ganz so aus, als begehe die Natur hierin einen „Tr ug“, von dem sie E. Diihring wohl vergeblich freizusprechen sucht. 2 ) Es bleibt immerhin ein Trug, wenn aucli nur um der Erreichung eines gutgemeinten Zweckes willen. Wie zweckmassig die thierischen Organe einge- richtetsind, hatdiePhilosophie undNaturgeschichte aller Zeiten mit Staunen hervorgehoben. Man lese, um sich von der merk- -vviirdigen organischen Einrichtung der niederen Thiergattungen zu liberzeugen, z. B. John Lubbock’s Schrift: „Die Sinne und das geistige Leben der Thiere “! Allerdings will man, gestiitzt aui Ch. Darwin’s Theorie, die Schaffung dieser merkwiirdi- gen \Verkzeuge auf Rechnung der Selbstthatigkeit und Vererbung der Thiere stellen; allein das setzt eine so hohe Stufe von Umsicht und Intelligenz jener Wesen voraus, wie sie kaum der Scharfsinn und die Phantasie eines Darwin, Wallace, E. Hceckel u. A. selbst besitzt. Die Entstehung jener /Zweckmassigkeit durch die eigene Kraft und den eigenen Willen jedes Lebewesens erklaren wollen heisst dem Thiere nicht ‘) E. Duhring: Wert des Lebens 1877. S. 145. 2 ) E. Diih- ring: Wert d. L. S. 156-7. Existenz eines Endzweckes. 63 viel weniger zumuthen als seine Selbstzeugung, was man ubri- gens auch schon versucht hat. Nicht die Mithilfe der Thiere durch j deren Accommodierung an das Milieu, wohl aber der Entwurf und die zweckbewusste Ausfiihrung jener Organe durch deren Trager selbst sei hier in Zweifel gezogen. So bleibt denn zuletzt doch die Natur deren Schopferin. Eine so hohe Intelligenz, wie sie dabei die Ausšennatur an den Tag legt, besitzt auch der Mensch nicht im entferntšten. Er ist weit davon ent- fernt, einen zweckmassig fungierenden, lebenden Thiermecha- nismus zu schaffen. „Welcher Mechaniker 11 , bemerkt W. Wundt, „mochte sich anheischig machen, auch nur eine Maschine zu construieren, welche die mannigfachen, veranderliehen Reflexe eines enthaupteten Frosches nachahmte ? — Unsere rohen Kunst- erzeugnisse werden niemals die Wirksamkeit jener Gebilde, die das vollendetste Product organischer Entwicklung sind, auch nur entfernt nachzuahmen imstande sein.“ ‘) Und warum nicht? wird man fragen. — Weil der Mensch nicht einmal zum Begriffe dessen, worin das Leben besteht, ge- langt ist. Im Streite uber die Annahme einer Zweckmassigkeit und eines Endzweckeš in der Natur habe ich meine Stellung bereits angedeutet. Ich glaube Spuren in der Natur zu be- merken, die auf einen Endzweck hinweisen. diesen selbst aber zu errathen, halte ich flir unmoglich. Spinoza leugnete alle Zwecke in der Natur; desgleichen thun es die Ver- fechter der Descendenztheorie. 2 ) Bei dem franzosischen Ethiker Espinas finde ich die Annahme einer sogenannten ,me c h a n i s c h e n Zweckmassigkeit“ — finalisme immanent au mecanisme 3 ), der auch G. H. Schneider beistimmt. Romanes und H. Spencer erklaren die Zweckmassigkeit aus biologischen „Erregungen“ und „Reizungen“ durch das Milieu, also evolutionistisch. — Niemand verlangt von der Annahme eines Zweckes eine befriedigende Erklarung der Entstehung und Einrichtung eines Organs, niemand von der Erkennt- nis einer thatsachlichen Z\veckmassigkeit eine Aufkliirung iiber das Wesen des Lebens. Dieses ist bis jetzt ebenso dunkel geblieben als der eigentliche Vorgang in der Materie trotz der Ivenntnis vieler mechanischer Gesetze. Indes, wie viele dieser Gesetze sind uns im Verhaltnisse zu den bereits bekannten noch ganz dunkel! Dass die teleologische Er¬ klarung ihre Berechtigung hat, dafiir zeugt auch nichts augenfalliger als die auf dem Descendenz- und Evolu- ’) W. Wundt: Physiol. Psycbol. Bd. II S. 408. 2 i vgl. dariiber H. Spitzer: Beitrage zur Descendenztheorie. 1886. — Ebenso A. Riehl: Kriticismus II 2, 333. ff. 3 j R e vu e p h ilo s.: 1888 p. 25 ff. 6i Fiinfter Abschnitt. tionsgedanken beruhende, exacte Forschung, in der die Begriffe „Nutzen“, das „Passendste“ und ahnliche eine hochst wichtige Rolle spielen. 1 ) Und wenn man schon bei der evolutionistischen Forschung auf die mechanischen Vor- gange mit Recht grosses Gewicht legt, so kommt man zuletzt doch immer auf die Frage zuruck : wozu aber lasst die Materie es zu demselben Resultate kommen? Die Forderung, mit der blossen Nothwendigkeit vorliebzunehmen, ohne eine Ein- sicht in deren Wesen zu erhalten. kann dem menschlichen Geiste nicht geniigen. Dieser verlangt auch Kenntnis ihrer Griinde; Kenntnis von Zwecken aber ist nur eine anclere Form der Kenntnis von Griinden. Daher das Manco in der Descen- denztheorie, abgesehen von deren noch grosserer Unzulang- lichkeit, das \Yesen und den Ursprung des Lebens zu er- klaren. Damit sei aber hier keineswegs der „unb e w u s st e n“ Zweckmassigkeits- und Zwecktheorie das Wort geredet. An- gesichts der Leugnung eines Endzweckes der Natur muss der grelle Widfirsprunh zvisphen der menschlichen Zwecksetzung und der in der Aussennatur vorausgesetzten Zwecklosig- keit auffallen. Woher solite denn der Mensch dieselbe bezogen haben, wenn nicht von der Aussennatur? Oder \virklich nur aus sich selbst? Ich glaube, mit der blossen Anregung dieser Frage auch schon deren Beantwortung an- gedeutet zu haben, vorausgesetzt, dass man den Menschen in die Kette der allgemeinen Causalitat einbeziehen will. Deshalb meine ich, um diesen. Theil der Untersuchung zu schliessen : die behauptete Unmoglichkeit, den Zweckbegriff in die ratio- nelle Mechanik einzufiigen, bedeutet eher eine Unzulang- lichkeit der letzteren als eine begriindete Ueberfliissigkeit und Entbehrlichkeit des ersteren. Der Gedanke: Alles ist zwecklos, ist ein verzweifelter. Herz und Verstand verlangen mehr, als der Mechanismus bietet und bieten kann. Soli deshalb das, was er selbst nicht besitzt, nothwendiger Weise nicht existieren diirfen oder konnen? 2 ) Ueber die Zweckmassigkeit in der Natur mochte ich noch zwei Satze aussprechen: erstlich, dass dieselbe keinevoll- kommene ist, da auch die trefflichsten Organe noch einer ’) vgl. A. R i e h 1: Kriticism. II 2, 334. 2 ) Sobald man ein Bewusst- werden des Bediirfnisses zugibt, muss man auch ein bewusstes Suchen nach dessen Befriediguug d. h. das Streben nach Zweck- massigkeit zugeben. Die hochste Idee des Zweckes fiihrt zum End- zvvecke, dessen Existenz man wenigstens ahnen, wenn schon nicht er- schliessen kann. Je scharfsinniger daher A. R i e h Ps Widerlegungen des teleologischen Princips sind (Kriticis. II 2, 5. Cap.), desto mehr "macht sich dessen Abgang in der Erklarung der Dinge fiihlbar. Die Perfection in der Aussennalur. idealen Nachbesserung fahig sind, was z. B. Helmholtz von der Einrichtung des menschlichen Auges bemerkt und was ebenso vom thierischen gilt'), und z\veitens, dass es sowohl „uber- lebte“ Organe — survivals — als auch „Ruckbildungen“ — replis — von Organen gibt, welche nicht mehr der Art- erhaltung dienen, aber einst gedient hatten oder an andern Organismen noch weiter dienen. dah er keineswegs gegen das Princip der Zweckmassigkeit verstossen. ( Z\veckmassig- keit und Perfection oder Ve r v ol 1 kom mnu ng sind correlate, unzertrennliche Begriffe : je grosser die Perfection, desto grosser die Zweckmassigkeit und umgekehrt. Ich hatte bereits im Vorigen die Uebung als ein Mittel der Ver- vollkommnung aufge\viesen. Sich perfectionieren heisst seine Seinsfunction verstarken, heisst an Kraft, Geschicklichkeit und Sicherheit des Handelns zunehmen, heisst seine und der Dinge Gliickseligkeit fordern, also auch an Sittlichkeit zu¬ nehmen, schliesslich auch den Endzweck der Natur erfiillen. Beispiele von Perfection begegnen uns in der Natur in reichlichster Ftille. Wir brauchen nur die Wachsthums- und Entwicklungsphasen der organischen Wesen mit offenen Augen zu verfolgen, und wir erkennen dieses Gesetz sofort. AVelche Stufenleiter von Vervollkommnungen rnacht nicht der Pflanzensame durch, bis eine Pflanze als hoher, stammiger, fruchtbringender Baum — sagen wir eine Eiche oder eine Palme — vor uns steht! Wie verschieden an Form sind das trage daliegende Ei eines Adlers und die hoch in die Wolken sich erhebende Gestalt des machtigen Aars! AVer nicht die Entwicklungsphasen des hilflosen Eies zum fertigen Raubvogel verfolgt hat, \viirde niemals an die Transformation des Eispermas zum gewaltigen Vogel glauben. Und doch ist dieselbe eine Folge des Gesetzes der Perfection, die verschie- dene Namen: Entwicklung, Transformation, Vervollkommnung u. a. fuhrt. 2 )J AVer kennt nicht die Veredlung der Thier- und Pflanzen- arten P — Durch die Gunst des Milieus und anderer Einfliisse sehen wir eine und dieselbe Pflanzenart, z. B. das Farren- kraut, besonders die Culturpflanzen, zu ganz auffallender Ent- wicklung der Formen und Grossen gedeihen. Die Zweck- massigkeitsstufen treten uns hier ganz evident vor Augen; . dieselben sind ebensoviele Beweise des Gesetzes der Ver¬ vollkommnung. Man mag, wie es z. B. Spitzer thut, wider den Perfectionismus den Einwand erheben. der „b i o logi s c h e 3 ) Helmholtz: Popul. wissen. Vortrag. Hft. 2, S. 205. 2 ) vgl. mehrere Beispiele in R. Virehow’s Abhandlung: Ueber den Transfor- mismus. Anthropologie, Bd. 18, S. 3 ff. o 66 Fiinfter Abschnilt. Y o 11 ko nune n h e it sbegr i f f“ sei bisher in der Wissen- schaft ein „vager“, und ein fester „Masstab zur Ermittlung der organischen Stufenhohe“ in derselben nicht vorhanden; 1 ) allein dies vermag noch nicht den Glanben an die Perfec- tionsfahigkeit der Lebewesen zu erschiittern, da gerade in der grossen Verschiedenheit der Arten und Species sowie ihrer Formbildungen, was auch R. Virchow bemerkt, der beste Beweis fiir den Perfectionismus liegt. 2 ) Was von den Culturpflanzen gesagt worden ist, gilt auch von den Nutzthieren. Klima, Zuchtwahl u. a. Umstande bringen eine ungeheure Mannig- faltigkeit der Formen und Grossen hervor, welche ebenso viele Perfectionsstufen aufweisen. Ob sich in der Trans- formation der anorganischen Natur die Perfection nach- weisen lasse, dariiber mochte ich nicht ein bestimmtes Urtheil abgeben. Einige altgriechische Physiker wollten in der Trans- fo rmat i on des Urnebels z u festerer Gestaltung — woriiber sich jauchdieTheorie Laplace’s und Kanfs des genaueren verbreitet j — einen Beweis der Perfection erblicken. Es lasst sich Einiges dafiir und Manches dawider sagen. — Bemerken will ich noch, dass Steinthal eine eigene „Idee der Vollkommenheit“ an- nimmt. 3 ) Aus dem Gesetze der Perfection ergibt sich zugleich das der Oekonomie. Darunter ist jene Eigenschaft eines selbstandigen Dings z. B. Organs zu verstehen, durch welches dasselbe in den Stand gesetzt wird, mehr als eine einzige Function in zweckmassiger Weise zu verrichten. Deberhaupt besteht das Wesen des Oekonomischen in der Erreichung mog- lichst grosser Erfolge bei Aufwand von moglichst geringen Mitteln. Dass eine solche Thatigkeit fur die Forderung der eigenen und fremden Wohlfahrt von hohem \Verteist. dass sie somit ihrem Begriffe nach sittlich ist, daran kann nicht gezweifelt werden. Deshalb wird die Oekonomie von mehreren Ethikern unter die Gesetze der Sittlichkeit gezahlt. Nur muss dieser Begriff in einem allgemeinen Sinne und nicht etwa nur auf die Gebarung mit materiellen Gtitern angewendet werden. — Die Aussenwelt bietet in ihren organischen Producten eine Fiille von Beweisen, dass sie okonomisch verfahrt. So verrichtet namentlich in der Classe der niederen Thiergattungen ein und dasselbe Organ die v er s chiedenartigsteii Functionen. ebenso im Pflanzenreiche. Es geniigt, auf dieses Gesetz. \velches besonders die Descen- denztheorie auf das genaueste durchforscht hat, einfach hin- zuweisen. b S p i t z e r : Bsitrag. z. Descendtb. S. 19. 2 J R. Virchow: Ueb. die Transform. a. a. U. S. 4. 3 ) S t e i n tb a 1: AUg. Eth. 165. Variabilitat uncl Individualitat. 67 Das verschiedene Verhalten der Individuenin Bezugauf ihre Perfectionierung hat grosse Unterschiede nicht nur unter ihnen selbst, sondern auch in deren Eigenschaften zur Folge. Man nennt dies Variabilitat oder Variation. Indi- viduen sowie ganze Arten entvvickeln sich rascher oder langsamer, mehrseitig oder einseitig, in einer ihrer Gliickselig- keit mehr oder minder entsprechenden Weise. Denn auch der Umstand verdient Ervvahnung, dass einige Individuen sich der zvveckmassigen Entwicklung in hoherem, andere in minderem Grade annahern; denn nicht alle gelangen an das- selbe Ziel. Den Zufall bei der Entwicklung aus dem Spiele zu lassen, ware ein Fehler, der nur aus einer vorgefassten vollkommenen Gesetzmassigkeit entspringen konnte, als m ti s s te n sich alle Wesen nothvvendiger Weise gleichmassig entwickeln. Wie viele verkiimmern oder bleiben zuriick! Aus dem Streben derJNatur, ihren Zweckgedanken gegen die ihr entgegenstehenden Hindernisse durchzufuhren, geht die Perfectionierung, aus dieser die Variabilitat, aus dieser wieder die Individualitat hervor. Man darf sagen : die Individualitat ist von einer kraftigen und siegreichen Per¬ fectionierung abhangig oder eigentlich deren Resultat. Wo keine Perfection, da auch keine Individualitat. So ist es im Menschen-, so im Naturleben. Striimpell geht weiter, indem er das Individuelle mit dem Variablen, „\Vandelbaren“ iden- tisch fasst*). Der Grund der Individualisierung liegt wohl in der Perfectionierung. Ist doch das Individuelle ein Bleiben- des, Inharentes, welches sich demnach in seinen Merkmalen nur verstarkt. Aehnlich verfahrt Virchow bei der Erklarung der Individualitat*). J. St. Mili leitet sie theils aus „ausseren Ursachen", also aus dem Milieu, theils aus eigener Mitwirkung des Dingš ab, 3 ) H. Spencer aus dem der Natur vorschwebenden „hochsten Lebenwelches der Entwicklung des Dings „ideal" vorsclrvvebe. 4 ) Entsprechend meiner Anschauung. nach welcher im Sittlichen zwei Factoren, das Subject und das Milieu zu- sammenwirken, sehe ich auch das Individuelle tur eine Re- sultierende dieser beiden Componenten an, von denen das Milieu — die Aussennatur — die starkere ist. An ihrer Seite liegt auch der angenommene Endzweck des Seins und AVerdens. Virchow, der die Sache mathematisch und physio- logisch zugleich auffasst, nimmt die Individualisierung fiir umso grosser an, je mehr constituierende Theile ein Ding hat. 5 ) Dabei wird jedoch das Perfectionsvermogen dem nu- ') Striimpell: Vorschul. d. Eth. 139. R. Virchow: IJeb. d. Transformism. S 3. 5 j J. St. Mili: Syst. d. Log. III Bd. S. 260 b s 261. 4 ) H. Spencer: Thats. d. Eth. 188. 5 ) V i r c h o w.: ebend. £8 Fiinfter Abschnitt. merischen Verhaltnisse der Theile einer Masše proportional gedacht und somit ein gleiches Mass der Perfectionierung angenommen, was den Thatsachen zu vriderstreiten scheint. Dpnn nicht alle Theile vervollkommnen sich in gleicher Weise, wohl aber hat die speci-fische Zusammensetznng der Theile Einfluss auf die Individualisierung. Ueber den sittlichen Wert der Individualitat brauche ich nicht viele Beweise beizubringen, da dieselbe ein Corrolar der Per- fection, ist, die ich als sittlich bereits aufgezeigt habe. Die hohe Bedeutung der Individualitat fiir die Sittlichkeit ist aller Zeit anerkannt worden; auf ihr als dem Ausdruck des Per- sonlichen beruht der beste Theil des Sittlichen. Darum findet man uber dieselbe Vieles in den Schriften Descartes’, Locke’s, Hume’s, Leibnitz’s, Herbarfs u. A. niedergelegt. Vergleichen wir einmal die Principe der Individualitat und Identitat! Die Individualitat beruht im Grunde auf einer auffalligen Erscheinung des an einem Dinge Specifischen, \vahrend die Identitat in dem Gemeinsamen besteht. das ein Ding mit anderen Dingen theilt. In der Identitat driickt sich die Gebundenheit eines Dings an andere Dinge, in der Individualitat dagegen dessen Einzeldasein d. i. dessen Freiheit aus. In der Identitat d. h. Uebereinstimmung der Dinge unter. einander liegt deren E in h e i t und fester Z u- sammenhang, in deren individueller Entfaltung ihr e s e 1 b- standige K raft und ihr \Ville. Durch eben diese zwei Eigenschaften wird das Individuum befahigt, seine eigene sowie der anderen Wesen Bestimmung umso energischer zu ver\virklichen. So bilden die Identitat und Individualitat die beiden Pole desselben festen Zusammenhanges der Dinge, welcher zugleich deren Wohlfahrt bedingt. Die Pflege der identischen Interessen erzeugt kraftige altruistische Ge- fuhle und Bestrebungen, die der Individualitat einen kraftigen, gesunden Egoismus. Den causalen Zusammenhang beider hat Th. Ziegler in gedankenreicher Weise ausgefiihrt.') Also haben wir im Vorangehenden zwei sittliche Principe, die Identitat und die Entwicklung in der Aussennatur kennen gelernt; aus dem einen folgt die E i n h e i t, aus dem andern die Mannigfaltigkeit, oder wenn man will, die Unend- li c like it der Welt. Beide vereinigen sich im Sein zu einem die Welt erhaltenden gemeinsamen Zwecke. — Ob es ausser den genannten Sittengesetzen noch andere Gesetze solcher Art gibt, will ich nicht mit Sicherheit behaupten noch in Abrede stellen. Zu dem Gesagten mochte 'j Th. Ziegler: Sittliches Sein und Werden. !890. S. 3P. Die Katurgesetze als Sittengeselze. 69 ich nur den allgemeinen Satz hinzufiigen, d a s s a 11 e Na t ur- gese.tze zusammengenommen als Sittenge se tze/ d. h. als Principien und Muster der Si 111 i c hk ei t z'u b etra c-h ten sin d. Der Begriindung dieses Satzes sei die nachfolgende Betrachtung gewidmet. Das Handeln ist, was schon mehrmals gesagt worden ist, auf Erreichung von Zielen gerichtet. Der Erfolg des Han- delns hangt nicht vom Subjecte allein, sondern auch von den dasselbe begiinstigenden und ermoglichenden U m s t a n d e n ab. Das Wort „Umstande a bedeutet soviel als Medium oder Aussenwelt. Nun aber gibt sich das in der Natur Bewegliche und Bewegende, Lebendige und Wirkende am deutlichsten in den Naturgesetzen kund. Wenn der oberste sittliche Zweck in der Gliickseligkeit — so undeutlich auch deren Be- griff sein mag — liegt, so herrscht nach dem Gešagten zwischen dieser und den Naturgesetzen ein nicht geringerer Žusammenhang, als ein soleher zwischen der Gliickseligkeit und den Sittengesetzen besteht. So tragen auch die Natur- gesetze den Charakter von Sittengesetzen an sich. Dies der erste und allgemeinste Grund, warum die Naturgesetze ins- gesamfht als zum Sittengesetz gehorig zu betrachten sind. Ein zweiter Grund liegt in den Folgen der That, \velche die Abhangigkeit des Subjects von der Aussenwelt bekunden. Ware nur der subjective „Wille“ oder nur die „Vernunft“ die Lenkerin aller menschlicher Handlungen und Geschicke, so konnte nie eine von der Person nicht beab- sichtigts Wirkung einer That erfolgen. Allein „die Folgen der Handlungen sind\ wie H. Spencer bemerkt. „Theilerschei- nungen einer nothwendigen Ordnung in der Erscheinungs- velt". 1 ) Solche Erscheinungen aber sind ausser den Sittenge¬ setzen die Naturgesetze insgesammt. welche in ihrer strengen Causalitiit dem Subjecte in den Folgen der That als wie eine Art Nemesis entgegentreten. Wir wissen, dass z. B. das Laster der Unmassigkeit fur die Verletzung der Naturge¬ setze seine Strafe empiangt. Aehnlich tragt jedes andere Laster eine nothwendige d. h. durch die Naturgesetze be- dingte Strafe in sich. Ware dem nicht so. vor den Men- schen allein oder vor dem eigenen, oft sehr laxen Ge- wissen wiirde der Frevler, ferner der zu einem Verbrechen Inclinierende, kurz jedes ethische Subject, welches bekannt- lich stets mehr oder minder zum Laster und Schlechten hinneigt, niemals zurucksc-hrecken.DieAngst und Furcht vor den '•) H. Spenser: Thats. d. Eth. 1879. S. 61. 70 Fiinfter Abschnitt. fFolgen, welche jede Storung der Naturgesetze friiher oder spaier mit sich bringt, halt von vielen Siinden, Lastern und Ver- brechen ab. Ahnung und Erfahrung sagen uns also, dass die Folgen der That im Bereiche der Naturgesetze liegen. Setzen wir einmal den Fali, die Naturgesetze wiirden nicht als Sittengesetze betrachtet. Da trate uns die Er¬ fahrung entgegdn, welche uns belehrte, dass die Handlungen eines Menschen, der die Naturgesetze entweder nicht kennt oder aber verkennt, nichts sind als eine Reihe fortgesetzter Verstosse gegen die Zweckmassigkeit des Handelns, also Haufungen von Fehlern auf Fehler, von Verkehrtheiten auf Verkehrtheiten, von Lastern auf Laster, kurz eine Kette von unsittlichen Handlungen. Aus der Unkenntnis oder.Verkennung der Naturgesetze entspringt eine Reihe von Vergehen und Terbrechen; man kennt sie unter dem Namen Vergehungen und Verbrechen aus Fahrlassigkeit. Dah er muss jeder- mann, der ein Amt oder eine wichtigere sociale Stellung ein- nehmen will oder einnimmt, die Naturgesetze kennen, weil er sonst unzweckmassig und unsittlich handeln wiirde. Ein Arzt, ein Apotheker, ein- Baumeister, ein Rheder, ein Schiffs- capitan, kurz jeder Vertreter irgendeines Amtes oder Ge- schaftes ist ohne Kenntnis der Naturgesetze geradezu un- denkbar. Dass die Kenntnis und Befolgung der Naturgesetze dem Menschen unumganglich nothwendig ist, hat vielleicht nie- miand eindringlicher behauptet als Schleiermacher, der die Kenntnis der Physik fiir eine Art Ethik erklarte, \vorin ihm mit einiger Restriction Wallaschek beistimmt. *) Man kann zvvar, \vie es Wundt thut, Spencer’s Theorie, die Ethik rein biologisch zu erklaren, im Besondern als nicht stichhaltig bekiimpfen, 2 ) und doch letzterem beipflichten, wenn er be¬ hauptet : „Die sittlichen Grundsatze mtissen sich den phy- sikalischen Noth\vendigkeiten ftigen.“ 3 ) Diese Worte diiriten ein nicht ganz glucklicher Ausdruck fiir den echten Sinn derselben sein, der et\va lauten wtirde: die sittlichen Grund¬ satze und die Naturgesetze niiissen in vollem Einklange stehen. Lotze betrachtet vom Standpunkte seines „idealistischen Mo- nismus" die Natur- und Sittengesetze fiir identisch. 4 ) Ihnen schliesst sich Paulsen an. 5 ) Ein nicht zu verachtender Grund, den Sittengesetzen auch die Naturgesetze beizuzahlen, liegt in der Unzulang- ’) Wallaschek: Ideen zjir p. Philos. S. 129. 2 ) Wundt- Elhik: S. 345 n. 267. 3 ) H. Spencer: Thats. d. Eth. 68. 4 ) Lotze: Mikrokosmus Buch III c. 5. 5 ) Paulsen; Einleit. in d. Philos. 2 Aufl. S. 74 ff. Die Naturgesetze als Sittcngesetze. 71 lichkeit unseres Intellects, der durch sich allein das Sitt- liche weder deutlich zu erkennen noch festzuhalten vermag, sondern einer Nachhilfe and eines Correctivs bedarf. Es ist in der That schwer einzusehen, wie die Vernunft aus ihrem eignen Vermogensstande, ohne den Beirath der Natur- erkenntnis, auch nur ein einziges sittliches Drtheil zu fallen imstande sein solite, das Anspruch auf Richtigkeit erheben konnte. Ich werde an einer spateren Stelle nachzn\veisen suchen, dass hierin die Natur selbst unserm Verstande zu- hilfe kommt. Man kann aus dem angefiihrten Grande der lediglich idealistischen Ethik denVorwurf nicht ersparen, dass fjie sich bei der Concipierung ihrer Sittengebote auf einen luftigen Untergrund stellt, wenn sie ohne „Befragung der •“Natur nur so aus sich selbst einen Codex der Moral auszu- klugeln versucht. Wo bleibt da die notlrvvendige Bestatigung ihrer inneren Wahrheit und die Wegweisung ftir den ausseren Vorgang des Handelns ? Sogaf Kant musste sich zur Zeit, als er bereits fur sein formalistisches Princip schwarmte, eingestehen, dass die „ reine‘speculative Vernunft" an der .griissten Unzu- langlichkeit“ leide und diese ,, sogar mit Beihilfe der grossten Naturerkenntnis“ nicht zu beheben vermoge. 1 ) Daraus zog er jedoch den unrichtigen Schluss, auf die Suche nacli einer „praktischen Vernunft 2 auszugehen. wobei er den „ inneren Richterstuhl “ der Moral, 2 ) die „Richterausspruclie des Gewissens “ 3 ) und dergleichen fand. Dadurch aber, gieng Kant selbst irre und fiihrte auch die , idealistische" Moral auf falsche Bahnen, so dass sich diese zu dem Paradoxon verstieg : „Die Ethik darf iiberhaupt ihre Satze nicht der Er- fahrung entnehmen“ , 4 ) einem Gedanken, den eben Kant durch seine Verurtheilung des ,Empirischen“ angebahnt hatte. 5 ) In des konnte Kant, der in der „Kr. d. p. V.“ das Wesen des Sittlichen in einer gewissen rein „formalen" Be- schaffenheit des menschlichen Handelns suchte, nicht umhin, die Naturgesetze mindestens als Muster oder T y p e n fur das handelnde Subject gelten zu lassen. Er bemerkt: „ Das Naturgesetz liegt allen seinen (des Subjectes) gewohnlichsten, selbst den Erfahrungsurtheilen immer zugrunde . . . Wenn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, dass sie an der Form eines Naturgesetzes iiberhaupt die Probe halt, so ist sie sittlich unmoglich“. 6 ) Kannt nennt dies ebendort ’) Kant: Kr. d p. V. 176 2 > Kant: ebond. I8i. 3 ) Kant; ebend. 118. 4 ) Steinthal: Alij. F.tb. S. 801-302. 5 ) Kant: K. d. p. V. 22 u. pass. 6 Kant: ebend. 84. 72 Fiinfter Abschnitt. den T y p u s der Naturgesetze. Dass das sittliche Handeln den Charakter der »Uebereinstimmung der Natur und der Sitten‘% der sinnlichen und intelligiblen »Naturordnung 2 an sich tragen solle, geht im Grande auf dasselbe hinaus, namlich dass die Naturgesetze auch meritorisch Prototypen der Sittlichkeit abgeben. 1 ) Allerdings postuliert Kant zur Perfectionierung einer solchen Uebereinstimmung die Fu- gung eines »heiligen Urhebers 2 der Naturgesetze, Gottes. 2 ) Dass Kant, der einer Erklarung der Naturgesetze als Sitteii- gesetze so nahe stand, dieselbe nicht aussprach, daran scheint ihn das in der\Velt vorhandene ,U e b e k gehindert za haben, welches er fiir eine Unvollkommenheit der lediglich durch Naturgesetze bestimmten Aussenwelt ansah. 3 ) Jeden- falis dachte Kant in diesem Punkte nicht consequent ; dies zeugen seine Grande fiir und wider die Eigenschaft der Natur¬ gesetze als Sittengesetze.') In dem also Kant jedes „materielle" Princip inderEthik perhorrescierte, stellte er jenes bekannte, rein ,formale“ auf: ..Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kbnne. 2 '*) Diese von Kant aufgestellte, sattsam angezogene Regel macht dessen Ethik zu einer rein formalistischen, da ihr jeder Hinweis auf die Ziele und Zwecke des Handelns fehlt. was in der ethischen Literatur schon zur Geniige nachge\viesen ist. An Gegnern der Theorie, dass die Naturgesetze Sittengesetzen gleichzuachten seien, hat es weder vor Kant noch nach ihm gefehlt. So z. B. hat Sokrates die Ethik ganz fiir eine Erfindung der Menschen angesehen und dachte sich dieselbe ungefahr so entstanden, wie ein Kunstwerk aus der Hand des Meisters hervorgeht. Bekanntlich hat Sokrates die Physik aus der Philosophie und Ethik verbannt, dagegen die Mantik und den Orakelunfug als vollberechtigt in derselben belassen. 6 ) Er glaubte, zur Ethik bediirfe es lediglich des Studiums der biirgerlichen und allgemeinmenschlichen Ver- haltnisse. Aristoteles war hierin Sokrates’ treuerer Schiller als Platon, der auch die Naturforschung in das Gebiet der Ethik einbezog (im Timaeus). Unter den neueren Gegnern dieser Theorie befindet sich Gutberlet, der auf dem Stand- punkte der christlichen Ethik steht. Gutberlet behauptet, die Uebereinstimmung des menschlichen Elandelns mit einer ') Vgl. Kant: Kr, d. p. V. Idi. 2 Kant: ebend. 150. ’) Kant: ebend. 169. ‘J Kant: ebend. 174. 5 ) Kant: Kr. d p. f. 85. 6 ) Xe- nophon: Comment II § 11 ff., wo S. die Physiker Terurtheilt. Die Naturgesetze als Sittengesetze. 73 „bestimmten Ordnung“ in der Natur „mache die Handlung an und fiir sich nicht sittlich", wenn z. B. „eine bestimmte Ordnung im G e h e n eingehalten werde, wie wenn Soldaten in Reih’ und Glied marschieren 1 '. 1 ) Dass das Gehen an sich. ebenso das geordnete Gehen einem Naturgesetze und zugleich dem AVollen untersteht, ist zweifellos . 2 ) Die „ Gesetze “ des Gehens sind vom mechanischen, physiologischen und ethischen Standpunkte aus zu beurtheilen. Šo z. B. sind nach Langer die Bewegungen der Fiisse ursprunglich auto- matisch. doch auch durch den „Willen variierbar“. 3 ) Unter- suchen wir einmal, ob das „ geordnete Gehen “ der Soldaten in sittlicher Beziehung wirklich ganz indifferent sei. Sobald beim Gehen, wie es erfahrungsmassig feststeht, das Wissen, Konnen und Wollen zusammentreffen, wird dasselbe zu einem sittlichen Handeln. Ein absichtlicher Verstoss gegen das geordnete Gehen ware ohne Zweifel ein Handeln wider besseres Wissen und Konnen. Daher ist ein geordnetes, den Gesetzen der mechanischen Bewegung entsprechendes, also zweckentsprechendes Gehen ohne Zweifel ein Act der Yer- nunft. Nun ist nach Gutberlefs eigener Ansicht eine Handlung wider dieVernunft eine Uebertretung des gottlichen Gebotes, folglich ein absichtlich ungeordnetes Gehen auch nach dessen eigenem moralischem Princip unsittlich. Zvvei Bedenken wider die ethische Bedeutung der Natur¬ gesetze sind noch zu beheben ; zunac-hst die in der \Velt unzweifelhaft vorhandenen U e b e 1. Den Hrsprung der Uebel sah Kant durch die Thatigkeit der Naturgesetze nicht ver- mieden ; daher wollte er letzteren nicht die Eigenschaft von Sittengesetzen zuschreiben. Er bemerkt namlich liber den Grund, warum die alte Philosophie einen „heiligen Urheber“ des Gesetzes in die Welt einfuhrte : „Die Uebel in der Welt schienen (den griechischen Philosophen) viel zu wichtige Ein- wiirfe zu sein. um zu einer solchen Hypothese sich fiir berechtigt zu halten.“ 4 ) Deshalb suchte er das Sittliche bloss im „Menschenverstande“, was soviel heisst als in parte statt in toto naturae. Schon dies enthalt einen AViderspruch in sich, dass sich namlich das Kleinere — der Mensch — eines besseren Verstandes erfreuen solite als das Grossere, die Natur. Fiirs zweite sind an den Uebeln nicht die Naturgesetze als Gesetze, sondern deren C o n c u r r e n z d. i. der Z u f a 11 schuld. Drittens bedarf es erst einer strengen Begriffsbestimmung, was ein „ Uebel “ zu nennen sei. ') G u t b e r 1 e t: Etbik und Naturrecht 1883. S. 73. 2 ) vgl. Dr. C. Langer: Anatomie der aussern Formen des mensch. Korpers. 1884. S. 9 ff., bes. 106. 236. 251. ’jLan ger: ebend.91. 4 ) Kan t: ebend. 169. 74 Fiinfter Abscbnitt. \Vir diirfen nicht sofort alle Unbequemlichkeiten, denen das menschliche Individuum begegnet, fiir Universal- iibel erklaren. Es gibt auch eingebildete Uebel, bei denen das Ganze der Natur nicht in seinern Bestande leidet. Kant hatte wohl solche Uebel im Auge, die das Weltganze treffen; denn das Gegentheil des Uebels, das Gute, sei dem Ganzen zu- traglich, da „das Ganze das Beste sei und alles um des Ganzen willen gut“. ‘) Allein, wollte man die Uebel d. h. die Unvollkommenheiten der Welt ausrotten, so milsste man zu- gieich die ganze Ordnung der Natur aufheben, Sowie die \\'eli einmal beschaffen ist, lasst sich eine Concurrenz ver- schiedener Naturgesetze nicht vermeiden. Das Ertrinken eines Menschen z. B. liesse sich nur durch eine vollige Auf- hebung der gegenwartigen Naturordnung verhindern; man milsste selbst die Urstoffe austilgen, aus denen das Ali be- steht. Durch successive Schlussfolgerungen kame man zuletzt dahin, dass man, um die Uebel in der Welt zu vermeiden, alles Nebeneinander der Moleciile und Atome aufheben milsste, da ein Zusammenstoss, ein „Malheur ;! dabei immer moglich r bliebe. DieUebel die s er Welt sind bei der jetzigen j Naturordnung, soweit wir diese kennen, ganz | unvermeidlic.h und unabwendbar. Ein ahnlicher I Gedankengang bewog Leibnitz und Kant zu dem Aus- l spruche, diese Welt sei die beste. Kant bemerkt: ' „Ich bin demnach erfreut, mich als einen Burger in einer Welt zu sehen, die nicht besser moglich war.“ * 2 ) Deshalb wollte Kant auch keine ,,absoluten Weltiibel“ zugeben. da diesen nicht das Merkmal der Allgemeingiltigkeit nachge- wiesen werden konne. 8 ) Ebenso wenig kommt das sittlicli Gute zu absoluter Geltung: auch dieses wird nicht in jedem Falle beachtet, sondern nur zu oft iibersehen, und doch bestehet dasselbe trotz dieser „Antinomie“. Dies gilt, wie E. Zeller richtig bemerkt, von einem jeden nicht bloss ethischen, sondern auch wissenschaftlichen Gesetze logischen, mathematischen, asthetischen und jedes andern Inhalts, dass namlich demselben in zahllosen Fallen die W i r k- lichkeit nicht ent spricht. 4 ) Eine „Antinomie“ der Sittengesetze \vird es daher stets ebenso geben, wie eine solche auf jedem legislativen Gebiete vorkommt. Kant hatte gegen die Naturgesetze als Sittengesetze auch wegen der verschiedenartigen Einwirkung der ,mor a- lischen* und ,met aphy si s chen“ Gesetze auf den b Kant: Ueb. d. Optim. Hartenst. Ausg. 1867. Bd 2. S. 43. 2 ) Kant: ebend. 42. 3 ) Rant: ebend. 37. *) Zeller: Vortrag. u. Ab- han dl. 3. Samml. 1884. S. 203. Die Nalurgesetze als Sitlengesetze. 75 Menschen Bedenken, da die ersteren diesem ein blosses Sol len, die letzteren dagegen ein Miis se n abnothigten. Kant bemerkt: „Die Vernunft, aus der allein alle Regel, die Nothwendigkeit enthalten soli, entspringen kann, legt in diese ihre Vorschrift zwar auch Notlrvvendigkeit (denn ohne das wiire sie kein Imperativ), aber diese ist nur subjectiv (i. e. individuell) bedingt, und man kann sie nicht in allen Sub- j e eten (i. e. Individuen) in gleichem Grade voraussetzen. “ ‘) An einer andern Stelle bemerkt Kant: „Das moralische Ge- setz ist in der That ein Gesetz der Causalitat durch Frei- heit, sowie das metaphysische Gesetz der Begebenheiten in der Sinnenwelt ein Gesetz der Causalitat der sinnlichen Natur war.“ 2 ) Nun aber gilt nach dem oben liber die Uebel Ge- sagten, dass die Erfiillung des Gesetzes keineswegs ausnahmslos zutrifft, sondern Hindernissen ausgesetzt ist. s ) Folglich herrscht in Bezug auf die Ausfuhrung der beiden Arten von Gesetzen kein so tiefgehender Unterschied, als ihn Kant auf- stellt. Uebrigens vermag das moralische Gesetz von Manchem ebenso ein „Muss“ zu erzwingen wie nur irgendein Natur- gesetz. So bestimmt als der in der Luft schwebende, nicht unterstiitzte Stein in der Richtung des Erdmittelpunktes fallen muss, ebenso bestimmt wird der rechtschaffene Mann, solange er bei Vernunft ist, Diebstahl und Betrug meiden. Es \verden bei ihm daher die Begriffe Sollen und Atussen zusammenfallen. 4 ) Schleiermacher wollte "jenen Unterschied ganzlich aufgehoben wissen. — Wir sind sonach zu zweierlei objectiven Sittengesetzen gelangt, welche sich ergiinzen: zu den in der Menschen- und Aussenwelt herrschenden. Nachdem im vierten und funften Abschnitte die in den beiden Naturen enthal- tenen Sittengesetze dargelegt \vorden sind, drangt es viel- leicht jemand, noch zu erfahren, ob es ausser den genannten keine andern Sittengesetze gibt. Darauf lautet die Antwort: durch philosophische Forschung wenigstens sind keine andern Sittengesetze zu erhalten. Doch gibt es noch moralische Prin- cipien anderer, namentlich religioser Provenienz, deren Darlegung von ganzlich andern Anschauungen ausgeht. als die nachzuvveisen die Philosophie sich zur Aufgabe rnacht. Es kann fur die Sittlichkeit nur vortheilhaft sein, wenn die ethi- schen Grundsatze, welche auf so verschiedenem Wege er- ') Kant: Kr. d. p. V. 21. 2 ) Kant: ebend. 57. vgl. dazu ebend. p. 20 ff 3 ) vgl. J. St. Mill’s ahnliche Losung dieser Antinomie: Syst. d. ded. u. ind Log. 3 Th. S. 239 ff. 4 ) s. die weitere Ausfuhrung dieses Unterschiedes bei Zeli er: Ueb. Begriff u. Begriindung der sittl. Ges. Vortrag u Abh. 1884. 3. Samml. 