649 Izvirni znanstveni članek/Article (1.01) Bogoslovni vestnik/Theological Quarterly 83 (2023) 3, 649—658 Besedilo prejeto/Received:09/2023; sprejeto/Accepted:11/2023 UDK/UDC: 1:341.3 DOI: 10.34291/BV2023/03/Podzielny © 2023 Podzielny, CC BY 4.0 Janusz Podzielny Das Recht auf die gerechte Verteidigung nach Ja- nusz Nagórny (1950–2006) The Right to a Legitimate Defense according to Janu- sz Nagórny (1950–2006) Pravica do zakonite obrambe po Januszu Nagórnyju (1950–2006) Zusammenfassung: Der andauernde Krieg in der Ukraine hat das Problem der ge- rechten Verteidigung wieder aktuell gemacht. Das Prinzip der Notwehr ist seit Jahrhunderten in der katholischen Morallehre bekannt. Eine interessante und aktuelle Perspektive zu diesem Thema präsentierte Prof. Janusz Nagórny (1950– 2006), einer der berühmtesten zeitgenössischen Moraltheologen in Polen. Das Ziel dieses Artikels ist es, einen breiteren Leserkreis – insbesondere von außer- halb Polens – mit den Gedanken des polnischen Moraltheologen zum Thema der rechtmäßigen Verteidigung vertraut zu machen. Diese Überlegungen sind fest in der damaligen Soziallehre des Papstes Johannes Paul II. verankert, haben aber auch ihren eigenen, ursprünglichen Charakter. Der Text zeigt zunächst ei- nige Paradoxien der modernen Welt auf, die mit den Fragen von Frieden und Krieg verbunden sind. Dann werden die wichtigsten anthropologischen Grund- lagen für ethische Entscheidungen im Bereich der gerechten Verteidigung er- wogen. Abschließend probiert man die konkreten Erläuterungen zum Prinzip der Notwehr in der heutigen Welt zu geben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Sicht von Janusz Nagórny einerseits alles Menschenmögliche getan werden sollte, um verschiedene Formen von Krieg zu verhindern. Andererseits muss man sich realistisch daran erinnern, dass jede Person, jede Nation und jeder Staat das Recht und sogar die Pflicht hat, die eigene Freiheit und Unab- hängigkeit angesichts ungerechtfertigter Aggression zu verteidigen. Schlüsselwörter: gerechte Verteidigung, Notwehr, Janusz Nagórny, Lebenswert, Fri- eden, Krieg Abstract: The ongoing war in Ukraine has made relevant again the issue of a legi- timate defense. The principle of self-defense has been known in the Catholic moral teaching for centuries. An interesting and current perspective on this 650 Bogoslovni vestnik 83 (2023) • 3 issue was presented by Prof. Janusz Nagórny (1950–2006), one of the most prominent contemporary moral theologians in Poland. The aim of this paper is to familiarize reader – especially from outside Poland – with thoughts on a le- gitimate defense left by that researcher. These considerations are firmly ancho- red in the social teaching of Pope John Paul II, but also have their own and original character. The present study firstly highlights some of the paradoxes of the modern world regarding the issues of peace and war. Then, an attempt to show the anthropological foundations for ethical decisions in the area of self-defense will be made. Finally, we will try to outline some specific explana- tions of the principle of a legitimate defense in today’s world. To sum up, it should be said that – according to Janusz Nagórny – everything humanly pos- sible should be done to prevent various forms of war. But on the other hand, we must realistically remember that every person, every nation, and every state, facing an unjust aggression, have the right or even duty to defend their own freedom and independence. Keywords: legitimate defense, self-defense, Janusz Nagórny, value of life, peace, war Povzetek: Zaradi vojne, ki poteka v Ukrajini, je vprašanje legitimne obrambe ponov - no postalo aktualno. Načelo samoobrambe je v katoliškem moralnem nauku znano že stoletja. Zanimiv in aktualen pogled na to vprašanje je predstavil pro- fesor Janusz Nagórny (1950–2006), eden najvidnejših sodobnih moralnih te- ologov na Poljskem. Namen tega prispevka je seznaniti bralca – zlasti zunaj Poljske – z mislijo o legitimni obrambi, ki jo je zapustil omenjeni raziskovalec. Njegova razmišljanja so trdno zasidrana v družbenem nauku papeža Janeza Pavla II, vendar imajo tudi svoj lasten in izviren značaj. Pričujoča študija najprej izpostavlja nekatere paradokse sodobnega sveta glede vprašanj miru in vojne. Nato bo skušala prikazati antropološke temelje za etične odločitve na področju samoobrambe. Na koncu bomo skušali orisati nekaj konkretnih razlag načela legitimne obrambe v današnjem svetu. Če povzamemo, je treba povedati, da moramo – po mnenju Janusza Nagórnega – storiti vse, kar je v človekovi moči, da bi različne oblike vojn preprečili. Po drugi strani pa se moramo realno zave- dati, da ima vsak človek, vsak narod in vsaka država, ki se sooča z nepravično agresijo, pravico ali celo dolžnost braniti svojo svobodo in neodvisnost. Ključne besede: legitimna obramba, samoobramba, Janusz Nagórny, vrednost življenja, mir, vojna. 1. Einleitung Prof. Dr. Janusz Nagórny (1950–2006) gehört zur Gruppe der bekanntesten ze- itgenössischen polnischen Moraltheologen. Während seines gesamten wissen- schaftlichen Lebens war er mit der Katholischen Universität Lublin verbunden, wo er im Jahre 1980 promoviert wurde, 1989 habilitierte er sich, und schließlich im Jahre 1998 erhielt er vom Staatspräsidenten den Professorentitel. In den Jahren 651 651 Janusz Podzielny - Das Recht auf die gerechte Verteidigung ... 1996–2005 war er Vorsitzender der polnischen Moraltheologen. Er hatte auch ver - schiedene Funktionen sowohl an der Universität als auch in polnischen akademi- schen Gremien inne. Die Titel seiner wichtigsten Bücher lauten: Ethik des Bundes des Alten Testaments, Theologische Interpretation der Moral des Neuen Bundes, Die Sendung der Christen in der Welt (Nagórny 2009a; 2009b; 1997). Prof. Janusz Nagórny verstarb im Alter von 56 Jahren an den Folgen von Krebs. Bis zum Ende hat er wissenschaftlich gearbeitet (Derdziuk 2017, 9–12). Wenn es um die Problematik der gerechten Verteidigung geht, betonte Nagór- ny in seinen Texten vor allem, dass wir alle Menschen des Friedens sein wollen und sollen. Als Jünger Christi wissen wir aber, dass die Fülle dieses Friedens uns die Welt nicht geben kann. Der wahre Friede ist nämlich ein Geschenk Gottes, das jedoch gesucht und manchmal sogar „erkämpft“ werden muss (Nagórny 2003a, 53; 2002, 228–229). Es scheint wichtig, insbesondere in der gegenwärtigen Zeit des Konflikts in der Ukraine, an die Überlegungen des polnischen Moraltheologen zur gerechten Verteidigung zu erinnern. Das ist das Ziel dieses Artikels. 