197—8 u. 201 ff. 76 Fiinfter Abschnitt. langt werden, mit einander im Einklange stehen. wie es im grossen Ganzen \virklich der Fali ist. Nur ist bei deren Ver- gleichung nicht zu iibersehen. dass in die Ethiken nur solche Vorschriften gehoren, die ihrem Wesen und ihrer Tendenz nach mit deren aufgestellten Sittenprincipien genau iiberein- stimmen. Sonst wiirde die Ethik zu einer vermeintlich sclm- pferischen, in der That aber willkurlichen Gesetzgebung her- absinken, wahrend sie als eine Wissenschaft der Natur dieso erforschend und nachahmend darlegen soli. Nicht irgendwelche nebenbei zu erreichende Zwecke, sondern die obersten Grund- siitze des Handelns allein sollen derselben vorschweben. Seehster Absehnitt. * _ Begriff der sittlichen Pflicht und Verpflichtung. Zuiiachst sollen die Begriffe der sittlichen Pflicht und Verpflichtung erlautert, dann die Grundlagen derselben dar- gelegt, hierauf die Grande, auf denen gewisse Vicariate der sittlichen Verpflichtung beruhen, gepruft, zuletzt eine Eintheilung der sittlichen Pflichten versucht werden. Zum Wesen und Begriffe des Handelns gehort die An- strebung von Zwecken ; denn das Handeln gesehieht um be- stimmter Zwecke willen. Das Ziel des praktischen Handelns aber besteht in der Erlangung des hochsten sittlichen Guts. Zu handeln, ohne einen wertvollen Zweck erreichen zu wollen, ware T h o r h e i t, des Handelns wiirdige Zwecke erreichen zu wollen ist ver nun iti g. Daher wird der verniinftig Denkende sichauch innerlich bewogen und gedrungen ftihlen, sittlich zu handeln; der Thor fiihlt sich dazu niemals verpflichtet. — Auf dem Wege solcher Schliisse gelangt man zur Vorstellung und zum Begriffe der sittlichen] Pflicht als des Dranges, sittlich zu handeln. Naher noch I kommen wir diesem Begriffe, wenn wir das sittliche Han¬ deln als ein Beobachten der Sittengesetze auffassen. Oben haben wir gesehen, dass die einen Sittengesetze in der Aussenwelt, die anderen in der menschlichen Natur ent- springen. \ Wenn wir nun die sittliche Pflicht als die Erkenntnis einer auf uns einvvirkenden Macht, nach den objectiven Sittengesetzen zu handeln, bezeichnen, so erhalten wir eine zweite Definition der sittlichen Pflicht. Wer bei seinen Handlungen der Vorstellung und Einwir- kung der objectiven Sittengesetze Aufmerk- samkeit und Gehor schenkt und bei denselben 78 Sejhster Abschnitt. seinen Willen stets nach jenen Gesetzen richtet, handelt im Sinne der sittlichen Pflicht. Man kann daher sagen : die [sittliche Verpfli chtung besteht in der Ueberein- stimmung desWillens mit den objectiv gege- Jbenen SittengesetzenJ Die Begriffe Pflicht und Ver- i pflichtung driicken dasselbe ans, nur von verschiedenen Seiten betrachtet: die sittliche P flicht ist ein objectiv be- stehendes Abhangigkeitsverhaltnis des Gemtiths von der objectiven Sittlichkeit, die sittliche Verpfli ch¬ tung dagegen das Gefuhl und Bewusstsein eines solchen objectiven Abhangigkeitsverhaltnisses. Die sittliche Pflicht driickt somit ein ausseres Abhangigkeitsverhaltnis, die Verpflichtung dieinnere Zustimmungzueinemsolchen Ver- haltnisse aus. In letzterer Bedeutung heisst die Verpflichtung auch Pflichtgefuhl. / Diesen Definitionen zufolge beruht die sittliche Ver- (pflichtung auf der Gesinnung des handelnden Subjectes. Im Begriffe Gesinnung liegt zunachst der Begriff der E i n- s i c ht in die Qualitat dessen, was man anstrebt, dann der Begriff des Strebens, das sittlich Gute als das wahre Ziel des Handelns zur That zu machen. Nur wenn beide Eigenschaften im Subjeete zusammentreffen, wird das Handeln ein wahr- haft sittliches. Das Streben nach dem Guten muss jedoch rein und frei sein von allen nicht sittlichen Neben- einfliissen. Einsicht in das Gute kann auch der sittlich verworfenste Mensch besitzen, aber es fehlt ihm an \Villen, es zu thun. Die mitunter sehr feinen Scheidelinien zwischen dem Guten und Schlechten sind gerade den ge- riebensten Schurken bekannt, denen es daran liegt, den Schein des Bosen sorgfaltig zu meiden, um ihre Plane desto leichter auszufuhren. Daher ist der Wille zum Guten eine Vorbe- dingung der sittlichen Pflichterfullung. Um sich in sittlicher Beziehung filr verpflichtet zu erachten, muss man von der Vortrefflichkeit des Guten uberzeugt sein, es lebendig fiihlen und sozusagen im Herzen tragen. Wem dies nicht gegeben ist, der wird sich zu demselben niemals innerlich ver- pflichtet erachten. / Allein zur Erklarung des Fortschritts von der Einsicht zur inneren Verpflichtung gehort die Erledigung einer Reihe von wichtigen Zwischenfragen. Augenscheinlich milssen es bedeutende Griinde sein, die jemand derart zur Befolgung Mer Sittengesetze verhalten, dass er alle seine Neigungen und ausseren Impulse unterdrilckt und das Gute vorzieht. Als ersten Grund haben wir bereits die Einsicht in das Gute kennen gelernt, die nian auch den Intellect nennt. Der Intellectualismus. 79 Es ist eine feste Anschauung der sogenaniiten Intel- lectualisten, dass der menschliche Geist a priori eine Ein- sicht in das Gute und Schlechte besitze. In der Geschichte der Ethik begegnen wir dem Intellectualismus mehrmals, so schon vor Platon, besonders jedoch durch Platon ausge- bildet. Seiner Anschauung gemass betrachtet die Seele die „Idee des Guten“ und richtet nach dieser das Leben des Menschen ein. Auch in spaterer Philosophie begegnet uns diese Anschauung. So im Mittelalter, und selbst Fr. Bacon setzt eine sittliche lux naturalis voraus, nach ihm Locke. ') Zum System hat den Intellectualismus Bacon’s und Newton’s Schuler Sam. Clarke erhoben 2 ), am entschiedensten aber Kant verfochten. Von der „Vernunft“ behauptet Kant , dass ■ sie auf den ,.Willen“ einwirke, das Gute zu thun. 3 ) Wie jedoch die Vernunft dies zustande bringe, das war Kant rathselhaft, wie er es selbst gesteht. 4 ) Ein wie grosses Gewicht er auf den Intellect legte, zeugt seine Bemerkung in einer vorangehenden Schrift, wo es heisst : „So sind wir denn in der moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschen- vernunft bis zu ihrem Princip gelangt, welches sie sich zwar freilich nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber jedoch jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richt- masse ihrer Beurtheilung macht. Es ware hier leicht zu zeigen, wie sie, mit diesem Compasse in der Hand, in allen vorkommenden Fallen sehr gut Bescheid wisse, zu urtheilen, was gut. was bose, pflichtgemass oder pflichtwidrig sei und dass es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedurfe, um zu wissen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein.“ 5 ) Kant hat so- mit eine in der menschlichen Natur a priori liegende „Weis- heit“ vor Augen. welche jede theoretische und praktische Erkenntnis weitaus iibertreffe. Ob aber die Vernunft wirklich ausreicht, um verwickelte ethische Verhaltnisse, z. B. die feinen Unterschiede zwischen manchen Tugenden und Lasterm a priori zu erkennen oder schwierige Pfiichtconflicte zu losen, ] das mochte wohl zu bezweifeln sein. Die blosse Einsicht reicht zur Verpflichtung nicht aus> und es ist ein Zwischenglied ganz unerlasslich. Ein solches bildet die sittliche W ertschatzung. Indem das handelnde Subject den praktischen Wert des Sittlichen erkennt, fiihlt es sich verpflichtet, dasselbe auch zu wollen. Was wir um seines i) Wun d t: Ethik 1886. 268-269. 2 ) vgl. ub. ihn R. Zimmer¬ mann: Clarke’s Lehre. Denkschr. d. k. k. Ak. d. Wiss. 1870. Bd. XIX. 249-336. h Kant: Kr. d. p. V. 92. 96. 110. 140. h Kant: ebend. 86. 5 ) Kant; Grundleg. z. Metaph d. S. S. W. Bd. 4. S. 251—252. 80 Sechsfer Abschnitt. Wertes \villen hochschatzen. dem fuhlen wir uns zugethan und anch verpflichtet. Die Wertschatzung und Liebe zum Guten entsteht nun aus verschiedenen Ursachen. Zunachst durch eine solche Organisation des Seelenapparates. dass dieser mit der objectiven Sittlichkeit von selbst harmoniert und ohne vollbe\vusste Selbstthatigkeit mit ihr correspondiert. Ich habe eine solche Organisation oder „Krystallisation~ des Gemiithes (Lombroso) schon an einer Stelle die psychische ,Praformation“ genannt, da ich dieselbe ftir eine sittlich d. i. zweckmassig fungierende biologische Vollkommenheit ansehe. Aus einer solchen Organisation erklart sich auch der Unterschied, dass einige Subjecte sich sittlich verpflichtet fuhlen, andere ein solches Gefiihl nicht besitzen, dass die einen sittlich stumpf, die andern sittlich empfanglich sind. Sowie gewisse Menschen durch eine urspriinglich giinstige Anlage des Gemiiths zur sittlichen Verpflichtung hingefiihrt vverden. ebenso entsteht das Bose aus apriorer Negierung des Guten. Eine solche geschieht entweder durch eine fehler- hafte Constitution des Gemiiths — Lombrosos Ansicht oder durch absichtliche und grundsatzliche Ablehnung des Sittlichen. Daher wird die sittliche Vollkommenheit zugleich durch eine urspriinglich unbewusste wie auch durch eine bewusste \Vertschatzung des Guten und durch eine ebenso natiirliche Verabscheuung des Bosen angebahnt. da es nicht genug ist, das Gute zu lieben, sondern man auch Abscheu vor dem Bijsen empfinden muss, um sittlich voll- kommen zu sein. Dies war anfangs auch Kant’s ethische Anschauung, bevor derselbe auf seine „ formate “, vom Willen allein be- herrschte Sittlichkeit verfiel. Anfangs namlich leitete Kant die moralische ,,Verbindlichkeit“ aus r e in er. urspriing¬ lich er Erkonntnis des Guten ab, indem er „uner\veis- liche (unwiderlegliche) materiale (reale) Grundsatze“ zur Be- festigung der Sittlichkeit forderte und an ein „unauflosliches Gefiihl des Guten“ glaubte. ') Spater, in der ,,Kritik der praktischen Vernunft“, verwarf er alles 9 Gefiihl fiir das Moralische, welcher Art es auch sei“, indem er zur sitt¬ lichen Verpflichtung einen „ hinreichendcn Bestimmungsgrund des \Villens“, also eine bewusste ,Legalitat“ forderte, aber jede unbewusste oder eigentlich nicht gewollte „Moralitat“ in seinem Sinne venvarf. 2 ) Mit andern \Vorten : anfangs war ’) Kant: Untersuch. iib. d. Deullichkeit d naturi. Theol. u Mor Hartenstein’s Ausg Bd. 2. S. 307-S08. ’ 1 , Kant: Kr. d. p. V. 86. vgl. damit Schopenhauer: Grundl d Moral. § C. Die sittliche Gesinnung. 81 Kant in der Ethik Positivist, spater Idealist nnd Transcen- dentalist. Urspriinglich also wandelte er in den Fussstapfen Hutcheson’s, wie er selbst gesteht, indem er dessen „Gefiihls- moral“ huldigte; Hutcheson schlossen sich spater Shaftes- bury, J. St. Mili, Leslie, Stephen u. A. an, die alle ein „un- raittelbares Gefiihl “ fiir Moralitat als ein in der Menschen- natur liegendes sittliches Princip annehmen. *) In der That gibt es gewisse Tugenden, die infolge ihrer Feinheit nur aus genninen, angebornen Anlagen erst recht verstandlich werden, wie die Bescheidenheit, Schicklichkeit, Schamhaitigkeit. Man kann daher mit gutem Grande von einem natiirlichen oder naiven Sittlichkeits gefiihl reden. i) 2 ) Damit sei jedoch nicbt behauptet, dass dies die beste Form der sitt- lichen Verpflichtung sei. Das Moralitatsgefiihl hat auch seine grossen Schattenseiten, die sich in seiner Unbestandigkeit kund- geben. So lebhaft auch dasselbe auftritt, ebenso leicht „ver- braust“ es wieder, wie sich Kant sehr bezeichnend aus- driickt. 3 ) Ausfiihrlich handelt Kant vom Unterschiede der naiven und intellectuellen Sittlichkeit in der „Grundlegung z. Metaph. d. Sitten“, wo er die Vor- und Nachtheile beider gegen einander abwagt. l * ) Sicherheit und Festigkeit im Guten gewahrt nur die Verbindung von Einsicht und Gesinnung. Aehnlich fordert Wundt zur Sittlichkeit „Einlieit von F uh le n, D en k en und Wollen“. was alles sich in einer tiichtigen „Personlichkeit“ begegne. B ) In der 1’ersonlichkeit tinden sich alle zur sittlichen Verpflichtung fiihrenden Eigen- schaften in vollstem Masse vereinigt: sittliches Gefiihl, sitt¬ liche Einsicht und der \Ville zum Guten, Eigenschaften, welche zusammengenommen, sittliche Gesinnung, oder bald Gesinnung bald Wi 11 e schlechthin genannt werden. Eine jede derselben lauft jedoch auf e in e n Begriff hinaus : auf Ueber- einstimmung des Subjectes mit dem objectiven Sittengesetze. ( ') In einer derartigen Gesinnung liegt der Hohepunkt der sitt¬ lichen Verpflichtung, jenes beriihmte ,.P f 1 i c h t g e f ii h 1“ Kant’s. 7 ) — Indes eine so hohe sittliche Anforderang wiirde kaum 1'iir alle Menschen erfiillbar, eine Urgierung der lautersten und reinsten sittlichen Pflichterfiillung daher kaum jemals vom Erfolge begleitet sein. Wer die sittlich schwache Natur des Menschen kennt und namentlich die sittlich stumpferen i) Wundt: Ethik. 1886. SS. 279. 341. 346. b Steinthal: Allg. Eth. S. 96. 3 ) Kant: Kr. d. p. V. 188. 4 ) Kant: S. W. v. Hartenstem. Bd. 4. S. 252. b Wundt: Ethik. S. 3bo. 6 ) vgl._ die Ausfuhrung dieses Gedankens bei Steinthal: Allg. Eth. 97 ff. ) Kant: Kr. d. p. V. 177. 172—173. 6 82 Sechster Abschnitt. Charaktere in Betracht zieht, wird nicht von Allen mora- lische Vollkommenheit, wohl aber die Einhaltung gewisser nothwendiger und unerlasslicher sittlicher Grenzlinien ver- langen. Bnd auf dieses zwischen den obersten nnd untersten Grenzlinien liegende Pflichtgebiet will ich nunmehr die Aufmerksamkeit des Lesers lenken. Eine Herabminderung der strengen Pflichtanforderungen Kant’s, der nur das reinste Pflichtgefuhl fiir sittlich gelten lassen wollte, haben bereits Kant’s Zeitgenossen, ebenso einige englische Ethiker, z. B. Bain, ebenso Schopenhaucr u. A. grundsatzlich verlangt. Ich halte es im Hinblicke auf eine richtige und ge- rechte sittliche Beurtheilung der Menschen fiir rathsam, solche Grenzbestimmungen anzuerkennen. Der Mensch ist in sittlicher Beziehung, wie eben be- merkt worden, ein schwaches Wesen. Im Kampfe um die Selbsterhaltung gehen seine guten Anregungen gar leicht verloren,. und die eigene Weisheit, auf welche das Subject zuletzt immer angewiesen ist, versagt sehr oft ihren Dienst. Daher miissen dem schwachen sittlichen Pflichtgefuhl kiinst- liche Mittel zuhilfe kommen. Eines der ersten und vvichtigsten ist das Gewissen. Das erste Merkmal des Gewissens ist Unterscheidung des Guten und Bosen, ein zweites Wahl des Guten und Ablehnung des Schlechten. . Die „Stimme des Gewissens“ — das Wort Gewissen bedeutet etymologisch den Inbegriff dessen, was dem Geiste bewusst ist — mahnt zum Guten, warnt vor dem Schlechten und greift nach der That zum Mittel des Lobes oder Tadels. Die psycholo- gische Erklarung des Gewissens wird vielleicht am besten durch dessen Vergleichung mit der sogenannten Hemmung — inhibition — verstandlich; nur flndet die Hemmung bei Vorstellungen, das Gewissen meist bei Gefiihlen statt. ■— In der Hemmung verbinden oder trennen sich die Vor¬ stellungen nach ihren logischen Beziehungen zu einander, also nach den Grundsatzen der Identitat, Disparitat und Causalitat. Ahnlich stellt das Gewissen eine Art ethischer Gefiihlslogik vor, indem es einige Motive, Zwecke und Mittel als loblieh zulasst, andere als unsittlich vom Gemiithe ausschliesst. Paulsen bringt das Gewissen mit der Sitte in Zusammenhang, was sehr viel fiir sich hat. 1 ) Doch ist die ,Sitte 1 nur eine Form des Gewissens, namlich eine Art Collectivgewissen. Treffend charakterisiert Shakespeare das Gewissen: „Es ist ein errothender, geschamiger Geist, der Einem Aufruhr anstiftet in der Brust; es fiillt Einen mit ') Paulsen; Ethik 1 S. 298. / Der sittličhe Instinct. 83 Hindernissen an“ (Richard der Dritte). — Das Gewissen bildet sich aus praktischen Gefiihlen, welche die Stelle von Grundsatzen vertreten. Jene Gefiihle gruppieren sich um einzelne sittličhe Zwecke und bilden mit der Zeit einen Complex von Anregungen, ohne jedoch von theoretischen oder begrifflichen Erwagungen des Sittlichen begleitet zu sein. Daher hat man das Gewissen fiir einen sittlichen „Inperativ“ angesehen, der ebenso auch ein „Prohibitiv“ sein kann. Be- kanntlich sah es Sokrates fiir etwas Gottliches, „Damonisches“ an und lauschte auf dessen Stimme wie auf die Ausspriiche eines Orakels. Prosaischer fasste es Schopenhauer als „das immer mehr sich fiillende Protokoli der Thaten“ eines Indi- viduums. 1 ) Spencer leitet es aus einer gegenseitigen „Con- trolierung“ der ethischen „ Gefiihle “ ab und nennt es eine Art „moralischen Bewusstseins“. 2 ) Die Relativitat, 'Wandel- barkeit und Conventionalitat des Gewissens hebt Herbart hervor : mit der Zeit bilde sich in verschiedenen Gesellschafts- classen ein besonderes Gewissen. 3 ) Es spielt zwar, wie Lom- broso bemerkt, einen sehr strengen Sittenrichter, huldigt aber etwas stark der jeweiligen Mode. Man kann daher in das Gewissen kein unbedingtes Vertrauen setzen: zu sittlicher Anregung und zur Zahmung der Temperamente mag es eben gut genug sein, zum positiven Schaffen des Guten reicht jedoch seine Kraft nicht aus. Der Bandit in den Abbruzzen gibt sein „Ehrenwort“ auch auf die Ausflihrung eines Mordes ab und macht sich ein „Gewissen“ daraus, es nicht einzu- losen. Das weite Gewissen gewisser Gesellschafts- und Ge- schaftskreise ist wohlbekannt. Schopenhauer zeigt recht drastisch, wie schwankend der Begriff des Gewissens in ethischen Dingen ist. 3 ) Eine sehr hohe Meinung vom Ge- wissen hatte dagegen Kant, der es ein „wundersames Ver- mogen“ der Seele nennt, also fiir angeboren erklart, und es der „ praktischen Vernunft" als eine Art „Gefuhl“ fiir das Sittličhe an die Seite stellt. 4 ) Nahe verwandt der aus dem Gewissen stammenden Verpflichtung ist jene, welche aus sittlichen I n- stincten d. h. aus halbbewussten Willensacten her- vorgeht, also in mechanischer Weise nachwirkt. Umfasst namlich der Wi 11 e alle auf \velche Motive immer rea- gierenden bewussten und halbbewussten Reflexe — in dieser Bedeutung verstehen den Willen Descartes, Leibnitz, Locke, ‘) Schopenhauer: Die beiden Grundprobl. S. 260. 2 ) Spen¬ cer: Thats. d. Eth. ’25- 3 ) Herbart: Allgem. p. Philos. Hartenst. Bd. 8. S. 103. 3 ) Schopenhauer: Die beiden Grundprobl. d. Eth. S. 195 ff. ‘) Kant: Kr. d. p. V. 92. 110. 118. 6 * 84 Sechster Abschnitt. Hume, Maudsley und mehrere Neuere, darunter\Vundt, wahrend Kant keine klare Vorstellung vomWillen besass 1 ) —, re- prasentiert der sittliche I n s t i n c t das Residuum und Ergebnis aller im Organismus stattgefundenen und in ha- bituelle Zustande ubergegangenen \Villensacte. Zu den In- stincten werden also alle Fertigkeiten des Korpers und der Seele gezahlt, welche vom Subjecte durch Uebung er- worben und dann halbbewusst ausgefiihrt werden. Es gibt e r e r b t e und eiworbene Instincte. 2 ) Die Vererbung hat den Instincten den Schein sogenannter ursprunglicher „Vermogen“ gegeben, als waren die Instincte in der Leibes- constitution und von Natur aus begriindet. Auch die grosse Zweckmassigkeit hat ihnen die'Ehre ursprunglicher Fahigkeiten eingetragen. Allein die Erfahrung spricht gegen beide Annahmen : gegen die Aprioritat und die Naturverleihung die AVandelbarkeit. gegen die absolute Zvveckmassigkeit die nachweisbaren Irru n g e n und T a u s c h u n g e n der In¬ stincte, von denen Descartes und Hume, sowie die neuere Naturgeschichte zu melden vvissen. 3 ) Die Evolutionstheorie lehrt, dass der Instinct stark vom Milieu beeinflusst und modiflciert wird. Kant stellte anfanglich die Zvveckmassigkeit des sittlichen Instincts, durch welchen die „Gluckseligkeit“ des Subjectes gefordert wiirde, sogar iiber die „Vernunft“; 4 ) spater dachte er umgekehrt. 3 ) Trotz alledem diirfen wir von einem sittlichen Instincte sprechen, der sich, wie gesagt, auf Grand von „Nachwirkungen der Willenshandlungen“ bildet.' 1 ) Also hat die Instinctmoral ihren unzweifelhaften Wert. \Yie im alltaglichen Leben, in der Kunst, selbst im abstracten Denken Uebung und Perfection nothwendig sind. damit die Arbeit auf instinctive Weise vor sich gehe, da sie nur dann am erfolgreichsten verrichtet wird, ebenso ist zum praktischen Handeln eine instinctiv betriebene Pflichtmassig- keit unerlasslich, da erst durch eine solche dasselbe sicher und erfolgreich vonstatten geht. 7 ) Allerdings muss sich dem instinctiven Handeln, soli dieses voli kom m en werden und vor Lrrungen geschtitzt sein, Einsicht und fester Wille beigesellen. Dem Gewissen steht also der sittliche Instinct zunachst, wes- 1 ) vgl. Wallaschek’s Nachweis : Ideen z p. Philos. S. 69—7d. 2 ) W e i s m a n n’s Gegenbeweise wider die ererbten Inslincte halte ich in keinem Punkte fur stichhaltig. 3 ) Vgl dariiber auch A. R i e h l’s Be- merkungen : Kriticism. II 2, 202—20:1. 4 ) Kant: Grundleg. z. Metaph. S W. Bd. 4. S 243. 5 ) Kant; Kr. d. p. V. 116. 6 ) Wundt: Ethik. ><86. S. 382 7 ) vgl. d ; e Ausfiihmng dieses Gedankens durch Espina s: Rev. philosoph. 1883. S. 26 ff. Neigungen, Affecte, Gefiihl der Achlung. 8 & halb auch beide ofters vervvechselt werden. Es gibt sonach auch eine instinctive Pflichtmassigkeit. Einige Ethiker fiihren das sittliche Pflichtgefiihl auf Neigungen und Affecte zuriick, indem sie eine ge- wisse natiirliche und urspriingliche Begeisterung fiir alles Sittliche annehmen. So legt J. H. Fichte allem Prak- tischen eine ideale Begeisterung fiir das Gute unter — dies ist der Grundgedanke seines „Syst. d. Eth.“ —, ahnlich nimmt bei H. Spencer die „ natiirliche Neigung“ zum Sitt- lichen den ersten Rang in der sittlichen Entwicklung ein. ‘) Ebenso findet E. Diihring in den sittlichen Affecten, welche er fiilschlich den Trieben beizahlt, die sicherste Grundlage des Pflichtgefiihls. 2 ) Abgesehen von der unrichtigen Vertauschung der Triebe mit den Affecten ist der Grundgedanke, die Begeisterung fiir ein Forderungsmittel des Pflichtgefiihls anzusehen, ein vollkommen berechtigter. Wer sich fiir das sittlich Schone, Edle und Gute begeistert, wird sicherlich schwerer vom Pfade der Pflicht abirren. Kant’s Polemik gegen jede B Pflicht aus Neigung“ 3 ) entspringt. wie ich glaube, nicht bloss aus der Furcht vor aller Vermischung des Sittlichen mit der Lust, sondern zu- gleich aus der Besorgnis, es konnte dabei leicht von der Neigung zum Guten die Einsicht und Klarheit des Verstandes verdunkelt werden. Immerhin bleibt der Enthusiasmus, so hoch er auch in der Kunst geschatzt wird, im sittlichen Leben unzuverlassig, da er leicht dahinschwindet oder zum Fana- tismus verleiten kann. Dagegen fiihrt er, mit der Einsicht gepaart, zu sittlicher Vollendung. i Einen machtigen Hebel der sittlichen Verpflichtung bildet das Gefiihl der Achtung: nur muss diese von der Einsicht in das Sittliche als das hochste Gut begleitet sein. Ein blinder Autoritatsglaube erzeugt keine reine Sittlichkeit, kann jedoch unter obiger Bedingung zu einer solchen fiihren. Das Gefiihl der Achtung iiberkommt uns bei der Betrachtung der Grosse und Allgewalt der Natur. Wie klein und ohn- machtig fiihlt sich der sterbliche Mensch gegeniiber dem un- verganglichen \Veltall ! Wie verschwindend klein ist unsere Kraft angesichts der ungeheuren Naturgewalten, von denen unsere Geschicke abhangen! Wie armselig ist das mensch- liche Wissen im Vergleiche zu der unendlichen Weisheit. die \vir in jedem Zoll der Natur antreffenjj Die wunderbare Ein- richtung des Sternenhimmels entlockte Isaak Newton Gefiihle ') Spencer: Thats. d. Eth. 136. 2 E. Diihring: Wert d. Leb. 70 ff. 3 ) Kant: Grundleg. z. Metaph. d. Sitt. Hartenst. Bd. 4. S. 246. 86 Sechster Abschnitt. uncl Ausdriicke des hochsten Erstaunens und der tiefsten Ehrfurcht. Achtung und Verehrung, beide Gefuhle sind ebenso der Sittlichkeit als der Religion eigen, und der beste Theil des praktischen Handelns entspringen gerade aus Motiven der Achtung gegen die sittliche Macht der Natur. Aus dem Gefuhl der Achtung entspringt zugleich das der Abhangigkeit. In der Abhangigkeit vom Sittengesetze fand Kant seinen sogenannten „kategorischen Impe¬ rativ 11 , indem er schrieb: „Das moralische Gesetz ist ein Imperativ, der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbe- dingt ist; das Verhaltnis eines solchen Willens zu diesem Gesetze ist Abhangigkeit, unter dem Namen der Verbind- lichkeit, die darum Pflicht heisst.“ v ) Nur vrollte Kant hier wie sonst nichts vom Gefuhl einer ausseren Abhangigkeit vvissen, sondern beschrankte dasselbe auf eine durch den Intellect allein erzeugte, abstracte, durch das „ Gesetz “ der Moralitat erzwungene .Achtung' 1 , bei welcher sich der Mensch seiner moralischen „Sch\vache“ lebhaft bevvusst werde. 2 ) Auf das Gefuhl einer solchen Schvvache, vvelche der „Selbstliebe“ des Menschen infolge des Innewerdens seines eigenen geringen Wertes ,,Abbruch thut“, ftihrte Kant die mora¬ lischen Achtungs- und Abhangigkeitsgefiihle zuriick. Yon einer Achtung und Verehrung der ausseren Natur dagegen ■vrollte er nichts vvissen. Er meint, ein „Vulkan“ z. B. konne dem Menschen keinerlei Achtung abringen, da man eine solche nur tur „Personen“ hegen konne. 3 ) Diese An- schauung vviderstreitet jedoch der Erfahrung, welche lehrt, dass unsere Achtung sich auf die verschiedenartigsten Gegen- stande beziehen kann. Kant befand sich gegeniiber der Aussennatur in demselben Zwiespalt der Meinung wie gegen- iiber der Menschheit: auf der einen Seite verachtete er den Menschen als concretes Wesen, auf der andern huldigte er der menschlichen Natur als solcher. Er driickt sich dariiber in folgender charakteristischer Weise aus : „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Per- son muss ihm heilig sein." 4 ) Ahnlich urtheilte Schopenhauer. Es gibt wohlbegrtindete Autoritaten innerhalb der Menschheit, welche sich, was besonders Paulsen be- tont, in der Sitte, in der offentlichen Meinung, im Volker- recht, kurz in unbezweifelten Formen des sittlichen Urtheils ‘) Kant; Kr d. p V 97. 2 j Kant: Grundleg. z. Metaphys. d. Sitt. Hartenst. Ausg. 4. Bd. 249. Anm. 3 ) Kant: Kr. d. p. V. 92 ff. *)- Kant; ebend. 105. Unlust- und Lustgefuhle, Lohntheorie. 87 kundgeben, und diese Autoritaten sollen dem Indivi¬ duum Achtung und Pflichtgefiihl abnothigen. Allein auch hier kommt es auf den sittlichen In h alt des offentlichen Urtheils und zugleich auf die Gesinnung an, aus welcher die Befolgung jenes Urtheils entspringt. Einen sehr richtigen Gedanken fiihrt H. Spencer aus, dass die Autoritat der Gesell- schaft als solcher noch nicht hinreicht, Gehorsam zu fordern, dass auch deren Urtheil ein sittliches sein miisse, dass ferners auch das Individuum zur Befolgung desselben nicht durch Motive der F ur c ht v or S c ha de n, sondern durch eine von allem Egoismus gelauterte Gesinnung bestimmt werden miisse. ‘) Ein falscher Sprachgebrauch wendet das \Vort „moralische Verpflichtung" ofters da an, wo von brutaler Gewalt und ausserer, conventioneller Nothigung die Rede sein solite. Ein solcher Zwang kann vvohl „Legalitat“, nicht aber „Moralitat“ erzeugen, da letztere nur aus der Gesinnung hervorgeht. Wir sind so successive zu jenen Formen der sittlichen Verpflichtung gelangt, welche lediglich auf Unlust- und Lustgefiih 1 en beruhen, und da muss strenge unterschieden \verden, ob diese Gefiihle aus egoistischen oder sittlichen Mo¬ tiven entspringen. Die ersteren sind keine lauteren Quellen der sittlichen Verpflichtung. Einige Ethiker schreiben der „Furcht vor den Ge- setzen" grosse Bedeutung zu, unter ihnen Bain. 2 ) Mehr als ein Prophylaktikon wider das Bose und Schlechte diirfte diese Furcht kaum sein. Fallt jene Furcht hin\veg, so haben dieselben Menschen keine Achtung vor dem Gesetze ' noch Scheu vor dem Bosen. Die Furcht kann wohl Legalitat,; aber nicht Moralitat erzeugen. Aehrdiches leistet die soge- nannte Lohntheorie. Die Aussicht auf Belohnungen, vvelche die Beobachtung sittlicher Vorschriften erbffnet, ist im Grunde eine vom Egoismus eingegebene Verpflichtung. Mit Recht nennt Kant eine solche vorgespiegelte „Lust“ nur „ein \Vohlgefallen an sich selbst" und ziihlt sie nicht zu den lauteren „Bestimmungsgrunden“ der sittlichen Verpflichtung. 3 ) Spencer schrankt deren heilsame Wirkung auf sittlich schwache Individuen ein, indem er der Lohntheorie nicht alle sittliche Geltung abspricht. 4 ) Sicherlich fiihrt diese Theorie nicht zu sittlicher Vollkommenheit, thut aber ihren provisorischen Dienst. Jedenfalls darf sie nur aut sittlich stumpfe Charaktere absehen. Da die Erfiillung der sittlichen Pflichten nicht sofort greifbare Friichte tragt oder doch i) Spencer- Thats. d. Eth. 127—128. 2 ) vgl. Spencer’s Kritik der Bain’schen Ansicht in den Thats. d. Eth. -139. 3 ) Kant: Kr. d. p. V. 140-141. — - 1 ) Spencer: Thats. d. Eth. 142. 88 Sechster Abschnitt. solche, wie sie von niedrigen Geistern erwartet werden, so ist es mit der aus der Lohntheorie entspringenden sittlichen Verpflichtung bei solchen Geistern sehr schwach bestellt; sie kann nicht vorhalten, da sie den erwarteten Lohn nicht untriig- lich einbringt. Ueberhaupt dient der aussere Erfolg als kein zuverlassiger Masstab bei der Benrtheilung des Sittlichen. Der Versuch, seinem Nebenmenschen mit Rath nnd That beizustehen, kann misslingen, allein trotzdem ist ein solcher Versuch ein sittlich loblicher. Dagegen kann eine Sehurkerei, begiinstigt von Umstanden, gelingen ; allein kein sittlich den- kender Mensch wird einern solchen Erfolge die sittliche Sanc- tion verleihen. Im Ethischen kommt alles anf die Qualitat des Zweckes und die Intention der Handlung an, dass dieselbe eine moralische sei. Daher bemerkt \Vallas'chek: „Beim Ge- nusse einer guten That darf ich nicht nach dem erreichten Effecte fragen; nur die Absicht muss ich kennen, die ihr zu- grunde lag.“ *) Aus diesem Grunde steht die auf der Lohn- und Straftheorie beruhende Verbindlichkeit auf schwacher Grundlage. Ein bloss ausserliches Motiv zur sittlichen Verpflichtung bildet bei einigen Menschen das aufmunternde oder ab- schreckende Beispiel Anderer. Es gibt eine Moral, die auf Nach eiferu n g und Nachahmung beruht und daher Imi- tationsmoral genannt wird. Sie hat die Nachahmung einer grossen sittlichen Personlichkeit zum Ziele. Diese Art Moral ist in einigen Religionssystemen die vorherrschende. In der That ist der Einfluss des Beispiels in sittlicher Beziehung ein aus- serordentlicher; denn die Menschheit besteht. der weit iiber- wiegenden Mehrzahl ihrer Mitglieder nach, aus receptiven Na- turen. Aus der Geschichte wissen wir, was in der Entwick- lung der Cultur und Civilisation der Vorgang einiger weniger, aber genialer und entschlossener Individuen ftir das Ganze bedeutet. — Indes liegt in der Imitation keine sichere Gewahr fur eine anhaltende und kraftige sittliche Verpflichtung, da eine solche nur aus dem Willen stammen kann. Vielleicht ist gerade der ungeheure sittliche Abstand zwischen dem Nach- ahmer und dem Vorbilde der Grund, dass Viele mit der Zeit an der Nachahmung verzweifeln und sich dem Indifferentis- mus in die Arme werfen. Oft spielen bei dieser Moral auch unlautere und kleinliche Mittel und Antriebe mit. Daher pflegt die auf der Imitationsmoral beruhende Verpflichtung gerne zu wanken. Zu den Mitteln, durch welche das Gefuhl der sittlichen Verpflichtung gevveckt und wacherhalten wird, zahlt auch ‘) Wallaschek: Ideen z. p. Philos. S. 154. Die Klugheit, logische Denkoperationen. 89 di e KJjig-1—d. i. die sorgfaltige Abwagung aller dem Subjecte vortheilhaften und schadlichen Polgen einer That. Im Grande genommen ist die im gew6hnliehen Leben viel- beriihmte Klugheit ein anderer Ausdruck flir einen consequent durchgefuhrten E g o i s m u s. Da die Klugheit aus dem Selbsterhaltungstriebe stammt, so halten Einige dieselbe fiir das starkste Band der sittlichen Verpflichtung. So begriindet Spencer die sittliche Verpflichtung durch das Princip des Egois- mus. 1 ) Allein die Furcht vor den iiblen Folgen einer That, worin sich die Klugheit am scharfsten auspragt, ist kein ver- lasslicher Schutz fiir die sittliche Verpflichtung, u. zw. aus Griinden, die wir bei der Besprechung der Lohn- und Straf- theorie angefiihrt haben. Der Kluge fasst die Vermeidung der unangenehmen Folgen der sittlichen Handlungen nicht aus Riicksichten auf die Sittlichkeit, sondern auf das eigene Wohl ins Auge. Demselben gilt es gleich, ob das Gute oder Bose zum Siege gelangt, wenn dabei nur der eigene Vortheil gewinnt. Im Grunde ist der Kluge gegen das sittlich Gute ganz- lich indifferent; am Siege einer gerechten, edlen, aber derzeit noch schwachen Sache liegt ihm blutwenig. Die sogenannten klugen Weltleute sind nicht diejenigen, welche grossen und ret- tenden Ideen zum Durchbruche verhelfen. Sie kummern sich um den geraden oder krummen Gang der Dinge sehr wenig, da sie uberall nur ihren Profit im Auge haben. In der Geschichte lesen wir so haufig von Rechts- und Vertrags- bruchen, von Verletzungen der Freiheit und Nachstenliebe, von den grossten Perfidien und Gaunereien und flnden, dass diese zumeist auf das Concept und Conto der sogenannten klugen Leute kommen. Es gibt allerdings auch eine sitt¬ liche Klugheit, welche die Folgen der Handlungen nach ihrem ethischen Werte abwagt. Diese Klugheit ist freilich nicht mit der egoistischen zu verwechseln. Die sittliche Klugheit fallt ganz mit der ffe i s h e i t zusammen, und die aus ihr folgende Verpflichtung ist eine durchaus lribliche, wahrend die Weltklugheit diese Eigenschaft mit ihr nicht theilen kann. Es gibt auch eine Art sittlicher Verpflichtung, welche ^ durch rein logische Denkoperationen entsteht. 1 Diese bestehen in der Anstellung von Wahrscheinlichkeits- berechnungen. Da der Erfolg ein immerhin unsicheres Ding ist, so wird einfach calculiert, was sich den gegebenen Umstanden nach als das Wahrscheinlichste ergibt. Leute, die so rechnen, haben nicht die Erfullung der sittlichen ‘) H. Spencer: Thats. d. Eth. S. 140. 90 Sechster Abschnitt. Pflicht, sondern die grossere oder geringere Wahrscheinlieh- keit des Gelingens ihrer Wunsche im Auge. Anstatt fur das Gute einzuspringen, erwagen sie die Chancen seines Gelingens und handeln darnach, wobei sie die besten Anregungen nn- ausgefuhrt lassen. Man darf in solchen Fallen wohl kaum von einer sittlichen Gesinnung reden. — Auch aus rein psychologischen Functionen hat man die sittliche Verpflichtung zu erklaren versucht. Dies thut J. H. Fichte, der in der Person ein „Verpflichtendes“ und ein sich selbst „Verpflichtetes“, also einen Dualismus des Selbstbewusstseins annimmt. 1 ) Man kann jedoch auch diese rein formale Art der Verpflichtung so wenig eine sittliche nennen als die oben erwahnte logische. Eine besondere Art der sittlichen Verpflichtung entsteht durch die unmittelbare E i n w i r k u n g der Aussen- natur auf das Gemiith. Diese Einwirkung erfordert jedoch eine weitere Ausfiihrung. Die Aussennatur wirkt theils durch ihr Beispiel, theils durch unmittelbare Anregung auf das Gemiith des Menschen ein. Die menschliche Natur besitzt namlich eine hohe Empfang- lichkeit fur Natureindrticke aller Art. Den besten Beweis dafiir liefert jede primare Religion, alles primiire asthe- tische, gewerbliche, sociale und ethische Fiihlen und Schaffen des Menschen. Nachahmung und Verehrung der Natur ist der Grundzug jeder urspriinglichen Religion, Nachahmung gewisser Thiere, Pflanzen, Naturproducte der Anfang aller gewerblichen Thatigkeit. An nichts bildet und erhebt sich der Mensch nachhaltiger als an den Werken der Natur, und was er hier erschaut und begreift, das iibertragt er auf sein inneres und ausseres Leben. Das wirkt aber wiederum auf sein ethisches Sinnen und Handeln zuriick. Die Natur ist, was die Anthropologie schon langst nachgewiesen hat. die erste Lehrmeisterin des Menschen in allen Gewerben, Kiinsten, zum Theile auch in der Sprache und selbst in der Wissen- schaft gewesen, wo es gilt, dem Gedanken der Natur nach- zugehen, ihn zu erfassen und fassbar darzustellen. Ueber die unmittelbare Einwirkung der Natur auf den Menschen bemerkt der Reisende J. M. Hildebrandt: „ Jedes Volk steht mit seiner Heimat wie in seinem physischen Aeussern so in seinem Denken und Wirken im engsten Verbande. Der Be- wohner der Kriste ist rauberisch wie die \Voge des Meeres ; der der \Vriste diirr und unstat wie seine Einode, iiber die der Sandsturm saust; der des Gebirges schroff und gewalt- ‘) J. H. Fichte; Syst. d. Etb. B. I. S. 239 ff. Unmiltelbare Natureinfliisse. 