2. Paradoxien der modernen Welt Der Mensch als moralisches Wesen hat sich immer gefragt, wie er auf Gewalt und Aggression reagieren soll, die gegen ihn gerichtet sind. Dies betraf sowohl die Situation der Bedrohung des eigenen Lebens als auch des Lebens der Famili- enmitglieder oder auch der Nation und der Heimat. Die aktuell spürbare Vielzahl der bewaffneten Konflikte, ihr blutiger Charakter und die dadurch entstandenen Mauern aus Gewalt und Hass rufen bei den Menschen oft ein schmerzliches Ge- fühl der Ohnmacht und Resignation hervor. Tatsächlich scheint es keine konkre- ten Möglichkeiten für eine friedliche Lösung dieser Konflikte zu geben, und viele Friedensrufe bleiben wirkungslos. Manchmal spricht man in diesem Kontext von der sogenannten „Kultur des Krieges“, die aus der Überzeugung heraus entsteht, dass der Einsatz bewaffneter Gewalt der geeignete Weg sei, um die Probleme der Welt so schnell wie möglich zu lösen. In dieser Situation, wie auch Papst Johan- nes Paul II. schon vor Jahren treffend betont hat, ist es nicht einfach, eine „Kultur des Friedens“ aufzubauen (Johannes Paul II. 1997, Nr. 4; Nagórny 2003a, 56–57; 2002, 231). Nagórny unterstreicht, dass der polnische Papst eine gewisse „neue Qualität“ zeitgenössischer Konflikt- und Gewaltformen sehr interessant beschrieben hat. Nach Ansicht von Johannes Paul II. unterscheiden sich die verschiedenen Konflik- te, deren Zeugen wir heute sind, gewiss von jenen, die wir aus der Geschichte kennen durch einige neue Merkmale: „Zunächst nimmt man ihren globalen Charakter wahr: Selbst ein örtlich begrenzter Konflikt ist häufig Ausdruck von Spannungen, die anderswo in der Welt ihren Ursprung haben. Ebenso geschieht es oft, dass sich ein Kon- flikt noch weiter entfernt vom Ort seines Ausbruchs tief auswirkt. Weiter- 652 Bogoslovni vestnik 83 (2023) • 3 hin kann man von einem totalen Charakter sprechen: Die heutigen Span- nungen mobilisieren alle Kräfte der Völker. Außerdem finden die Suche nach dem eigenen Profit und die feindselige Gesinnung selbst heute ihren Ausdruck sowohl in der Führung des ökonomischen Lebens, in der tech- nischen Anwendung der Wissenschaften als auch im Gebrauch der Mas- senmedien und im militärischen Bereich. Schließlich muss man den radi- kalen Charakter hervorheben: Durch den Einsatz der heutigen Waffenar- senale bei diesen Konflikten und deren ungeheurer Zerstörungsgewalt ist das Überleben der gesamten Menschheit gefährdet.“ (Johannes Paul II. 1982, Nr. 2) Die heutigen Konflikte haben also, wie der polnische Papst zu Recht bemerkt hat, einen globalen, totalen und radikalen Charakter (Nagórny 2002, 232). Dies beweist, nach Nagórny, ein eigentümliches Paradoxon der gegenwärtigen Situation. Einerseits gibt es nämlich zahlreiche Initiativen und multilaterale Be- mühungen um den Frieden in der ganzen Welt. Andererseits bedroht die Gefahr lokaler Kriege oder sogar größerer Konflikte ständig die heutige Menschheit. Di- eses Paradoxon ist besonders in menschlichen Einstellungen sichtbar. Denn es kommt vor, dass die heutigen Unterstützer des Friedens um jeden Preis die Un- gerechtigkeiten und Unterdrückung anderer Menschen, besonders der weit ent- fernten, akzeptieren. Ihre sogenannte „friedliche Haltung“ ist daher eher ein Au- sdruck der Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer Völker als die Be- stätigung einer solidarischen Haltung (Nagórny 2003a, 59; Mazur 2008, 551–552). Gefährlich ist also die Versuchung der Gleichgültigkeit, aber noch gefährlicher, in der Sicht von Nagórny, bleibt der Glaube der heutigen Welt an die Wirksamkeit von Krieg und Gewalt. In beiden Fällen tut sich nämlich der Unglaube an den Men- schen und an seine Fähigkeit kund, als wahrer Mensch zu handeln. Denn angesichts des Dilemmas „Krieg oder Frieden“ sieht sich immer der Mensch konfrontiert „mit sich selbst, mit seinem Wesen, dem Entwurf seines persönlichen wie gemeinschaf - tlichen Lebens und dem Umgang mit seiner Freiheit“, wie der Papst aus Polen tref - fend betont hat (Johannes Paul II. 1982, Nr. 3; Nagórny 2003a, 60–63). 3. Grundlage ethischer Entscheidungen Wenn man auf die Frage nach dem moralischen Recht auf gerechte Verteidigung, nach ihrer Legitimität und ihren Grenzen beantworten möchte, darf man nicht bei den situativen Entscheidungen stehen bleiben, sondern muss nach einer Grun- dlage suchen. In der Sicht von Nagórny geht es hier vor allem darum, die volle anthropologische Wahrheit über das menschliche Leben zu bedenken, über seinen gemeinschaftlichen Charakter und über die Grenzen der Freiheit des Menschen (Nagórny 2003a, 63–65; 2002, 234). Es besteht kein Zweifel, dass in der irdischen Ordnung der Mensch der höchste Wert, das Zentrum und das Ziel bleibt. Seine angeborene Würde ist daher das 653 653 Janusz Podzielny - Das Recht auf die gerechte Verteidigung ... grundlegende Kriterium für die Bewertung aller Handlungen. Nur wer den Wert des menschlichen Lebens, seine Heiligkeit und Unantastbarkeit zu schätzen weiß, wird dieses Leben respektieren und verteidigen können. Nach Nagórny ist nichts hilfreicher, um im Konflikt zwischen Tod und Leben die richtige Haltung einzu- nehmen, als der Glaube an den auferstandenen Gottessohn Jesus Christus. Er hat nämlich das menschliche Leben angenommen und zu dem Ort gemacht, an dem sich das Heil für die ganze Menschheit verwirklicht. Tatsächlich offenbart sich Gott in der Bibel als der Herr und Verteidiger des Lebens, als der Eine, der immer auf der Seite des Lebens steht. Es folgt daraus, dass „das Leben, besonders das men- schliche Leben, allein Gott gehört. Wer daher nach dem Leben des Menschen trachtet, trachtet selbst Gott nach dem Leben.“ (Johannes Paul II. 1995, Nr. 9) Der Wert des menschlichen Lebens muss darum immer im Zusammenhang mit der Wahrheit gesehen werden, dass Gott den Menschen in gewisser Weise einem anderen Menschen zuweist und anvertraut. Dadurch ist jeder Mensch „Hüter sei- nes Bruders“ (Gen 4,9; Johannes Paul II. 1995, Nr. 19; 33; Nagórny 2003a, 65–69; 2002, 240–242). Der Mensch lebt also nicht allein, sondern mit anderen, dank anderer und für andere. Nur in der Gemeinschaft, die auf den moralischen Grundprinzipien au- fgebaut ist, werden die menschliche Gewaltabwehr nicht zur individuellen Rache und die Erfahrung der Gewalt nicht zur lähmenden Angst. Nagórny betont in di- esem Kontext, dass eben aus der „kranken Freiheit“, aus der menschlichen Willkür, die Gewalt und Aggression sowie Kriege aller Art entstehen. Für die richtige Ge- staltung der menschlichen Gemeinschaft sind also insbesondere diese Prinzipien wichtig, die die Wahrung der Würde des Menschen ermöglichen. Nach Nagórny geht es hier vor allem um die sogenannten vier Säulen des gesellschaftlichen Le- bens, die schon Papst Johannes XXIII. vor 60 Jahren erwähnt hat. Das sind die Wahrheit, die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Liebe oder Solidarität (Johannes XXIII. 1963, Nr. 37; Vatikanische Konzil II. 1965, Nr. 14). Die wichtigste Grundlage menschlicher Beziehungen soll aber die Liebe, die barmherzige Liebe sein, die auch immer die fundamentale Grundlage des Friedens bleibt (Nagórny 2003a, 69–73; 2003b, 12; 2004, 244–250; Mazur 2008, 552–554). Es ist erwähnenswert, dass jeder Mensch als Person zur Mitwirkung an der Gemeinschaft fähig ist. Dieses Gefühl der Mitwirkung – also der Beteiligung an Entscheidungen und Bemühungen, die das Schicksal des Heimatlandes und der Welt beeinflussen – ist für jeden Menschen sehr wichtig. Denn ohne dies erliegen die Menschen leicht der Versuchung der Gewalt. Die Mitwirkung aller ist daher „ein Grundstein für die Errichtung einer friedlichen Welt“ (Johannes Paul II. 1985, Nr. 9). Diese menschliche Mitwirkung soll, in der Sicht von Nagórny, auf der Grun- dlage zweier eng miteinander verbundener Prinzipien erfolgen. Das sind Solida- rität und Einspruch, die zusammen die Lösung vieler Probleme des gesellschaftli- chen Lebens ermöglichen, einschließlich des Problems der Anwendung von Ge- walt, wenn man sich gegen die ungerechtfertigte Aggression verteidigen muss. Der Verweis auf Gewalt darf nämlich als Ausdruck des Einspruchs gegen das kon- krete Böse im gesellschaftlichen Leben betrachtet werden. Dieser Einspruch (ge- 654 Bogoslovni vestnik 83 (2023) • 3 gen das Böse) muss jedoch immer mit Solidarität einhergehen, er soll sogar ein Ausdruck der Solidarität sein. Die Solidarität gegenüber den Schwachen, Unter- drückten und Verfolgten wird erst dann authentisch sein, wenn sie zur Entmach- tung derjenigen, die unterdrücken und verfolgen, führt. Der Aufruf zur Liebe und Solidarität, der sich aus der Nachfolge Christi ergibt, darf also weder einen Verzi- cht auf die Wahrheit und Gerechtigkeit noch eine Zustimmung zum Bösen und zur Sünde bedeuten (Nagórny 2003a, 73–77; 2002, 234–238; 2005a, 242–244). Diese von Nagórny erwähnte Einspruchspflicht kommt aus einer realistischen Sicht auf den Menschen, der nicht nur zum Guten, sondern auch zum Bösen fähig ist. Denn eben im Menschen, in seiner Neigung zur Sünde, liegt die grundlegende Quelle des Bösen, das im gesamten gesellschaftlichen Leben entsteht. Die katho- lische Anthropologie ist jedoch nicht pessimistisch, sondern hoffnungsvoll, weil sie immer mit der Chance verbunden ist, durch das rettende Opfer Christi von dieser Sünde befreit zu werden. Die Linie, die Gut und Böse trennt, verläuft also nicht zwischen den Menschen, sondern durch die Mitte ihres Herzens. In diesem Sinne soll man glauben, dass das Böse und die Gewalt umkehrbar sind, obwohl ihre Folgen oft nicht mehr umkehrbar bleiben. Die Wahrheit über die menschliche Sünde bestätigt also, in der Sicht von Nagórny, die Tatsache, dass es keine einfa- chen Lösungen für schwierige soziale Probleme gibt. Deshalb sollte man sich selbst fragen, ob und inwieweit das Böse, das in der Welt existiert, meine Schuld ist, schon allein wegen der fehlenden angemessenen Reaktion auf das Fehlverhalten anderer Personen (Nagórny 2003a, 77–79; 2002, 238–240). Dieser christliche Realismus, der den Menschen als innerlich zerrissen betra- chtet, führt auch zur tiefen Überzeugung, dass der Frieden immer nur von kurzer Dauer und illusorisch sein wird, wenn es keine wirkliche Veränderung in den Her- zen aller am Konflikt beteiligten Menschen gibt. Sehr treffend hat diese Wahrheit Papst Johannes Paul II. betont, weil seiner Meinung nach „eine völlig und für im- mer friedliche menschliche Gesellschaft auf Erden leider eine Utopie ist /…/ und diese trügerischen Hoffnungen gradlinig zum Pseudo-Frieden der totalitären Re- gime führen. Diese realistische Sicht entmutigt jedoch keinesfalls die Christen in ihrem Einsatz für den Frieden. Im Gegenteil, sie stärkt ihren Eifer.“ (Johannes Paul II. 1982, Nr. 12) Denn der Frieden bleibt immer ein Bedürfnis, das tief im Herzen eines jeden Menschen verwurzelt ist (Johannes Paul II. 2000, Nr. 2; Nagórny 2003a, 79–82; 2004, 237–239; Mazur 2008, 556–558). 