91 thatig wie sein Fels und der tosende Giessbach; der der iippigen Niederung dumpf und iippig, gleich ihr.“ ‘) Nach Kant „fliessen die Neigungen der Mensehen aus dem Himmels- striche, darin sie leben, her.“ 2 ) Aber auch die Bodenbe- schaffenheit wirkt auf den Mensehen nach Kant ein: die Bootier hatten ihren Charakter von ihrem feuchten, die Athener von ihrem trockenen Boden erhalten. 3 ) Nach Striimpell haben auch die Beschaftigungen der Mensehen, welche selbst von der Natur und deren Anregungen stammen, Einfluss auf deren sittlichen Charakter: „Der Kiinstler fiih.lt anders, als der Laie, der Bergbewohner anders als ‘ der in der Ebene, der Krieger anders als der friedliche Land- mann.“ 4 ) Durch unmittelbare Einwirkungen der Natur ent- stehen im menschlichen Gemiithe bestimmte Gewohnheiten und Neigungen. Besonders machtig zeigt . sich der Einfluss der Natur auf p r i m i t i v e und willensschwachere Mensehen. Das Gemiith auch des wildesten Naturmenschen steht den Eindrucken der Aussenwelt allezeit offen und zeigt eine grossere Empfanglichkeit fiir dieselben als der Sinn des fiir dieselben abgestumpften Gebildeten. Vielleicht ist unser „civilisiertes“ Zeitalter schon zu blasiert, um sich die unge- heure Macht der Natur auf den urspriinglichen Mensehen auch nur vorzustellen. Man lese einmal die Epen und Lieder, Mythen und Parabeln der Nat.urvolker Afrikas und Asiens oder doch der altesten uns bekannten Volker und man wird seinen fur diesen Zug der Natur abgestumpften Sinn bald neu belebt und aufgefrischt ftihlen. Auch die V o 1 k s m o r a 1, selbst die hochstentwickelte j ii d i s c h-c h r i s 11 i c h e Religionsmoral verschmaht es nicht, gewisse Thiere dem Mensehen als Muster verschie- dener Tugenden vorzuhalten, und in den S p r i c h w o r t e r n aller Volker findet die Analogie zwisohen dem Mensehen- und Naturleben die weiteste Anwendung. Bilden in den angefuhrten Fallen die Naturvorgange fiir den beobachtenden menschlichen Verstand und das mensch- liche Gemiith das zur Natursittlichkeit anlockende Moment, so liegt in der u n b e w u s s t e m p f u n d e n e n E i n w i r- k u n g der Natur auf den Mensehen eine m e c h a n i s c h e oder r e i n p h y s i s c h e Beeinflussung des Subjectes. Letztere Einwirkung wird wohl in weiter nicht erklarbaren ') Zts. f. Ethnologie, red. von A Bastian u, R.Virchow. 1874. S. 318-9. 2 ) Kant- Entw. eines Collegii der phys. Geogr. Hartenstein’s Ausg. Bd. 2. S. 9. 3 ) Kant: Von den verschied. Racen der Mensch. Hartenstein’s Ausg, Bd. 2. S. 437. 4 ) S t r ii m p e 11: Vcrschule d. Eth. S. 143. 92 Sechster Abschnitt. Erregungen und Reizungen des Nervensystems und in Im- pulsen bestehen, welche zu Motiven des Handelns werden. Der Mensch ist keine leblose Maschine, die nur durch zuge- fiihrte Krafte bewegt wird; derselbe tragt latente sittliche Krafte in sich, die durch Einwirkungen von aussen in Thatigkeit versetzt und durch den Verstand auf Zwecke ge- richtet werden. Daruber kann kein Zweifel bestehen, dass sich auch u n b e w n s s t e r W e i s e empfangene Anregungen im menschlichen Organismus in spontane Motive umsetzen. Nur ist dieses Gebiet des Psychischen noch zu wenig er- forscht, und daher die unmittelbare sittliche Einwirkung der Natur auf den menschlichen Organismus im Einzelnen noch zu wenig bestimmt festgestellt. Ohne Zweifel lasst sich die Behauptung, dass auf die Sittlichkeit des Menschen auch histologische und rein physische Verhaltnisse und Functionen des Organismus einwirken, durch Wahrnehmungen sttitzen. Die bisher von H. Spencer in. dieser Richtung ge- machten Versuche konnten vor der Kritik allerdings nicht sta.ndhalten, *) allein das Princip selbst kann nicht rundweg abgewiesen werden. Jedenfalls sind die unbewussten sittlichen Anregungen der Aussennatur ein keineswegs schwacties und an Einfluss hinter den tibrigen Anregungen zuriick- stehendes Mittel der sittlichen Verpflicht-ung. Man vergesse Eines nicht, dass viele sittliche Neigungen ganz unbewusst mitspielen, daher auch unbewusst entstanden sind. Ich sehe in derartigen Impulsen den Grurid jener merkwur- digen Uebereinstimmung oder jenes „Rapports“ zwischen der Aussenwelt und der Menschennatur, zwischen der „Sinnen-“ und „Verstandeswelt“, zwischen der objectiven und subjectiven Natur, welche die Metaphysik stets behauptet, dagegen die kritische Philosopliie eines Kant zu strenge und zu weit von einander gehalten hat. 2 ) Nachdem ich so die verschiedenen Arten der sittlichen Verpflichtung dargestellt habe, will ich nun der Uebersicht wegen dieselben z u s a m m e n f a s s e n. Das erste, rein sittliche Mittel der Pflichterzeugung besteht in der Ueberle- gung, dass das Endziel alles sittlichen Handelns — ftir uns Menschen wenigstens — in einer moglichst allgemeinen Gltick- šeligkeit besteht. Das Kennzeichen dieser Art Verpflichtung ist wissentliche Uebereinstimmung der Zwecke des Handelns ’) Vgl. solche bei Spencer: Thatsach. d. Ethik u. Syst. d. synthet. Philosoph. Bd. 1, und deren Kritik seitens W u n d l’s (in dessen »Ethik«), sowie seitens Al. Riehl’s: Vierteljahrs. f. wiss. Philos. 18»8. S. 374. 2 ) Kant: Kr. d p. V. 52. Vgl mit dem Ge- sagten das ganze zweite Capitel in A. B, i e h l’s Kritic. II 2. 176 ff. Eintheilung der Pflichten. 93 mit den objectiven Sittengesetzen. Die zweite ,Art der Ver- pflichtung besteht in der sittlichen Gesinnung d. i. im sitt- lichen Fiihlen und Wollen. Die dritte . besteht in einer un- bewussten Uebereinstimmimg der Affecte und Neigungen mit dem, was die objectiven Sittengesetze erheischen. Die yierte stiitzt sich auf Vicariate oder Substitute der sittlichen Ueberlegung und Gesinnung. Die Vicariate lassen sich auf das Gewissen, den sittlichen Instinct, auf Gefiihle der Achtung, Lust und Unlust, auf Rticksichten der Beloh- nung oder Bestrafung, auf Nacheiferung, Klugheit, logische und psychologische Argumentationen, auf mittelbare und un- mittelbare Einflilsse der Aussennatur, auf eine freiwillige und erzwungene Anpassung an die Aussenwelt zuriickfuhren. In den angefiihrten Arten der Verpflichtung, welche sich auch mehrfach mit einander verbinden, ist eine Scala von ab- steigenden sittlichen \Verten enthalten, geordnet nach dem Grade der geistigen Mitthatigkeit, aus welcher die Verpflichtung hervorgeht. \Venn nun die sittlichen Pflichtverhaltnisse nach ihren Objecten eingetheilt werden, so erhalten wir folgende ethische Pflichtverhaltnisse : d) I d e a 1 e P f 1 i c h t e n, welche direct auf die Erfiillung und Befolgung der in der Menschen- und Aussennatur 'enthal- tenen Sittengesetze gerichtet sind. Denn es gibt auch in- directe, aus jenen obersten Gesetzen abgeleitete Normen, welche die Praxis entdeckt hat. Ideal diirfen jene Pflichten genannt werden, \veil sie durch Abstraction gewonnen werden und dem handelnden Subjecte als hohe, selten erreichte Muster vorschweben. b) Sociale P f 1 i c h t e n. Dieselben beziehen sich auf die Befolgung und Verwirklichung der allgemein-mensch- lichen Sympathio, auf welcher der Aufbau der Gesellschaft beruht. c) I n d i v i d u el 1 e oderp e r s o n 1 i c h e P f 1 i c h te n. Dieselben umfassen alle Verhaltnisse und Zustande des Sub- jectes als einer Einzelpcrson gegenuber ihren eigenen Be- durfnissen und Bestrebungen. Diese Pflichten sind haupt- sachlich im Gesetze der Selbsterlialtung und Individualitat begriindet. Ausserdem ist das Individuum selbst wieder ein Aggregat von Massentheilchen, die sich selbst gegeniiberstehen und gegenseitig bedingen. Dass diese Eintheilung der Pflichten eine erschopfende, aber keineswegs uberfliissige ist, beweist am besten die Totalitat der Verhaltnisse, in denen das Subject lebt und handelt. Das Leben des Menschen und jedes handelnden Subjectes steht in fortwahrenden Beziehungen zur realen und 94 Sechster Absclmitt. metaphysischenW e 11, zurmenschlichen Gesellschaft nnd zur Summe seiner eigenen leiblichen und geistigen Bediirf- n i s s e. Das sind also drei Spharen und ebensoviele Bedingungen seines Lebens und Handelns. Im Wesen der sittlichen Verpflichtung liegt es, dass diese sich auf metaphysische Dinge d. i. in den Objecten als Krflfte und Eigenschaften vorgestellte Zustande, nicht auf deren materielle Bestandtheile, also auf dessen Moleciile und Gestalt bezieht. Das, was am Objecte sittlich ist, be- steht in metaphysischen Zustanden desselben, kann nur als solches zu Zwecken, Mustern und Normen des Han¬ delns werden und kann in der Ethik auch nur als solches in Betracht gezogen werden. Dabei miissen aber die ethi- schen Zustande und Verhaltnisse nicht schon als a n- thropomorphe Erscheinungen gedacht werden. Das in der Aussen- und Innenwelt wirkende Sittliche ist ebensoweit von einer solchen Gestalt entfernt als von einer ledig- lich „a priore n“ Existenz, welche ihm Kant geben wollte. Daraus aber folgt, dass wir die Sittengesetze als Qualitaten, nicht deren materielle Trager als Objecte der sittlichen Pflichten zu betrachten haben. So leicht und natiirlich es daher auch scheinen mag, materielle P f 1 i c h to b j e c t e aufzustellen, ebenso schwierig ware es, diesen Objecten gegeniiber die Pflichtverhaltnisse im Einzelnen darzulegen und zu bestimmen. Wenn wir z. B. das Pflichtverhaltnis des Menschen zur Aussenwelt als einem Ganzen, sagen v/ir als Abhangigkeitsgeftihl oder als Gefiihl der Achtung bezeichnen, so ist es andrerseits wiederum schwierig, dasselbe Pflichtverhaltnis gegeniiber den ein¬ zelnen Objecten der Aussenwelt, etwa einem Baume, einem Thiere u. s. w. klarzumachen. Dies hat auch ftir Kant den Hauptgrund gebildet, ideale, nicht materielle Pflichtverhaltnisse gegeniiber der „Natur“ anzunehmen. Daher ist ihm wohl das „Naturge s e tz“, nicht aber die „Natur“ selbst „heilig“. An- ders namlic-h stellt sich unser Pflichtverhaltnis dar, wenn wir die Gesetzmassigkeit, Identitat u. s. w. zum Objecte unserer Verpflichtung machen, anders, wenn ein materieller. Gegenstand als Muster ftir unser Handeln aufgestellt wird. Nur in ersterem Falle bekommt das sittliche Pflichtverhaltnis eine klare und unzweideutige Richtung, in welcher sich dann auch das prak- tische Handeln bewegen kann. Indes der Sprachgebrauch nimmt die Ausdriicke nicht so genau. In ethischen Schriften begegnet man am haufigsten materiellen Pflichtobjecten. So kennzeichnet Striimpell dieselben mit folgenden Worten : ,,Entweder ist es das Verhalten des Menschen gegen die Pfliehten gegen die Aussennatur. 95 Dinge und Bege.benheiten in der Natur, oder es sind die Handlungen der Me ns c h en gegenseitig auf einander, oder endlich ist es das Verhalten des Individuums in seinem Innern“, auf welche Gegenstande die ethischen Begriffe in Anwendung kommen. 1 ) Es gibt also dreierlei Pflichtverhaltnisse. Nach demVorgange der christlichen Moral, welche ebenfalls ein dreifaches Pflicht- und Tugendverhaltnis: Pfliehten gegen Gott, gegen sich selbst und gegen die Menschheit, enger noch gegen die christliche Gemeinschaft kennt, 2 ) gab auch Kant Pfliehten „gegensieh“, „gegen den Mitmenschen 11 und ausserdem „gegen Gott“, doch die dritten etwas zogernd zu. 3 ) Offenbar scheute er sich die christlichen Pfliehten, da sie conventionell sind, abzu- lehnen. Ihm folgte J. H. Fichte, der in Betreff der „Gottinnig- keit“ als einer „eigenthumlichen Pflichtsphare 11 Sclrvvanken bekundet, 4 ) und als rein ethisch zweierlei Pfliehten an- erkennt, „die auf sich zuruekkehrenden“ personlichen und „die nach aussen gewendeten“. 6 ) Sehen wir uns die Griinde fiir und wider diese Eintheilung naher an ! Pfliehten gegen die Menschheit werden wohl von keinem Ethiker geleugnet. Nicht so glimpflich ergeht es den Pfliehten gegen die Aussennatur. Wer in dieser keine Sittlichkeit entdecken kann, der freilich wird sich auch jeder Verpflich- tung gegen dieselbe entschlagen. Ich glaube, im Obigen Griinde angefiihrt zu haben, die fiir eine objective Sittlich¬ keit sprechen. Interessant ist es, dass einige Ethiker, nament- lich die idealistischen, die Pfliehten gegen die Aussennatur, also z. B. gegen die Thiere leugnen. Unter andern thut dies Steinthal, da die Thiere keinen „vernunftigen Willen“ liaben, wahrend der homo sapiens sich „Selbstzweck“ sei. 6 ) Dagegen ist einzuwenden, dass die unmiindigen, sittlich verwahrlosten und sonst unzurechnungsfahigen Menschen ebenfalls keinen »verniinftigen Willen“ haben, aber von der Wohlthat einer der Moral entsprechenden Behandlung nicht ausgeschlossen sind, da sie ja auf die allgemeinmenschliche Sympathie Anspruch haben. Schopenhauer eifert mit Recht gegen die „vermeinte Rechtlosigkeit der Thiere “, der gegeniiber er sein Sittenprincip, das des „Mitleids“, in Anwendung bringt. 7 ) Man *) Strtim peli: Vorschul. d. Ethk. 8. 2 ) Dorner: Syst. d. christl. Sittenlebre. 1885 S. 815. 3 ) Kant: Kr. d. p. V. 97 ff. 189; >Tugendlehre‘. S. 179. *j J. H. Fichte: Syst d. Eth. I. Bd. S. 254. s ) J. H. Fichte: ebenda; vgl.. jedoch auch seme »Ideen* S. 2: 9; vgl. auch Fichte’s Kritik der Kanfschen Pflichtenlehre: ebend. S. 255 Anm. e ) Steinthal: Allgem. Eth. S. 245. 7 ) Schopenhauer: Die beid. Grundprobl. d. Eth S. 243. P6 Seehster Abschnitt. braucht wahrlich nicht buddhaistischen Anschauungen zu hul- digen, ran die Schonnng der Thiere, wenn schon nicht das „Recht“ derselben anzuerkennen. Das Princip der Zweck- massigkeit des Handelns allein bietet zur Schonung der Thiere Grand genug, wenn man schon dabei nicht auf das Urtheil der Menschen, auf die offentliche Meinung, auf die Scham vor sich selbst Riicksicht nehmen will. Dergleichen Grande mogen die Rechtsanschauungen der Culturvolker beeinflusst haben, dass dieselben den Thieren einengesetzmassigen Schutz gewahrten. So leitet Rud. v. Ihering das Recht der Thiere aus dem mensch- lichen „Bedurfnisse“ und aus dem „sittlichen Gefiihle“ ab. 2 ) Es gibt ausserdem mehrfache rationell-sittliche Grtinde, welche ftir eine zweckentsprechende Beniitzung und Schonung gewisser Nutzthiere sprechen. Ich lasse alle buddhaistischen, ;igyptischen und andere Verehrungsarten der Thiere als Aus- fliisse religioser oder egoistischer Motive beiseite, ebenso alle rein okonomischen Rucksichten, da diese alle nicht zu den ethischen Griinden des Handelns zahlen, und fasse einzig die sittliche Seite der Gebarung mit den Thieren ins Auge. Und da finde ich, dass ein tief in der Menschennatur liegende.s sittliches Princip auch auf die Thiere anwendbar sei, namlich das des Egoaltruismus. Fur die Ausdehnung dieses Prin- cips auf Thiere und andere Gegenstande der Aussenwelt, so namentlich auch auf Pflanzen und Kunstproducte, sprechen verschiedene Griinde. Erstlich subjective. Dass der Mensch nicht bloss Menschen, sondern auch anderen Objecten seine Sympathie entgegenbringt, ist schon gesagt worden, und ich brauche darauf bloss zu verweisen. Wir fiihlen Mitleid und Mit- freude besonders mit denjenigen Thieren und Gegenstanden, mit (lenen wir zusammenleben und die irgendwie mit unsern ange- nehmen Gefiihlen und Empflndungen associiert sind. Wir konnen sogar unsere Hausthiere lieben, aber auch solche Thiere des Waldes und der Flur, welche uns in irgendwelcher Beziehung lieblich und anmuthig erscheinen. Unsere Sympathie gilt z. B. Baumen, an die uns angenehme Erinnerungen kniipfen, Land- schaften, Stadten, Bandera u. *s. w. Ganz vorziiglich wenden wir unsere Sympathie gewissen Ivunstgegenstanden zu, die uns infolge ihrer asthetischen Vorziige gefallen, also Gemalden. Statuen, Bauten u. s. w. Infolge unserer sympathetischen Ge- fiihle verabscheuen und verponen wir jede Verunstaltung und Beschadigung, ja jede Missachtung und Verunehrung solcher Gegenstande, die uns lieb und theuer sind. Aber auch o b j e c- ti ve Griinde bewegen uns zur Sympathie, so z. B. das V e r- ') Rud. v. Ihering: Zweck im Recht. II Bd. 1. Aufl. S. 138. Pflicliten gegen die Tfaiere. 97 h alte n gevvisser Thiere gegen uns. Es wird schwerlich zu leugnen sein. dass einigo Thiere symp athetische oder vvie Ch. Darwin sagt, altruistische Gefuhle ftir den Menschen hegen. so namentlich der Hund. das Pferd und gevvisse Vogel. 1 ) Romanes geht noch \veiter und will in der Natur des Hundes Spuren einer bewussten Sittlichke.it entdeckt haben. 2 ) Da stiinde ja der homo sapiens einer zweiten Classe sittlicher AVesen gegeniiber, welche nicht zu seiner Gattung gehoren. Der Fali fordert uns formlich auf, iiber die Ursachen unserer Sympathie solchen Gegenstanden gegeniiber nachzudenken. Ist es denn wirklich nur die gleiche Art, die dem Menschen gegeniiber dem Angehorigen derselben Art Mitgeluhl einflosst ? Dann \viirde ja der Menschenhass ganz unbegreiflich erscheinen. Solite nicht vielmehr das Interesse und die Erwiderung des Interesses mit einen Grund zur Sympathie bil den? Driingt aber ein solcher Grund zur Verpflichtung, warum solite die mensch- liche Sympathie nicht auch dort platzgreifen und ihre Berech- tigung haben, wo der verntinftige Mensch aufhort und das .,unverniinftige“ Ding — das englische it — sei es nun Thier. Pflanze oder was ftir leblosef Gegenstand immer als Object unserer Sympathie beginnt? Bereits oben habe ich bei einer Gelegenheit bemerkt, dass unsere sympathetischen Gefuhle dem Mitmenschen gegen- iiber auch ihre berechtigte Grenze finden, dort niimlich, wo der moralische. Wert des Niichsten in unseren Augen ge- schwunden ist. Man mag dariiber nachdenken. wie viel man will, man wird keinen verniinftigen Grund finden konnen, warum die Verpflichtung zur Sympathie nur dem Menschen gegeniiber zu beobachten sei. da bekanntlich der Mensch gegen den Mitmenschen in sittlicher Beziehung liiiuflg nicht bloss in- different, sondern geradezu bose zu sein fahig ist. Niemals kann ein Thier den Menschen beleidigen ; von welchem Dinge in der Welt erleidet dagegen der Mensch in \Vahrheit mehr B5ses und Unangenehmes als gerade vom Menschen? Es • gibt daher meiner Ueberzeugung nach gar keinen verniinftigen Grund, sittliche Pflichten ausschliesslich dem Menschen ge¬ geniiber zuzugeben, als ob die ganze iibrige Welt nicht bestiinde und unserer Sympathie nicht wiirdig w;ire. — Die Pflichten gegen die e i g e n e P e r s o n habe ich bereits erw;ihnt, muss jecloch ihr Wesen noch naher beleuchten. 3 ) Nicht alle Ethiker sind geneigt, Pflichten dieser <) Ch. Darwin: Abstam. d. Mensch. II 3 S. 101. 2 ) Romanes: Revue philosoph. 1888. p. 30. 3 ) Die Begrundung und Darstellung der personlichen Pflichten ist einer der besten Abschnitte in P a u 1 s e n’s : Ethik 2 S. 396 ff. — Ich gehe auch hier meinen eigenen Weg. 7 98 Sechster Abschnitt. Art anzuerkennen. Steinthal z. B. lehnt dieselben rundvveg ah. indem er beraerkt: „Pflichten gegen sich selbst gibt es nicht“.‘) Auch Schopenhauer verwirft dieselben. 2 ) Beiden schwebt der reine Altruismus als ethisches Princip vor, \velches keine Selbstverpflichtung dulde. Indes wird von der christlichen Moral gerade die „Eigenliebe“ als die Quelle der Pflichten gegen sich selbst bezeichnet. 3 ) J. H. Fichte. der im Menschen eine von ihm selbst vorgestellte nnd eine sich selbst vor- stellende Person findet. kennt eben deshalb auch Pflichten gegen sich selbst. welche er aus der „warnenden oder strafenden Stimmedes Gtewissens“, dem das Subject Rechenschaft schuldig sei, ableitet. 4 ) Schopenhauer handelt inconsequent, indem er zwar eine „Beschamung und Degradation“ der eigenen Person vor sich selbst infolge gemachter Fehler undVergehen zugibt, 6 ) Pflichten gegen die eigene Person dagegen leugnet. In eigenthumlicher \Veise sucht Kant die Pflichten gegen die eigene Person zu beweisen : er fiihrt sie auf die sittliche Heiligkeit der Person als „des Subjectes des moralischen Gesetzes zuriick, des Menschen als Urhebers dessen, was an sich heilig ist“, und betrachtet den Menschen als ,.Zweck an sich selbst, ohne hie- bei selbst Zweck zu sein“. 6 ) Jedenfalls sieht diese Heiligung der menschlichen Person einer Ueberschatzung des Menschen gleich. In der That halt sich der sittliche Mensch seiner eigenen Person gegeniiber nicht minder fur verpflichtet als gegenuber einem Andern. Gegen uns selbst verfahren wir mitunter sogar strenger als gegen Andere — ein deutlicher Beweis. dass wir Pflichten gegen uns selbst haben. In der Beobachtung und Erflillung der idealen, socialen und individuellen Pflichten liegt die gesammte sittliche A u f g a b e des Menschen. Von der Art ihrer Erflillung hangen der sittliche Charakter, die Tugenden und Laster des Menschen ab. Doch davon soli der nachste Abschnitt handeln. , ') Steinthal: Allgem. Ethik. 175. 2 ) Schopenhauer: Die beid. Grundprobl. d. Eth. 1*6-129. •) Gutberlet: Ethik u. Natur- philos. 97-98. , J. H. Fichte: Syst. d. Eth. 1.242. 5 ) Scho¬ penhauer: ebend. 129. e j Kant: Kr. d. p. V. 158. Siebenter Absehnitt. Die praktische Sittlichkeit oder der ethische Cha- rakter. Die Gesetze der objectiven Moral erheischen ihre Bethii- tigung, denn sie sind keine leeren Schemen oder eitle Doc- trinen. Dies ergibt den Begriff der praktischen Sittlichkeit. die sich in der Handlungsweise kundgibt. Was handeln heisst. dariiber ist im zweiten Abschnitte das zum Verstand- nisse Nothige gesagt worden. Die Handlnngsweise ist der aussere Ausdruck der sitt- lichen Gesinnung. Sie pragt sich am scharfsten im sit t- lichen C karakter aus. Denn nicht vom Charakter schlecht- hin, sondern vom sittlichen oder praktischen Charakter soli hier die Rede sein. Tritt der psychische Charakter als ange- borne Eigenart des Denkens und Handelns auf, so bietet der sittliche ein stark ausgepragtes Bild des bevrassten ethi- schen Fiihlens, Denkens, Schliessens, Handelns und Thuns dar. Zum sittlichen Charakter geniigt nicht die Fiihhveise, sondern es muss noch die Bethatigung der ga n zen Per- sonlichkeit hinzukommen; erst beides stellt den ganzen Complex des Handelns dar. Bei der Beurtheilung des sittlichen Charakters kommt es also nicht bloss auf die Erkennt- nis der intimsten Gefiihle und Neigungen sondern auch auf deren Ausdruck in Thaten an. Es bleibt daher eine jede Auffassung und Beurtheilung des sittlichen Charakters einer Person unzureichend, solange bloss ihre Neigungen oder ihre sittlichen Anlagen oder ihr Verhalten gegeniiber ver- schiedenen Anreizen zum Handeln oder bloss ihre Thaten in s Auge gefasst werden, da es Gefiihle ohne Thaten und auch Thaten ohne Geffihl geben kann. Es muss vielmehr wo- moglich der ganze Plan und der ganze Weg der verschiedenen 7 * 100 Siebenter Abschnitt. Unternehmungen einer Person von deren erster Conception bis zu deren Durchfiihrung und selbst ihr Verhalten gegen- iiber den Riickwirkungen, welche die Folgen einer That in der- selben hervorrufen, Mar vorliegen, ran ein Urtheil liber deren sittlichen Charakter zu gestatten. Erst dann werden wir zu be- urtheilen imstande sein, ob die Person wirklich solchen Principien huldigt, die mit den Gesetzen der objectiven Sitt- lichkeit ubereinstimmen. Denn nur in solcher Uebereinstim- mung oder Nichttibereinstimmung liegt das Kriterium des sittlichen Charakters, der entweder ein guter oder ein schlechter oder ein sittlich schwankender ist. Es ist daher leichter von einern sittlichen Charakter zu reden als einen solchen exact zu definieren. noch weniger leicht aber den Begriff desselben an concreten Beispielen nuf- zuzeigen. Schopenhauer hat die Definition des Charakters — man weiss nicht recht, ob er den Charakter im allgemeinen oder den specifisch sittlichen meint — eng umschrieben, wenn er denselben als „die speciell und individuell be- stimmte Beschaffenhei t des Willens“ bezeichnet, „ver- moge deren seine Reaction auf die s e lb e n Mo ti ve in jedem Menschen eine andere ist 11 . 1 ) Der Charakter erscheint ihm als eine den „allgemeinen Naturkraften 11 ahnliche Ursache oder Kraft, auf Motive des Handelns in bestimmter Weise zu rea- gieren. Durch solche Erlauterungen wollte Schopenhauer auf den tiefen Grund hinwejsen, aus welchem die Aeusšerungen der menschlichen Natur ans Licht dringen. Anders dachte sich Goethe den Charakter, was aus seinem bekannten Ausspruche „ein Charakter bildet sich im Strorn der Welt“ hervorgeht. Goethe wollte damit die mitkampfende und mitbestimmende Thatigkeit des Menschen in der Gesellschaft hervprheben, in welcher sich das Subject als ein praktisches, handelndes AVesen bewahrt und durch seine Thaten und Erfolge zur Geltung zu bringen sucht. Somit hat Goethe den Charakter an dessen praktischem Ende, der That, Schopenhauer an dessen psy- chischem Ausgangspunkte, der „Neigung“, ins Auge gefasst. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass sich der sittliche Cha¬ rakter auch auf diese Weise erkennen lasst, aber siclier ist es auch, dass er so nicht deutlich genug erkannt wird. Vielmehr muss man womoglich das Handeln eines Menschen in seiner ganzen Ausdehnung kennen, kritisch zu erspahen und in allen seinen Phasen zu beobachten imstande sein, um es als sitt¬ lich beurtheilen zu konnen. Da wir nun bekanntlich so wenig Gelegenheit haben, die Phasen, in denen ein bestimmter Cha- ’) Schopenhauer: Freiheit des Willens^ S. W. 4 . S. 48. Begriff der praktischen Sittlichkeit. 101 rakter keimt, sich entpuppt, kraftigt, planend und handelnd auftritt. im einzelnen zn verfolgen, so muss unsere Kenntnis iremder Charaktere \vie nicht minder des eigenen nothwen- digenveise eine liickenhafte. ja in den meisten Fiillen eine geradezu mangelhafte sein. Wir sehen oft Thaten, deren Mo¬ tive wir nicht kennen. und sehen mitunter die edelsten Mo¬ tive keimen, denen keine Thaten entsprechen. Wir besitzen also nur wenig Handhaben, um die Charaktere in ihrem Grundwesen zu erfassen und zu beurtheilen. Diese Thatsache verdient aufs nachdrticklichste hervorgehoben zu werden, um als eine Mahnung zu dienen. Denn zu nichts sind die Men- schen geneigter als zu einer vorschnellen Aburtheilung fremder Charaktere. Es kommt aber noch eine zweite Schwierigkeit hinzu. Sollen \vir den sittlichen Charakter fiir das Product der Person oder ihrer histologischen Constitution allein oder der Umstande oder gar fiir eine fremde, im Subjecte als blossem Werkzeuge waltende Macht oder fiir ein Gesammtproduct aller dieser Factoren ansehen und beurtheilen? — Denn der Ausdruck praktische Sittlichkeit kann in einem weiteren imd engeren Sinne genommen werden: im weiteren. insofern als die Sittlichkeit dem Subjecte als eine Eigen- schaft anhaftet, im engeren, insofern dieselbe als Eigenwerk der Person angesehen wird. — Dariiber hat der vorige Ab- schnitt eine Antwort gegeben. Dort wurden die verschiedenen Arten aufgefiihrt, wie sich ein Subject sittlich fiir verpflichtet halt. Und da hatte es sich gezeigt, dass dies wissentlich und willentlich oder aber ohne Wissen und Willen geschieht. Die Erfahrung weist Menschen auf, die das Gute wissentlich und geflissentlich wollen und solche. die ■ es \vissentlich und absichtlich ablehnen und dies aus Grtinden, die theils aus Un- kenntnis des Guten. theils aus Mangel a n sittlicher Kraft ent- springen. Jedenfallš aber wiirde es steifer Doctrinarismus sein zu leugnen, dass gewisse Menschen ihre wohlbewussten Pflichten absichtlich und principiell vernachlassigen, mogen sie dazu durch welche Motive immer bewogen werden. Es ist zwar wahr. und niemand wird das im Ernste leugnen wollen, dass alle Menschen ohne Ausnahme dem Gesetze der Causalitat unterliegen. allein gerade deshalb. weil dieser Factor in der statisčhen Gleichung des Guten und seines \Viderstandes ein immer vorauszusetzender, allgemeiner ist, darf derselbe als selbstverstandlich beiderseits weggelassen werden. dagegen muss der subjective Factor des Handelns, vvo ein soleh er nachvveisbar ist, in die Gleichung gesetzt werden. Wir haben doch genug Verbrecheraussagen vor uns, die das 102 Siebenter Abschnitt. Vorhandensein einer sittlichen Bosheit ausser Zweifel stellen. AVie sollten wir den Umstand, dass gerade in sittlicher Be- ziehung der Unterschied zwischen den Menschen trotz der als gleich angenommenen ausseren Causalitat so ungeheuer gross ist, nicht anf die sittliche Eigenart der Individnen, also vor- nehmlich, wo nicht ansschliesslich auf ihren Willen, ihre Bildung u. a. Eigenschaften zuriickfiihren diirfen? Nun ist es allerdings wahr : das, was man den sittlichen Charakter nennt, soli ein deutliches G e p r a g e, eine Art moralisches Totalbild der Person abgeben. AJlein welche Tugenden oder welche Laster sollen da in Betracht gezogen werden ? AVer der Theorie der sogenannten C a r- dinaltugenden anhangt, wiirde da ein leichteres Spiel haben; er brauchte nnr eine jener vielberuhmten Tugenden als Merkmal des sittlichen Charakters aufzustellen und dar- nach den sittlichen Charakter zu bestimmen oder doch zu construieren. AVer jedoch die Spielereien der Peripatetiker und Stoiker, welche sie mit der Schlussform des sogenannten Sorites trieben, kennt, wird jenen Cardinaltugenden wenig Vertrauen entgegenbringen. Denn was diese bevorzugten Tugenden vermtigen. das vermag jede andere Tugend. namlich dass sie andere Tugenden nach sich zieht. Das Gleiche gilt von den Lastern, welche wieder andere Laster attrahieren. Sehen wir uns z. B. die Tugend der Menschen- freundlichkeit an. Aus ihr lasst sich ganz naturgemass die Milde, aus dieser die Billigkeit. aus dieser die Freund- schaft, weiters die Freigebigkeit, das Streben nach Be- gliickung Anderer, also die reinste Humanitat und Sittlichkeit entwickeln. Aehnlich leiteten die Alten aus der Selbstbe- herrschung die Geniigsamkeit, Zufriedenheit, Freiheit von Leidenschaften. die Schamhaftigkeit, Bescheidenheit- den Sinn fur personliche AVurde. Tapferkeit u. s. w. ab. Ebenso leiteten sie aus gewissen Lastern die tibrigen Laster. z. B. aus der Sch\velgerei alle Arten von Unmassigkeit, Grausamkeit u. s. w. ab. Aus der Habsucht folgerten sie einen ganzen Rattenkonig von Lastern: Treulosigkeit, Falschheit. Uebermuth, Hochmuth, Unzufriedenheit, Herrschbegierde. Unverschamtheit, Frechheit; aus der Tragheit: Sorglosigkeit, Feigheit. AVohldienerei, Heu- chelei, Ungerechtigkeit u. s. w. Es ist kkir. dass in einem Gemiithe, in welchem das Gute oder Bose einmal festeAVurzeln gelasst hat, und die guten oder schlechten Neigungen uber- handgenommen haben, es nicht bei der urspriinglichen sitt¬ lichen Verfassung bleibt, sondern sich bei der Tendenz der AVeiterentwicklung neue Tugenden oder neue Laster an- setzen mussen. Die ethische Concentration und Harmonie. 103 Diese ethische Beobachtung ist nun fiir die Natur des sittlichen Charakters von Bedentung. Bei der Fahigkeit des Sittlichen, sich im Gemiithe zu verbreiten und zn verdichten - was ich mit dem Namen ethische Concentration benennen mochte. weil sich mehrere moralische Eigenschaften um ge\visse star ker entwickelte C e n t r e n oder H e r d e an- setzen —. ist eine jede stark ausgepriigte Tugend und jedes hervortretende Laster geeignet, als sittliches Charakterbild einer Person zu dienen. Natiirlich schliesst dies nicht den Fali aus, dass auch zwei oder mehr Tugenden stark hervor- t.reten. ja selbst, dass sich in einem und demselben Gemiithe stark entwickelte Tugenden und Laster zugleich vorlinden.') Denn der Combinationen des sittlichen Charakters gibt es eine Unzahl. \Vir erhalten so r e i n e und g e m i s c h t e sitt- liche Charaktere. Was nun die reinen oder doch annahernd reinen sitt¬ lichen Charaktere betrifft, so ist bei deren Bestimmung noch eine wichtige Grenzlinie zu beachten. Soli der Charakter ein \virklich ldblicher sein, so muss in ihm eine Art s i 111 i c h e r Harmonie herrschen d. h. es muss die Tugendhaftigkeit der Person gleichmassig ausgebildet sein. Unter der sittlichen Harmonie verstehe ich eine gleichmassige Spannung aller sittlichen Krafte in einer Person. So dass neben einer hervorragenden Tugend noch immer andere Tugenden be- stehen und sich vernehmbar machen. Diesem Principe ent- sprechend darf es im Charakter einer Person kein Zuviel, aber auch kein Zuwenig von einer und derselben Tugend geben, also keine sittliche Einseitigkeit, sondern eine Aus- geglichenheit aller. Die altgriechischen Ethiker nannten dies das „goldene Mittelmass", die JCpvtTŽi \ ui 6 tk des Aristo¬ teles 5 , die Rdmer ,,aurea mediocritas“, die Deutschen nennen es den „goldenen Mittelweg“. Die Griechen meinten, eine jede Tugend, ins Ungeheure vergrossert. verliere ihren Charakter als Tugend und schlage in das nahe verwandte Laster um. Da lag freilich die Gefahr eines Missverstand- nisses nahe, dass Einer leicht das ,.Mittelmass“ fiir „Mittel- massigkeit“ nehmen konnte. Darum forderten sie Ein- schrankung der einen Tugend durch die anderen. In der That ist Gefahr vorhanden, dass z. B. die Tapferkeit — ein bei den alten Ethikern beliebtes Exempej — aus dem Rahmen der iibrigen Tugenden: der Vorsicht, Klugheit, Geistesgegen- wart, Massigkeit, Orts- und Sachkenntnis heraustrete und in ') Die ethische Concentration entspricht der psychischen Apper- ception und Association. 104 Siebenter Abschnitt. Tollkuhnheit, Venvegenheit. Frechheit. Wuth, Verbrechen um- schlage.') Kant erklart die Harmonie der Tugenden aus deren Abhangigkeit von einer „Totalitat des hoohsten Gutes“, zu dem die einzelnen Tugenden gewissermassen die Glieder bilden. 2 ) Da hatten wir in der ethischen Auffassung den- selben Einheitsbegriff wieder, der fiir die Logik und das gesammte innig zusammenhangende Geistesleben so wichtig ist. Der Sitz der einigenden Kraft liegt im Bevvusstsein. J. H. Fichte nennt das Spannungsverhaltnis der Tugenden deren ,System‘- und definiert es als eine ,.weehselseitige Ausgleichung der Tugenden' - , indem er bemerkt: ,,Ohne Wechselerganzung und in ihrerVereinzelung ist jede Tugend der Gefahr ausgesetzt, eine Einseitigkeit zu orzeugen. \velche den Begriff der vollkommenen Tugend aufhebt" , 3 ) Ich močhte dem beifugen. dass die Harmonie der Tugenden verschiedene Grade haben kann und nicht mit der sittlichen Vollkonmien- heit zu identificieren ist. Sonach stellt der sittliche Charakter die Stufe der ethischen Perfection dar. die ein Individuum oder ein Volk erklommen hat. Eine jede hervorragende Tugend ist geeignet. als Kennzeichen des Charakters zu dienen. Gehen wir nun, nachdem wir den Begriff des ethischen Charakters kennen gelernt haben, zur Erbrterung seiner Entstehung iiber ! Die Gesetze. denen die Bildung des sittlichen Cha¬ rakters unterliegt. ergeben sich aus der Analyse der einzelnen Tugenden und Laster. und sind folgende : a) die Keime zu den Tugenden und Lastern liegen in der organischen Constitution des Subjectes vor ; b) dieselben werden durch das Milieu weiter aus- gebildet, c) durch die subjectiven Motive des Handelns ge- fordert d) und durch Anwendung der verschiedenen M i 11 e 1 des Handelns gezeitigt. Zur Erklarung der Tugendhaftigkeit und Lasterhaftigkeit nehme ich, wie ich bereits einmal angedeutet habe, eine Pradisposition des Individuums zum Guten und Schlechten an. Zwei Ursachen mogen eine solche Organisation geschaffen haben : der Z uf a 11 und die Verer b u n g. Man behauptet zwar, es gebe keinen Zufall oder, wie man sich gern aus- ‘) Vgl. die Ausfiihruns dieses Beispiels bei Striimpell: Vor- schul. d. Eth. 9. h Kant: Kr. d. p. V. 130. h J- H. Fichte: Syst. d. Eth. I. 228, wo mehrere Beispiele angefiihrt sind; II 12. Der Durchschnittscharakter der Menschen. 