4. Erläuterung der Lehre von der gerechten Verteidigung Die Suche nach der Antwort auf die Frage der Zulässigkeit der Anwendung von Gewalt im Kampf gegen bewaffnete Angriffe führt zum längst in der christlichen Ethik bekannten Prinzip der gerechten (notwendigen, gerechtfertigten) Verteidi- gung. An diese traditionelle Lehre von der Notwehr wurde u.a. im Katechismus der Katholischen Kirche wie auch in der Enzyklika „Evangelium vitae“ erinnert (Ka- techismus der Katholischen Kirche 1997, Nr. 2263–2265; Johannes Paul II. 1995, 655 655 Janusz Podzielny - Das Recht auf die gerechte Verteidigung ... Nr. 55). Es handelt sich hier um die Situationen sowohl im individuellen als auch im gesellschaftlichen Leben, in denen ein klarer Wertekonflikt besteht, wo das Menschenleben bedroht ist. Nagórny betont in diesem Kontext, dass die Zustimmung zur angemessenen Anwendung von Gewalt zur Bewältigung von Übergriffen anderer Menschen ni- emals als die Zustimmung zum generellen Prinzip der Bekämpfung von Gewalt mit Gewalt verstanden werden kann. Einerseits darf die Verurteilung aller Gewalt nicht zur solchen „Entwaffnung“ des Menschen und der Gesellschaft führen, die Verzicht auf Verantwortung für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens be- deuten würde. Andererseits darf die Anerkennung des Prinzips der gerechten Verteidigung nicht zur Rechtfertigung des aggressiven Verhaltens von Menschen führen, insbesondere der Machthaber, sowie imperialistischer Absichten von Sta- aten und Nationen (Nagórny 2003a, 82–83; 2002, 246–247; 2004, 251–252). Nach Nagórny lässt sich das grundlegende moralische Problem hier in der Fra- ge ausdrücken, ob man zur Verteidigung des eigenen Lebens oder des Lebens geliebter Menschen (auch der Landsleute) den Aggressor töten darf? Eine inte- ressante Antwort enthält in diesem Kontext der Katechismus, wo man lesen kann: „Die Liebe zu sich selbst bleibt ein Grundprinzip der Sittenlehre. Somit darf man sein eigenes Recht auf das Leben geltend machen. Wer sein Leben verteidigt, ma- cht sich keines Mordes schuldig, selbst wenn er gezwungen ist, seinem Angreifer einen tödlichen Schlag zu versetzen.“ (Katechismus der Katholischen Kirche 1997, Nr. 2264) Diese Problematik hat auch mehrmals Papst Johannes Paul II. erläutert. In „Evangelium vitae“ schrieb er, dass es nämlich „die Situationen gibt, in denen die vom Gesetz Gottes festgelegten Werte in Form eines wirklichen Widerspruchs erscheinen. Das kann z.B. bei der Notwehr der Fall sein, in der das Recht, das eigene Leben zu schützen, und die Pflicht, das Leben des anderen nicht zu verletzen, sich nur schwer mi- teinander in Einklang bringen lassen. Zweifellos begründen der innere Wert des Lebens und die Verpflichtung, sich selbst nicht weniger Liebe entge- genzubringen als den anderen, ein wirkliches Recht auf Selbstverteidigung. /…/ Auf das Recht, sich zu verteidigen, könnte demnach niemand aus man- gelnder Liebe zum Leben oder zu sich selbst verzichten, sondern nur kraft einer heroischen Liebe, /…/ deren erhabenstes Beispiel der Herr Jesus selber ist.“ (Johannes Paul II. 1995, Nr. 55) Die gerechte Verteidigung kann deshalb nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung aufgrund der Verantwortung für das Wohl anderer Personen, der Familie oder des Staates sein (Katechismus der Katholischen Kirche 1997, Nr. 2265; Nagórny 2003a, 83–84; 2002, 247–248; 2004, 252; 2005b, 367–368; Biggar 2014, 556–557). Die ethische Entscheidung, in der Sicht von Nagórny, ist hier also klar. Im Extrem- fall, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, den Angreifer zu neutralisieren, darf man ihn sogar töten, um sein eigenes Leben oder das Leben anderer unschuldiger 656 Bogoslovni vestnik 83 (2023) • 3 Menschen zu retten. In einer solchen Situation ist der Verteidiger nicht für den Tod verantwortlich, weil diese Verantwortung beim Angreifer liegt. Nach Nagórny ist es hervorzuheben, dass das Prinzip der gerechten Verteidigung nur für die Situa- tion des aktuellen Angriffs gilt. Darum darf sie nicht auf einen späteren Zeitpunkt ausgedehnt werden, denn in diesem Fall wäre es nicht mehr eine Frage der Verte- idigung, sondern der Rache. Außerdem sollten die eingesetzten Verteidigungsmit- tel immer proportional zur Angriffsgefahr sein, denn „wenn jemand zur Verteidi- gung des eigenen Lebens größere Gewalt anwendet als nötig, ist das unerlaubt“ (Thomas von Aquin 1963, 319; Katechismus der Katholischen Kirche 1997, Nr. 2264; Nagórny 2003a, 85; 2002, 248; 2004, 253; Biggar 2014, 558–559). Viele Moraltheologen berufen sich bei der Interpretation der Lehre von der gerechten Verteidigung auf das Prinzip der Doppelwirkung. Es besagt, dass eine Handlung mit sowohl schlechten wie auch guten oder neutralen Folgen dann mo- ralisch erlaubt ist, wenn die schlechten Folgen nur unbeabsichtigte Nebenfolgen sind. Diese Begründung im Kontext der gerechten Verteidigung wurde bereits vom Hl. Thomas von Aquin akzeptiert – und man kann sie auch im heutigen Katechi- smus finden: „Aus der Handlung dessen, der sich selbst verteidigt, kann eine do- ppelte Wirkung folgen: die eine ist die Rettung des eigenen Lebens, die andere ist die Tötung des Angreifers. /…/ Nur die eine Wirkung ist gewollt, die andere nicht.“ (Katechismus der Katholischen Kirche 1997, Nr. 2263) Die Anerkennung des Re- chts, einem ungerechten Angreifer im Falle der Selbstverteidigung den Tod zu- zufügen, wird auch damit erklärt, dass das Mordverbot nur für eine unschuldige Person gilt. Nagórny bemerkt jedoch, dass dieses Kriterium der Unschuld oft pro- blematisch bleibt. Denn ein angegriffener Mensch kann nicht alle Aspekte der Situation beurteilen. Deshalb spricht man z.B. im Strafrecht weniger über die Würdigkeit, sondern vielmehr über die Zulässigkeit oder Straflosigkeit der Notwe- hr (Nagórny 2003a, 86–87; 2002, 248–249; 2005b, 368–369). In traditionellen Ansätzen zum Selbstverteidigungsprinzip wurde auch darauf hingewiesen, dass die Verteidigung gegen ungerechte Aggression zwar erlaubt, aber nicht immer verpflichtend sei. Nach Nagórny darf der Mensch die Verteidigung ge- genüber sich selbst aufgeben, um seine besondere Vorliebe für friedliches Handeln zu offenbaren oder dem Gegner die Chance zu geben, sich zu bekehren. Besonders wichtig ist hier die Fähigkeit, Zeugnis von der Liebe abzulegen, die nicht aus Schwäche und Angst kommt, sondern ein Ausdruck der christlichen Vollkommen- heit, der Überwindung des Bösen mit Gutem ist. Eine solche Haltung geht über das Recht auf die gerechte Verteidigung hinaus (Nagórny 2003a, 88–89; 2002, 249–250). Die Lehre von der gerechten Verteidigung sollte nicht nur auf den Einzelfall, sondern auch auf die Gemeinschaft, insbesondere den Staat angewendet werden. Auf der gesellschaftlichen Ebene bestehen das Recht und die Pflicht der gesetz- mäßigen öffentlichen Gewalt, der Straftat angemessene Strafen zu verhängen. Nach Nagórny ist es jedoch wichtig, die begrenzte Natur dieser staatlichen Macht hervorzuheben. Sie darf auf Gewaltmittel