1C5 driickt, je weniger Zufall. desto richtiger das Naturvetstand- nis. Allein den Zufall aus den Naturbegebenheiten eliminieren heisst die Concurrenz der Naturgesetze aufheben wollen, auf welcher eben der Zufall beruht. Der Zufall begleitet die Ge- setzmassigkeit \vie der Schatten das Licht. Die gegenseitige Durchkreuzung der Naturgesetze lasst unzahlige Combinationen ihrer Wirkungen zu. Und beruht nicht die Perfection selbst zu gutem Theile auf der Gunst der Zufalle? Kann selbst der Evolutionismus ohne Zulassung giinstiger oder ungiinstiger Zufalle bestehen? Die Anordnung der Moleciile. die ungestorte Function der Organe, die \Veiterfiihrung des Lebensprocesses, ist dies alles ohne begiinstigende oder storende Einfliisse zufalliger Art denkbar? : — Somit auch nicht die sittliche Thatigkeit. Es gibt ein „Normales“, ein „Gesundes“ und ebenso ein ,,Anormales“ und ein von Natur aus „Ungesundes“, welches rein von Conjuncturen und dem Zufall abhiingt. Die nachste Ursache einer Storung mag ja ganz verstandlich und klar sein, allein die \veitere Kette der Ursachen entzieht sich viillig unsern Blicken. da dieselbe eben den unzahligen Moglich&feiten und Combinationen entspringt. Fiir uns endliche AVesen ist eine AVeiterverfolgung derselben ganz unmoglich, und selbst die Natur als ein Ganzes hat, wie wir bereits er- sehen haben. Miihe, ihre Zwecke durchzusetzen. Von der AVe iterv ererbung erworbener Eigenschaften zu sprechen wiirde langere Auseiriandersetzungen erheischen. Ich kann bei naherer Priifung den AVeismann’schen Ein- wiirfen gegen die Hereditat nicht beistimmen. obwohl ich keine strenge Durchfuhrung des Vererbungsgesetzes anerkenne. vielmehr ein AValten verschiedener Combinationen von Urn- standen, also von Zufallen annehme. Eine Vererbung von Tugenden und Lastern erklare ich dalier fiir eventuell mog- lich. aber nicht fiir unbedingt nothwendig. — AVie verhalten sich nun die Keime der guten und schlechten Eigenschaften zu einander? — Nach den Beob- achtungen des praktischen Lebens gibt es verhaltnissmassig wenig Individuen, die sich in sittlicher Beziehung von den iibrigen sei es im Guten, sei es im Schlechten auffallend ab- heben. Die \veitaus iiber\viegende Mehrzahl der Menschen zeigt im allgemeinen einen gleichen sittlichen Charakter. In popularer Sprache ausgedriickt heisst dies: die Men¬ schen sind im allgemeinen \veder tugendhafj; noch schlecht. A^oltaire bemerkt an einer Stelle seiner Schriften : 1’homme n’est si mechant qu’on le dit. und ich glaube. diese Bemerkung entspricht der AVahrheit. Die grosse moralische Gleichartigkeit in den menschlichen Charakteren er- 106 Siebenter Abschnitt. klart sich aus der im allgemeinen gleichartigen Constitution des menschlichen Organismus. aber auch aus den socialen Verhaltnissen, durch welche die Menschen einander assimi- liert werden. Von der Regel machen verhaltnissmassig wenige Individuen eine Ausnahme. Mit der gleichartigen Anlage zum Moralischen geht die Fahigkeit zum Schlechten Hand in Hand, und auch bei hoherer Civilisation lassen sich noch die urspriinglichen, gleichartigen sittlichen Zustande erkennen, eine Thatsache, der gegeniiber sich die Ethiker der verschiedenen Zeiten ver- schieden verhielten. Die Sophisten erklarten alle Menschen fur gleich schlecht und dumm, und die Beredsamkeit daher fur ein Mittel, dieselben ebenso fur das Gute als das Schlechte. kurz fur Alles zu gewinnen. Die stoischeEthik vvar mehr optimistisch als pessimistisch: sie erklarte das sittlich Gute ftir etwas der Menschennatur Eigenthumliches, das Schlechte fur ein ihr Fremdes. 1 ) Es gibt Religionen, deren Moral den Urmenschen fur fehlerlos und unverdorben annimmt und die Schlechtigkeit ftir ein Product der gesell- schaftlichen Fortbildung ansieht. Darin stimmen mit ihnen auch gewisse philosophische S y s t e m e iiberein, wie es z. B. die Geschichte der franzosischen Philosophie gegen Ende des 18. Jahrhunderts beweist. Ausserdem sind die sittlichen Zustande der verschie¬ denen Zeitalter und verschiedenen Gesellschaften grossen Schwankungen unterworfen. Dies erklart sich am besten aus der Annahme einer urspriinglich gemischten sittlichen Veranlagung und eines dieser Veranlagung entsprechenden sittlichen Fortbestandes, den auch die Moralstatistik der Neuzeit bestatigt. Quetelet’s Durchschnittsmenscli — le type d’un homme moyen — scheint die Wahrheit des Gesagten zu bestatigen. Aber nicht bloss der sociale, sondern auch schon der einsam lebende Mensch tragt die Merkmale eines solchen Typus an sich, und man muss nicht zur Theorie des ,socialen Menschen 1 Aug. Comte’s und Anderer greifen. Der Durchschnittscharakter — la moyenne — ist daher als etwas Drspriingliches zu betrachten. Wenn die Ge- sellschaft moralisch sinkt, so bedeutet dies nicht nothwendig einen ,Ruckschlag ! , eine Riickkehr zu angeblich unsittlichen Urzustanden, und wenn sie sich moralisch hebt, so heisst dies noch nicht Riickkehr zu angeblich besserer Urspriing- lichkeit. ’) Cicero: Fin. III § 18. Die Aerzte, sagt Cicero, waren jedoch mit den Stoikern hierin nicht einveistanden. Ursachen des sittlichen Schwankens. 107 Das sittliche Schwanken hangtmit vielenUrsachen zusammen. Die wichtigste liegt wohl in dem schwierigen Lebenskampfe, in welchem gar oft die besten moralischen Anregungen verloren gehen. Der Mensch hat seine Fortexistenz aus furchtbaren Kampfen gerettet, und daher liegt ihm die Befriedigung seiner leiblichen Bediirfnisse viel naher als sein ideales sittliches Anliegen. Die naher liegenden Interessen wirken, wie Spinoza psychologisch und ethisch nachzuvveisen sucht. auf die meisten Menschen in der Regel viel starker ein als irgendein entferntes, ideales Ziel. Man darf diesen Satz zu einem Axiom erweitern und sagen : ein tempo- rares Interesse wirkt auf den Menschen in der Regel machtiger ein als ein ewiges. Und ein solches ist das moralische, das ein ideales ist. Die Erfahrung be- statigt es. wie sehr das Bedurfnis nach wahrer, absoluter Gliickseligkeit bei den meisten Menschen zuriickbleibt hinter den Anforderungen des Augenblicks und der Sorge um das materielle Wohl. Eine zweite Ursache des sittlichen Schwankens liegt in der Denkfaulheit der meisten Menschen. \Vie Wenige erheben ihre Gedanken zum Uebersinnlichen, Wahren und Seienden ! Das Sittliche bleibt immer ein ideales, durch Analyse und Abstraction von der Materie losgelostes, schwer gewonnenes Gut, wozu tiefes Nachdenken erforderlich ist; die Menschen scheuen aber nichts rnehr als tiefes Nachdenken. Sie sitzen, wie Platon es gut versinnbildlicht, in einer halb- dunklen, durch wenige Spalten erleuchteten Hohle, und jeder einfallende Lichtstrahl blendet ihre lichtscheuen Augen. Dann aber frohnen auch die meisten, wie Sallust und das Evan- gelium sich ausdrticken, dem ,Bauche“, der thierischen Seite des Triebes. Zum vernachlassigten Intellecte gesellt sich auch noch ein zum Guten schwacher W i 11 e, ein Haupt- grund des sittlichen Schwankens. In der sittlichen Anlage des Menschen liegt ein merk- \viirdiger Widerspruch: auf der einen Seite ist der Mensch meistentheils zu schwach, um das eingesehene Gute in Thaten umzusetzen, auf der andern besitzt derselbe einen ausser- ordentlich scharfen Blick, das Gute und das Schlechte zu erspahen. Darnach gerath auch das uberaus strenge sitt¬ liche Urtheil der Welt: diese weiss sehr wohl die sittlichen Vorziige zu schatzen. ist aber auch sofort bereit. die Blossen und Laster aufzudecken. Sehr richtig bemerkt daher Lombroso, die Welt sei ein strenges Forum der Sitt- lichkeit, und die Gesellschaft eine strengere Sittenrichterin 10S Siebenter Abschnitt. als das Individuum.') Allerdings bleibt hinter diesem scharfen Urtheil des richtenden Publicums dessen Energie und That- kraft, das Gute zu verwirklichen. weit zurlick. Der zweite miichtige Factor in der Erzeugung der praktischen Sittlichkeit ist das Medium oder M i 1 i e u d. i. sowohl die Gesammtheit aller den Menschen umgebenden conereten Dinge als auch jedes, auch das kleinste und gering- fiigigste Ding seiner Umgebung. Auf die Sittlichkeit kann auch das Kleinste Einfluss iiben dadurch. dass der Mensch es sich vorstellt; denn in den Vorstellungen gibt es keinen qualificierten Unterschied in Bezug auf deren Einwirkung auf den Geist. Eine jede Vorstellung kann auf denselben gleich folgenschwer einwirken. Zum Medium zahlt auch die Z e i t als der In- begriff aller ununterbrochen aneinander gereihten Veran- derungen der Dinge. Die Zeit in der Form des Menšchen- und Zeitalters iibt auf die Sittlichkeit einen bedeutenden Einfluss. Ebendahin gehSrt das Klima nebst allen Ver- schiedenheiten des Bodens. Ich brauche nur auf den unge- heuren Einfluss hinzuweisen. den die Erwarmung der Erde durch die Sonne auf den Charakter des menschlichen Geistes, auf seine ThiAtigkeit, seinen Willen. auch auf die Muskel- und Nervenoonstitution ausubt. Zum Milieu rechne ich ferner die Sprache, die Religion die Literatur, die Erniihrungsarten. die socialen und politischen Einrichtungen, besonders die sittliche Atmosphare, endlich als eine der wichtigsten Einwirkungen, die Macht der Cultur, Civilisation und der Erziehung im weitesten und engsten Sinne. Es ist schwer zu sagen. \velche von diesen Einvvirkungen auf das Gemiith die starkste ist; denn eine jede kann dem Willen eine neue und besondere Richtung geben, eine jede kann sich das Individuum sittlich assimilieren. Und die Assimilationsfahigkeit des Menschen ist eine ganz ausserordentliche. Bei genauer Beobachtung ist man erstaunt zu sehen. \vie \venig Spontaneitat und Originalitat es in der menschlichen Gesellschaft eigentlich gibt. Die Massen - zu denen ich in dieser Beziehung keineswegs den sogenannten Pbbel allein rechne — ahmen Alles unterschiedslos nach, Gutes und Schlechtes, Verniinftiges und Lacherliches. bloss weil es modern. weil es neu ist. Das Menschenkind ist durch die Lebens- schicksale und durch die Leidenschaftlichkeit gereizt, blasiert, nervbs. Daher seine ausserordentliche Nachahmung, um den bestandig einwirkenden Reiz auszulosen und loszmverden. ‘) Lom b roso: Der Verbrech. I. 25 (der Einleit.) Veranderlichkeit des sittlichen Charakters. 109 AVenn wir nun auf der einen Seite die ungeheure Macht des Milieus, auf der andern die schwankende Kraft der Menschennatur in Betraclit ziehen, so werden wir leiclit be- greifen, warum der sittliche Charakter so v e r a n d e r 1 i c h und so unbestandig ist, dass ihn die Vorgange in der Aussemvelt bis auf den tiefsten Grund zu erschtittern und bis auf den innersten. von der Natur ihm eingepflanzten Kern um- zugestalten imstande sind. Nur dieser urspriingliche Kern bleibt zuletzt iibrig, und aus diesem kann sich der Charakter wieder regenerieren ; alles iibrige an ihm Vorhandene schwin- det leicht dahin. Daher wird man es erklarlich und begreiflich finden : dass auch ein u r s p r ti n g 1 i c h gut a n g e 1 e g t e r Charakter mit der Zeit d e g e n e r i e r e n, ein s c h w a c h e r Charakter v e r b e s s e r t, und. zwar selten, ein z u m S c h 1 e c h t e n h i n n e i g o n d e r in einen g u t e n sich v e r w a n d e 1 n kann. So lelirt es eben die Erfahrung. Mit zunehmendem Lebensalter zeitigen und festigen sich auch die Charaktere, ja. sie wandeln sich ofters aucli vbllig um. Aus einem Menschen. der in seiner Jugend ein Weichling war. wird manchmal in den reiferen Jahren der tiichtigste Mann. sogar ein Held; mancher Phantast und Schwarmer wird durcli die Schule des Lebens ernuchtert und wird der praktischeste Arbeiter: so mancher Brausekopf und Freiheitssturmer \vird zum gescluneidigsten Beamten; so mancher etwas lockere Jiingling mit der Zeit ein musterhafter Ehegatte; mancher Verschwender wird auf seine alten Tage ein Geizhals und mancher Allerweltsfreund ein zweiter Timon. Manche Menschen, die in Eliren grau geworden. bestehlen auf ihre alten Tage eiuc offentliche Casse und begehen Dummheiten. deren sich ein Jiingling schamen wiirde ; denn Alter schiitzt bekanntlich vor Thorheit nicht. AVer an derlei AVandlungen nicht glauben will, gehe in den Gerichtssaal oder ins Theater. Beide Orte haben ofters enviesen. vvas von vornherein unglaublich schien. Dass die Biihne Spiegelbilder des wirklichen Lebens vorfiihrt. diese AVahrheit haben bereits die altclassischen Volker in .vor- trefflicher AVeise gekannt. Eine besonders starke AVirkung auf die Charakterbildung iibt das S c h i c k s a 1 aus. Gliickliche und. ungluckliche Ver- haltnisse bestimmen im hohen Grade den Charakter des Sub- jectes. So bemerkt Thukydides, dass Noth und Entbehrung die bosten Erzieherinnen seien. Allerdings bemerkt derselbe Historiker, dass die Pest zu Athen alle Bande der attischen Gesellschaft lockerte, und die Unfalle des peloponnesischen Krie- no Siebenter Abschnitt. ges die Sitten des hellenischen Volkes vollig verderbten. Dasselbe bemerkt Gustav Freytag iiber die Wirkungen des dreissigjahrigen Krieges in Deutschland. Aehnliche Bemerkungen macht Sallust iiber den Charakter des romischen Volkes, welches durch die Erfolge der punischen Kriege moralisch zum Schlechten umgewandelt wurde. Diese scheinbaren Widerspriiche losen sich, wenn wir bei der Beurtheilung der socialen Umanderungen den Factor der Entwicklung in Rechnnng ziehen. Im individuellen Leben, in welchem die biologischen Umlaufe sich rascher vollziehen, tritt eine Charakteranderung in viel kiirzerer Zeit und in rascherem Tempo ein als in der verhaltnissmassig viel langer dauernden Lebensperiode eines Volkes, das Jahr- hunderte und Jahrtausende zu seiner Reife bedarf. Zuletzt kommt es eben auf eine solche Reife an, uber welche Sallust richtig bemerkt : omnia orta occidunt et aucta senescunt 1 ) — alles Organische geht zugrunde, und wenn es ein gewisses Reifestadium erlangt hat, verfallt es dem Marasmus. Auf ein- mal, wie mit Einem Zauberschlage wird kein Individuum und kein Volk schlecht, wenn es nicht etwa vom Anbeginn dazu besonders veranlagt ist. Bei edlen Naturen bedarf es daher, da sie immerhin Beimischungen des Schlechten in sich tragen, : — denn die Natur schafft nicht immer absolut Voll- kommenes — einer gewissen Zeit, damit die guten und die schlechten Keime ausreifen. Das heisst aber: in der Cha- rakterbildung hat auch der Coefficient Zeit seine Hand im Spiele. Auch die Gesetze der Dynamik zeigen, dass die Zeit kein leerer Schall, keine blosse Einbildung, sondern ein realer Factor ist. Das Gleiche weist die Biologie auf. Im Leben der Nationen folgen auf Epochen sittlicher Grosse Zeiten sittlichen Verfalls. Ebenso im Leben eines Indivi- duums. Nur bei Nationen, die sich einer besonders zahen Lebensdauer erfreuen, diirften sich die Epochen eines allge- meinen grossen sittlichen Aufschwungs wiederholen. Einige \Vorte iiber die Echtheit des sittlichen Cha¬ rakter s. Oben habe ich zur Erkenntnis des praktischen Lebens auf das Theater hingewiesen. Aehnlich vergleicht Schopenhauer die lebendigen Charaktere den R o 11 e n der Schauspieler. Ein Schauspieler kann bekanntlich nur diejenige Rolle am besten spielen, die zu seinem wirklichen Charakter passt. Der Maske und Rolle auf der Buhne muss also ein bestimmtes N a t u r e 11 zugrunde liegen. Dieses entgeht trotz Spiel und ‘j Sallust: lug. 2 , 3. Die Echtheit des Charakters. 111 Geberde den Augen des Publicums nicht. . Und auf' das Ver- haltnis der Rolle zum Naturell darf man hinweisen, wenn man das wahre Wesen dessen kennen will, was C h ar ak¬ ter eigentlich heisst. Das Naturell — , natura — ist der Kern des Gemiithš, der Charakter — ■zpo-Kot, moreš eigentlich das .aussere Geprage- des Naturells, — das an demselben am scharfsten in die Sinne Fallende. — Allein obschon die Menschen im Leben gewohnlich unter einer fal- schen Maske spielen, so gibt es doch auch Naturen — man nennt sie wegen ihrer Aufrichtigkeit ,brutal‘ —, welche jede Maske verschmahen und sich geben. wie sie sind. Napoleon I. spielte bald mit, bald ohne Maske; Fiirst Bismarck fuhrte seine Plane mit verbliiffender Aufrichtigkeit durch. Daher ist •Charakter von Charakter zu unterscheiden : der echte muss, auf seine ipust; geprlift. seine richtige Parbe behalten. Schicksal und Zeit entlarven auch den geschicktesten Charakterspieler. Einen echten sittlichen Charakter fiihrt uns Fr. v. Schiller in seiner Abhandlung ..Deber das Erhabene“ vor, einen Mann, der aus grossem Gliick in tiefstes Elend gestossen. seiner Liebe zur Menschheit treu verblieb und dadurch gerechte Bewun- derung erregte. Solche Widerstandskraft verleiht eben echte Sittlichkeit allein. Dem sittlich Guten treu verbleiben, das ist die richtige Dehnition des echten Charakters. Der Charakter besteht zwar im allgemeinen in der Identitiit, in der Ueber- einstimmung mit sich selbst, doch ist nicht alle Jdentitat .schon an sich loblich. Die Ansichten und Meinungen iiber Dinge, die sich nicht streng auf die Ethik beziehen, konnen wech- seln, ohne dass die Sittlichkeit des Subjectes darunter leidet. ohne dass dadurch irgendeine sittliche Pflicht verletzt wird. In Glaubenssachen, in politischen, okonomischen u. a. Angelegenheiten kann ein Saul zu einem Paul werden, wenn ihn dazu eine bessere Ueberzeugung drangt. Untreue gegen die Sittengesetze ist jedocli eine Pflichtverletzung. Allerdings bleibt es in hohern Grade \viinschenswert, dass die Ueberzeugungen eines Menschen stabil bleiben. Denn die formale, grundsatzlicheHaltungbildet zwar nicht die Sittlichkeit selbst, da es zumeist auf den Inhalt und das Object der Ueberzeugung ankommt, aber doch einen Theil derselben. Mit der Veranderlichkeit des sittlichen Charakters hangt auf das innigste die Frage zusammen, ob der sittliche Cha¬ rakter angeboren oder erworben sei. Sie gehort unter die vielumstrittenen ethischen Probleme; ihre Losung steht bei jedem Ethiker in innigstem Zusammenhange mit dessen Auftassung des Sittlichen iiberhaupt. Schopenhauer z. B.. mehr 112 Siebenter Abschnitt. Fatalist als Nativist, erklart den guten wie den bosen Cha- rakter filr „angeboren“ und „unvertilgbar“;‘) Kant, der das Gebande der Ethik aut dem freien Willen aufgebaut \vissen wollte, sieht den Charakter als „vom Menschen selbst ver- schafft“ an; 2 ) Al. Riehl halt den Charakter zwar fiir stark stationar, aber doch nicht fiir unveranderlich. 3 ) In Betreff des Wesens und der Ve r a n d e r 1 i c h k e i t des Charakters haben manchmal dieselben Ethiker zu ver- schiedenen Zeiten verschieden geurtheilt. Man kann dar- tiber bei Schopenhauer das Nothige verzeichnet flnden. Viel- leicht ist niemand fiir die Unveranderlichkeit des Charakters entschiedener eingetreten als eben Schopenhauer. Dochmochte ich seiner Theorie folgende' Bedenken entgegenstellen. Die Geschichte fiihrt uns Beispiele von Mannern vor. die ihre Laufbahn als sittlich lobliche Charaktere begannen, aber die- selbe als Bosewichter schlossen. Der Besitz der Macht verleitet gar leicht zu den argsten Ausschreitungen. Die Grundlage des psychischen Denkens und Fiihlens ferners. auf welcher Schopenhauer seine Theorie aufbaut, ist keines- wegs so fest und dauernd, als er vermeint. Die Gesundheit und Kraft des Geistes ist ebenso Erschiitterungen und Krank- heiten unterworfen als der Leib; oft sind beide Zustande latent und fallen nur einem scharfen Beobachter auf. Wie solite also der sittliche Charakter, der die ethische Gasundheit oder Krankheit des Geistes bedeutet, vor solchen Veranderungen ganzlich verschont bleiben konnen ? Und jene Schopenhauer- sche „Essentia“, auf welcher der Charakter beruhen soli. ist doch nur ein mythisches \Vesen ; ist ja nach Schopenhauer’s eigener Theorie alles dem Gesetze der ,Causalitat !i unter- worfen. und gerade dieses Gesetz kennt keine geheimen und versteckten, am wenigstens aber invariable „Essenzen c . Die Entwicklungslehre hat derlei Wesen schon langst den Gar- aus gemacht. — Als dritte Ursache der subjectiven Sittlichkeit ist die Stellungnahme der Person gegeniiber den verschiedenen Motiven des Handelns zu betrachten. Gerade in der An- nahme oder Ablehnung der Motive und Zwecke manifestiert sich der sittliche Charakter am besten. Dies hangt aber wieder von der Kenntnis der Sittengesetze ab. Im Begriffe Macht z. B. liegt noch nichts, \vas sittlich oder unsittlich ware; erst die Motive, von welchen ein Subject bewogen wird nach Macht zu streben, wandeln sein Streben und ‘) Schopenhauer: Die beid. Grundprobl. 1841. S. 253 ff. ‘) Kant: Kr. d. p. V. 118; — vel. dessen „Anthropolog. € II Th. § 87 (Kirchmann’s Ausg.) 3 j Riehl: Kritic. II 2, 274. Die moralische Erkenntnis. 113 seinen Charakter in einen sittlichen um. Je nachdem mit dem Besitze der Macht die Absicht einer Begliickimg oder Be- driickung der Mitmenschen verbunden wird, ist auch schon das Motiv jenes Strebens ein sittlich zurechen- bares: in ersterem Falle ein lobliches, in letzterem ein un- lobliches, verwerfliches. Die Motive miissen also, um der handelnden Person angerechnet zu werden, an dem Begriffe der subjectiven Sittlichkeit gemessen werden. Damit die Person in ihren Motiven und Handlungen mit dem Sittengesetze tibereinstimme, ist ihr sittliche K e n n t n i s und Erkenntnis nbthig. Die Einsicht in das Gute setzt einen hohen Grad allgemeiner geistiger Ausbildung vor- aus. Nur wenn der menschliche Geist einen solchen erlangt bat, kann er in das Wesen und die Trefflichkeit des Sitt¬ lichen als einer Forderung der allgemeinen Wohlfahrt Ein¬ sicht gewinnen. Eine solche Erkenntnis fiihrt nun einen zwiefachen Nutzen herbei: einen directen und indirecten. Der directe besteht in der specifisch moralische n Vervoll- k o m m n u n g des Subjectes, mit welcher die der Sittlichkeit eigenthumliche Gliickseligkeit aufs innigste zusammenhangt, der indirecte besteht in der allgemeinen Ausbildung des Leibes und der S e e 1 e. Letztere Frucht sieht auf den ersten. Blick einem ganz unerwarteten, der Natur des Sittlichen wenig verwandten Erfolge des sittlichen Strebens gleich; allein bei naherer Betrachtung findet man, dass, wie beide Erfolge einem und demselben Streben entstammen, ebenso beide demselben Endzwecke dienen, dem Weltzwecke namlich, welchem alle Vervollkommnung zusteuert. Es ist dies jener hohere Zweck des Seins, den wir durcli Verstandesschliisse zwar verstehen, aber nicht begrifflich erfassen konnen. Die Erkenntnis des Sittlichen und die Erkenntnis schlechthin — dies scheint dann wie ein Dualismus und wie ein logischer Zwiespalt, der in den ganzen Aufbau der wissenschaftlichen Moral einen Riss zu bringen droht —, ist aber. in Wirklichkeit die Folge eines und desselben geistigen Strebens. Denn vergessen wir nicht: das Sittliche beherrscht t h a t s a c h 1 i c h die m e n s c h 1 i c h e n Bestrebungen und Hand¬ lungen, wie Sallusfs scharfblickender Geist es langst einge- sehen hatte. Der Mangel an allgemeiner Erkenntnis ist das Haupthindernis des sittlichen Fortschritts der Menschheit. Solange die Bildung nicht eine allgemeine \vird, verlange nie- mand von den Volksmassen moralische Einsicht und Haltung. Es gibt keinen grosseren Wiclersinn als von denjenigen eine 8 114 Siebenter Absclinitt. eorrecte sittliche Haltung zu verlangen, denen man den AVeg zur geistigen Bildung versperrt. Wie kann man Zurechnungs- fahigkeit von Menschen verlangen, die man systematisch in Un- miindigkeit belasst? Es ist iiberdies eine Hartherzigkeit, jemand fiir eine Unwissenheit bestrafen zu wollen. in der man ihn wissentlich erzogen hakjAllein nicht bloss Unterricht. sondern specielle m o r a 1 i s cTTe U n t e r w e i s u n g thut noth. Eine solche solite principiell ausgesprochen sein und in syste- matischer Weise ertheilt werden. Dazu ist allerdings ein S, i t t e n c o d e x nothwendig, dessen Anlegung sicherlich leichter ist als die Abfassung eines allgemeinen biirgerlichen oder strafrechtlichen Gesetzbuches. Darin miissten die wicli- tigsten sittlichen Pflichten und Verbote enthalten sein. Da es bereits eine ausgebildete Moral, die christliche, gibt, so konnte durch eine Verschmelzung derselben mit der prak- tischen Philosophie ein solcher Codex am leichtesten her- gestellt werden, wobei man alles Confessionelle wegliesse. Eine philosophische, auf praktischer Erfahrung und AVissen- schaft beruhende Moral, welche dem allgemein-menschlichen Bediirfnisse nach Sittlichkeit entgegenkommt, konnte den ver- schiedensten Anspriichen gentigen. Dieser Aufgabe kann keine Religionsmoral nachkommen, da eine jede das ihr Spe- cifische, Dogmatische hervorkehrt und den Begriff der Moral mit Dogmen verbindet ; die Philosophie dagegen appelliert an das allgemein-menschliche Gefiihl und a n den allgemein- menschlichen Verstand allein. Sehr vortheilhaft wiirden auf die Verbreitung ethischer Grundsatze p o p u 1 a r e Vortrage einwirken, welche sich auch uber alte und neue literarische Erscheinungen ergehen konnten. Die e t h i s c h e n Gesellschaften triigen zur Forderung ihrer Zwecke bedeutend mehr bei, \venn sie sich strenge an ihr Programm hielten, innerhalb dessen es vvahr- lich nicht an Abwechslung fehlt. Durch Popularisierung der Ethik, wiirde am besten der heute iiblichen Ausrede der Verbrecher vorgebeugt werden, sie seien in sittlicher Un- wissenheit belassen und von der Gesellschaft in der Er- ziehung vernachliissigt worden. Um die Befolgung der Sittengesetze sicherer zu stellen, muss schon auf das erste Auftreten der Motive scharfes Augenmerk gerichtet werden, da bereits in der Gutheissung schlechter Motive die schlechte That zum grossten Theile enthalten ist. Hier, an der Schwelle der Thaten, bei den Motiven liegt die erste Erprobung der sittlichen Einsicht und Gesinnung. Die Fehler, Laster und Verbrechen der Menschen haben anerkanntermassen in den schlechten und verkehrten Be- Der Zweck und seine Mittel. 135 ■vveggriindfen ihren Hauptsitz. Es steht psychologisch fest, dass die Motive vollkommen frei und von selbst im Gemiithe auf- treten. ebenso steht es ethisch fest, dass das menschliche Gemiith von stindhaften Neigungen ausserordentlich haufig heimgesucht wird — jeder Mensch theilt diese Schwache mit Shakespeare’s Hamlet, der offenherzig seine Gebrechen aufzahlt —, allein ebenso wahr ist es, dass es keine echte Tugend, ohne einen ernsten Kampf mit den schlechten Neigungen und Versuchungen gibt, dass somit nicht im Frei- sein von schlechten Motiven, sondern in deren tapferer Be- kampfung und erfolgreicher Bekriegung die Tugendhaftigkeit liegt. Und gerade in der Hemmung der schlechten Motive liegt das Kennzeichen einer hbheren Tugend. als es die ist, welche in der Ausfiihrung guter Motive besteht. Die Tapferkeit und Grosse des Sieges wird an der Schwierigkeit und Ge- fahrlichkeit des gelungenen Unternehmens bemessen. \Ver den ersten Versuch mit Gliick und Muth bestanden hat, schopft daraus frischen Muth und neue Lust, sich in der Selbstuberwindung wiederum zu versuchen. Einer skeptischen, rein naturalistischen, bloss mechanischen, nicht auch Willens- gesetze anerkennenden Moral stehen in diesem Punkte Er- fahrung und Geschichte entgegen, welche beide lehren, dass ein Sieg des Subjectes im Kampfe vider die schlechten Motive keineswegs unmoglich, jedoch erst nach harter Arbeit moglich ist. Doch die Griinde fiir diese Behauptung werden in einem spateren, besonderen Abschnitte beigebracht werden. Vorlaufig will ich bloss bemerken: halt man solche Uebenvindung nicht fiir moglich, dann allerdings ist die Ethik nur eine descriptive, nicht aber auch eine sanative Wissenschaft. Dass sie auch sanierend wirkt, und dies durch Einfiihrung in das Wesen des Sittlichen. ist meine feste und unerschutterliche Ueberzeugung, welche sich auf die grosse Macht der menschlichen Ein- sicht und eines ausgebildeten Willens stiitzt und berufen darf. — Es bleibt uns noch die Besprechung der vierten Ursache der subjectiven Sittlichkeit iibrig, velche sich auf die Mittel des Handelns bezieht. Die Deflnition der Mittel, die von dem Medium genau zu unterscheiden sind, habe ich bereits einmal gegeben: es sind darunter die zur Erreichung eines Zieles fiihrenden Zwischenactionen zu verstehen. Die Mittel sind als ebensoviele Ziele der in einer Handlung in- begriffenen Bewegungen zu denken. Nur sind dieselben dem Endzwecke einer Handlung untergeordnet. Diesem Zwecke gegeniiber erscheinen sie namlich als Neben- zwecke. Auch die Mittel sind dem Sittengesetze unterworfen 8 * 116 Siebenter Abschnitt. und miissen mit diesem iibereinstimmen; sie sind in Bezug auf ihre Sittlichkeit keineswegs gleichgiltig oder indifferent. Dies beweist die Erfahriing. Alle Menschen wollen in irgencT- einer Hinsicht oder vollkommen gliickselig sein und \venden zu diesem Behufe die verschiedenartigsten Mittel an : die Guten Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Friedfertigkeit, kurz sittlich lobliche Mittel, die Schlechten sind in ihren Mitteln nicht wahlerisch und \vollen durch Ungerechtigkeit. Liige, Betrug, Raub, Mord, Uebermuth, kurz ohne Rucksicht auf Sittlichkeit oder Unsittlichkeit ihren Zweck erreichen. Letztere Handlungsweise steht jedoch im Widerspruche zum Sitten- gesetze und zu den sittlichen Pflichten. Aus dem Begriffe der Mittel als Nebenzwecke, welche vor dem Endzwecke er- i reicht sein miissen. folgt der Satz: der Zweck heiligt 1 s e i n e. Al i 11 e 1 nicht. Fragen wir uns nun. ob vielleicht g ute Mittel einen schlechten Z vrečk zu heiligen vermogen. Audi dies muss auf Grund der Erfahrung verneint vverden. Schone Worte, scheinbar Acte der Sympathie und des Wohlwollens, konnen niemals eine beabsichtigte Tauschung oder einen Betrug rechtfertigen ; Spenden, scheinbar Acte der Grossmuth, konnen niemals den Erkauf einer ungerechten Beihilfe rechtfertigen; Nachsicht und Milde, sonst Acte der Menschenfreundlich- keit, konnen niemals zur Rechtfertigung einer Pflichtunter- lassung oder Corruption dienen; Ehren und Auszeiehnungen, sonst als Belohnungen ftir gute Dienste verliehen, konnen niemals schandliche Auftrage und unmoralische Dienstleistungen in ehrbare Handlungen umwandeln. Al s o w er d en auch \ d i e scheinbar besten und loyalsten Mittel niemals durch schlechte Zwecke geheiligt. H. Spencer hat einerseits recht. wenn er clas et-hische Urtheil auf die nothwendige sittliche Uebereinstimmung zwischen den Zwecken und Mitteln lenkt. aber unrecht, wenn er a 11 e s sittliche Streben auf diese Uebereinstimmung beschrankt,‘)da es im Sittlichen nicht minder auf die Uebereinstimmung der Zwecke mit dem Sittengesetze ankommt. — Durch Verbindung der beiden obigen Satze ent- steht ein dritter allgemeiner ethischer Grundsatz, vvelcher lautet: sowohl die Endzvvecke als die Mittel einer Mandlu n g miissen an sich lob lic h sein. — Durch Umkehrung der Qualitat obiger Satze ergibt sich folgender die Zwecke und deren Mittel betreffender Satz : eine Hand- lun g w ir d unsittlich, wenn deren Zvveck oder deren Mittel oder b ei de z u g 1 e ich s c h 1 e c h t sind. ') H. Spencer.: Thals. d. Eth. S. 72—73. Der Fali Marie Schneider. 117 Nachdem ich die Hauptursachen der subjectiven Sittlich- keit dargelegt habe, will ich dieselben an einem concreten Bei- spiele erproben. Dazu wahle ich einen Criminalfall, welchen Paul Lindau des genaueren dargestellt und ethisch zergliedert hat. 1 ) Der Fali betrifft die zwolfjahrige Verbrecherin Marie Schneider, die durch die Todtung eines dritthalbjahrigen Madchens ins Criminal kam und zu achtjahriger Gefangnisstrafe verur- theilt wurde. Der Vertheidiger und die Gerichtsarzte erkannten auf moralischen Irrsinn, also auf Unzurechnungsfahigkeit, der Gerichtshof jedoch nahm die auffallige intellectuelle Friihreife des Madchens zur Grundlage einer gerichtlichen Verurtheilung. Das Madchen erzahlte den Hergang der That mit vollster Klarheit, legte auch die Motive seiner That ganz offen dar und war sich bewusst, ein Verbrechen begangen zu haben. Das Grundmotiv, von welchem die jugendliche Morderin ge- leitet wurde, bestand in „Gefrassigkeit“. Das Madchen war von kleinauf eine Nascherin und ward durch dieses Laster zur Verbrecherin. Das Gericht constatierte, dass dieses jugend¬ liche Geschopf. welches mit schaudererregender Gleichgiltig- keit und Kaltbliitigkeit seinen Plan ausfiilirte und ebenso dessen Ausftihrung vor dem Gerichtshofe erzahlte, jedes menschlichen Gefiihls bar sei. „Du hast kein Herz, kein GemiithU waren die Worte des Vorsitzenden, als er dem Madchen das Urtheil ver- kundigte. Und eben dieses Verdict bildet den Streitpunkt in Betreff der sittlichen Auffassung der angefiihrten That. War das Madchen eine moralisch Kranke oder eine zureeh- nung sfahi ge , daher gesetzlich strafbare Person? Ge- horte das „Kind“ in ein Correctionshaus oder in ein Gefangnis? War Marie Schneider von Geburt aus eine Verbrecherin oder ist sie es erst mit der Zeit geworden? — Paul Lindau meint, der Intellect des Madchens war vollig entwickelt; dasselbe wusste, was es that, sein sittliches Gefiihl jedoch, was man Herz oder Gemiith nennt, ware vollig unentwickelt, ein reines BNichts^ gewesen. Dies habe das Madchen durch sein offenes, .entschiedenes Gestandnis bewiesen, dass es sich zwar uber seine That nicht freue, aber Liber dieselbe auch keine Reue empfinde. Paul Lindau meint daher, die Morderin sei auch ganzlich unfahig gewesen, sich jemals zu bessern, und daher ware deren Unschadlichmachung durch lebensliingliche Inter- nierung in einem Zuchthause die einzig richtige Bestralung gewesen. — Mein Urtheil liber den angefiihrten Fali ist nach den eben entwickelten Grundsatzen nachstehendes. Die moral ‘) C. Lombroso: Der Verbrecher. I S 5i2 ff. 118 Siebenter Abschnitt. insanity konnte in diesem Falle, was iibrigens anch Paul Lindau bedauert, durch die Aussagen der Zeugen nicht con- statiert werden. Weder wissen wirda der Vater des Mad- chens zur Zeit der Verhandlung bereits todt war und sein Charakter vorher nie genau erforscht \vorden war, die Mutter, aber sich aller Aussagen entschlug, — ob die Eltern irgendwie mit einem Laster behaftet' waren, das auf die Marie erblich iibergegangen ware, noch ob das Kind Krankheiten durchge- macht habe, die in ihm einen sittlichen Defect zuriickge- lassen hatten. Dass das Madchen in seiner friihesten Jugend ausserst roh und grausam mit Kaninchen umgieng, daran wusste sich dasselbe dunkel zu erinnern. Dass es von der Mutter wegen seiner Schlechtigkeit viel geschlagen worden, ist nach den Aussagen der Delinquentin ganz glaublich, und gerade die Lieblosigkeit der Mutter — Falle solcher Art sind etwas ganz Gewohnliches — und deren Vorliebe fiir die friih verstorbene Schwester der Verbrecherin lassen Gefiihls- verrohung der letzteren leicht erklaren. Einen sehr bedenk- lichen Umstand fiir die Beurtheilung der Gharakterbildung des Madchens bildet jedoch dessen Umgang mit einem sittlich ver- worfenen Madchen von zwanzig Jahren, von dem Marib Schneider allerlei Schlechtigkeiten lernte, was sie auch depo- nierte. Ebenso corrumpierend \virkte auf deren Gemiith die Zeitungslectiire, besonders der Umstand, dass sie ihrer Tante Gerichtsverhandlungen vorlas. Da hatten wir ja ausserst wichtige Daten, dass die jugendliche Morderin in einem un- sittlichen Milieu aufwuchs. Wie leicht entstand so in der Brust des Madchens das Verlangen, derlei gruselige Dinge selbst einmal mitzumachen. Von ihrer Unmtindigkeit erhoffte sie sich, wie sie selbst gestand, eine mildere Bestrafung. Um einen so geringen Kaufpreis, eine milde gesetzliche Be¬ strafung, den man ihr unvorsichtigerweise vorberechnet hatte, konnte sie, wie sie glaubte, ein so schauriges Spiel schon mitmachen. Freilich wurde ihr die Rechnung verdorben, da sie, obwohl von den Aerzten fiir ein Kind erklart, den- noch als B Verbrecherin 11 den Gerichtssaal verliess. — Ob Marie Schneider trotz ihrer Gemiithsrohheit besserungsfahig war oder nicht, konnte nur der Erfolg der Bestrafung ent- scheiden. Nach meiner Theorie war ihre Besserungsfahigkeit nicht geradezu ausgeschlossen, da sie gerade durch die Be¬ strafung, dann durch die an ihr gemachten Besseruiigsver- suche, ferner durch ein reiferes Alter und bei ihrem hellen Verstande, dem es hauptsachlich infolge der Umstande an sittlicher Erkenntnis und Ueberzeugung gebrach, ihren ver- kehrten Lebenswandel einzusehen und zu bereuen Gelegen- heit finden konnte. Der Fali Marie Schneider. 119 Demnach kann Marie Schneider nicht mit Bestimmtheit als ,sittlich krank 1 oder als ,native‘ Verbrecherin bezeichnet werden, wie Lombroso und Paul Lindau annehmen. — An- ders stiinde unser Urtheil, wenn es erwiesen ware, dass Marie Schneider trotz einer sorgfaltigen Erziehung schlecht gewesen ware. Dann wiirde der Zweifel an ihrer nativen oder hereditaren Verbrecherneigung wohl ein begriindeter gewesen sein. Die zur moralischen Qualification nothwendige Kenntnis der sittlichen Grundsatze war bei dem Madchen zwar vor- handen. denn dasselbe wusste laut eigenem Gestandnisse, dass seine That eine schlechte, strafbare war. Das Madchen wusste auch die betreffende Katechismusstelle liber das fiinfte Gebot und sogar die biblischen Belegstellen zu der- selben exact herzusagen, vvusste auch genaue Definitionen der Verbrechen des Diebstahls, Betrugs und Mordes anzu- geben, allein seine ,sittlichen Krafte 1 — Herz, Seele, Gemiith — waren ganz und gar unausgebildet. Daher besass die jugendliche Verbrecherin nur eine ,K e n nt ni s‘ aber keine zum Herzen gehende ,E r k e n n t n i s 1 des Guten und Schlechten, wie sich Paul Lindau ausdruckt. Bei ihrer sitt¬ lichen Unreife ist es begreiflich. dass Marie Schneider die Motive ihrer grauenhaften That nicht unterdrtickte und auf die unrichtigsten Mittel verfiel, ihre Leidenschaft zu be- friedigen. indem sie dem Kinde vor dessen Ermordung die goldenen Ohrringe ausriss, um sie zu Gelde zu machen und sich Naschereien zu kaufen, und um das Kind am Schreien zu verhindern, es iibers Fenster warf. Scheinbar war dies ein ganz logischer Vorgang, allein in Wahrheit beiveist das Miss- verhaltnis zwischen dem grossen Aufwande von Mitteln und dem geringfugigen Zwecke einen grossen Mangel an sittlicher Logik d. h. an der Fahigkeit, die Dinge nach deren allge- meinem Nutzwerte abzuschatzen. Schon darin liegt das Kenn- zeichen der sittlichen Unreife des Madchens, welches doch nur wie ein Kind dachte. Aus ebendemselben Grunde em- pfand das Madchen auch nicht jenes „sittliche Grauen“, \velches den verstandesreifen Verbrecher vor und nach der That zu beschleichen pflegt. *) Das in Wahrheit unmundige Mad¬ chen war somit nicht gerichtlich zu verurtheilen, sondern einem Correctionshanse zur Erziehung zu ftbergeben, Nach den tausendjahrigen Erfahrungen der Menschheit darf man behaupten: dieMoralitat ist die Gr u n d- lage alles socialen, politischen, okonomischen und rationellen Lebens der Volker. Das haben die ') Lombroso: ebend. I. 547. Siebenter Abschnitt. 120 Aveisesten und verniinftigsten Manner aller vorgeschrittenen Nationen eingesehen und daher auf eine griindliche mora- lische Besserung ihres Volkes gedrungen. Auch ist es ge- schichtlich erwiesen, dass im Kampfe der Individuen und Volker um ihre Existenz in der Regel diejenigen als Sieger hervorgehen und sich erhalten, welehe den sittlichen Trieben und Anregungen folgen und ihr privates und offentliches Leben nach sittlichen Principien einrichten. Es mogen manchmal un- sittliche Mittel zu einem momentanen, ausserlich sogar glan- zenden Erfolge gefuhrt haben, allein die Folgezeit bewies, dass dies nur Scheinerfolge waren. Jene Staaten, welche mo- ralisch hoher stehen, werden auch stabilere Verhaltnisse auf- weisen und Aviderstandsfahiger sich beAvahren als solche, die auf List, roher GeAvalt und auf corrupter Wirtschaft be- ruhen. Der Grund dieses Unterschiedes liegt eben in dem ungeheuren Einflusse der sittlichen Kraft. Indem das Individuum — als Einzelperson und Volk — sich in den Dienst der sittlichen Interessen stellt, kommt ihm alles tibrige Avie von selbst zu. Dies erklart sich aus den Begleiterscheinungen des sittlichen Strebens, durch Avelches der Geist gescharft und der Wille gestahlt Avird, Avodurch dann auch die leib- lichen Krafte zunehmen. Auf solche Art macht die Sittlich- keit das Subject fur alle Anforderungen des praktischen Lebens tauglich und geht in eine allgemeine Disciplin des menschlichen Geistes iiber. In der That greift die sittliche Zucht in alle praktischen Disciplinen ein und beherrscht die Padagogik, Methodik, die gesammte Geistesdiatik, selbst die Lebenskunst, die zwar nicht ihr unmittelbares Ziel bildet, kurz die ganze menschliche Gesittung und Civilisation. Aus der RuckAvirkung der Moralitat auf die Behaglichkeit des Lebens, Avelche sonst in Wohlleben ausarten Aviirde, lasst Kant die „gesittete Gliickseligkeit“ des Menschen hervorgehen. 1 ) Die in der subjectiven Sittlichkeit sich vollziehende Con- centration der geistigen und leiblichen Krafte fordert zum Nachdenken iiber das mystische We s e n des Ethischen auf. In der erAviihnten Concentration liegt ebenso die Frucht als das Merkmal der Moralitat. Sie ist eine Vereinigung zAveier Eigenschaften, die einerseits dem Geiste den Begriff des Sitt- lichen so dunkel und schAvankend, andrerseits den Gefiihlen ko fasslich und greifbar erscheinen lassen. Einmal zeigt sich pas Sittliche als eine ubernatiirliche, metaphysische . Macht, jhe da herrscht und imponiert, einandermal als eine tief in tler Menschenbrust schlummernde Kraft, Avelche nur gege- ‘) Kant: Anthropolog. II. Th. S. 197. VViikungen des Sittlichen. 12 ! benenfalls aus ihrer scheinbaren Kuhe mit Gewalt auffahrt, ein andermal wieder als eine Macht, die mit zwingender Clewalt und rauher Hand in dieWeltinteressen eingreift, dann wieder als eine stille Seligkeit. welche das Gemiith mit dem beseligendsten Gefiihle von Befriedigung und Zufriedenheit er- fullt, manchmal ivieder als ein beruhigendes Gefiihl der Ab- hangigkeit von etwas, das man begrifflich schwer zu deuten vermag, einer Abhangigkeit, die nicht Schwache und Ver- zagtheit, sondern Sicherheit, Trost und Selbstvertrauen ein- flosst, da sich der schwache Mensch von einer hčiheren Potenz getragen wahnt — ein Gefiihl, ganz dem der Religiositat ver- gleichbar, mit welcher die Moral vielfach Quelle und Ursprung gemein hat. Diese Wahrnehmungen alle beweisen aber, wie compliciert. wie ungemein zusammengesetzt das AVesen des Sittlichen ist, das in scheinbar einander \vider- sprechenden G e s t a 11 e n auftritt. u. z w. als Selbst- beherrschung und Thatkraft, als Gerechtigkeit und geordnete Selbstliebe, als Selbstvertrauen und Bescheidenheit. als naives Gefiihl und hochste Erkenntnis. bald als individuelle bald als sociale Triebkraft. Die Merkmale des Sittlichen sind so wun- derbar in einander verschlungen, wie es nur die Fahig- keiten und \Vege des menschlichen Geistes selbst sind. Aehter Absehnitt. Topik der Tugenden und Laster. Die Topik der Tugenden ergibt sich aus der Erwagung der verschiedenen ethischen Pfiichtverhaltnisse. Letztere sind im Abschnitte von der Verpflichtung in drei Arten eingetheilt worden: in ideale, sociale und personliche. Ihnen entsprechen ebensoviele Arten von Tugenden. Damit ware die Topik der Tugenden und Laster im allgemeinen angegeben. Da es iiber- dies keine sogenannten Cardinal tugenden gibt,, indeip eine jede Tugend die Reihe der iibrigen eroffnen kann, so scheint auch jede weitere Eintheilung der Tugenden iiberfltissig. In- des sprechen methodische Grande dafiir, jene Tugenden vor- anzuschicken, welche die Haltung der Person sich selbst gegentiber betreffen, weil die Erfullung der iibrigen vielfach durch die Qualitat der personlichen bedingt ist. Ich schicke daher die personlichen Tugenden voran und lasse diesen die socialen und idealen nachfolgen. Innerhalb jeder Gruppe aber. gebe ich jenen Tugenden den Vorzug, welche den Gharakter der Art am scharfsten ausdriicken. Dies thun z. B. unter den personlichen die Se Ibstb e h errschung und Perfection, unter den socialen die Me n s chenl i ebe und G e r 'e c h t i g k e i t , unter der idealen die A c h t u n g und W ertschatzung. L Worin besteht nun die S e 1 b s t b e h e r r s c h u n g, welche die Reihe der personlichen Tugenden eroffnet? — Zunachst in einer lebhaften, eindringlichen und dauerhaften Vorstellung der objectiven Sittlichkeit, wo durch ganz wie bei der Entstehung der Verpflichtung Uebereinstimmung des Den- kens und Handelns mit dem Sittengesetze erzeugt wird. Sind einmal die Motive und Zwecke unsers Handelns mit dem Sittengesetze im Einklange, so gelingt einem sittlich geschulten Die Selbstbeherrschung. 123 Charakter auch die Herrschaft liber sich selbst, d. i. liber seine Gefiihle, Vorstellungen und Handlungen. Insbesondere wird es ihm gelingen, die sich aufdrangenden schlechten Mo¬ tive abzulehnen und die edlen festzuhalten. Freilich, ohne diese Schulung fallt die Selbstbeherrschung nur ausserordent- lich begnadeten Naturen zu. \Vie wenig sich die Menschen in ihren Sympathien und Antipathien zu beherrschen ver- mogen, ist manniglich bekannt. Kein Uebel richtet in der Gesellschaft mehr Unheil an, als die ungezligelte Herrschaft der Anthipathie. — Allein, wie e n t s t e h t die Selbstbeherrschung ? Durch spontane Associ ationen aller jener Vorstellungen, welche sich anf das sittliche Handeln beziehem Diese Associationen sind im zweiten Abschnitte ausfiihrlicher besprochen worden. Also die Motive, Zwecke, Mittel und die That finden sich bei ernster, sittlicher Bestrebung von selbst zusammen. Ist jene Uebereinstimmung der Gesinnung mit dem erkannten Sittengesetze einmal da. so tritt die Tugendhaftigkeit mit Naturnothwendigkeit ein ; es brauchtkeiner ,,klinst- lerischen" Beihilfe des Subjectes, um in die „Begeisterung‘- flir das Sittliche „Besonnenheit“ zu bringen, wie J. H. Fichte sich den Vorgang bei der Selbstbeherrschung vorstellt.') Die einzige Kunst, deren es bedarf. ist die stets lebendig unter- haltene Vorstellung des Sittlichen; diese muss zur zweiten Natur werden. Ein plotzliches Dazwischentreten des Subjectes wahrend oder unmittelbar vor der That ware ein abenteuer- licher, dem deus ex machina vergleichbarer Act, wahrend die Selbstbeherrschung ein natlirliches Product der sittlichen Ent- wicklung, ein Stlick seiner inneren Geschichte ist. Kant lasst in der Selbstbeherrschung die „reine Ver- nunft" liber den „WiHen“ die Oberhand gewinnen, da die Vernunft ein hoheres Wesen, der Wille ihr ,untergeordnet“ sei. 2 ) Allein das sind leere Personificationen; zudem der Wille von Kant vollig vag vorgestellt. etwa wie ein Impuls des Triebes. Ueberdies ist Kant’s Darstellung die altiiberlieferte stoische, die ein „oberes“ und „unteres“ Seelenvermogen unterscheidet, und das Subject — also einen Dritten — da- z\vischentreten und entscheiden lasst, lauter unhaltbare An- nahmen. — Aehnlich fasst Steinthal den Process der Selbst¬ beherrschung auf, indem er bemerkt: '„Wir stellen Kraft gegen Kraft, Gesetz gegen Gesetz.“ 3 ) Allein wer und wo ist dieses „wir“ \vahrend der Selbstbeherrschung, und woher ‘) J. H. Fichte: Syst. d. Eth. 237. 2 ) Kant: Kr. d. p. V. 15. 3 ) Steinthal: Ailg. Eth. 345—347. 124 Achler Abschnitt. diese seine Maclit, „Kraft gegen Kraft“ zu stellen? — Wo das Subject d i e s kann, da braucht es keiner Krafte mehr. Richtiger ist Spencer’s Darstellung, der die „ Selbtsiiber- windung“ als eine Resultierende mehrerer Componenten be- trachtet. Als solche fiihrt er unter andern die Einsicht, das Gewissen, den Selbsterhaltungstrieb, das Mitleid, den ver- ntoftigen Willen an. ‘) — Kurz, die Selbstbeherrschung ist die Frucht eines lange dauernden, consecjuenten, sittlichen Strebens, welches ganz von der Idee der Sittlichkeit durch- drungen ist. Man \vird die nunmehr von mir aufgeworfene Frage. iOb denn die Kraft der Selbstuberwindung als solche schon eine T u g e n d sei, vielleicht sonderbar finden. Allein sie scheint mir berechtigt. Denn ich will es nur gleich sagen, was ich mit jener Frage meine, ob namlich die Selbstbeherrschung auch schon ohne sittliche Absichten loblich sei. — Dies kann sie nicht sein, so vielberuhmt auch die „Besonnenheit“ oder acoopoauvr, der Alten ge- wesen sein mag. Ohne die sittliche Beziehung bleibt sie in- different, ja, sie kann ohne diese sogar schlecht sein. Man darf sagen: je starker die Selbstsucht, desto grosser die Selbstbeherrschung der Person. Gerade die grossten Schurken und Gauner wissen sich zur rechten Zeit am besten zu iiber- winden und zu verstellen, um ihre Plane desto sicherer durch- zusetzen. Ebenso halten die kleinen und grossen Gewalthaber in wunderbarer Weise an sich, um geeigneten Orts und zu passender Zeit mit umso grosserer Wucht loszubrechen. — Gerade an der Selbstuberwindung, als einer der hochsten psy- chischen Leistungen, die sowohl den tugendhaftesten als den verworfensten Charakteren eigen sein kann, kčinnen wir er- sehen , wie die sogenannte ,f o r m a 1 e' Ethik , die ein streng gesetzmassiges und consequentes Handeln schon zur Tugend stempelt, ganzlich unzureichend ist. Wofern nicht auch die Motive, Zwecke und Mittel sittlich sind, hat die gesetzmassigste Handlungsweise keinen moralischen Wert. Obwohl auf der einen Seite Einschrankung, ist die Selbst¬ beherrschung auf der anderen dennoch die grosste F r e i- heit, deren der Mensch fiihig ist. In der Entsagung, in der Selbstuberwindung liegt die sittliche Grosse, die sittliche „Er- habenheit“ des Menschen; in der Selbsteinschrankung liegt auch die hochste Stufe der privaten und politischen Freiheit innerhalb einer verbundenen Gesellschaft. Spencer; Tliats. d. Eth. 125—126^ Die Selbstbeherrschung 125 Unter dem Einflusse der Selbstbeherrschung stehen verschiedene personliche Tugenden, welche von den hochsten bis zu den niedrigsten herab eine Art ethische Tonleiter bilden: Zu diesen sind zu zahlen: die That- k r a f t, der personliche Muth, die Standhaftigkeit, Entschlos- senheit, die sittliche Entschiedenheit. Gegensatze derselben sind: der K 1 e i n m u t h, die Zaghaftigkeit, die Unentschlos- senheit, Feigheit, Willensschwache, der Wankelmuth, die Vel- leitat, die Schlaffheit, die sittliche Ohnmacht und als unterste negative Stufe, die Verzweiflung. Ein Uebermass von Tapferkeit erzeugt Tollkiihnheit, Trotz, Eigen- und Starrsinn. Aus der Beschrankung des Egoismus gehen folgende Tugenden hervor : die E n t h a 11 s a m k e i t, Massigung, Massigkeit, Genugsamkeit, Zufriedenheit. Wenn Schopenhauer die Enthaltsamkeit, wie alle iibrigen Tugenden, auf sein sitt- liches Princip, das Mitleid, zuruckzufuhren sucht, so gilt diese Zuruckfuhrung wohl nur fur eine einzige Art derselben, die sinnliche. 1 ) Die diesen Tugenden entgegenstehenden Laster sind : die U n m a s s i g k e i t, Wollust, Ueppigkeit, Schwel- gerei, Selbstsucht. Aus einem Uebermass der Enthaltsamkeit entspringen die Selbstabtodtung und der Geiz. Die A s k e s e rechnet Paulsen zu den Tugenden. 2 ) Doch ist deren Wert nicht immer ein positiver ; an sich ist die Askese indifferent. Der Geiz lasst ausser der personlichen Beziehung auch eine sociologische zu. Daher zahlt er, wie mehrere andere Laster, sowohl zu den personlichen als den socialen Uebeln. Ebenso ist die S e 1 b s t v e r s t ii m m 1 u n g ein Verbrechen gegen die personlichen und zugleich socialen Pflichten. Der S e 1 b s t m o r d, im bewussten Zustande begangen, kann die Folge verschiedener Laster sein, aber immer bleibt er, wenn er nicht aus krankhaften, unverschuldeten, physischen und psychischen Zustanden hervorgeht, ein Verbrechen (Lom- broso). Schopenhauer begriindet dies damit, dass er denselben fur ein „Vergehen gegen die Species“. welcher durch den Selbst- mord der Individuen „Mittel und Wege der Erhaltung“ ab- geschnitten werden, also sociologisch und juristisch auffasst. 3 } Doch verstosst der Selbstmord auch gegen die personlichen Pflichten und steht im Gegensatze zum Principe der Selbst- erhaltung und Selbstbeherrschung. Eine dritte Gruppe der personlichen Tugenden und Laster hat die Perfection und Z w e c k m a s s i g k e i t 'j Vgl. Schopenhau er’s Ableitung : Die beid. Grundprobi. d. Eth. 1841 S. 218. 2 j Paulsen: Ethik 2 396. 3 ; Schopenhauer: Die beid. Grundprobi, 128—129. 126 Achter Abschnitt. zur Quelle. Die hierher zu zahlenden Tugenden sind: die Arbeitsamkeit, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, der Fleiss, die Ausdauer, Beharrlichkeit, die Ausbildung des Korpers und der Seele, besonders die sittliche Ausbildung, die leibliche Abhartung, Streben nach grundlichem Wissen und AVeisheit. Deren Gegensatze sind : die T r a g h e i t, Faulheit, der Miissiggang, die Vernachlassigung seiner selbst, der Cynismus, die Nachlassigkeit iiberhaupt, der geistige Still- stand, die AVeichlichkeit, der Missmuth, Leichtsinn, die Un- gelehrigkeit, der Riickschritt imWissen und in der Moralitat, die Thorheit. Wir konnen die personlichen Tugenden obiger Art mit der sittlichen F r e i h e i t d. i. dem Inbegriffe des personlichen AVissens und Konnens abschliessen; ihr steht die. Unfreiheit und Sclaverei d. h. Abhangigkeit des sittlichen Denkens und Handelns von den Trieben, Leiden- schaften, Lastern und dem Zufall gegentiber. Ein Uebermass von Gewissenhaftigkeit fiihrt zur Scrupulositat, zum grundsatzlichen Skepticismus oder zur principiellen Zweifel- sucht, welche die Sittlichkeit im Keime erstickt und in schrankenlosen Pessimismus ausarten kann. Die sitt¬ liche Skepsis als strenge Priifung seiner selbst und der Mit- menschen ist eine sittlich gute Eigenschaft. Paulsen fiihrt folgende personliche Tugenden an: die Massigkeit, Uebung, Selbsterziehung, den AATllen, die Freiheit und Unabhangigkeit, Thatigkeit, Askese, Be- scheidenheit. 1 ) Allein der Wille ist ein zusammengesetzter Begriff, der mehrere Thatigkeiten in sich begreift, die Be- scheidenheit aber auch eine sociale Tugend. Von diesen beiden werde ich spater handeln. Dem Zusammenwirken der Principe Selbsterhaltung und I n d i v i d u a 1 i t a t entspringt eine besondere Art von personlichen Tugenden, welche zu den eben angefiihrten einen Gegensatz zu bilden scheinen, aber durch die soge- nannte ethische Harmonie in statischem Gleichgewichte zu einander stehen. Es sind dies : das Ehrgeftihl oder das Bewusstsein seines personlichen Wertes und seiner mensch- lichen Gleichberechtigung, die Achtung vor sich selbst und das mannhafte Eintreten fiir sein Recht und seine Ueber- zeugung, und diesen verwandte Gefiihle. Das Gegentheil des Ehrgefiihls bilden die Bescheidenheit und D e m u t h ; beide sind nur relative Tugenden. Die Bescheidenheit, welche Goethe und Schopenhauer fiir keine Tugend ansahen, ist gleichwohl eine Zierde ihrer Trager, nur darf sie nicht r ) Paulsen: Eth. 2 396—405. Die socialen Tugenden. 127 zur Verleugnung der eigenen Person, zur Selbstschadigung und Entausserung seiner Individualitat herabsinken. Nichts ist schwerer, als in der Bescheidenheit das richtige Mass ein- zuhalten. Dasselbe.gilt von der Dem ut h, welche aus einer Vergleichung des Ich mit einem andern, besseren Nicht-Ich, also aus Achtungsgefiihlen hervorgeht. Man darf die Demuth nicht schlechthin aus der Zahl der Tugenden streichen, weil sie gegen die Individualitat verstosse, sondern muss ihr einen besonderen Wert als personlicher und z. Th. als socialer Tugend zuschreiben, wenn dieselbe, wie Kant sie erklart, aus einem Widerspiel des Gewissens und des sinnlichen Hanges der Person hervorgeht. 1 ) Dann ist die Demuth sicherlich eine lobliche Eigenschaft und keine Selbsterniedrignng. Das Uebermass des Ehrgeftihls bilden : der E h r g e i z. welcher. wie Thukydides und Sallust bemerken, ebenso die Quelle der grossten Tugenden als der grossten Laster bildet, daher streng genommen als ethisch indifferent zu betrachten ist; fer- ners der Hochmuth, die Selbsttiberhebung, die Selbstsucht. Seinen Gegensatz bilden die Erniedrigung und Wegwerfung seiner selbst. Die Selbstverachtung kann berechtigt sein, wenn sie infolge eigener Schlechtigkeit eintritt. Von der Wahrung der personlichen Ehre werde ich spater reden. Es gibt noch einige personliche Tugenden, wie die W a h r h a f t i g k e i t, Trene u. a., doch nehmen auf dieselben ebenso personliche als sociale Pflichtverhaltnisse Einfluss. Ich werde sie daher spater besprechen. Die socialen Tugenden lassen sich in allgemein- humanitare und in specifisch-gesellschaftliche eintheilen. Die Grundlage der ersteren ist die allgemein-menschliche Sym- pathie, die der letzteren die Gerechtigkeit. Die Liebe der Eltern zu ihren Nachkommen ist die primitivste Form der Sympathie, der reinste Egoaltruismus. An diese knupft sich die Pietat in allen ihren Beziehungen an, also die Liebe der Descendenten zu den Ascendenten und beider unter sich, welche Liebe sich zur Anhanglichkeit an den eigenen Volks- stamm, an die eigene Nation, ans Vaterland, an den Staat, an die eigene Gesellschaftsclasse : Tribus, Kaste, Corps er- weitert. Ihre grosste Erweiterung besteht in der allgemeinen Menschenliebe, welche jedoch ein Product vieler Fac- toren ist; in die letzteren reihen sich ,auch der Egoismus, Associationen der verschiedensten Art, selbst blosse Gewohn- heiten ein. Es ist zuletzt nicht mehr die phyletische Sym- pathie allein, die ein so weitumfassendes und erhabenes l ) Kant: Kr. d. p. V. 89. 128 Achter Abschnitt. Geftihl erzeugt. Bei cler grossen Entfremdung der Menschen- racen und bei dem stets zunehmenden Gegensatze ihrer Individualitaten miissen znletzt aussere und kiinstliche Mittel, wie die Civilisation, okonomische, rechtliche, inter- nationale. politische u. a. Beziehungen die Bindeglieder ihrer Vereinigung schaffen. Trotzdem ist der Schlusseffect dieser Vereinigung ein sittlicher, wenn auch kein rein sittlicher. was Schopenhauer mit Recht bemerkt. Die humanitaren Tugenden haben vorwiegend freie oder doch nicht streng gebundene sociale Beziehungen der Menschen unter einander zum Ziele. Hierher gehort die in- timste Art dieser Beziehungen, die Freundschaft, \velche in ihrer ethischen Erscheinung auf Uebereinstimmung der sittlichen Gesinnungen und Grundsatze und auf der Gegen- seitigkeit sittlich loblicher Dienstleistungen beruht. Es gibt ausserdem Freundschaften, deren \Vurzeln in nattirlichen, personlichen Neigungen oder in Verstandesreflexionen oder in andern als ethischen Beziehungen zu suchen, daher von der streng ethischen Wertschatzung auszuschliessen sind. Ferners ziehe ich in den Bereich der humanitaren Tugenden die auf gegenseitiger Sympathie beruhende und im Dienste ethischer Beziehungen stehende E h e. Man kann die Ehe als .einen Bund zu gegenseitiger leiblicher und geistiger Hilfeleistung und Begliickung auf- fassen, indem man ihren rein sittlichen Zweck hervorkehrt, dagegen ihren socialen, phyletischen und juristischen in den Hintergrund stellt. Dann steht die Ehe einern Freundschafts- bunde am nachsten, und ihre Bethatigung wird zu einer hohen Tugend. Um dies zu sein, muss die Ehe ihrer Romantik entkleidet, von der rohen Sinnlichkeit losgelost und als eine sittliche Verbindung aufgefasst werden. Es mag ja wahr sein, dass der urspriingliche, naturgemasse und bleibende Zweck der Ehe in der phyletischen Erhaltung des Menschen fortbesteht; allein ebenso offenbar hat es sich mit der Zeit herausgestellt, dass dies keineswegs der einzige und ausschliessliche Zweck der Ehe sein kann. Man befrage daruber die Erfahrung. Diese sagt es deutlich, dass die Ehe auch hoheren Lebenszwecken dient, die weit liber den phyle- tischen, ja selbst iiber den socialen hinausreichen. Sie ist eben ein Mittel zu gegenseitiger Perfectionierung und Be- gliickung der Gatten, also eine ausgesprochen ethische In- stitution. Wenn Steinthal in Anlehnung an Fr. v. Schiller’s Worte die Ehe ftir einen Bund des „Starken“ mit dem „ Schviachen “ Die humanitaren Tugenden. 129 erklart, ] ) so fragt es sich, wer zuletzt der „ Starke“ bleibt. Dass in der Ehe die Natur als eine schlaue Vermittlerin auf- tritt, um die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes zu be- fordern, davon habe ich bereits gesprochen. Aus dem damals Gesagten ergibt sich, dass die ,wilde Ehe‘ siindhaft und unsittlich, dem Gattungstriebe sogar widersprechend ist, \vas ja auch ihr Ende zeigt, durch das die menschliche Fort¬ pflanzung nur geschadigt wird. Zu den humanitaren Tugenden smel \veiters zu zahlen: die Mit fr e ud e und das Mitleid. Schopenhauer erklart das Mitleid fiir die „einzige nicht egoistische Triebfeder“. 2 ) Allein bei allem hohen Werte des Mitleids ist es nicht mog- lich, die ubrigen Tugenden aus demselben abzuleiten. Hoher scheint mir die Mitfreude zu stehen. Die Mitfreude erscheint manchmal als eine iibermenschliche Leistung, wahrend das Mitleid in der Regel wenig Selbsttiberwindung kostet. Man darf schon daraus schliessen, das Mitleid sei eine der ge- wohnlichsten und wohlfeilsten Tugenden. Das ersieht man auch aus der grossen Ausbreitung und intensiven Wir- kung des Mitleids, welche sich in den zahlreichen A n- stalten — „Asylen“ — zur Linderung des menschlichen Elends aussert. Auf das ganz ungeheuerliche Anwachsen des Mitleids machte bereits Voltaire aufmerksam. Spencer halt eine Einschrankung der zu ausgedehnten Wohlthatigkeit fiir nothwendig, 3 ) wie er auch — nach Spinoza’s Vorgange — kein unbedingter Lobredner des Mitleids ist. 4 ) Zu den humanitaren Tugenden zahlen weiters: die G ii t e, Milde, Herablassung, Menschenfreundlichkeit, das Wohlwollen. Auch diese Tugenden erkliiren sich aus der all- gemein-menschlichen Sympathie. Die christliche Ethik sucht sie als Nachahmungen eines grossen Vorbilds oder Ideals — Christi — darzustellen. 5 ) Interessant ist es, dass fast alle grossen Vorbilder von Giite, Menschenfreundlichkeit und Milde durch ihr Leiden und ihre Aufopferung hervorragende Charak- tere waren, ein Beweis, dass der Mensch nur durch sch\vere Opfer zur Sittlichkeit gelangen kamr. Auf die Humanitat d. i. die allgemein-menschliche Denk- und Ftihlweise gehen die Toleranz oder Duldsam- keit zuriick. Im Wesen der Humanitat ist die G 1 e i c h b e- rechtigung der Menschen als Mitglieder derselben Art begriindet. Alle Menschen sind den gleichen sittlichen Pflichten unterworfen und vor dem objectiven Sittengesetze gleich. >) Steinthal: Allg. Eth. 291. 2 ) Schopenhauer: Die beid. Grundprobl. 1841. S. 285 ff. 3 j Spencer: Thats. d. Eth. 214. 4 ) Spencer: ebend. 267. 5 ) Dorner: Syst. d. christi Moral. S. 315 fl. 9 130 Achter Abschnitt. Deshalb sind sie jedoch ihrem sittlichen Charakter nach nicht gleichwertig, da nicht alle in gleicher Weise ihrer Verpflichtung nachkommen. Auch wird es unter den Men- schen stets verschiedene Anlagen zur Sittlichkeit und mannigfache Abstufungen der letzteren geben. Daber ist aus der ethischen Gleichhercchtigung der Menschen noch keineswegs auf eine sociale oder ethische Gleichheit zu schliessen. Es gibt f ti r Alle gleiehe sittliche Pflichten, aber trotzdem keine sittliche, noch weniger eine sociale Gleichheit. Denn die ethi¬ schen Rechte fliessen aus der Tugendhaftigkeit, diese aber ist nicht bei Allen die gleiehe. Rousseau’s, Proudhon’s, Blanc’s u. A. Gleichheitstheorien finden in diesem Grundsatze ihre \Viderlegung. Die moralischen Anforderungen lassen sich aus der Sociologie nicht eliminieren; sie bilden dort wie iiberall eine nicht zu umgehende Schranke. Den Tugenden der Humanit-at stehen folgende La st er gegeniiber: der Hass, die Impietat, Feindschaft, Antipathie, Schadenfreude, Hartherzigkeit, Gefiihllosigkeit, das Uebel- wollen, die Inhumanitat, Intoleranz, Unduldsamkeit, Grausam- keit. Eine principielle Negierung der Menschenliebe ist die Misanthropie oder der Menschenhass, von der die Miso- gynakie oder der "VVeiberhass eine Unterordnung bildet. Eine Feindesliebe gibt es nicht, weil dieselbe dem Selbst- erhaltungstriebe widerspricht, wohl aber eine Verzeihung und Aussohnung. Die angefiihrten Laster kann man mit dem einen Worte Bosheit oder Boswilligkeit bezeichnen. Die ge.sellschaftlich.en oder biirgerlichen Tugenden appellieren an den Verstand. Die vornehmste unter denselben ist ohne Zweifel die Gerechtigkeit. Sie regelt die Verhaltnisse der gesellschaftlich verbundenen Menschen. Wir sind nicht immer in der Lage, jedermann zu lieben und zu achten, ihm wohlzuthun und Sympathie zu bezeigen, aber wir konnen in Gedanken und Thaten gegen jedermann gerecht sein d. h. ihm den geburenden Antheil an der Gliickseligkeit gonnen. Wir miissen auch gegen die grossten Verbrecher gerecht sein, indem wir ihnen die Mittel zu ihrer Rechtfertigung, Besserung und zu moglichster Reparierung des durch sie angerichteten Schadens bewilligen. Schopenhauer nennt die Gerechtigkeit die „erste und grund- wesentliche Cardinaltugend“, ') die er aus dem Mitleide ab- leitet. Doch fliesst die gerechte Handlungsweise nicht bloss oder zumeist aus dem Gefiihl, sondern auch aus dem ‘j Schopenhauer: Die beid. Grundprobl 230. Die socialen Tugenden. 131 Verstande, wie denn die Gesellschaft nicht bloss durch Gefuhle, sondern hauptsachlich durch gemeinsame Interessen und die Vernunft zusammengehalten wird. Sehr richtig scheint mir Spencer die Gerechtigkeit als die „Gleichheit der Behandlung Anderer 11 zu definieren, ‘) obwohl auch er sie wie Schopen- hauer aus dem Mitteid herleitet. Wundt erblickt in der Ge¬ rechtigkeit eine unpersonliche, von allen Sympathien und Antipathien losgeloste Handlungsweise, welche allen Mitglie- dern der Gesellschaft, abgesehen von ihren personlichen Zu- falligkeiten, Gleichheit garantiere . 2 ) Aehnlich lost Dorner die Gerechtigkeit von allem Gefiihl los, indem er eine „positive“ und eine „negative Nachstem liebe“ unterscheidet und die Gerechtigkeit unter die letztere subsumiert 3 ) d. h. durch die Gerechtigkeit Thaten der Nachstenliebe ohne Beimischung von Gefiihl vollziehen lasst. Schopenhauer kennt auch eine „kluge“ Gerechtigkeit die das Gemeinwohl und das Wohl des Nachsten im Auge hat, welche er jedoch als eine egoistische nicht fiir sittlich gelten lasst, 4 ) — wohl mit Unrecht, da die Erfullung der altruistischen und socialen Pflichten auf sittliche Geltung Anspruch hat. Die Unterscheidung der Gerechtigkeit und Billi g- k e i t fallt in der praktischen Philosophie weniger ins Gewicht als im Recht; in der Ethik kann zwischen beiden kaum ein Unterschied obwalten. Daher sind die juristisch be- griindeten Definitionen, nach denen die Gerechtigkeit einem Menschen nur das ihm streng „Gebiirende“, die Billig- keit das ihm „Entsprechende“ zutheile, 5 ) fiir die Ethik von keinem Belang. Billig ist es z. B. ein kleineres Uebel mit in den Ivauf zu nehmen, um dadurch ein grosseres zu verhiiten. Eine Nachsicht zu rechter Ze.it kann oft mehr Gutes stiften als Uebung der strengsten Gerechtigkeit. In der allgemein-menschlichen Sympathie ist fiir die Gerech¬ tigkeit und Billigkeit Platz genug. Das Gegentheil von der Gerechtigkeit bildet die U n g e- rechtigkeit, welche das Wohlwollen nach egoistischen und personlichen Riicksichten austheilen lasst. Schopenhauer und Diihring leiten die Ungerechtigkeit und das Unrecht — Krankung — aus der angebornen Bosheit ab, 6 ) doch gibt es mehr als Eine Quelle beider. Ungerechtigkeit und Unrecht 1 ) Spencer: Thats. d. Eth. 180 u. 1GŽ. h W u n d t: Ethik. 1886 S. 600. 3 ) Dorner: Syst. d. christl. Mor. 463—465. *) Schopen¬ hauer: ebend. 221. 5 ) Herbart: Allgem. p. Philos. S. W. 8. Bd S. 59—60; W u n d t: Ethik. 50 . ‘) Schopenhauer: D. beid. Grund- probl. 221—230; Diihring: Wert d. Leb. 73—74. 9 : 132 Achter Abschnitt. sind die zwei schlimmsten socialen Uebel, weil ein Unrecht immer neues Unrecht gebiert. Alt und wahr ist daher der Spruch : „Besser Unrecht leiden als Unrecht thun“ ; denn das Unrecht pflegt sich an dessen Urheber selbst zu rachen. Gegen Unrecht gibt es im allgemeinen kein besseres Mittel als Festigkeit im Guten, Selbstvertrauen,. Geduld, Ruhe des Gemiiths nnd kraftige, aber ausgiebige Abwehr. Das Verhalten gegen Unrecht ist je nach der Beschaffenheit des erlittenen Unrechts und der Umstande ein verschiedenes. Ist das Unrecht ein unabwendbares, so ist es geduldig und mannhaft zu ertragen, ist es abwendbar, so muss es im Interesse der Selbsterhaltung und des Guten mit aller Kraft abgewehrt werden. Dem boswilligen Unrechte gegeniiber gibt es keine Nachsicht und keine Transaction. Auf Ueberlegung beruht ein weiteres machtiges BancK der Gesellschaft: der Gehorsam oder die Unterord- n u n g. Der sittliche Gehorsam entspringt aus der Einsicht, dass die Sittlichkeit das hochste Gut und fiir den Bestand der Gesellschaft eine Nothwendigkeit ist. Ueber den sittlichen Wert des Gehorsams bemerkt Steinthal: „Die Liebe zum Sittlichen bezeigt sich in dem unbedingten Gehorsam, den der Wille ausschliesslich der ethischen Einsicht mit Freuden ent- gegenbringt 11 . *) Auch Kant leitet den Gehorsam aus der „Achtung fiirs moralische Gesetz 1 ', 2 ) also unmittelbar aus dem objectiven Sittengesetze ab. Dem Gehorsam stehen der U n g e h o r s a m, die Auflehnung und der Trotz gegeniiber. Aus der Beobachtung der socialen Pflichten entspringen die hohen Tugenden der Treue, Uneigenniitzigkeit und Selbstaufopferung. 3 ) Die Selbstaufopferung zu Gunsten des Ge- meinwohles ist die hochste Stufe der Tugendhaftigkeit. — Diesen Tugenden stehen die Treulosigkeit, Untreue, Perfidie, Felonie, der Eigennutz, die Menschenausbeutung — exploitation —, Sclavenhaltung gegeniiber. Diesen Lastern reihen sich der N e i d und die Scheelsucht an, welche im Eigennutze ihren Ursprung haben. Eine Verbindung von humanitaren und stricte socialen Tugenden bilden: die Gegenseitigkeit, Wechselseitig- keit, Eintracht, Friedfertigkeit, Dankbarkeit. Wahrend Stein¬ thal die Dankbarkeit als eine Tugend betrachtet und sie auf die Gegenseitigkeit zuriickfuhrt, 4 ) spricht ihr Schopen- hauer alle ethische Berechtigung ab, da sie so wenig eine „Pflicht‘‘ sei, als das „Wohlthun“. Die Erwiderung der Dank¬ barkeit sei daher nicht als ,,Handel“ anzusehen ; bleibe b Steinthal: Allgem. Eth. 162. 3 ) Kant: Kr. d. p. V. 94—98. 3 ) vgl. liber dieselben Steinthal: ebend. 