zurückgreifen, niemals aber auf Folter. Die letzte Grenze des Einsatzes von Zwangsmaßnahmen ist die Freiheit und die Würde jeder Person, die nicht gezwungen werden kann, gegen ihr Gewissen zu 657 657 Janusz Podzielny - Das Recht auf die gerechte Verteidigung ... handeln. Das Ziel solcher Zwangsgewalt (z.B. der Polizei oder des Militärs) sollte immer sein, zu verhindern, dass jemand anderen Böses tut oder das Gemeinwo- hl zerstört. Denn welchen Sinn hat ein solcher Staat, der die Sicherheit seiner Bürger nicht gewährleistet, der nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen Gesetzes- brecher zu verteidigen (Katechismus der Katholischen Kirche 1997, Nr. 2265–2266; Nagórny 2003a, 89–90; 2002, 250–251; 2004, 253). Abschließend ist festzustellen, dass die Anerkennung der Lehre von der gere- chten Verteidigung – unter vielen Vorbehalten und Einschränkungen – niemals mit einer Haltung der Rache oder des Hasses gleichgesetzt werden darf. Die Ableh- nung von Rache und Hass darf jedoch keine Zustimmung zum Bösen sein. Ange- sichts von Unrecht ist es daher notwendig, so zu helfen, dass der Mensch so weit wie möglich vor der Verletzung seiner Grundrechte geschützt wird (Biggar 2014, 553–554) 5. Zusammenfassung Im Licht der obigen Überlegungen von Janusz Nagórny kann man einerseits nicht dem naiven Wunschdenken erliegen und sich der Illusion hingeben, dass es leicht sei, dieser Welt den Frieden zu bringen. Andererseits darf man nicht an die Mögli- chkeit glauben, alle schwierigen Probleme durch den Krieg lösen zu können, also an die sogenannte „Mystik der Gewalt“. Deshalb muss alles getan werden, um alle Formen von Krieg zu verhindern. Gleichzeitig muss jedoch mit Realismus daran erinnert werden, dass jede Nation und jeder Staat das Recht und sogar die Pflicht hat, seine Freiheit und Unabhängigkeit angesichts der ungerechten Aggression zu verteidigen. Es ist daher notwendig, zu Verhandlungen und Vereinbarungen im Geiste der Solidarität aufzurufen und zugleich an das Recht zu erinnern, sich gegen die schreienden Ungerechtigkeiten in der heutigen Welt auszusprechen (Nagórny 2003a, 99; 2002, 251–252; 2004, 253–254; 2005b, 369–370). Ein wirklich dramatischer Ausdruck dieser Herausforderungen bleibt in der le- tzten Zeit in Europa der 24. Februar 2022, also der Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine. Sicherlich kann jeder Mensch in dieser Angelegenheit etwas tun, doch die Einzelbemühungen sind oft zum Scheitern verurteilt. Ein wirksames Mit- tel zur Überwindung zeitgenössischer Formen von Gewalt und Terror scheint ins- besondere die sogenannte „Globalisierung der Solidarität“ zu sein, die die staa- tlichen und nationalen Grenzen überschreitet. Diese gegenwärtigen Paradoxien sollten für Christen immer Paradoxien der Liebe sein. Und die besonnene und kluge Liebe bedeutet unter anderem, den Nächsten gegen die ihm zustoßende Aggression und das Leid zu verteidigen. Nur auf solchem Weg der Liebe, wie der polnische Moraltheologe Janusz Nagórny prophetisch erinnert hat, kann die Welt zu einem würdigeren Wohnort für den Menschen werden, voller Freude und Fri- eden (Nagórny 2003a, 99–101; Mazur 2008, 558–559). 658 Bogoslovni vestnik 83 (2023) • 3 Referenzen Biggar, Nigel. 2014. In Defence of Just War: Chris- tian tradition, Controversies, and Cases. Bo- goslovni vestnik 74, Nr. 4:551–563. Derdziuk, Andrzej. 2017. Wprowadzenie. In: An- drzej Derdziuk, Hrsg. Świadek Ewangelii na- dziei. 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