219, *j Ste inthal: ebend. 286 Die socialen Tugenden. 133 die Dankbarkeit aus, so sei dies „keine Verletzung des An- dern 1 '. 1 ) Man darf darauf erwidern : aueh das Mitleid ist kein „Handel“, und doch fordert man dessen Bethatigung, allge- meine Uebung und Erwiderung. Dass die Dankbarkeit lob- lich und sittlich sei, beweist am besten das Laster des Un- danks, welches mit der grossten Strafe, mit Verachtung, erwidert wird. Die Friedfertigkeit findet ihre nothwendige Grenze in den Sittengeboten der Selbsterhaltung und Indi- vidualitat. Storung des Friedens ergibt den S t r e i t, der z\var metaphysisch als „Vater der Dinge nicht aber auch sociologisch als solcher gilt. Streit fiihrt zum K r i e g e. Ein ewiger Volkerfriede ist bei der Unbandigkeit der meisten menschlicben Triebe unmoglich, der Krieg ein unumgang- liches Mittel, das statische Gleichgewicht zwischen den sitt- lichen und unsittlichen Aspirationen herzustellen und dem Guten Recht zu verschaffen. Richtig ist der Spruch: „Besser ein gesunder Krieg als ein fauler Friede“. Faul ist der Friede, wenn er um den Preis von Zugestandnissen an das Schlechte erkauft wird. Es wird daher immer zweierlei Kriege: sittlich berechtigte und sittlich nicht berechtigte geben. Zu den ersteren gehoren alle N o t h w e h r- und Befreiungskriege, durch welche die verletzte und beleidigte Menschlichkeit hergestellt wird. So urtheilen auch Beaussire und Rud. v. Ihering. 2 ) Die internationalen F r i e- denscongresse und Schiedsgerichte bleiben deshalb noch immer nicht uberfliissig, sondern sind sogar nothwendig ; nur sollten sie in ihr Programm auch die „be- rechtigten Kriege nicht bloss „den ewigen Frieden“ auf- nehmen. Alle E r o b ei u n g s - und Uebermuthskriege dagegen sind als unsittlich zu stigmatisieren und sollten ge- radeso wie alle Arten von Volksbedruckungen vor das Tribunal einer zu bildenden Volkerliga gezogen werden. Socialer Natur, jedoch stark vom Gesetze der Indivi- dualitat beherrscht, ist das Gefiihl und Bewusstsein der per- s o n 1 i c h e n E h r e , die man vor Unrecht und Ungerechtig- keit, vor Missachtung und Verachtung, kurz vor jeder Verun- glimpfung bewahrt wissen muss. Die Ehre ist ein integrierender Theil der Person und des Charakters, den man als ein hohes Gut hiiten und wahren muss. Auf der Reinheit der person- lichen Ehre beruht die Ehrenhaftigkeit und R e- putation der Person als Mitgliedes der Gesellschaft. Daher ‘i Sc h opc n hauer: ebend. 226. a ) Beaussire: Questions de droit desgens: Rev. philos. 1888. p. 113—133; R. v. Ihering: D. Kampf u. Recht 18 t 6 S lt). 134 Achter Abschnitt. ist eine Restitution der verletzten Ehre durchaus ge- boten. Nur fehlen in der heutigen Gesellschaft sittlich fun- gierende Institutionen, um die personliche Ehre ausreichend zu schiitzen. Das Dueli entsprach den aberglaubischen An- schauungen einer langst vergangenen Zeit und ragt gegen- wartig wie eine traurige Ruine in die Neuzeit hinein, und dies nur deshalb, weil an seine Stelle nichts Entsprechendes ge- setzt werden konnte. Das Dueli fristet seine Existenz von der Unzulanglichkeit der Gesetzgebung. Daher besteht die per¬ sonliche Rache — „Revanche“ — inderrohen Form des Duells weiter‘) und findet sogar an einem aufgeklarten Juristen, wie Rud. v. Ihering, ihren Sachwalt und als\vie eine „Form des Rechtes* Anerkennung. 2 ) Dass die Privatrache mit der Einrich- tung des modernen Staates unvertraglich ist, dass sie der- selben sogar Hohn spricht, leuchtet aus dem Wesen, Zwecke und der Organisation des Staates ein. Daher schlagen Einige,. wie Beaussire, Ehrengerichte .— jurys d’honneur — vor, um so die personliche Ehre zu wahren oder herzustellen. 3 ) Durch Einsetzung solcher Ehrengerichte wiirde die Zerrung von Privatangelegenheiten vor das grosse Forum sowie das Walten des blinden Zufalls am besten vermieden werden. Vorwiegend socialer Natur ist die Tugend der Wahr- haftigkeit und aller mit ihr verbundenen Eigenschaften. Sie zeigt den Menschen gegeniiber der Gesellschaft, vvie er seinem Charakter nach beschaffen ist. Die Wahrhaftigkeit erscheint am primitivsten in der Form der N a i v i t a t. Letztere Eigenschaft ist besonders den Kindern und Genies eigen. Die Aufrichtigkeit und der bei den Alten hoher als bei den Neueren geschatzte Freimuth sind die rauhen Seiten der Naivitat. Vielberiihmt, und dies mit Recht, ist die schwer erlangbare Tugend der Gleichmassigkeit — Eequa- bilitas — ; sie ist ein Zeichen sittlicher Vollkommenheit. Sich im Gltick und Ungluck gleich bleiben ist eine seltene Tugend. — Den genannten loblichen Eigenschaften stehen als Laster : Heuchelei, Lugenhaftigkeit, Falschheit. Yer- stellung, Doppelziingigkeit, Heimtiicke, Verrath gegeniiber. Die L ii g e bleibt auf alle Falle ein schlechtes Auskunftsmittel und verdient, wenn sie im Ernste angewendet 'vvird. keine philosophische Vertheidigung. Eine solche hat Schopenhauer versucht. 4 ) Die sogenannte K 1 u g h e i t ist keine ausge- sprochen ethische, sondern eine indifferente Eigenschaft; ihr ‘) vgl. uber dieselbe Duhring; Wert des Lebens 1877. S. 208. h Rud v. Ihering: Karapf u. Recht. 1886. S. J4. 3 ) vgl. Beaussire’s Aufsatz in Rev. philos. 1888. S. 130—131. 4 j Schopenhauer: Grundprob. 272. Die philosophischen Tugenden. 135 stehen die Unklugheit, Unvorsichtigkeit, Unbedacht- samkeit und Uniiberlegtheit als Laster gegeniiber. Theils personlicher, theils socialer Natur ist die S c h a m- haftigkeit. Man kann sich selbst gegeniiber ebenso Scham empfinden als gegeniiber Andern. Die geschlechtliche Schamhaftigkeit ist eine Folge des geordneten Familienlebens ; wer das Interieur der Familie kennt, wird die Ursache dieser Tugend zu verstehen imstande sein. Ich kann daher den- jenigen nicht beistimmen, welche den primitiven Volkern alles Schamgefiihl absprechen. Wenn man die Berichte iiber das ziigellose Leben der \Vilden priift, so findet man dasselbe zwar etwas bunter als in unserer vielgeriihmten „gesitteten“ Gesell- schaft, wo eine Mischung von Schamhaftigkeit und Scham- losigkeit nicht ausgeschlossen ist. Einige Ethiker, wie Ch. Darwin, Gutberlet schreiben selbst den Thieren Schamgefiihl zu, *) \vas wohl zu weit geht. Wenn sich gewisse Thiere „schamen“, so ist ihnen ein solches an Schamgefiihl gemahnendes Verhalten nur ausserlich ange- lernt worden. Dass Geisteskranke, wie Gutberlet behauptet, das Schamgefiihl verlieren, kann in keiner \Veise als ein Be- weis fiir oder wider ein apriores Schamgefiihl dienen. Die angebliche Schamlosigkeit der „ v/ilden Ydlker“ widerlegt am besten die einschrankende Bemerkung Lombroso’s, dass die- selbe mit den „periodischen Aeusserungen des Geschlechtstriebs“ zusammenhange. * 2 ) Der Schamhaftigkeit stehen die Scham¬ losigkeit, Unverschamtheit, Frechheit, Ehrlosigkeit gegen- iiber. Von der Bescheidenheit und Demuth war bereits die Rede. — /N Die idealen oder philosophischen Tugenden bestehen in der Erfiillung der Pflichten gegen das Weltganze. Die Erfahrung lehrt, dass der Mensch seine Zwecke nur im Anschlusse an die Gesetze der Aussennatur erreichen kann. Darans folgt fiir ihn als ein verniinftiges, denkendes AVesen die Pflicht, diese Gesetze zu beobachten, zu achten und sich denselben zu fiigen. A c h t u n g und Gehorsam., sind daher die Ecksteine der philosophischen. aus dem Stu- j dium des AVeltalls fliessenden Tugenden. 3 ) Beide GefiihleJ sind jedoch weit von einer Idololatrie oder Anbetung der Natur als eines angeblich pantheistischen AVesens entfernt. Sowohl eine solche Idololatrie als di,e „Flucht aus dieser AVelt“ in eine angeblich bessere halte ich fiir krankhafte i) Gn tberlet: Teleolog. Streifziig. Zts. f. d. Philos. 1807. S. 226. 2 ) Lombroso: D Verbr. I 41. 3 I vgl. die AusfUhrangen A. Comtek, dass die Astronomie sociale Subordination lehre: Syst. d. Polit. T. 1, p. 504 ff. 136 Achter Abschnitt. Anschauungen. Es gibt nur Eine reale Welt. In dieser veranderlichen Welt einen kampf- und sorgenfreien Winkel durch Selbstmord finden zu wollen halte ich fur ebenso naiv als kurzsichtig, vermessen und unsittlich. 1 ) Den pla- tonischen Weltschmerz, das Schopenhauer’sche „Nirwana“. kurz jene ganze orientalisierende Weltflucht halte ich flir eine moralische Verirrung und fur einen Mangel an Geisteskraft und Willensstarke. Bei allem socialen Jammer bleibt einem ernsten Denker noch immer Zeit und Gelegenheit ubrig, nach Wahrheit und geistiger Befreiung zu streben. Im schlimmsten Falle bleibt Ergebung in den unerforschlichen Gang der Natur als der trostlichste Ausweg iibrig. Haben doch alle grossen Geister in dieser Tugend ihre sittliche Kraft bewahrt. Wer wie Demokrit in tiefer Erkenntnis der Dinge alle F u r c h t und allen Aberglauben abgelegt hat, der hat einen grossen Schritt zur Gliickseligkeit gethan. Ich erklare daher jeden, der die Menschen unterweist, die Natur der Dinge zu erkennen und zu begreifen d. i. jeden wahren Phy- siker und Philosophen fur einen Wohlthater und wahren Freund der Menschheit, ja fur den verdienstvollsten Mann. JStarkere Mittel, die Geister zu wahrer Sittlichkeit und Gliickseligkeit anzuregen, wiisste ich ausser den genannten Wissenschaften und Mitteln keine. Nicht der Welt abzu- sterben und ihr zu entfliehen, sondern dieselbe zu verstehen, zu begreifen und ihr gemass zu leben halte ich fur wahre Philosophie und Sittlichkeit. j Wer die Menschen zum Aber- -JL glauben und zur Missachtung der Natur erzieht, sucht sie zu verdummen und so von der Sittlichkeit abzuwenden, damit sie sehend nicht sehen. Schon in der Einsicht beruht wahre Sittlichkeit; jede Dressur macht die Geister unsittlich und unlauter in Gedanken und Werken. Damit habe ich die Grenzen angedeutet, bis zu denen in der Befolgung der Natur vorzuschreiten ist. Weder ein leichtbliitiger O p t i m i s m u s noch ein Alles ab- sprechender P e s s i m i s m u s fiihrt zum Ziele ; jener erzeugt blinde Vertrauensseligkeit, dieser dumpfe Verzvveifiung. Har- monie mit der Menschheit und Aussenwelt zeigt den einzig richtigen Weg zur Gliickseligkeit. Diese besteht in einem stabilen Gemiithszustande, der ebenso weit von freudigem „Aufjauchzen“ als von einem „Zutodebetriibtsein“ entfernt ist. Arbeitsamkeit und Zufriedenheit sind seine Erzeu- gerinnen. ') vgl. die Widerlegung der Hartmann’schen Moral bei W a 11 a- s c h e k : Ideen z. p. Phil. 65—69. Die philosophischen Tugenden. 137 Wer Erfahrung besitzt, wird Kant beistimmen, wenn er die Erlangung der „Z u f r i e d e n h e i t“ in die Erstrebung des sittlichen „Zweckes“ verlegt. ‘) „G 1 u c k 1 i c h i s t n u r der Weise“, — so haben es die grossten und vorge- schrittensten Geister aller Jahrhunderte verkiindet, unglucklich und thoricht muss nach demselben Zeugnisse daher jeder sein, der sich gegen die Ordnung der Natur auflehnt. — Ich schliesse diesen Abschnitt mit der Bemerkung, dass an den vielbeklagten U e b e 1 n der Welt nicht die Natur die Schuld tragt, welche ja dem Menschen in Allem hilfreich entgegenkommt, wofern er sie nur versteht, sondern der Mensch selbst, der mit seinen ungeziigelten Leidenschaften und Trieben uberallhin sein moralisches Elend verschleppt und durch dieses die Natur entheiligt. >) K a n t : Grundleg. z. Metaph. Werke. Bd. 4 . S. 244 . Neunter Abschnitt. Wille und Willensfreiheit. Wir stehen vor einem der schwierigsten Probleme der Ethik, vor der Betrachtung des sittlichen Willens. Schwierig ist schon die Deflnition des Willens, noch schwie- riger die Darlegung der Thatigkeit, welche dem Willen gerade auf ethischem Gebiete zufallt. Yon dem Begriffe des Willens ist wiederum die Auffassung der sittlichen Zurechnung und Verantwortung, kurz das Problem der \Villensfrei- heit abhangig. Ohne stricte Definitionen und ohne ein con- sequentes Festhalfen an den einmal gewonnenen Begriffen ist an ein Vorwartskommen iiber diese Schwierigkeiten nicht zu denken. Dabei ist jedoch ein weiteres Ausholen und Zu- greifen auf das psychologische Gebiet unerlasslich. [pa s gesammte psychische Leben setzt sich aus drei Factoren zusammen: aus inneren, dem eigenen Korper ent- stammenden, aus ausseren, von der Aussenwelt kommenden Impulsen und nebstdem aus dem durch die gegenseitigen Wirkungen dieser Impulse resultierenden Bewusstsein. Kurz kann man diese drei Factoren als Trieb, Reiz und Reflex bezeichnen, wobei zu bemerken ist, dass jede dieser Functionen wiederum Gegenfunctionen oder Reactionen her- vorruft. Die Functionen und Gegenfunctionen verhalten sich zu einander wie der Stoff zur Anschauung des Stoffes oder der Gegenstand zu dessen. Vorstellung oder das Object zu dessen Subjecte oder kiirzer gesagt, wie die M a t e r i e zum Geiste. Die Triebimpulse vollziehen sich in den Organen, die Reize in der Nerven- und Hirnmasse, die Reflexe haupt- sachlich im Hirn. I Durch die "Continuitat der Korper- und Geistesfunctionen wird das Bewusstsein d. h. die Gesammtheit der Reflexe zum Figenschaften des WiIIens. 139 Selbstbewusstsein, zum Ich, dadurch aber zur Wahr- n eh mu n g und Vorstellung der Innen- und Aussemvelt, und zugleich zum W o 11 e n. So erhalten wir die zwei ersten und weitesten Determinationen des Wollens. Das Wollen ist namlich physiologisch eine Gegenfunction oder ein Reflex, psychisch eine Bewusstseinsaction, durch welche dieselbe der Vorstellung zunachst kommt. Diese primaren Eigenschaften des Willens sind fur dessen ethisches Verstandnis von der hochsten Bedeutung; denn in ihnen liegt implicite das ganze Wesen des Willens enthalten. Erstlich ist der Wille eine Gegenfunction oder ein Reflex. Daraus folgt, dass er eine lebendige Kraft, und zwar eine Bmsetzung der wirkenden Kraft bedeutet. Da¬ durch ist der \Ville auch etwas Bewirkendes oder Tha- tiges. Nur muss er deshalb nicht als eine „besondere“ j oder „geheime“ Kraft gedeutet werden; denn alle Functionen , und Gegenfunctionen des Korpers sind Umsetzungen der einen Kraft des Korpers,. in weiterem Sinne ein Theil der Allkraft der Natur, eine Anschauung ebenso Descartes’, Leibnitz’s als Spinoza’s und der monistischen Psychologie. ;Femers ist der Wille eine B e wu ss tsein s a ctio n d. h. eine Reflexion, die aus dem Bewusstsein des Ich ent 7 springt und die Gliickseligkeit der Person zum Zwecke hat. Darin liegt die Tendenz des ethischen Willens. Weiters ist der AVille eine V or s t e 11 u n g s t h ;i t i g k e i t. Damit ist seine intellectuelle, geistige Eigenschaft gekenn- zeichnet. Der sittliche \Ville ist nicht wie der Trieb ein blindes Begehren, sondern ein Anstreben klar vorgezeichneter Objecte. Er ist also der auf bestimmte Gegenstande gerichtete Ver- stand, der nicht nur die Ziele des Triebs erkennt, sondern auch ihnen selbst Ziele zu setzen imstande ist. Dadurch steht der \Ville zum Triebe in einem gewissen UTegensatze. Sobald jedoch der Verstand den wahren Zweck des Triebs erkannt hat, widerstreitet der AVille dem Zwecke des Triebes nicht, sondern nur dessen Ausschreitungen. Aus der Verbindung aller eben angefiihrten Qualitaten zu Einem Gesammtbegriffe ergibt sich eine weitere sehr \vichtige Eigenschaft des Willens, namlich dass derselbe alle j e ne Fu n ct i one n, auf die er als Reflex reagiert, zu rep ro- | ducieren imstande ist. Dies vermag der Wille als eine mit Kraftumsetzung verbundene Vorstellung. Nicht die Macht, dem Korper neue Impulse zuzufiihren, besitzt der Wille, wohl aber das Vermogen, bereits stattgehahte und diesen associierte psychische und physische Functionen auszulosen. Wiisste man es nicht, dass schon die blosse Vorstellung, \vie es Romberg 140 Neunter Abschnitt. u. a. Psychologen an gewissen Vorstellungen nachgewiesen haben, bestimmte Functionen auszulosen imstande ist, so wiirde man freilich schwer an die Reproductionsfahigkeit des AVillens glauben. So aber muss man dies als ein Factum hin- nehmen, das durch die Erfahrung hinlanglich festgestellt, aber deshalb noch lange nicht theoretisch erklart ist. Die eben gegebene Erklarung moge daher lediglich als eine Hypothese betrachtet werden, welche viel \Vahrscheinlichkeit fiir sich h at. Die Impulse des Triebs und Reizes sowie ihrer Nach- klange sind ebensovielen \Virkungen von Kraften gleichzu- achten, denen die durch sie hervorgerufenen Gegenwirkungen. die Reflexe, entweder das Gleichgewicht halten oder u n t e r 1 i e g e n oder iiberlegen sind. Im ersten Falle kommt es zu keiner That; es herrscht im Gemuthe Indifferenz oder doch ein Schwanken, im zweit'en und dritten Falle kommt es zur Bewegung d. h. zur That oder Han d lun g. Dieser verleihen entweder die Impulse oder die geistigen Reflexe Richtung und Geschwindigkeit. Die Richtung der Handlung liegt entweder in der An n ah m e oder Ablehnung gewisser Impulse, welche in der Ethik Motive heissen. Ob nun Gleichgewicht oder Schwanken oder Bewegung eintreten und bestehen soli, das hangt wieder von neuen Functionen ab, die sich den Impulsen oder den Reflexen zugesellen konnen und dadurch der einen oder der anderen Gruppe von Kraften das Uebergewicht verschaffen. Es konnen dies neue Vorstellungen oder neue Gefuhle sein. Durch diese wird auf die Nerven und so zugleich auf die Organe ein bestimmter Einfluss ausgeiibt, den man Innervation benannt hat. Die Innervation ist nichts weiter als eine Auslosung virtu- eller oder im Nervensysteme in latentem Zustande harrender Kraftewirkungen. Kurz, bei der Analyse des Willens haben wir es zunachst mit statischen und dynamischen Verhalt- nissen zu thun, bei denen die Resultierende, ihre Richtung und Geschwindigkeit von der Beschaffenheit, Grosse und Intensitat der Gegenfunctionen abhangig ist. Dieser im Gemuthe sich vollziehende Gleichgewichts- process heisst nun Wo 11 e n — volition — und die Ge- sammtheit der in demselben auftretenden Reflexe W i 11 e — volonte —. Wenn nun die Thatigkeit des \Villens von Vor¬ stellungen und Gefiihlen ethischen Inhalts ausgeht, wird dieselbe zum sittlichen Willen. Der eben gegebenen Analyse des Wollens und des \Villens will ich zur Klarstellung des sch\vierigen Gegen- standes einige historisch-kritische Bemerkungen beifligen. Der Wille eine Reflexthatigkeit. 141 Dass die AVillensthatigkeit in Reflexen oder Re- actionen des Cerebralsystems gegen die Einwirkungen des Triebs und der verschiedenen Nervenreize besteht, hat meiner Ansicht nach am bestimmtesten Lockhart Clarke — jedoch nichtohne Anlehnung an Descartes — ausgesprochen. 1 2 L. Clarke bemerkt: „Reaction der Cerebralganglienreflexe nach anssen, das ist die Thatigkeit des Willens.“ ‘) Nach desselben L. Clarke’s Ansicht reagiert der Wille gegen die Triebesausserungen nnd Reize, welche die Motive der Handlungen bilden.fEr bemerkt: „Was man als Motive unseres AVollens bezeichnet, sind unsere verschiedenen Sinnesempflndungen, Triebe und Affecte, wenn sie durch die Ueberlegung dem Urtheil des Verstandes u n t e r w o r f e n werden. “ Hier wird von L. Clarke das Wollen als ein mechanischer Vorgang aufgefasst, wie es denn ebendort von ihm ein „dynamisches Element“ genannt wird, und auch das Uebrige ist richtig bis auf die Bemerkung, dass die Motive dem Verstande „unterworfen“ seien. Die Reflexion, welche der Wille dem Triebe und Reize entgegen- setzt, schliesst noch keineswegs ein Uebergewicht, sondern bloss eine Gegenivirkung ein. Diese untersteht zunachst me- chanischen Gesetzen. Auch die Erfahrung weiss nichts von einer unbedingten Herrschaft des Verstandes liber den Trieb und die Affecte, wohl aber vieles von deren gegenseitigem Kampfe und schwankendem Siege. Einer ahnlichen Ueber- schatzung huldigte Descartes, wenn er den Willen fur einen absoluten Regulator des Seelenmechanismus ansah. 3 ) Dagegen erblickt Leibnitz in diesem gegenseitigen Kampfe einen rein mechanischen Vorgang, indem er bemerkt: „Zur Bildung eines vollkommenen Willensactes gehoren mehrere Wahrnehmungen und Neigungen, aus deren Kampfe er als Resultat hervorgeht. “ 4 ) Als eine „Reaction“ des Organismus auf „ Reize“ sieht auch Schopenhauer den AVillen an ; er ftihrt diesen Gedanken sehr eingehend in der Schrift „Freiheit des Willens“ aus, wo er die AVillensacte als „Kraftewirkungen“ darstellt. 5 ) Dass in der Action des AVollens eine „Kraft“ wirksam sei, bemerkt auch Hume, nur erscheint ihm der „Vorgang des AVollens “ als ein zwar „natiirlicher“, aber „unbegreiflicher“ Process. 6 ) Aus dem AVesen des Reflexes wird dieser Vorgang noch am besten erklarbar. Locke stellte die Hypothese des ‘) vgl. die Citate bei Mavdsley: Phys. und Psych. d. S. 132.— 2 ) Bei Mauds le y: ebend. 153 Anm. - ! ) Descartes: Ueb. d. Leid. d. Seele. I, Art. 46. — 4 ) Leibnitz: Nouv. Ess. II B. c. 21 §39. — Schopenhauer: Werke 4 Bd., c. II, S. 14 ff. u. c. III S. 33 fr. -<)Hnme: Enquiry. VII, Sect. I, S. 62 ff. (Kirchm. Ausg.) 142 Neunter Abschnitt. „Unbehagens“ auf, um aus diesem die gesammte \Villens- action zu erklaren.*) Dass mit dem Wollen Bewegungen, also auch Thatigkeiten verbunden sind, wird allgemein zugegeben: nur die Art der Hervorbringung derselben, ob durch den Willen selbst oder nur gleichzeitig mit demselben, erfahrt eine ver- schiedene Deutung. Wahrend Leibnitz die mit dem Willen associierten Bewegungen auf die Wirkung des allgemein herr- schenden Causalitatsgesetzes zuriickfuhrt, indem er den Leib fiir einen von aussen bewegten „Mechanismus“ ansieht, 2 ) hielten Descartes und Locke den Willen fiir die Ursache der Bewegungen, welche nach ihrer Ansieht' schon durch die „Vorstellung“ oder einen „Gedankeri“ allein hervorgebracht ■vviirdeh. 3 ) Aus der durch die Vorstellung ausgelosten Bewegung folgt jedoch weiter nichts als eine As so ciation beider, die noch keineswegs auf eine ursachliche Erzeugung der Bewegung durch die Thatigkeit des Willens mit Sicherheit schliessen lasst. Es kann der Vorgang auch ein umgekehrter sein, dass namlich die Vorstellung im Subjecte eine Folge der inneren sich vor- bereitenden, noch latenten Bewegung ist, wie Maudsley im Anschluss an Hume 4 ) die Sache darstellt: Maudsley bemerkt: „Der einzelne Willensact ist nicht das bestimmende Agens, sondern das durch den , der Vorstellung von dem zu er- reichenden Zwecke entsprechend wirkenden Impuls bestimmte Resultat .... Wenn der Wille eine Bewegung verlangt, so ist der Hergang derselben schon vollstandig bestimmt; der Wille macht sozusagen die i n dem motorischen Centrum bereits organisierte Bewegung frei, ohne dass er iiber die Mittel, durch welche das gewollte Resultat erreicht wird, _l irgendwie gebieten konnte. 11 ") (Sobald wir uns den Willens- vorgang mechanisch erfolgend denken, brauchen wir noch einen neuen Kraftzuwachs des AVillens, der ihm das Ueberge- wichtverleiht. Diesenliefert ein neues Un 1 ust- oder Lustge- f ii h 1, das sich der Action anschliesst und sie auch zum Ab- schlusse zu bringen vermag, da aus seinen Mitteln, namlich der Reflexion, der Wille keine Entscheidung herbeizufiihren imstande ware. Eine sehr wichtige Eigenschaft des Willens besteht in dessen Bewusstheit. Durch diese kommt ihm auch die ‘) Locke: Essay. II Buch. — 2 ) Leibnitz: Ein neues Syst. d. Nat. c. !o ex. — 3 ) Descartes: Ueb. d. Leid. d. Seel. I Art. 44, wo Beispiele erortert werden; — Locke: Ess. II c. 21 § 4. — L Hu¬ me: Enquiry VII Sect. 1, S. 62. — 5 ) Maudsley: Phys. u. Psych. S. 155 u. 158. (Der deutsch. Uebers.) Wahlfreiheit, Spontaneitat des Willens. 143 Eigenschaft der V o r s t e 11 u n g zu, in welcher Ansicht mehrere Psychologen und Ethiker iibereinstimmen. Nach Descartes sind „Wissen und Wollen in Wahrheit ein und dasselbe 11 . 1 ) Doch will Descartes dieses Wissen nur auf ethische Gegen- stande bezogen wissen, da er bemerkt: „Ebenso verhalt es sich mit den natiirlichen Trieben des Hungers, Durstes u. s. w., die von dem Wollen zu essen oder zu trinken u. s. w. ganz verschieden sind.“ 2 ) Hieher gehort jener Satz Leibnitz’s vom Willen, welcher zu einem allgemeinen Axiom geworden ist: „Man kann nur das wollen, vas man fiir gut halt“, da man es eben kennt, 3 ) dem ich einen zweiten hieher ge- horigen, fiir die Ethik hochst bedeutenden Satz Leibnitz’s nachfolgen lasse: „Man kann nur dem grossten Gute folgen“ und „das grosste Uebel vermeiden wollen.“ 4 )Besondersbezieht sich dieEinsichtauf dieErkenntnis und Wahl zwischen dem Guten und dem Schlechten. Deshalb hat Descartes den Willen als das „Vermogen zu wahlen“ oder als „die \Vahlfreiheit“ definiert, 5 ) eine Definition, welche wohl die gelaufigste sein diirfte. Leibnitz fasst dieselbe in die Worte: „Das Wollen ist die Anstrengung oder Strebung (conatus), auf das, was man fiir gut halt, loszugehen und sich von dem zu entfernen, was man fiir schlimm halt, so dass diese Strebung unmittelbar aus dem Bewusstsein folgt... Aus jeder Strebung folgt die Handlung, wenn sie nicht Hinder- nisse findet.“ 6 ) Hierin stimmt der Wille mit dem Gewissen iiberein^ 4 - Eiiies der wichtigsten Willensprobleme betrifft die Frage, ob der AVille auch eine spontan wirkende Kraft sei oder bloss ein passiver Zuschauer. Von der Erledigung dieser Frage hangt der beste Theil der Ethik ab. — Descartes ist in Bezug auf dieses Problem nicht zu voller Entschiedenheit gelangt: bald erscheint ihm alle spontane Bewegung nur als Ausfluss der causalen Verbindung aller Dinge, namentlich als ein Werk der „gottlichen Vorsehung,“ 7 ) bald \vieder als Eigenwerk des Subjectes. Es wiirde zu weit fiihren, in eine Erorterung seiner hierin schwankenden Ansichten ein- zugehen. Leibnitz schwankt zwar in diesem Punkte ebenfalls, da er den thierischen und menschlichen Organismus fiir einen 4 ) Descartes; Ueb. d. Leid. d. S. I Art. 19, S. 25. 2 ) Des¬ cartes: Princip, d. Phiios. IV 190. (S. 274 Kirchm.) — 3 ) Leibnitz: Nouv. Ess. II B. c. 21 § 15. (Kirchmann’s Uebers.). — 4 ) Leibnitz: o c. II B„ c. 21 § 35. — s ) Descartes: Meditat. III S. 75 ff. (Kirchm.). — 6 ) Leibnitz: Nouv. Ess. II B. c. 21 § 5. — ’) vgl. daritber bes. die Medit. D e s c a'r t e s’. 144 Neunter Abschnitt. nach festen Gesetzen fungierenden „Mechanismus“ oder fiir eine „Maschine“ ansieht, aber er macht hierin Concessionen, indem er sehr wichtige Angaben uber die Art macht. wie eine spontane Bewegung durch den Willen denkbar ware. Schon der Gedanke Leibnitz’s, dass „unser Geist sich eines Bildes bewusst werden. demselben Halt gebieten nnd es so- zusagen festhalten“ konne, also die Annahme einer H e m- m u n g der Vorstellungen, ferners, dass „der Geist anf gewisse Gedanken naher eingehen konne, die ihn dann zu andern fuhren,“ *) ist fiir die Ethik von hochster Bedeutung. Darum mussen jedoch jene Gedanken noch nicht als vom Subjecte frei erzeugt betrachtet werden, da sie ihm von selbst beifallen. Allerdings vermag der Geist dieselben fest- zuhalten und fiir sittliche Actionen zu beniitzen. Leibnitz bemerkt: „Man muss die guten Anregungen als Gottes Stimme, die uns ruft, beniitzen, um wirksame Beschliisse zu fassen 11 . 2 ) Somit kommt dem Menschen, selbst nach Leibnitz’ mecha- nistischer Anschauung, bei der Erregung der Vorstellungen und Bewegungen wenigstens einige Spontaneitat zu. Dies vermag nach seiner Anschauung eine jede klare Vorstellung zu leisten, durch welche die Hemmung der Gedanken d. h. deren Ablehnung oder Festhaltung moglich sei. Damit will jedoch Leibnitz keine absolute Herrschaft des Willens iiber die Vorstellungen ausgesprochen haben, da auch „ganz un- merkliche Wahrnehmungen, die man nicht klar und deutlich unterscheiden kann“, den Geist „nach der einen oder andern Seite neigen“ konnen. 3 ) — Viel entschiedener wird die Spon¬ taneitat des AVillens von Locke betont, welcher sagt: „ Sobald dei Seele die Macht wieder erlangt, die Bewegungen des Korpers ausserlich und die der Gedanken innerlich, je nach- dem sie es passend findet, zu hemmen oder fortzusetzen, zu b e g i n n e n oder fortzusetzen, betrachtet man den Menschen wieder als freies Wesen“. 4 ) — Mit Locke stimmen einige der neueren Psychologen iiberein, vvelche dem Willen die Kraft der Hemmung zuschreiben, jedoch diese nicht als eine abso¬ lute gelten lassen, sondern sie von Bedingungen abhangig machen. So bemerkt Maudsley : „Der Wille scheint nichts anderes zu sein als ein Verlangen oder Widerstreben, d a s hinlanglich stark geworden ist, um nach ge- schehener Reflexion oder Ueberlegung eine Handlung hervor- zurufen“. 5 ) — Von welchen Bedingungen dies abhangt, ist bereits erortert worden. ‘) Leibnitz; Nouv. Ess. II C. c. 21. § 12. 2 ) Leibnitz: ebend. § 35. 3 ) Leibnitz: ebend. § 16. 4 ) Locke; Ess. Ilc. 21. §12. 5 j Maudsley: Phys. u. Psych. 152. Gesetze des Wol!ens. 145 Diese Vorbemerkungen schienen mir bei der Wichtigkeit des Gegenstandes nicht iiberfliissig. Nachdem ich so die Grundeigenschaften des Willens dargelegt habe, gehe ich zur Erorterung der Gesetze des p r a k t i s c h e n W o 11 e n s iiber. Um die Willensvorgange moglichst klar zn machen, will ich zunachst an einem einzelnen Willensacte eine Analyse vornehmen, hierauf ein concretes Beispiel vorfuhren. Vorbedingung des Wollens ist das Vorhandensein eines fiir sittliche Eeflexe empfanglichen Seelenapparats ; denn be- kanntlich gibt es anch sittlich stumpfe Naturen, die keine solche Reactionsfahigkeit besitzen. Dann iriuss auf den Seelenapparat ein R e i z erfolgen, sei es vom eigenen Organismus aus, sei es von der Aussenwe.lt her. Im ersteren Falle kann es auch ein idealer Impuls, selbst eine leise Erinnerung, im zweiten ein Zuruf, ein Larm, ein Lichtstrahl, eine Beriihrung, eine Auffordernng oder eine blosse Anlockung. ein Geruch. kurz ein starkerer oder schwacherer Eindruck der verschiedensten Art sein. Ferner muss der Antrieb und Reiz Empfindungen oder doch G e f ii h 1 e hervorrufen, auf welche R e f 1 e x e ausgetibt werden. Dabei werden etwa bereits stattgehabte Willensrefloxe gleichen Charakters und Inhalts in Erinnerung gebracht oder ahnliche Reflexe hervorgerufen oder auch ganz neue a.usgelost und von den friiheren appercipiert. Die Art der Apperception hat auf die G e s c h w i n d i g k e i t der AVillensaction einen grossen Einfluss. Durch die Apperception nun werden die sich im Be- wusstsein vordrangenden Reize — Motive genannt — zu¬ nachst beobachtet, dann aber aufgenommen oder abgelehnt. Den Act der Beobachtung der Motive nennt man Ueber- 1 e g u n g oder E r w a g u n g, dessen Abschluss aber. in- sofern Annahme oder Ablehnung eines Motivs erfolgt, E n t s c h 1 i e s s u n g oder E n t s c h e i d u n g. Manchmal erfolgt diese sehr schnell, es kann aber auch geschehen. dass sie lange Zeit braucht. was einen Zustand des Z w e i f e 1 n s oder Z o g e r n s herbeifuhrt, oder sie tritt gar nicht ein. Dies hangt vom Hinzutreten neuer Momente ab, welche zu- meist in Gefiihlen, aber auch in neuen Vorstellungen be- stehen, die sich den friiheren als Hilfen beigesellen. A\ r enn im Seelenapparate keine Apperception und keine Entscheidung erfolgen will. so tritt in demselben durch allmahliches Er- lahmen. oder Erloschen der Motive Indifferenz oder G1 e i c h g i 11 i g k e i t ein, welche bis zur S t u m p f- h e i t und zum Stumpfsinn fiihren kann. Erfolgt 10 146 Neunler Abschnitt. dagegen eine feste Entschliessung, so erflillt sie den Geist mit dem Gefiihl der Befriedigung. Halt die Kraft der Entschliessung vor, so erfolgt die T h a t. Ich will nun die Willensvorgange an einem Beispiele er- lautern. Jemand, sagen wir ein gelernter Kaufmann, fiihlt den Beruf und die Fahigkeit in sich, ein selbstandiges Geschaft zu errichten. Der Gedanke, sein Gliick zu machen, treibt den Kaufmann an, ernstlich an die Verwirklichung seines Ge- dankens zu gehen. Das ihn fortwiihrend treibende Motiv ist zunachst die eigene, vielleicht auch dieGliickseligkeit anderer Personen. Allein bevor der Mann das Geschaft er- offnet, wagt er, — wir nehmen an, dass er gewohnlich verniinftig handelt — alle Chancen des Gelingens ab, u. zw. nicht bloss die nachsten, welche die Eroffnung ermoglichen, wie die Be- schaffung des nčthigen Capitals, sondern auch die ent- fernteren. ob sich das Geschaft auch rentieren werde. Es werden ihn bei der Erwagung die verschiedensten Empfin- dungen und Gefiihle iiberkommen, bald Gefiihle der Bangigkeit. bald der Hoffnung. Der Mann wird seine eigenen, sowie die Erfahrungen seiner Freunde und Bekannten zu Hilfe rufen und sich auch an Fachleute um deren Rath \venden. Dabei wird er einerseits alle Sclrvvierigkeiten und Hindernisse, die seinem Unternehmen anfangs sowie spater moglicher- \veise sich in den Weg stellen konnten, erwagen, andrerseits wieder alle erdenklichen Vortheile berechnen, beide gegen einander abwagen und zuletzt einen Entschluss zu fassen versuchen, was nicht immer so leicht geht. Wenn er nun er- kannt hat, dass irgendein Moment fur die Errichtung des Geschaftes alle dagegen sprechenden Momente iiberwiegt — er hat, sagen wir, eine vermeintlich treue und verlassliche financielle Quelle ausfindig gemacht und sich deren versichert —, so wird ihn nichts mehr an einem festen Entschlusse hindern, das ins Auge gefasste Geschaft zu errichten und ins Leben zu rufen. Er hat sich also fur seinen Plan, das Geschaft, e n t sc hi e d e n. Nunmehr ist er von der Bangig¬ keit der Erwagung befreit und fiihlt dariiber Be fr iedigung. Bleibt er nun bei seinem Entschlusse d. h. tritt kein neues Motiv oder doch kein neues starkeres Moment gegen seine Entscheidung auf, so wird er bis zur Etablirung des Geschaftes bei seinem Entschlusse ausharren und dieses zur That werden lassen. Hatte sich dagegen ein seine Bedenken iiberwiegendes Moment gefunden, so wiirde der Mann gezogert oder auch. \vas ja auch moglich ist, geblendet von dem Gedanken, durch Etablierung des Geschaftes Das Problem der Willensfreiheit. 147 sein Gliick zn machen, auch ohneweiters dasselbe errichtet haben. In letzterem Falle wird der Mann, welcher, sagen wir, sanguinischen Temperaments ist d. L wenig Ueber- legung, aber viel Unte r ne hm u ngs g eist besitzt. zu einem Entschlusse verleitet werden. Er kann eben ohne neue Unternehmungen nicht leben; um die F o lg e n seiner Hand- lungen pflegt er sich wenig den Kopf zu zerbrechen. In diesem Beispiele haben wir den schemenhaften Vor- gang aller Falle von Willenshandlungen vorgezeichnet. Worin bestehen nun die Stadien dieses Vorgangs? — In der Absicht, durch eine Handlung seine Gliickseligkeit zu fordern — dies ist der zum Handeln treibende Gedanke; — eine mehr oder weniger rasche oder langsame Erwagung eines Moti v s d. h. Anreizes zu einer bestimmten Handlung; die En t s c h lies sung oder auch Zogerung, je nach den neuen, das Motivstiitzenden oder untergrabenden Ausschlag- g r iind en ; die entweder von der E i n s i c h t der erwagenden Person oder vom N atu reli oder C h ara kt er eingegebene Entschliessung; endlich die von der Starke und Dauer des Entschlusses abhangende T h a t, welche von Gefuhlen der Befriedigung begleitet sein kann. Und so sind wir vor die wichtige und schwierige Frage der Willensfreiheit gelangt. \Venn wir namlich die Action der Erwagung und Entschliessung iiberblicken, so fragen wir uns ganz unwillkurlich: wie verhalt sich denn der Wille zu der ganzen Action? welche Rolle spielt die Reactions- iahigkeit der Seele gegentiber den Motiven und Momenten? unter welchen Modalitaten vollzieht sich namentlich der wichtigste Act, die Entschliessung ? hat der Wille bei diesen Erwagungen und Entschliessungen freie Hand oder wird er nur bestimmt? isternur ein Zuschauer oder Mitspieler ? spielt ■er dabei eine passive oder eine active Rolle? hat er eine Wahl oder ist er ganz der Nothwendigkeit iiberantwortet? kurz: ist er dabei frei oder unfrei? — Die Antwort aul ali e diese Fragen ist sch\vierig oder leicht, je nachdem man sich recht verstandigt hat, was in diesem Falle unter Frei- heit oder Unfrei h e it zu verstehen ist. — Bevor ich in die Beantwortung dieser Fragen eingehe, muss ich einige Vorbemerkungen machen und darauf eine Definition der sitt- lichen Freiheit geben. Zunachst will ich bemerken, dass ich an diese Frage mit keinen metaphysischen Betrachtungen hinantreten will. Ich ersehe aus Schopenhauers und Anderer metaphy- sischen Beweisgriinden, dass solche selbst fiir Philo- .sophen keine Actualitat besitzen; wie sollten dann solche 10 * 148 Neunter AbscbnitL i Griinde bei Laien verfangen ? Vielmehr will ich hier wie in manchen andern Stiicken meinen eigenen Weg gehen, wobei ich mich auf Erfahrungsthatsachen berufen will. Meine Beweisfiihrung soli daher eine empiristische sein. Doch vorerst muss die. Definition der ethischen Willensfreiheit auf- gestellt werden; denn von derselben hangt die Bevveis- fiihrung ab. — Von allen eben gestellten Fragen erscheint mir die nach der Wahlfreihe.it als die wichtigste und als diejenige, welche alle iibrigen in sich fasst d. i. die Frage: ob der Wille bei der Entschliessung eine Wahl habe z\vischen verschiedenen Motiven oder ob er ganz der Nothwendig- keit unterworfen sei, soundnicht anders zu handeln, als er handelt. — Wenn man diese Formulierung des Pro- blems der Willensfreiheit als richtig zugibt, dann ist die Definition der AVillensfreiheit foigende: unter Wil- lensfreiheit ist ein solcher Zustand der Seele zu verstehen, dur c h welchen es fur diese rnehr als eine einzige Art gibt. sich zu entschliessen und darnach zu handeln. Aus diesem Satze ergibt sich durch Contraposition der Urtheilsmaterie die Definition der Unfrei- heit des Willens, welche daher lautet: unter Unfrei- heit des Willens ist ein solcher Zustand der Seele zu verstehen, durch den es fiir dieselbe nur eine einzige Art gibt, sich zu entschliessen und zu handelmj Wenn ich diese, wie ich glaube, unzweideutigen Defi- nitionen auf das oben gegebene Beispiel der Erwagung und Entschliessung anwende, so lautet fur dieselbe die Frage: standen dem Kaufmanne zur Zeit, als er sich fiir die Er- richtung eines selbstandigen Geschaftes entschloss, mehrere Moglichkeiten sich zu entschliessen offen oder nur jene einzige, die er denn auch befolgte ? — Nachdem ich das Problem auf diese Weise, wie ich glaube, mit der erforderlichen Genauig- keit eingeengt und festgestellt habe, werde ich nunmehr an dessen Losung gehen, wobei ich das gevvahlte Beispiel im Auge behalten will. FVor Allem ist dara n festzuhalten, dass hier vom sitt- lichen Handeln die Rede ist. Was darunter gemeint ist. war im zweiten Abschnitte erklart worden ; ki les Handeln ge- schieht, wenigstens vom subjectiven Standpunkte aus be- trachtet, um der Gliickseligkeit willen. Ferner bemerke ich, dass diejenigen psychischen Vorstellungen, welche das Subject zum Handeln auffordern oder zu verlocken suchen, dem Willen entgegenstehen und diejenigen Objecte bilden, auf Die VVillensgejetze. 149 welohe der Wille reagiert. Sie heissen deshalb eben M o- t i v e u _ Die Grtinde dagegen, \velche das Gleichgewicht zvvischen den Motiven und dem Willen zu Gunsten einer Action anfheben, sind von Schopenhauer nicht in glucklicher Weise ebenfalls Motive genannt worden; sie sind Hilfen ent\veder der Motive oder des \Villens und werden daher besser mit dem Namen Moment e, franzosisch mobiles, oder auch Ausschlaggriinde bezeichnet, da sie wie bei dem Schvvanken der Wage die eine oder andere \Vagschale zum Sinken bringen. Um nun zum \Vesen der Willensfreiheit zu gelangen, wollen wir uns die verschiedenen Arten vergegemvartigen, wie sich der Kaufmann entschloss oder auch nicht zum Entschlusse kam. Ent\veder hat demselben die Ein.sicht gezeigt, das Unternehmen werde fiir ihn vortheilhaft sein und dessen Gliick begriinden. dann musste er den Entschluss fassen, das Geschaft zu errichten; oder es hat ihn ein schwer\viegendes Moment davon abgeschreckt, dann musste er um seiner Gliickseligkeit willen von seinern Gedanken ab- stehen ; oder es hat ihn sein Unverstand bethort, auch in einem precaren oder gar unreellen Geschafte sein Gliick zu sughen, dann musste er sich auch zum Geschafte ent- schliessen; oder endlich hielten sich die Griinde fiir und wider in seinem Geiste das Gleichgewicht, und er musste die Sache auf sich beruhen lassen und zmvarten. ‘Aus allen diesen Envagungen, \velche sammtlich auf Leibnitz’s Axiom vom „grossten Gute“ zuriickgehen, ergeben sich folgende Willensgesetze: erstens, derMensch muss sich entschliessen nur so zu handeln, wie es ihm fiir seineGliick- seligkeit momentan a m besten scheint; zweitens, er kan n in demselben Augen- blicke nur fiir Eine Handlung .sich ent- s c h e i d e n ; drittensj er k o m m t iiberhaupt z u k e i n e m Entschlusse. Kommt er also zu einem Entschlusse, so kann dies nur ein eindeutiger und in demselben Momente nur Ein Entschluss sein, was in der Natur der Sache liegt; in verschiedenen Momenten kann sich das S,ubject stets in verschiedener W e i s e entschliessen. Aus diesen Argumentationen ergibt sich der allgemeine Willenssatz : dem W i 11 e n steht bei jeder Entschliessung immer nur Eine Moglichkeit zu handeln offen, 150 Neunter Abschnitt. was soviel heisst als: der sittliche \Ville ist bei jeder Entschliessung unfre a „ ... Wenn man nach der Drsache der unfreien Entschlies- sung des AVillens forscht, so flndet man dieselbe in der subjectiven Unmoglichkeit, sich gegen seine bessere Ueber- zeugung znm Handeln zu entschliessen. Und diese Unmog¬ lichkeit wieder kommt von dem nie versagenden Triebe des Menschen nach der hochsten Gliickseligkeit. Gabe es diesen Trieb nichf, so gabe es a-uch keinen Zwang zur Ueberlegung und zu bestimmten Entschliessungen. In der subjectiven Nothwendigkeit, sich wahrend der Ueberlegung fur den momentan am besten scheinenden Gedanken zu ent- scheiden, zeigt sich der Gluckseligkeitstrieb in seiner mani¬ festen Gestalt. — Freilich, objectiv genommen. kann eine jede Entschliessung gegen das wirkliche und wahre Interesse der Person verstossen. Ja, es kommt sogar vor, dass mancher Mensch gerade infolge zuvieler Ueberlegung den gesunden Sinn fur die realen Verhaltnisse verliert und in irgendeiner Angelegenheit gerade zu demjenigen Schritte sich entschliesst, welcher fiir ihn verhangnissvoll wird. Was also subjectiv das Beste scheint, muss es nicht auch in Wirklichkeit sein. Die langste Erwagung und der leichtfertigste. voreiligste Ent- schluss konnen sich, \vas den wirklichen Effect anbelangt, oftmals die Hande reichen. Im Zwange der Entschliessung liegt der Grund, dass der Begriff AVillensfreiheit so schwankend er- scheint. Denn die causale Abhangigkeit der Entschliessung von den realen Umstanden und Verhaltnissen lasst nur den Gedanken an eine vollige Unfreiheit des AVillens auf- kommen, dagegen die Abhangigkeit desselben von der Ein- sicht und dessen Reaction gegen die Motive, namentlieh die Neigungen und Leidenschaften, zeigt den Willen im Lichte der Freiheit. In \Vahrheit aber ist der Wille fiir jeden Fali begrenzt oder, wie man sagt, determiniert. Somit schliesst der Begriff Determinismus scheinbar einander entgegengesetzte Merkmale in sich ein, die sich jedoch bei ge- nauerer Betrachtung, wie ich eben gezeigt habe, sehr wohl mit einander vertragen. Auf keinen Fali aber lassen sich bei genauer Analyse irgendeines AVillensactes Griinde fiir eine absolute Unabhangigkeit des AVillens, was man den I n d e t e r m i n i s m u s nennt, beibringen. Es gibt einen mehrfachen Determinismus. Deter¬ miniert erscheint der Wille, sobald wir dessen Abhangigkeit von dem causalen Zusammenhange aller Dinge des Seins in Betracht ziehen. Man nennt dies den metaphysischen Determinismus und Freiheit. 151 Determinismus. Ausserdem gibt es einen mora lis chen Determinismus, den durch den Gliickseligkeitstrieb stattfindenden, demzufolge der Mensch sich stets nach seinern momentan ihm am besten scheinenden Wohle entscheiden muss. Die Ethiker sprechen noch von einem dritten Determinismus, dem psychologischen, dessen Sitz sie in den Charakter des Subjeetes verlegen. Diesem letzteren gemass miisste der- selbe Mensch stets in derselben Weise handeln. Ich glaube, im Obigen triftige Griinde vorgebracht zu haben, warum ich den psychologischen Determinismus als solchen nicht an- erkenne, da der Charakter und die Handlungsweise etwas keineswegs so feststehendes ist, als \vofur man es ausgibt, und weil auf die AVillensacte nicht bloss der Charakter, son- dern auch die ebenso \vandelbare Einsicht bestimmend ein- wirkt. Paulsen geht in seiner Behauptung noch weiter, indem er dem menschlichen Willen im Gebiete der Natur eine be- sondere ,.Enclave“ zuschreibt, in der sich derselbe freier bewege, ‘) welche Ansicht Manches fiir sich hat. Dem als gut Erkannten steht der sittlich denkende Mensch allerdings vollig determiniert gegeniiber. Zwischen Recht und Unrecht gibt es fiir einen rechtschaffenen Menschen keine Wahl, ja nicht einmal ein Schwanken. Der echte Patriot kann nicht halb ein Vaterlandsfreund, halb ein 'Vaterlandsverrather sein. Der Gerechte kann nicht halb Ehrenmann und halb Schurke sein. Kant driickt sich liber diese moralische Unfreiheit aus: „Der reine Vemunftwille wahlt nicht. sondern gehorcht einem unnachlasslichen Yernunftgebote.“ Kant sieht also die Pflicht- erfiillung fiir ein „Vemunftbediirfnis“ an. i) 2 ) Das ist nun scheinbar allerdings ein „Zwang des Willens“ und eine „Nothwendigkeit“, 3 ) allein da der Zwang in Uebereinstimmung mit der eigenen Einsicht geschieht, so ist er in eigentlichem Sinne eine Selbstbestimmung der Person, somit deren Freiheit. Dies ist jene echte moralische Freiheit, durch welche alle Thatigkeit des Menschen sittlich und verdienstlich wird, namlich Unabhangigkeit der Person von ihren eigenen Begierden und Leidenschaften sowie von den Lockungen der Aussenwelt, jene empirisch empfundene Selbstandigkeit der Person oder des Ich, welche kein Philosoph in schoneren Ausdriicken und starkeren Accenten betont, aber trotzdem keiner in ungliicklicherer Weise nachzuweisen gesucht hat als eben Kant. 4 ) Denn er leugnet i) Paulsen: Ethik 2 386. — 2 ) Kant: Kr. d. p. V. 172 und 173 Anm. — 3 ) Kant: Ueb. d. Oplimism Hartenstein. S. W. 1867. Bd. 2. S. 42. — 4 j Kant: Kr. d. p. V. 143. 153. 193. u. sonst. 15' Neunter Abschnitt. die empirische Evidenz dieser Freiheit, welche er doch so beredt schildert, indem er sie dort sucht, wo dieselbe nicht zu flnden ist, namlich in einer metaphysischen, von ihm fur „intelligibel“ ausgegebenen, aus dem Causalnexus der realen Welt gerissenen, transcendentalen Nebelregion. Kant vergass in seiner Scheu vor der „Heteronomie“ des Willens, dass die sittliche sowie alle menschliche Freiheit im Anschlusse, nicht in der Ausserachtlassung der Naturgesetze moglich sei. und traumte von einer „moralischen“ Losgebundenheit des Menschen, die aller ausseren Gesetzgebung spotten konne. ‘) Allein eine Ethik, die sich tiber die Natur hinwegzu- schwingen wahnt, schwebt in lllusionen und verzichtet auf alle praktische. ja auf alle wissenschaftliche Geltung. Denn alles Wissen geht auf die Natur der Dinge zuruck, oder es muss als solches abdicieren. So lehrt es die Geschichte aller AVissenschaften. Es gibt also genau genommen einen dreifachen Determinis- mus: einen mechanischen oder das allgemein herrschende [ Causalgesetz, einen e t h i s c h e n und einen p s y c hi¬ še h e n. Der erste bezeichnet die Abhangigkeit des Willens von der Aussennatur, der zweite von der Idee der Gluckseligkeit, der dritte von dem Verlaufe der eigenen psychischen Ereignisse. Nun wtirde nichts natiirlicher und logischer erscheinen. als den menschlichen Willen fur vbllig ohnmachtig und unfrei zu erldaren, da derselbe in einer j eden seiner Entschliessungen gebunden ist. Allein die Logik der Thatsachen ist auch in diesem Punkte starker als aller Doctrinarismus. Sehen wir einmal genauer zu! Da haben \vir zunachst das unerbittliche Causal¬ gesetz vor uns, dem unzweifelhaft die ganze Welt und alle Dinge in ihr unterworfen sind. Auch scheint die Natur einen Endzweck zu verfolgen, der den Leitstern ihrer Thatig- keit bildet. und dem gemass sie alle Dinge leitet und lenkt. Man darf zugeben, dass eine durchgangige Causalitat und nebstdem eine ihr angemessene Zweckmassigkeit das ganze Weltall durchzieht und alle Dinge beherrscht. Da ist un- zweifelhaft einem j eden sein Platz und seine Bestimmung angewiesen. Das Alles muss zugegeben werden; trotzdem darf behauptet werden, dass ein und derselbe Zweck sich innerhalb derselben Sphare bfters in ver- schiedener \Veise ver\virklichen lasst, und das bedeutet schon unzweifelhaft eine gewisse Freiheit. Jeder Mensch z. B. will ') vgl. Kant’s Ausfiihrungen in der Kr. d. p. V. 114.117; — und dazu Paul Ree: Die Illusion der VVillensfreiheit. § Delerminismus und Freiheit. 151 gliickselig sein — so fordert es ein Gebot der Natur, die durch den Trieb und Verstand zu uns spricht —, und in der That sucht jeder die Gliickseligkeit nach seiner individuellen Be- schaffenheit zu erlangen. Zu demselben Zwecke fiihren also oft verschiedene Wege, und diese einzuschlagen verstosst gegen kein Causalgesetz. Die Individualitat und Variation sind sogut Naturgesetze als die Causalitat selbst. Die Aussenwelt iibt auf den Menschen verschiedene Reize aus, welche fiir ihn Antriebe zu Handlungen werden. Muss aber der Mensch diesen Reizen ohneweiters erliegen? Wer an einem Juwelierladen vorubergeht und sich die aus- gestellten Gegenstande ansieht, muss der nothwendiger- weise einen derselben oder alle zusammen auch nur begehren? Die Erfahrung lehrt, dass der Verniinftige sich gar Vieles ansieht, ohne auch nur den leisesten Wunsch zu ver- spiiren, von dem Gesehenen etwas zu besitzen. Freilich gibt es Thoren, die sich gleich alles wiinschen, was sie erschauen. Doch mit der Zeit und bei zunehmender Vernunft kommt so Mancher von seinen kindischen Begierden ab. Wer in eine Restauration geht, um seine leiblichen Bediirfnisse zu stillen, muss der allen Lockungen des Menus unterliegen? Wird er nicht — vorausgesetzt. dass seine Mittel ihm auch die luxurioseste Mahlzeit erlauben — eine seiner Gesundheit zu- tragliche, nicht aber eine seinen Gaumen befriedigende Kost ausvvahlen? Der Beamte, welcher zur bestimmten Stunde in sein Amt geht, muss derselbe nothgedrungen zu einem Spazier- gange ins Freie umschwenken, weil das Wetter zu derselben Zeit verlockend ist? \Venn der Mensch vvirklich den ausseren Reizen so vollig unter\vorfen ist, wie man behauptet, so ist ihm keine, ernste Aufmerksamkeit erheischende Arbeit moglich. Ist dies jedoch wirklich der Fali? Ein Eisenbahnbetrieb z. B., der einen bis ins Kleinste geregelten Dienst erfordert, in welchem alle Sinne und alle Gedanken der Bediensteten auf die Einhaltung des Fahrplanes und aller peinlich genauen Vorsehriften gerichtet sein miissen, wiirde bei der unbe- schrankten Herrschaft dpr Aussenwelt liber den Geist ganzlich unmoglich sein. Ebenso wiirde, sobald alle Emancipation des Geistes von den Eindriicken der Aussemvelt aufgehoben ware. kein Commando im Kriege, keine Schiffahrt, keine wissenschaftliche Beobachtung, kein schwierigeres natur- wissenschaftliches Experiment, kurz keine planmiissige Arbeit moglich sein. Denn bei jeder ernsten Arbeit ist grosst- mogliche Freiheit von den storenden Eindriicken der Aussen- vvelt eine Hauptbedingung des Gelingens. Und dass es manchem Menschen in der That moglich ist, der Natur ruhigen Auges 154 Neunter Abschnitt. ins Antlitz zu. schauen, ohne von Furcht nnd Verwirrung ergriffen zu werden, das \vird man nicht leugnen konnen. Es gibt somit immer noch einen gewissen Grad von Freiheit gegeniiber den Anreizen der Natur. \Vir gehoren zwar der Natur als deren Kinder an und stehen in ihrer miitterlichen Gewalt, allein wir besitzen ihr gegeniiber auch unsere gewissen Rechte. Um den menschlichen Willen zu eliminieren. hat man ihn zu einer „Wirkung“ d. h. zu einem Producte der Causalitat gemacht. Um dies zu beweisen, hat man zu allen Arten hypothe- tischer Schlussfolgerungen gegriffen. Die Beweisfiihrungen dieser Art strotzen von Annahmen. An einem directen empi- ristischen Nachweise, sagen wir an dem Aufzeigen der ganzen Kette von Ursachen auch nur Eines Willensactes, hat die Doctrin des absoluten Determinismus verzweifelt. *) Der Causalitatsbeweis lasst sich seiner Natur nach wirklich nur auf metaphysischem \Vege fiihren. Doch muss ich gestehen. dass hierin viel Absonderliches geleistet wird. Da finden wir unter den Beweismitteln tiir die stricte Abhangigkeit des \Villens das anerkannt diimmste und eigensinnigste Thier. den Esel. venvendet, der z\vischen zwei rechts und links gleich weit von ihm entfernten, K gleich duftenden 11 und erreichbaren Heubiindeln verhungern muss, \vofern ihm nicht auf dem Wege der Causalitat ein ,,Motiv" zukommt, um von dem einen Biindel zu fressen. Eine wahr- haft ergotzliche Idee, dieser zwischen zwei Heubiindeln ver- hungernde Esel! Zum Gliick ist es bloss Buridan’s diimmerer Gesell; der \virkliche Esel wiirde ganz gewiss ohne alle de- terministische Scrupel nicht bloss das eine, sondern auch das andere Biindel auffressen. Um den \Villen zu discreditieren, wird derselbe mit einer „U r t h e i 1 s g e \v o h n h e i t“ umschrieben, als ob alle unsere Urtheile nur Wiederholungen waren. Merkt man denn die petitio principii nicht, die in einer solchen Erklarung liegt? \Vie war denn dann das erste Urtheil zustande ge- kommen ? Wie kommen iiberhaupt alle originaren Urtheile zustande, und wozu dient dem Willen die ganze Er- wagung, wenn er nicht zu urtheilen fahig ist? — Oder liegt in der unleugbaren Action der Ueberlegung nicht schon der evidenteste Be\veis fiir die relative \Villensfreiheit, \velche z\vischen den Vorstellungen zu wahlen vermag? — Man wird zugeben, dass den dressierten Hund, welcher ein vorgehaltenes Stiick Fleisch nicht ohne Erlaubnis nimmt. ') vgl. Paul Ree: Die Ulusion der Willensfr. S. 2P. Wahlfreiheit, ethischer Delerminismus. 155 - hiebei die ihm beigebrachte Gewohnheit leitet, allein ich wundere mich, wenn man dem Menschen keine bessere W a h 1 f r e i- heit zumuthet. Und konnen wir unsere „Antipathien“ und ,,Sympathien“, zu denen wir ja innerlich angeregt werden, gegeniiber den Mitmenschen wirklich nicht unterdriicken und uns von der Gerechtigkeit leiten lassen? — \Ver an soviel Kraft des Willens verzweifelt, muss allerdings alle Moglichkeit einer Ethik leugnen. Allein zum Gliick hat eine solche Verzvveiflung ihren Grund nicht in ethischen Thatsachen, sondern in der zaghaften Interpretierung derselben. Was wider die Wahlfreiheit vorgebracht wird, (das „Handaufheben auf Geheiss 11 , die „Unm6glichkeit, vom Hause sich weiter zu entfernen als gewohnlich“ u. dgl. m. — vgl. Schopenhauer u. A. —), setzt eine ubergrosse Macht der Gewohnheit voraus und entspringt iiberhaupt einer de- sparaten Anschauung von der Kraft des menschlichen Geistes. Man stellt die durchschnittlich geringe ethische Bethatigung des Menschen als Grenze aller sittlichen Fahigkeiten des Willens auf und glaubt, auf diese Weise vor alle moglichen Willens- bethatigungen eine Schranke gezogen zu haben. Dabei aber iibersieht man Eines, namlich die ungeheuere Reflexfahig- k e i t des \Villens. welche bei grossen Geistern in geradem Verhaltnisse zu dem ihnen entgegenstehenden Widerstande \vachst. Es gibt z\var fiir den Geist keine ab solu te, aber sehr viele und hohe Grade relativer Freiheit, aller¬ dings immer innerhalb des von der Natur ihm angewiesenen Rahmens. Daher irren sowohl diejenigen, welche dem Willen alle Freiheit absprechen, als diejenigen, welche ihm eine ab- solute, von der Causalitat vermeintlich losgeloste Freiheit zuschreiben. Es handelt sich eben um eine mindere oder grossere Emancipation von der Naturge\valt; ganzlich konnen wir uns von derselben niemals loslosen. Allein nicht minder als der mechanische oder „meta- physische“ gilt der ethische Determinismus fiir ein festes Willensgesetz. Nur besitzt derselbe fiir die jedesmalige momentane Entschliessung seine Berechtigung : er fallt stets im Sinne des hochsten vermeintlichen Gutes aus. Daraus folgt jedoch nichts \veiter als dass sich das Subject stets nur fiir seine Gliickseligkeit entscheiden muss ; keines- wegs jedoch folgt daraus, dass dies stets in der gleichen Weise und stets in Betreff desselben Gegenstandes geschehen miisse. Daraus, dass sich das Subject heute so entschieden hat, folgt noch keineswegs, dass sich dasselbe auch morgen oder jedesmal ebenso entscheiden werde oder miisse. Zwischen dem heutigen und morgigen Entschlusse besteht nicht jener 156 Neunter Abschnitt. nothwendige Zusammenhang, den die Verfechter der \Villens- causalitat als Gesetz aufstellen wollen. Die Erfahrung lehrt, dass derselbe Mensch innerhalb eines Tages seine Ent- schliisse uber denselben Gegenstand hundertmal fassen kann. AVelche einander widersprechenden Beschlusse ist ein be- rathender Korper, sagen wir ein Kriegsrath, innerhalb vier- undzwanzig Stunden zn fassen imstande! — Oder muss ein sonst vernunftiger Mensch, der einmal einen dummen Streich gemacht und bereut hat, denselben das nachstemal wieder machen? Ein Staatsmann, der einmal einen grossen Fehler begangen und eingesehen hat, wird denselben, wenn er klug ist, ein zweitesmal zu vermeiden suchen. Und sicher- lich lernen wir aus den eigenen Fehlern nicht minder als aus den Fehlern Anderer. — Fnssend auf dem Causalgesetze wendet man ein und sagt: wenn die gleichen Umstande und Verhaltnisse ein- treten, muss das Subject stets wieder so handeln als das erstemal. — Das ware vollkommen richtig, wenn auch der AVille des Menschen stets derselbe bliebe. Allein gerade die gemachte Erfahrung verandert denselben und dieselben Umstande finden nicht mehr denselben Willen vor. Das Cau- salitatsgesetz wirkt zwar immer in gleicher Weise fort, doch kann die nachste Entschliessung des AVillens trotzdem anders oder gerade in entgegengesetztem Sinne ausfallen. Das Ver- halten der Menschen ist in dieser Beziehung ein verschiedenes : die einen werden durch ihre Fehler gewitzigt, die anderen verfallen in die alten Irrthumer. Wenn letzteres allgemein der Fali ware, so wiirde ein sittlicher Fortschritt weder im einzelnen noch im allgemeinen moglich sein. Die Erfahrung dagegen lehrt, dass ein Fortschritt moglich ist und sich an vielen unz\veideutigen Symptomen nachweisen lasst. — Aus der sittlichen Einsicht folgt also eine Veranderung des \Villens und so kommen wir auf den bereits mehrmals erwahnten Zusammenhang zwischen der Einsicht und dem W i 11 e n zuruck. |Es ist ein Erfahrungsatz, dass der sittliche \Ville von der Einsicht abhangig ist, nach dem Spruche: Wie die Einsicht, so der Wille. Dies ist keine zufallige, sondern eine nothwendige, causale Abhangigkeit, an \velcher die ethische Theorie seit jeher festgehalten hat. j \Venn man gegen diese Ansicht den Einwand erhebt, dass der Wille oftmals wider diese Regel verstosse, dass er oftmals wider die Ein¬ sicht sich verschliesse und der Mensch blindlings wolle, so iibersieht man das Eine, dass die Einsicht manchmal nur eine scheinbare ist und von einem nur wenig ausge- Willensfreiheit. 157 bildeten Verstande ausgeht. fum sittlich, also zweckmassig und erfolgreich handeln zu konnen, wird vom Subjecte eine tiefgehende, umfassende, alle Falle und Umstande berech- nende S a c h- und \Veltkenntnis verlangkj' Eine solche Kenntnis ist jedoch sehr selten vorhanden. Der Umkreis des praktischen Handelns ist ein ungeheurer, der Verstand jedoch bleibt hinter den Anforderungen an denselben seitens der Praxis in der Regel um weite Strecken zuriick. Daher be- steht zwischen der Praxis und dem Verstande fast stets ein grosser Abstand, welcher dann den AVillen oft so schwach, so unklar, so unzureichsnd und so veranderlich erscheinen lasst. Zum Beweise dessen. dass der AVille sich zum grossten Theile nach der Einsicht richtet, lassen sich gewisse T u- g e n d e n anfiiliren, welche hauptsachlich durch Einsicht zustande kommen. Zu diesen gehbren: die Erfullung der schwersten Berufs- nnd Standespflichten, denen oft Herz und Gemiith widerstreben, die Selbstbeherrschung, die Gerechtig- keit, besonders wenn sie unter erschwerenden Umstanden geubt werden muss. die Toleranz. der Gehorsam, die Geduld. die Dankbarkeit, die Nachsicht, die Massigung u. m. aj Allein der \Ville ist nicht von der Einsicht allem ab- hiingig; er hangt auch von einem zweiten, nicht minder wichtigen Factor, dem Gharakter ab. Dieser -vvirkt an- erkanntermassen auf den AVillen nicht schwacher ein als die Einsicht. Zur Begrimdung des Gesagten kann man eben- falls auf gewisse Tugenden hinweisen, die zum grossten Theile aus dem Charakter stammen u. zw. auf die Thatkraft, den Muth, die Arbeitsamkeit. die Schamhaftigkeit, die Bescheidenheit. die Mitfreude, die Friedfertigkeit u. m. a., die ganz im Tem¬ peramente oder dem Naturell ihren Ursprung haben. Nun sind aber bekanntlich die beiden genannten Ele¬ mente des AVillens vielen Veranderungen unterworfen, somit der AVi 11 e selbst veranderlich. Die Einsicht wird hauptsachlich durch Erziehung und Selbsterziehung, der Cha¬ rakter durch die Umstande fortgebildet, wie bereits oben gezeigt vvorden ist. /Blb Selbstbildung und Selbsterziehung -f geschieht aber hauptsachlich durch Apperception der Ge- danken ; folglich kann die AVillensentschliessung durch das Subject selbst vorbereitet und prajudiciert werden. Auf diese Art nimmt das Subject zwar nicht. unmittelbar d. i. im Momente der Entschliessung, wohl aber vor demselben auf seine AVillensentschliessungen Einfluss. Somit gibt es eine Art i n dTr ecter AVillensfreiheit. Der AVille ist zwar auch dann nicht von dem Zwange der Gliickseligkeits- 158 Neunter Abschnitt. vorstellung entbundenj aber die Entschliessung wird durch die vorangegangene SchuTung und Uebung des Geistes angebahnt. Der Charakter mit seinen Neigungen und Affecten hat nicht mehr freies Spiel, und die ethischen Grundsatze, Anschau- ungen und Ueberzeugungen gewinnen an Kraft; in demselben Masse nimmt die subjective AVillensbestimmung zu. Man darf somit bei der Erorterung der Willensfreiheit nicht das Eine vergessen, dass die Entschliisse nicht etwa bloss vom Medium, sondern auch von der R e f 1 e x i o n der iibrigen im Geiste vorhandenen Vorstellungen bedingt sind. dass sie also im Seelenapparate nicht irei, sondern auch unter dem Einflusse der Reflexion d. i. des Actes der Ueber- legung und des Bewusstseins zustande kommen. Dabei tritt die Individualitat des Menschen mit der Causalitat in Concurrenz : die einen Individuen entschliessen sich nach ausseren Motiven, die andern nach ihren Neigungen und Trieben, die dritten wieder nach der Ein- gebung ihrer Grundsatze und Ueberzeugungen. Die Reflexion. welche im Willen liegt, ist eine Kraft, man kann sie mit der dynamischen Widerstands- oder Gegenkraft vergleichen. Sie kann zunehmen und wachsen, und in demselben Masse muss die ihr entgegenwirkende Kraft an Effect verlieren. Der Mensch ist demnach keine le b lose Maschine, und ist auch von Descartes und Leibnitz, die den Seelen- apparat gem unter diesem Bilde betrachten. niemals fiir eine solche angesehen worden, da ihr beide Ethiker einen vernunftigen, machtigen Regulator an die Seite stellen. Indem vvir bei dem hetitigen Stande der Psychologie diesen Regu¬ lator der Seele nicht von aussen beistellen, sondern in der ■organischen Reflexionskraft suchen, schreiben wir dem Organismus eine spontane Kraft, eine e i g e n e 'Thatigkeit zu. Ich sehe daher keinen Grand, der \vider die Mit- thatigkeit oder, wie ich mich einmal ausgedruckt habe, wider die Cooperation des Subjectes im Willensentschlusse sprache. Freilich liebt man es formlich, den Menschen, der sich doch die Krafte der Natur dienstbar gemacht hat, zu einer Marionette derselben Natur zu erniedrigen, indem man ihm jede Selbstthatigkeit, jede Initiative abspricht und dessen Willensentschlusse lediglich als „Wirkungen“ ausserer Krafte, des Causalitatsgesetzes hinstellt. Ueberhaupt lagert tiber dem Begriffe des menschlichen Willens in der heutigen Ethik noch sehr viel Dunkel. da man die Motive und deren Reflexe nicht scharf von einander trennt und den Willen mit Willensfreiheit. 169 dem Charakter and den Reizen der Aussenwelt vermischt, was die Verwirrung nur steigert. Ich bringe hier meine bereits im zweiten Abschnitte gemachte Bemerkung in Erinnerung, nach welcher der Wille nicht bloss von den Gesetzen der Aussennatur und dem Verlaufe des eigenen psychischen Lebens, sondern auch von den Gesetzen der eigenen Vernunft determiniert ist. Warum dieser letzte, wichtigste Factor iibersehen wird, leuchtet mir nicht ein. Vielleicht tibersieht man ihn absichtlich, um einen derar- tigen Determinismus des Willens herauszubringen, gegen welchen sich der menschliche Geist von jeher gestraubt hat und sich fortivahrend straubt, und dies mit vollem Rechte. Denn gerade auf der Kraft des Geistes beruht der beste Theil des sittlichen Strebens. Vergeblich werden alle Versuche bleiben, den Geist ganzlich unter die Herrschaft lediglich mechanischer Gesetze zu beugen. Mit der wahren Geltung der ethischen Causalitat er- ledigt sich zugleich der psychische Determinismus, welcher mit ihr identisch ist. Die Macht des menschlichen Geistes manifestiert sich besonders in der Fahigkeit, gewisse Ge- danken und Vorstellungen festzuhalten, wie oben gezeigt worden ist. Ebenso ist es moglich, durch die Hemmung unter den gegebenen Gedankenreihen die eine oder andere zu wahlen. Die Vorstellungen iinden sich allerdings von selbst und frei im Geiste ein, allein die Wahl unter den- selben, die Ablehnung oder Annahme der einen oder andern steht bei uns, wenn wir den Verstand gebrauchen gelernt haben. Also auch hierin besitzt der Mensch eine allerdings auf einen geringen Umkreis beschrankte Freiheit, die von der „intelligiblen“ Kanfschen freilich noch sehr weit entfernt ist. — Fassen wir das Resultat unserer Betrachtungen zu- sammen. Der Mensch besitzt in der Kraft der Reflexions^ thatigkeit einen gewissen, beschrankten Grad von Freiheit iiber seine korperlichen und geistigen Bewegungen. Er ist nicht ohne alle Macht der Selbstbestimmung, da er selbst ein Factor in der Kette des Causalitatsgesetzes ist. Er wiirde kein ver- niinftiges Wesen sein, wenn ihm alle Einwirkung auf sein Thun und Lassen und auf die Forderung seiner Gliickseligkeit benommen ware. Der Mensch ist, wie die Erfahrung lehrt. weder ein Sclave seiner Begierden noch ein blindes Spielzeug ausserer Eindrucke. Und dieser geringe Grad der Selbstbe¬ stimmung, die ihm von Natur zukommt, erhebt ihn hoch iiber die ubrigen irdischen Geschopfe. Dadurch hat sich der Mensch seine grosseHerrschaft iiber die Natur, aber noch eine grossere Herrschaft, jene iiber sich selbst erworben. j Zehnter Absehnitt. Zurechnung und Verantwortung. Mit der AVillensfreiheit hangt aufs innigste die Z u- r e c h n u n g oder I ra p u t a b i 1 i t a t und V e r a n t \v o r- tung oder Vorantwortlichkeit zusammen. Ist die Handlung eines Menschen das Werk der Person oder doch durch deren spontane Mitwirkung entstanden, so nimmt man dieselbe fur einen \ViIlensact der Person an und macht diese fiir die Handlung verantwortlich. Ist dagegen der Wille des Menschen lediglich eine „\Virkung“ anderer, sagen \vir ausserer Factoren. dann ist die Person im Grunde nur deren Zeuge und kann nicht zur Rechenschaft gezogen \verden. „Nothwendigkeit und Zurechnung schliessen einander aus“, bemerkt Kant. 1 ) So steht die Frage liber die Zurechen- barkeit der Handlungen. Bevor ich in die Erorterung dieses Gegenstandes eingehe, mochte ich clie Zurechnung und Verantwortung zu definieren versuchen. /Pnter Zurechnung verstehe' ich die Fahigkeit des Subjectes, sittlich zu handeln, unter Yerantwortung die Verpflichtung und Pflicht der Person. die Folgen ihrer Handlungen auf sich zu nehmen und zu tragenj Nach den im vorangehenden Abschnitte^ent^vickelten Principien besitzt der Mensch zwar keinen absolut freien Willen, aber er kann sichseines Wollens bewusst sein und nimmt auch indirecten Einfluss auf seine Hand¬ lungen. Selbst nach dem Causalitatsgesetze ist das Subject infolge seiner realen Existenz Mitursache seines Schicksals, sowie es die Ursache des Gliicks und Ungliicks Anderer sein kann. Da die Thatigkeit jedes Dings aus ') Kant: Kr. d. p. V. 120. Griinde fiir Zurechnung. 161 dessen eigener Natur, die sich vorzugsweise im Denken und Urtheilen kundgibt, entspringt (Spinoza’s Ansicht), so ist auch ein jedes Ding fiir sein Verhalten verantwortlich. Somit sind die Zurechnung und Verantwortung selbst bei Fest- halten am absoluten Determinismus zu rechtfertigen. Ich halte diesen Grund fiir einen solchen, der unmittelbar aus dem Wesen der Causalitat fliesst, und erinnere daran, dass bereits im Eingange dieser Schrift bemerkt worden ist, dass alle Dinge der Natur in einem gewissen causativen Zusammen- hange zu einander stehen, dem zufolge sie fordernd oder hemmend auf einander einwirken. Allein fiir die Zurechnung sprechen noch andere Griinde. , Zunachst asthetisch-sittliche. Alles Unsittliche ist j an sich so scheusslich und verabscheuungswtirdig, dass 1 seine blosse Erscheinung zu Tadel und Wegraumung auf- fordert. 1 ) Ebenso ist das sittlich Gute an sich lobens- \vert und fordert zu seiner Belobung und Belohnung auf. In diesen Gefiihlen ist ein genuiner und unmittelbarer Aus- druck der objectiven Sittlichkeit zu suchen. Es ist die Macht des Sittlichen selbst, das sich in derlei Anregungen ankiindigt. Kein Wunder daher, wenn unser sittliches Urtheil die Wir- kungen von der Qualitat auf den Trager der Qualitat iibertragt und diesen ebenso belobt und belohnt oder hasst und ver- achtet wie es die Erscheinungen des Unsittlichen hasst. Wenn nun P. Ree, um derartige ethische Urtheile zu erklaren, sie auf „anerzogene Antipathien und S y m- pathien“ zuriickfiihrt und ihnen jede objective Berechti- gung abspricht, 2 ) so macht er sich einer petitio principii schuldig, da er uns nicht beweist, dass solche Antipathien und Sympathien principiell unbegriindet seien. Man will doch wissen, wie dieselben iiberhaupt entstehen und durch Anerziehung sich vererben konnten. Auch „Urtheilsgewohn- heiten“ sind auf ihre Berechtigung oder Nichtberechtigung zu priifen. Ich glaube nun, dass - selbst bei vollem Glauben an ein unerschiitterliches Verhaltnis der „Nothwendigkeit“ und des „Willens“ als deren „Wirkung“ die Zurechnung einer „Schuld“ Berechtigung hat. Wir mogen von diesem causalen Ver- haltnisse etwas wissen oder nichts, daran glauben oder nicht. das Schlechte bleibt in unseren Augen scheusslich, und \ver es verbricht, ist zu bestrafen, allerdings unter gewissen Be- dingungen, die erst naher zu bezeichnen sind. ’) vgl. P. Ree: Die Illusion. S. 31. P. Ree: ebend. 30. 11 162 Zehnter Abschnitt. Bei der Annahme eines relativen Determinismus sind zweierlei Falle zu unterscheiden : erstlich solche, in denen auf Zurechnung zn erkennen, dann solche. in denen Unzu- rechnungsfahigkeit anzunehmen ist. Fiir die Zurechnung spricht in erster Linie der Nachweis sittlicherErkenntnis. DerjenigeMensch, dessen Intellect soweit entwickelt ist, um das Gute von dem Bosen zu unter¬ scheiden, muss fiir zurechnungsfahig angesehen werden. Wo- fern der Thater die logische Denkfahigkeit, also die An- wendung der Principien der Identitat, Disparitat und des Widerspruchs besitzt, kann er fiir ethisch zurechnungsfahig erklart werden. Auch muss er psychisch soweit gesund sein, dass ihm die Fahigkeit des Gedachtnisses und der Er- innerung nachgewiesen werden kann. In sittlicher Beziehung endlich muss er die Fahigkeit besitzen. zu iiberlegen und zu wahlen. Dann kann man bei ihm von einem psychisch- normalen Zustande reden. Um fiir zurechnungsfahig erklart zu werden. muss das Subject' einen sogenannten reifen Verstand, G e- m ii t h und ethisches Bewusstsein oder G e w i s s en, und zwar dies alles wenigstens in einem constatierbaren Masse besitzen, ausserdem von Defecten, welche die geistigen Functionen storen, frei sein. Allein auch die Unzurechnungsfahigkeit muss in unzweifelhafter Weise statuierbar sein, was umso schwie- riger erscheint, als die Thater ihre „lichten“ und „dunklen“ Augenblicke haben. Im allgemeinen darf man den Grund- satz aufstellen : Unzurechnung ist durch alle Ar ten ausserer und innerer Storungen des physischen und geistigen Lebens begriindet. Man kann sich dariiber noch kiirzer ausdriicken, indem man alle Anomalien der geistigen Functionen fiir Grande der Nichtanrechenbarkeit erklart. Da jedoch alle all¬ gemeinen Erklarungen der moralischen Phanomene entvveder zu weit oder zu eng ausfallen, so' ist eine detaillierte Auf- zahlung der Bedingungen, welche die Praxis ergeben hat. vorzuziehen, wenn auch die Aufzahlungen niemals dem wahren Umfange der Wirkungen eines Gesetzes entsprechen. Jedenfalls schliessen sie dafiir viele Zweifel aus. Die Griinde, auf denen die moralische Nichtzurechnung beruht, sind physischer, psychischer, moralischer und zufalliger Art. Zu den physischen Grunden zahlen vor allem alle Erkrankungen des G e h i r n s und des Ner- vensystems, sofern durch dieselben der Gebrauch jener Organe, namentlich des Gedachtnisses, der Empfin- Griinde fiir Unzurechnung. 163 d u n g und V orstellung gestort wird. Hieher miissen auch die Erkrankungen des H e r z e n s, der L e b e r und der V e r d a u u n g s o r g a n e, iiberhaupt der i n n e r e n G e f a s s e gezahlt werden ; denn diese sind nicht minder wichtige Factoren und Hemmer der psychischen Thatigkeit als die Nervencentren und Organe. Zu den p s y c hi¬ še h e n Griinden der Nichtzurechnung gehoren : U n- miindigkeit wegen zu friihen Alters, Idiotismus, Manien, alle ubermassigen Affecte, alle Arten von Irrsinn, auch alle momentanen Storungen der normalen psychischen Processe. — Zu den moralischen gehoren: ein volliger Mangel sittlichen Gefiihls, eine verwahr- loste Erziehung; —zu den aus dem Milieu hervorgehen- den Griinden: eine tiefstehende Stufe der allgemeinen Ci- vilisation der Gesellschaft, eine allgemeine Demo- ralisation, fortgesetzte Mišsregiefungen, ausserer Zwang, Verfiihrung. Bernardino Alimena 1 ) fiihrt folgende Arten von Nicht- anrechenbar keit an die er in vier Stufen eintheilt: Ent- s c h u 1 d i g u n g ohne Freisprechung, E nt sch ul digung mit Freisprechung, Milderung der Strafe und Rechtfertigung.. Griinde der partiellen und totalen Nichtanrechenbarkeit unter- scheidet Alimena folgende: S eelenkrankheiten. u. zw. grosse N ervose, Stummheit, S omnambulismus, Hypnose, Rausch, Irrsinn, Mangel anpsychi- scher C o act io n sf ah ig k e i t — coaction psychologique, Irrthum, Unw isse nhei t (Ignoranz), Rache fiir an- gethanes Unrecht, Nothwehr. gerechten Zorn, g e r e c h t f er t i g t e n Schmerz. legalen Gehorsam gegen die weltlichen und geistlichen Behorden, ausseren Z w a n g zur Ungesetzlichkeit. Dabei hat Alimena weder den Determinismus noch die Willensfreiheit, sondern einzig den an der Gesellschaft veriibten S c h a d e n im Auge, und macht daher in der Be- urtheilung der menschlichen Handlungen keinen Unter- schied zwischen den aus dem W i 11 e n und den aus dem Zwange der Verhaltnisse hervorgehenden Thaten, wie er auch den Zweck der Strafe in der Verhiitung und Abschreckung erblickt. Darum macht er auch die Zu- rechnung und Grosse der Strafe v.on der Grosse der Schadigung der Gesellschaft, von der Schlechtigkeit des De- linquenten — also doch auch von moralischen Qualitaten — ‘) B. Alimena: I limiti e i modificatori deli’ Imputabilita. 1894. 11 * 164 Zehnter Abschnitt. und von der verminderten Moglichkeit der privaten Abwehr des Verbrechens abhangig. Cesare Lombroso nimmt den menschlichen Willen, daher auch die Functionen des Hirns als determiniert an und spricht dem Subjecte jede Selbstthatigkeit ab. da dessen Organismus iiberdies durch tausendjahrige Here- ditat moralisch belastet sei. Deshalb verwirft er auch jede Riicksicht der menschlichen Justiz auf eine \Villensfreiheit, da es keine solche gebe, fasst den Menschen obendrein nicht als sociales, sondern als individuelles Wesen auf und will in der Zurechnung nur biologische und p s y oho¬ lo g i s c h e, aber keine socialen Einfliisse gelten lassen. Demgemass gibt er keine Zurechnungsfahigkeit des Thaters zu und sieht die Strafe auch nicht als Besserungs-, sondern bloss als Mittel zur Unschadlichmachung an. Das Eigenthumliche an Lombroso’s Theorie aber ist die Annahme eines besonderen Verbrechertypus d. h. die Annahme gewisser physischer und psychischer De- fecte, durch welche sich eine gewisse G r u p p e von Indivi- duen innerhalb einer Gesellschaft von den iibrigen in sitt- licher Beziehung ausscheide und eine moralische Species bilde, die zu Verbrechen verschiedener Art hinneige. Die Nichtzurechnungsfahigkeit dieser Gruppe will Lombroso damit begriinden, dass er deren sittliches Kranksein naclrzuweisen sucht und sie analog den englischen Biologen, welche eine Moral Insanity annehmen 1 ), als Mattoidi d. h. als sittlich Irre bezeichnet. 2 ) Die Drsachen des sittlichen Irrseins will Lombroso in zweierlei Umstanden: in avitischer Belastung und in individueller Anomalie des physischen und geistigen Lebens gefunden haben. Die physischen Anomalien der Mat¬ toidi bestehen: in Abnormitiiten der Hirnbildung, nam. der Hirnwindungen, aber auch schon in anomaler histo- logischer Bildung des Kleinhirns, in Entziindun- gen der Hirnhaute, die sich bei 50 Percent von Verbrechern vorgefunden hatten, 3 ) in chronischer Hyper- amie, welche eine „Basis aller Storungen bei den Irren sei“, iiberhaupt in Anomalien der Blutvertheilung. was eine zweite „Basis der Geistesstorungen“ bilde 1 ), in Herz- fehlern, in der selten normalen Beschaffenheit der Leber ; ') vgl. Savage: Moral Insanitv. 1881. — Hollaender: Der moralische Wahnsinn (Vloral lnsanity). 1882, vgl. deren Beschreibung bei Lombroso: Der Verbrecher. 1 459 ff., theilweise auch im II. Bde. 3 ) Lombroso: ebend. I 196. *) Lombroso: ebend. I 201. Lombroso uber Moral Iasanity. 165 in der Mi kro k e phal ie, in Ausartungen des Geschlechts- trieb es. Die psychischen Storungen werden von Lombroso nur erwahnt, dagegen fiihrt er die moralischen Defecte der Irren eingehender aus. Zu den letzteren Defecten zahlt er: voll- standigen Mang e 1 an sit tli chem Gefiihl, natiirliche B o s- heit, Mangel an Gemtith, Neuerungs- nnd Zersto- rungssucht, excentrisches Wesen. Schadenfreude und Grausamkeit, LTnmassigkeit, sch\vankenden Charakter, Leichtsinn, Mangel an Thatkraft, Egoismus, tiber- haupt Mangel an Selbstbeherrschung, Selbst- mordgedanken. — Man mag zugeben, \vas Lombroso behauptet, dass es „Verbrecher aus Instinct“ oder „Verbrecher des Gedankens 11 gebe') d. h. Menschen, welche infolge eines un- ividerstehlichen inneren Dranges Verbrechen begehen — das sind die Monomanisten, wie z. B. gewisse Diebe —, allein unstatthaft ist es, eine besondere Gruppe von nattir- lichen oder pradestinierten Verbrechern zu statuieren und die Ursachen der Verbrechen einzig und allein in krankhafte Defecte des Organismus zu verlegen. Lombroso selbst liefert uns Waffen gegen seine Theorie. So bemerkt er, dass es unter 26856 von Verga untersuchten eigentlichen Irren nur 056 Percent Verbrecher gab. 2 ) Dies widerlegt doch schlagend den causalen Zusammenhang zwischen Irrsinn und Verbrechen. Ebenso bemerkte er, dass sich in den Irrenan- stalten „sehr selten“ Mattoidi befanden. Folglich ist die Zusammenstellung des Irreseins und der sittlichen Mor- biditat unstatthaft. Wenn nun Lombroso dlesen Wider- spruch mit dem Umstande zu beseitigen versucht, dass man nicht alle Mattoidi in Irrenanstalten schicke, so be- gibt er sich selbst des besten statistischen Nachvveises: die- selben genauer ausgeforscht zu haben. Dies beweist eben, dass seine „Mattoidi® keine „Geisteskranken“ sind. \Venn Lombroso die besagten Defecte an erwiesenen Verbrechern nach bestimmten Percentsatzen constatiert, so folgt daraus noch keineswegs eine Beschrankung der Ver¬ brechen auf Mattoidi. Lombroso bemerkt doch selbst, „das Hirn eines Menschen sei in hohem Grade veranderlich, ohne deshalb Krankheitssymptome“ zu zeigon.') Damit fallt ein sehr \vichtiges Argument fiir den causalen Zusammenhang der Verbrechen mit Hirnanomalien. Dem mochte ich noch beifiigen, dass die Obductionen der Verbrecher keineswegs ‘) vgl, Lombroso: ebend. I 453. J ) ebend. 1 452. E ) ebend. I 197. 166 Zehnter Abschnitt. im m er oder doch nur meistentheils Hirnanomalien ergeben haben, ein Beweis, dass auch der gesundeste M e n s c h zumVerbrecher w e r d e n k a n n. Interessant ist es zu bemerken, dass Lombroso doch auch den ausseren Umstanden des Verbrechens Rechnung tragt. so sehr er dasselbe auf biologische Ursachen zu beschranken sucht. Er erklart namlich, dass an den Verbrechen auch mangelhafte Erziehung Schuld trage ’) und dass durch Er- ziehung Besserung moglich sei. 2 ) Auch fehle das Schuld- bewusstsein den Mattoidi-Verbrechern nicht immer. s ) Somit beraubt Lombroso seinen allgemeinen Satz von den vererbten und angebornen Neigungen zum Verbrechen der besten Stiitzen, indem er moralische Einflusse zugibt. Dass namlich die moralische Atmosphare der Gesellschaft auf die Verbrecher von eminentem Einflusse ist, durfte heute nur eine verstockte und starrsinnige Theorie leugnen wollen. Die socialen .Untersuchungen weisen mit Macht dahin. Uebrigens hat dem \Verke Lombroso’s diesen wesentlichen Irrthum bereits C. Gutberlet vorgehalten. 4 ) Auch sonst finden sich miter den von Lombroso an- gefiihrten biologischen Ursachen der Unzurechnungsfahigkeit einige cingefiihrt, die man ebensogut an sittlich Gesunden beobachten kann, z. B. Hyperamie, anormale Hirnwindungen, Mikrokephalie u. a. Damit ist abermals indirect erwiesen, dass krankhafte Anomalien des Organismus keineswegs immer zu Verbrechen fiihren oder die Zurechnungsfahigkeit noth- wendigerweise aufheben. Ich komme sonach immer wieder auf den Satz zuriick, dass bose Neigungen an sich noch nicht zu Verbrechen fiihren mussen, sondern auch bekampft werden konnen, kurz, dass der Mensch eine relative,' be- sehrankte \Villensfreiheit besitzt. — Nun moge eine Illustration der eben vorgetragenen Theorie folgen. Ein Knabe, nennen wir ihn A., ist morgens auf dem \Vege zur Schule. Allein das schone AVetter gibt ihm den Gedanken ein, im Stadtparke, durch den ihn der AVeg fiihrt, lieber . spazieren zu gehen als im Schulzimmer zu sitzen. Setzen wir nun den Fali, was im Schulleben doch vorkommt, der Knabe erwagt zwar seinen Schritt, erliegt aber der Ver- suchung und schvvanzt den Unterricht, hat derselbe nach freiem \Villen gehandelt, ist er als zurechnungsfahig zu be- tracflten und verantwortlich zu machen? Vorerst mussen wir den Knaben in eine der drei Ivate- b Lombroso: ebend. I 477. — i ) ebend. I 522. — 3 J ebend-. II 100. C. Gu;tberlet: Die Willensfreiheit u. ibre Qegner. 1893. Em Beispiel von Zurechnnng. 167 gorien handelnder Menschen einreihen. Er verhalt sich gegen die Motive passiv oder activ oder schwankend. Nach dem ethischen \Villensgesetze wird er in allen drei Fallen unfrei handeln, denn im ersten Falle war der Knabe seiner Neigung unterlegen, im zweiten seinen Grundsatzen, im dritten aber dem augenblicklichen Ausschlaggrunde, welcher seine Ent- schliessung herbeifiihrte, also entweder seiner Neigung oder einem Grundsatze. Ist der Knabe zurechnungsfahig? — Jedenfalls, denn er hat wider sein besseres Wissen, das er durch seinen vorher regelmassigen Schulbesuch, durch die Kenntnis der Schul- disciplin, die ihm vielleicht taglich eingescharft wurde und schon durch den blossen Act der Ueberlegung, ob er bummeln oder zur Schule gehen solle, bethatigte, den Unterricht ge- schwanzt. Er ist auch geistig soweit entwickelt, dass er bereits die Folgen seiner gewohnlichsten Handlungen ormisst. Deshalb ist er auch als verantwortlich zu betrachten. Ein anderer Knabe, er heisse B., geht ebenfalls durch den Stadtpark zur Schule. Auch ihm fallt der Gedanke ein, bei dem herrlichen Wetter lieber spazieren als zur Schule zu gehen, allein er zieht es vor, letzteres zu thun. Die Frage lautet nun ebenfalls: hat der zweite Knabe frei oder unfrei ge- handelt? — Wir kommen zu den ganz gleichen Folgerungen: sein Grundsatz, der Pflicht zu gehorchen, liess ihm keine \Vahl iibrig, folglich handelte er sovde der erste, unfrei. — Ist er als zurechnungsfahig anzusehen? Gerade so wie der Knabe A. und aus denselben Griinden. Folglich ist er auch fur seine Handlungsweise verantwortlich, was ihm allerdings leicht wird. da, er seine Pflicht gethan hat., In der That wird der A. fur seine Pflichtunterlassung bestraft, der B. aber hat das lohnende Bewusstsein, seine Pflicht erfullt zu haben. Man wird vielleicht einwenden: wenn beide Knaben unfrei gehandelt haben,. so sollten auch beide in gleich g e- rechter Weise behandelt vverden. Dies geschieht denn auch: keiner kann sich iiber .eine ungerechte Behandlung beklagen. Der B. wird so behandelt, wie er es selbst vorausgesetzt und gewollt hatte: er wird giinstig ,beurtheilt. Aber auch dem A. geschieht kein Unrecht: er \vird ganz so behandelt, wie er es selbst erwartet hatte,. namlich bestraft. Jeder der beiden \vird demnach so behandelt, wie er es selbst gewollt und verdient hatte, und jedem ward das zutheil, was er sich selbst vor der That vorgerechnet, hatte. Denn die Entschliessungen und Handlungen der beiden waren ja nur der Ausdruck ihres subjectiven WoIlens. Elfter Absehnitt. Der sittliche Conflict. Bevor ich an die Losung der sittlichen Con¬ flict e oder der Collision der Pflichten gehe, will ich eine Definition derselben aufstellen. Unter dem sitt¬ lichen Conflicte verstehe ich den Zweife 1 des handelnden Subjectes. welche von z w e i oder mehreren z u g1 e i c h sich aufdrangenden Pflichten bei der ethischen. Entschliessung vorzuziehen sei. In dieser Definition sind zwei Pnnkte enthalten, welche -von Wichtigkeit erscheinen : erstlich, dass der Zweifel. sich auf Pflichten und zweitens auf sittliche Pflichten beziehe. Es handelt sich in demselben nicht um kleinere oder grossere Guter, von denen das eine fiir gewisse Falle wiinschenswerter ware als das andere, also nicht um ein Begehren oder Vorziehen von Zwecken, sondern von sittlichen Pflichten. Es konnen in der Praxis des Lebens auch zwei keineswegs gebotene Zwecke in die Wahl kommen, worin ich jedoch keinen sittlichen Conflict erblicke. Ob z. B. der Mensch ein friedliches oder ein bewegtes Leben vorziehe, ob eine Nation lieber kriegerischen als friedlichen Aspirationen Raum gestatte, das ist keine Instanz eines sittlichen Conflicts, wie Spencer meint, 1 ) so wichtig solche Fragen auch sein mogen, da es hier ja nicht auf die Wahl sich entgegenstehender nachweisbar sittlicher Pflichten ankommt. Eine grosse Entlastung der Frage bedeutet es auch, wenn man jenen Conflict nicht in dem Zwiespalt zwischen ') Spencer; Thats. d. Eth. 148. Arten der Pflichtconflicte. 169 den M i 11 e 1 n und deren Zwecken sucht, wie es Spencer thut, ob z. B. „einfachere“ oder „ compliciertere “ Mittel zur Erreichung eines Zweckes anzuwenden seien, * 1 ) — eine Frage rein technischer Natur. Ueber die sittliche Qualitat der Mittel darf so wenig ein Zweifel herrschen als iiber die Zwecke, da nach einer der frtiheren Auseinandersetzungen eben beide loblich sein miissen, und nicht bloss die einen derselben. Ebenso entiallen fiir die praktische Philosophie alle streng rechtlichen oder juridischen Conflicte, da diese nicht nach ethischen, sondern nach Rechtsprincipien zu entscheiden sind. Wohl aber gehoren hierher jene Falle, in denen moralische und rechtliche Pflichten mit einander in Conflict gerathen. Dies ist z. B. der Fali, wenn die Gerechtigkeit und die Grossmuth gegen einander abgevvogen werden, und eine Person in Zweifel gerath, ob sie den Einfliisterungen der einen oder der anderen der beiden sittlichen Pflichten Gehor schenken solle. Aehnlich ist der Fali, wenn infolge einer Beleidigung einerseits der Individualitatstrieb zur Rache, andererseits die Stimme der Sympathie oder des Mitleids zur Verzeihung und Nachsicht auffordert. Fiir solche Falle konnen ethische Normen aufge- stellt werden. Die Collision der Pflichten schreibt sich von der viel- seitigen sittlichen Inanspruchnahme des Men- schen her und tritt viel hauflger auf, als die Aufforderung einer einfachen Pflicht. Sehr richtig bemerkt J. H. Fichte : „Jeder beflndet sich in einern Durchkreuzungspunkte eigen- thiimlicher Pflichtforderungen, welche unablassig und stets von andern Seiten auf ihn einstiirmen". 2 ) Fichte geht soweit, dass er eine jede sittliche Handlung fiir eine Losung einer wirklichen Pflichtcollision ansieht, 3 ) worin ihm H. Spencer beistimmt, der keine „absolute“ — will wohl heissen einfache — Tugend, sogar keine „absolute Sittlichkeit“ an- erkennen will. 4 ) Dasselbe geht iibrigens schon aus der oben auf- gestellten Theorie der gegenseitigen Hemmung aller Tugenden und Pflichten hervor, welche erst durch ihren Zusammenhang eine sittliche Totalitat bilden. Von der praktischen Philosophie wird nun verlangt, dass sie den Weg zeige, wie solche Conflicte. zu Ibsen seien. Allein dies ist in der Regel eine ausserordentlich schwierige Auf- gabe, da bei derlei Entscheidungen eine grosse Anzahl von 1 ) Spencer: ebend. 175—178. 3 ) J. H. Fichte: Syst. d. Eth. I. 294. 3 ) J. H, F i c h t e : ebend. 295 u. schon 255. *) Spencer: Thats. d. Eth. 292. 170 Elfter Abschnitt. Umstanden in Betracht kommt. Doch da es eine Sclrvvache der Philosophie bedeuten wiirde, wenn diese in solchen An- legenheiten ihren Dienst versagte, so muss sich dieselbe entschliessen. dariiber Weisungen an die Hand zu geben. so verantwortungsvoll dies auch ist. Dabei darf nicht ver- schwiegen werden, dass die Ethik in dies.em Punkte. wie J. H. Fichte urtheilt, nur einige \venige und dazu bloss probable und wahrscheinliche Normen bieten kann. 1 ) Auch Kant und Schleiermacher geben dariiber nur ausserst reservierte An- leitungen, worin ihnen auch Paulsen und die Neueren folgen. Ich ziehe es vor, bevor ich allgemeine Normen aufstelle, einige Falle von Collision vorzufiihren und aus deren Analyse all¬ gemeine Grundsatze der Losung abzuleiten. Der erste Fali betrifft die Frage, ob man in bestimmten Fallen" einem Mitmenschen gegeniiber das stricte Recht, oder Billigkeit und Nachsicht zu iiben habe. Hier stehen sich zwei sittliche Pflichten : die Gerechtigkeit und Grossmuth gegeniiber. AVelche soli der anderen vorangestellt .werden? — Die Erwagung wird hauptsachlich die Folgen in Betracht ziehen, welche einerseits fiir das Subject. andrer- seits fiir die zweite Person aus der Erfiillung der ersteren oder letzteren Pflicht hervorgehen diirften : ob namlich die Gerechtigkeit oder Grossmuth mehr Nutzen oder doch weniger Schaden fiir beide Parteien herbeifiihren werde. Darnach \vird die Entscheidung zu trelfen sein. Mehr als einen pro- bablen Grund fiir die eine oder andere Entscheidung kann man wegen der ungewissen Zukunft principiell nicht angeben. Spencer lost diesen Conflict einseitig, wenn er grundsatzlich der „ Gerechtigkeit “ den Vorzug vor der „ Grossmuth e ein- raurnt. 2 ) Desgleichen verfahrt Rud. v. Ihering, der in seinern „Kampf ums Recht “ denselben Grundsatz verficht. Doch ist bereits mehr als einmal angezweifelt worden. ob die stricte und riieksichtslose Durchfiihrung der juristischen Gerechtig¬ keit der Menschheit mehr zum Heile als Dnheile gereiche. Hier gehen rein sittliche Erwagungen obiger Art voran. Aehnlich liegt der Conflict im Falle einer Beleidigung, welche vom Beleidiger Satisfaction fordert. Der Trieb der Individualitat, personliche Ehre genannt, erheischt Genug- thuung, die al Igemein - m en s chl i che Sympathie dagegen fordert zur Verzeihung auf. Der beste Ausweg ware eine gesell- schaftliche Einrichtung, welche diesen Streit mit weniger Bitterkeit fiir beide Parteien schlichtete. Dies ware ein schieds- ,‘j J. H. Fichte hat der Losung dieser Frage einen besondern Abschnitt gewidmet, im o. c. Werke. ( I Bd. § 7d S. 289 ff. 2 ) Spencer: Thats. d. Eth. 1H5. Beispiele von Pflichtconflicten. 171 richterlicher Spruch oder eine ehrengerichtliche Entscheidung, wovon schon oben gesprochen worden ist. Einer besonderen Gattung von sittlichen Conflicten gehort der Widerstreit zwischen der Pflicht der individuellen Selbsterhaltung und der Aufopferung ftir das Gemein\vesen. Man kann dies auch die Collision der Individualitat mit der S o c i e t a t oder den Streit der privaten und offentlichen Interessen nennen. Was nun die Selbstaufopferung anbelangt, so geht hierin das Interesse des Gemeinwesens voran. Die Individualitat beschrankt sich nicht auf die rein leibliche Erhaltung der Person, da das Individuum auch in irgendeiner Idee oder in seinen Idealen fortlebt. Beide Pflichten, die individuelle und die sociale, konnen durch die individuelle Aufopferung besser erfiillt \verden als durch Verweigerung derselben; denn es gibt keine Moglichkeit, eine Societat, sagen \vir z. B. einen Staat zu er- halten, wenn dessen Burger nicht bereit sind, ihr Leben ftir denselben in die Schanze zu schlagen. Der Conflict lost sich somit durch Bevorzugung der socialen Pflicht. Diese Art Losung hat auch die Geschichte als die heilsamste bestatigt. Darum entscheiden sich die meisten Ethiker ftir dieselbe. Des Conflictes zwischen der Gesellschaft und dem Individuum hat sich schon langst die Poesie bemachtigt, um auf dessen Motivierung uncl Losung ihre prachtigsten Schopfungen aufzuftihren. Ich will Sophokles’ Antigone nennen, in \velcher die Collision der Ver\vandtenliebe und Unterthanen- pflicht zur Katastrophe luhrt. Allein in Wahrheit besteht hler ein S c h e i n c o n f 1 i c t zwischen der Pflicht der Verwandten'- liebe — von der religiosen Pflicht sehe ich ab, um den Streit auf das rein ethische Gebiet zu beschranken — und der Unter- thanenpflicht. Antigonen’s Recht steht fest; minder ihre Pflicht, die des Gehorsams gegen das Verbot des Tyrannen. In Wahr- heit ist der Gehorsam gegen das Edict eines Tyrannen im constitutionell regierten Theben nicht als Pflicht zu betrachten. Der Fali Antigone hat daher mehr poetische als eigentlich ethische Bedeutung. In Shakespeare’s „Kaufmann von Venodig" flnden \vir einen Conflict z\vischen der ge\vahrleisteten rechtlichen und einer implicite in ihr enthaltenen moralischen Pflicht. Der Jude Shylock beharrt auf der Erfiillung seines ^Scheins 11 , die Rucksichten der Menschlichkeit und die Unausfuhrbarkeit des Scheins jedoch stehen dessen Erfiillung entgegen. Die Losung dieses Pflichtenconflictes zu Gunsten der Menschlichkeit. also Sittlichkeft, ist eine ganz nothwendige, da, wie es im Stiicke selbst heisst, gegen einen solchen B Schein“ nicht bloss die i; I/. ■■ ; Saehregistep. iDie Zahl bedeutet die Seite, ein beigefiigtes f. die Hauptstelle) Aberglaube 136 Abhangigkeit 86 f. Abhartung 126 Ablehnung der Motive 140 f. Abstammung des Menschenge- schlechtes 51 Achtung 85 f. 122. 135 f. activ 7 Adamsia 13 asthetisch sittlich 161 f. Asthetisches 38 f. Affecte 85 Affen 13 Algen 12 Allruismus 53 f. Ameisen 13 angeborner Charakter 111 f. Animismus 10 Annahme 140 f. Anomalien (korperliche) 162 f. anorganische Dinge 10 Anthropomorphismen 94 Antigone 171 f. Antinomie 74 Antipathie 130. 161 Apperception 145 f. Arbeitsamkeit 126 Askese 126 Asketik 35 Assimilation 108 f. Asyle 129 Auflehnung 132 Aufopferung 171 f. Ausbildung 126 Ausdauer 126 Ausgleichung 172 f. Ausharren 146 f. Ausschlaggrund 147 f. 149 f. Aussennatur 55. 56 f. 95 Auswahl 42 Autoritat 86 f. Befolgung der Natur 136 Begeisterung 85 f. Begierde 41 Beharrlichkeit 126 Beispiel 88 f. Beleidigung 170 f. Berufspflichten 172 f. Bescheidenheit 126 f. Besonnenheit 124 f. Besseiung 166 f. Bewusstsein 138 f. 142. 139 f. Biber 14 Bienen 13 Billigkeit 131 f. 170 f. biologische Ethik 3 f. Bosheit 130 BOswilligkeit 130 Burgertugenden 130 Cannibalismus 13 catilinarische Existenzen 10 causal 9 f. Causalitat 56 Causalitatsgesetz 152 f. 159 f. causativ 9 f. Charaktei’ (Arten des Ch.) 100 — Wille u. Ch. 157 f. — sittlicher Ch. 99 f. 111 f. — veranderlich 109 f. 112 f. — angeboren, er- worben 111 f. chemische Processe 10 f. 176 Sachregister. christliche Moral 95 Civilisation 49 Collision der Pflichten 168 f. Concentration, ethische C. 103 f. Conflict, sittlicher C. 168 f. Consequenz 58 Constitution des Organismus 104 f. Cooperation des Menschen und der Natur 25. 67 Cultur 49 Cynismus 126 Dankbarkeit 132 f. Defecte, korperliche, moralische 162 f. — 165 f. Degeneration, moralische D. 1( 9 f. Demuth 126 f. 127 f. Denkfaulheit 107 f. Denkoperationen 89 f. Descendenztheorie 63 f. determiniert 21 f. 150 f. Determinismus 150 f. — Arten d. D. 152 f. — ethischer D. 155 f. Doppelziingigkeit 134 Droserablatt 12 Dueli 134 f. Duldung 129 Durchschnitt, rooralischer 105 f. Durchschnittsmensch 106 f. Echtheit des Charakters 110 f. Egoaltruismus 50 f. 96 f. egoaltruistischer Trieb 45 f. Egoismus 53 f. 89 f. 127 Ehe 51. 128 f. 129 f. — wilde E. 129 f. Ehre 133 f. EhreDgerichte 134 Ehrenhaftigkeit 133 Ehrgefubl 126 f. Ehrgeiz 126 f. Eigennutz 132 Eigensinn 125 Einsicht 2. 79 f. — E. u. Wille 156 f. Einsiedlerkrebs 13 Eintracht 132 Einwirkung der Natur 91 f. Elephanten 14 Emancipation von der Natur. 152 f. 155 f. Entfremdung 128 Enthaltsamkeit 125 Entsagung 124 Entscheidung 145 f. Entschiedenheit 125 Entschliessung 145 f. Entscblossenheit 125 Entwicklung 60 f. 110 f. Endzweck 22. 31. 60 f. Erfolg 88 f. Ergebung 136 Erhabenheit des Menschen 124 Erkenntnis 80 f. 11.3 f. Erniedrigung 127 Erwagung 145 f. Ethik, praktische E. 2. — Name E. 3. — religiose 75. — biolo- gische 3. - metaphysische 4. — utilitaristische 4. — conventio- Delle 4. — Kanfsche 5 ethisch 13 f. 16 f. Eudamonie 46 f. Eudamonismus 35 f. Factoren des Sittlichen 33 Fahrlassigkeit 70 Falschheit 134 Faulbeit 126 Feigheit 1?5 Feindesli“be 130 Feindscbaft 130 Felonie 132 Flechte 12 Fleiss 126 Folgen 23. 69 formal-ethisch 8 formale Ethik 8. 13. 72 f. 124 formalistische Ethik 72 f. Fortschritt 156 f. frei und unfrei 147 f. Freiheit jeder Art 124. 126. 155 — sittliche 147 f. Freimuth 134 Freundschaft 51. 128 f. Friede 133 f. Friedenscongresse 133 f. Friedferligkeit 132. 133 f. Functionen des Korpers, Geistes 139 f. Furcht 87 f. 136 Gattungstrieb 41 f Geffihllosigkeit 130 Gefiihlslogik 82 Gegenfunctionen 139 f. Gegenseitigkeit 132 Gehen. das G. 73 f. Gehorsam 132 f. 135 f. Geist 138 f. Geiz 125 Gemiith 7 f. Genugsamkeit 115 Gerechtigkeit 58. 122. 130 f. 131 f. Sachregister. 177 Geschicklidikeit 18 Geschlechtstrieb 48 f. Gesellschaft u. Individuum 171 f. - ethische G. 114 Gesetze der Charakterbildung 104 f. des Wollens 145 f. gesetzmassig 8 f Gesinnung 8. 9. 78. 8i Gestirne 56 Gewissen 82 f. Gewissenhaftigkeit 126 Gleichberechtigung 129 f. GIeichgewicht 140 f 149 f. Gleichgiltigkeit 145 f Gleichheit 129 f. 130 f. Gleichmassigkeit 104. 134 f. Gliickseligkeit 26 f. — Gl. u. Sitt- lichkeit 30 f. — h8chste Gl. 150 f. Gluckseligkeitstrieb 41 f. Grausamkeit 130 Grosse 59 grundsatzlich 7 f. gut 9 f. 16 f. Gut 21 Giite 129 f. Handeln 6 f. — Arten des H. 7 f. — 19 f. Handlung 6 Harmonie, sittliche 103 Hartherzigkeit 130 Hass 130 Hechte 13 Hedonismus 32 Heimtucke 134 Herablassung 129 Hereditat 164 f. Heuchelei 134. histologische Verhaltnisse 92 f. Hochmuth 127 Humanitare Tugcnden 128 I. Humanitares 14 Humanitat 14. 50. 129 f. Hunde 14 Ich 139 f. ideale Pfiichten 93 f. — i. Tugen- den 135 f. Ideales 18 idealistische Ethik 71 f. Identitet 56 f. — 58 f. — I. und Individualitat 68 Imperativ 86^5 Impietat 130 Impulse 138 Indeterminismus 150 f. Indifferenz 140 f. 14 5 f. Individualitat 11. 47 f. 67 f. 126 individuelle Erhaltung 46 f. Inhumanitat 130 Innervation 140 f. insectenfressende Pflanzen 12 Instinct 41. 83 f. 84 f. Intellect 78 Intellectualismus 79 f. I Interessen 107 f. ; Intoleranz 130 Kafer 13 Kampf ums Dasein 47 f. Katzen 14 Kenntnis 113 f. Kleinmuth 125 Klima 108 Klugheit 16 89 f. 134 f. Klugheitslehre 18 Kosmos 58 Kraft, sittliche 120 Kraftumsetzung 58 Kranioskopie 51 Kriege 133 f. Krystallbildung 11 Leben der Natur 57 f. Lcbenskluglieit 18 Legalitat 80 Leichtsinn 126 Liebe 51 — L der Eltern 127 logische Operationen »9 f. Logik 54 Lohntheorie 87 f. Lustgeftihle 87 f. Luge 1H4 f. Liigenhaftigkeit 134 f. Macht 112 f. Massigkeit 125 Massigung 125 Maschine, der Mensch eine M. 168 f. Maske 110 f. Materialismus 46 f. Materie 138 materielle Pflichtobjecte 94 f. Mattoidi 164 f. Mause 13 Mechanik 64 f. mechanische Einwirkung der Natur 91 f. Mensch 14 f. Menschenausbeutung 132 Menschenfreundlichkeit 129 178 Saeliregister. Menschenhass 130 Menschenliebe 122. 127 Menschennatur 40 h menschliche Sittlichkeit 35 metaphysische Dinge 91 — m. Be- trachtungen 147 f. — m. Deter- minismus 150 f. Melhode der Ethik 1. 4 f. Milde 129 Milieu 20. 108 f. Misanthropie 130 Mysogynakie 130 Missmuth 126 Mitfreude 50. 129 f. Mitleid 50. 129 f. Mittel 115 f. 169 f. Moment 21. 145 f. 149 f. Monogamie 48 f. Monogenetismus 51 f. moralisch 9 f. 16 f. — m Deter- minismus 151 f. Moralitat 80. 119 Motive 7. 20 f. 48 f. 92. 112. 111 f. 145. 149 f. Miissiggang 126 Muschehvachter 13 Muster 7. 71 f. Muth 125 f. Mystik 120 f. Nachahmung 88 f. 129 Nacheiferung 88 f. Naehlassigkcit 126 Nachsicht 170 f. naive Sittlichkeit 81 f. Naivetat 134 Natureindrucke 9() f. 91 f. Naturell 110 1. 147 naturgemass 34 Naturgesetze 56 f. — N. als Sitten- gesetze 69 f. naturwidrig 34 Nebenzvvecke 22 Negation des Lebens 36 negativer sittlicher Trieb 53 f. Neid 132 Neigungen 85 f. Nichtzurechenbarkeit 163 f. normal K'ft f. Normen 18 f. — N. der Pflichttn- conflictlosung 172—173 f. Nothwehr 133 f. Nothwendigkeit 148 f. Objecte 8 f. objectiv-sittlich 9 f. 15. — o. Ur- sachen 24 Oekonomie 66 f. Oekonomisches 38 f. 66 f. Optimismus 136 f. Ordnung 58 organisch 10 f. Panpsvchismus 10 f. passiv 7 Perfection 48 f. 65 f. 122 125 f. Perfectionstrieb 45 f 56 f. Perfidie 132 personliche Pflichten 93 f — p. Tugenden 126 f. Personlichkeit 47 f Pessimismus 126. 136 f. Pferde 13. 14 philosophische Tugenden 135 f. Pflanzen 11 Pflanzenwelt 10 Pflicht 77 f. — Eintheilung der Pf. 93 f. — Pf gegen die Thiere 97. — gegen sich selbst 97 f. Pflichtgefuhl 78 81 Pflichtmassigkeit 85 Pflichtobjecte 94 f. phyletischer Trieb 44 f physische Einwirkungen 91 f. 92 f. Pietat 127 Pilze 12 planmassig 7 Polyandrie 48 f. Polygenetismus 51 f. Polygynakie 48 f. Pradisposition 104 f. Praformation 80 prajudicierter Wille 157 f. praktisch 7 f. 15—17 f. — p. Phi- losophie 17 f. primitiv 91 f. Princip der Ethik 1 Privatrache 134 f. Protoplasma 10 psychischer Determinismus 152 f. 159 f. Pyrrhonismus 2 Qualitat 8 f. 161 f. Rache 134 f. Ratten 13 Reaction 141 f. Reactionsfahigkeit 145 f Recht der Thiere 96 f. Reflex 138 f. 139 f. Reflexfahigkeit 155 f. Reflexion 158 Sachregister. 179 Regelmassigkeit 59 f. Regeneration der Krystalle 11 regulativ 83 Reihe 59. 138 f. 141 f. 153 f. religios 38 Religionsmoral 91 Reproduction durch den Willen 139 f. Reputalion 133 Restitution der Ehre 131 f. Rolle und Charakter 110 f. Riickschritt 126 Schade 163 f. Schadenfreude 13) Schambaftigkeit 135 f. Schamlosigkeit 135 f. Scheelsucht 132 Scnicksal 109 Schiedsgerichte 133 f. Schlaffheit 125 Schneider Marie 117 f. Schuldbewusstsein 166 f. Schvvache der Menschennatur 62 f. Schwankungen 106 1'. 107 f. Schwelgerei 125 Sclavenbaltung 132 Sclaverei 126 Serupulositat 126 , Selbstabtodtung 124—125 f. Selbstaufopferung 132. 171 f. Selbstbeherrschung 122 f. 124 f. 151 f. Selbsterhaltung 41 f. 44 Selbsterziehung 126 Selbstmord 125 Selbstsucbt 125 Selbstverstiimmlung 125 Se!bstzweck 15 Shylock 171 f. Sittencodex 114 Sittengesetz, zvveifaches 33 — 37 f. Sittlich 8 f. 9 f. 13. 15. 107 f. Sittlichkeit, praktiscbe S. 101 Skepsis 2. 126 social 50 — s. Pflichten 93 f. — s. Tugenden 127 f. — s. Gleich- heit 130 f. Sociologie 3. 130 Sollen und Miissen 75 f. Sophisten 106 spontan 143. 158 f. Sprichrvorter 91 Standhaftigkeit 125 Steckmuscbel 13 Stillstand 126 Stiirche 13. 14 Storungen des Geistes 162 f. Streben 44. 78. 126 btreit 133 Stumpfsinn 145 f. Succession 58 f. Siisswasserpolypen 12 Symbiose 11 f. Sympathie 45 f. 50 f. 56 f. 161 System der Tugenden 104 f. — S. der Ethik 3 f. Teleologie 63 f. Tendenz des Triebs 40 1. That 23 f. 146 Thatkraft 125 1. Thatigkeilstrieb 45. 49 Thiere 10 f. 13 f. 95 f. Thorheit 77. 126 Todesstrafe 51 Toleranz 129 f. i Tollkuhnheit 125 Topik der Tugenden u. Laster 122 f. i Tragheit li6 Treue 127 f. 132 Trieb 40 f. 42 f. 138 Trotz 125. 132 Trug der Natur 62 f. Typus der Naturgesetze 72 f. Obel 21. 72—73 f. 137 Ubelwollen 130 Uberlegung 7. 145 f. tibung 60 f. 126 Umstande 166 f. Unbedacbtsamkeit 135 Unbehagen 19 Unduldsamkeit 130 TJnfreibeit 126. 147 f. Ungehorsam 132 Ungerechtigkeit 131 f. Unglficksfalle 109 f. Unlustgefuhle 87 f. llnmassigkeit 125 Unrecht 131 f. 132 f. Unterordnung 132 f. IJntreue 132 Uppigkeit 125 Unzurechnungsfahigkeit 162 f. Urtheil 9 f. 107 f. Urtheilsgewohnheiten 154 f. Variabilitat 67 f. Variation 61. 67 f. Verantwortung 160 f. V eranderlichkeit des Charakters 1091. Verbrecher unter den Tbieren 12 f. 180 Sachregister. Verbrechertypus 164 f. Vererbung U.5 f. Vernunft 77. 79 Verpflichtung 77 f. Verstand 54 f. 162 Verzweiflung 125 Volksbedrttckung 133 Volksmoral 91 f. Vollkommenheit 66. 80 Vortrage, populare 114 Wahl 148 Wahlfreiheit 143 f. 148 f. 155 f. Wahrbaftigkeit 127. 134 f. Wankelmuth 125 Wecbselseitigkeit 132 Weiberhass 130 Weichliehkeit 126 Weisheit 89 f. Weltkenntnis 157 f. Wert des Menschen 14 f. 15 f. IVertschatzung 79 f. 122 Wille 78. 79. 81. 83 f. 100 f. 107. 139 f. 140 f. — W. einelVirkung 151 f. 158 f. — in der Natur 13 f. \Villensaet 84 Willensfreiheit 147 f. 157 f. Willensgesetze 149 f. WohIfahrt 37 f. Wohlwollen 129 Wollen 23 f. 81. 1.39 f. 140 f. 145 f. IVollust 125 Zaghaftigkeit 125 Zeit 59. 108 f. 110 f Zogerung 145 f. Zufall 67. 73. l04 f. Zuiriedenheit 125. 1.37 Zurechnung 160 f. 162 f. Zusammenhang der Dinge 9 f. Zwang 163 f. Zwecke 21. 116 f. Ztveckmassigkeit 6.3 f. 64 f. — Z. u Perfection 65. 125 Zweifel 126. 145 f.