31 Babette Babich AUF DEM WEG ZUR GROSSEN POLITIK: „DER EUROPÄISCHE MENSCH UND DIE VERNICHTUNG DER NATIONEN“ Nietzsches Kritik des Sozialismus. Die Welt verwandeln wollen Sowohl Kritiker von Nietzsche, die sich einer demokratischen oder auf Gleichheit beruhenden Politik verpflichtet fühlen als auch Nietzscheleser, die die eine entgegen gesetzte Lesart verteidigen würden, nehmen ihren Aus- gangspunkt bei Nietzsches Kritik des Sozialismus. Und doch übersehen beide Standpunkte Nietzsches umfassendere Perspektive und daher kümmern sich sowohl seine Kritiker als auch seine Bewunderer im Blick auf den Sozialismus ausschließlich um das, was sie für Nietzsches Aufmerksamkeit gegenüber den menschlichen Ungleichheiten halten, eben Nietzsches Aufmerksamkeit ge- genüber Rangordnung, seine elitären Ansprüche, was dasselbe heißt wie: seine Perspektive des Perspektivischen. Statt Gleichheit zu fordern, ruft Nietzsche nach dem, was er für �die wahre Rede der Gerechtigkeit“ hält, nämlich: »Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches,« und weiter: »Ungleiches niemals gleich machen« (GD, Streifzüge eines Unzeitgemäßen §48). Nietzsches radikal-kritisches Konzept der Kritischen Theorie lange vor der Frankfurter Schule (obwohl und zwar von entscheidender Bedeutung für PHAINOMENA XXVI/102-103 32 Adorno und Horkheimer im Gegensatz zu Habermas)1 fordert uns also dazu auf, den Ruf nach Gerechtigkeit zu überprüfen, ganz so wie er auch die ‚Moral‘ der Moral einer Prüfung unterzieht – also: Genealogie. In der Vermutung, die �Lehre von der Gleichheit!…“ sei ein erstrebenswertes Ziel oder Projekt, gehen wir davon aus, es bedürfe dazu einer unter dem Banner eben dieser Doktrin durchgeführten Veränderung der Welt eben dazu. So argumentieren Nietzsche-Transhumanisten, dass Nietzsche uns ermutigt, über alle anderen zu triumphieren, ein Thema, das neue technologische Entwicklungen nur ver- stärken werden. Und wenn Nietzsche wahrscheinlich nicht meinte, man solle eine Reihe von kybernetischen und Nutrazeutik-Tricks verwenden, um diesen Triumph zu sichern – das ist nichts anderes als die heutige jüngste Manifesta- tion des asketischen Ideals – so kann man doch ihre Begeisterung verstehen. Doch die Dinge sind stets komplizierter als man denkt und die Tatsache, dass eine bestimmte Umkehrung von Werten über ein früheres Ideal endlich gesiegt hat, kann eine Reihe versteckter Motive und Taktiken umfassen. Wir lieben Hacks und geheime Techniken, weil der beste Kandidat nicht immer gewinnt. Warum also nicht die Quoten kippen? Wie Nietzsche zeigt, gleicht die Gefahr der Ideologie hier eben jener Inversion des Denkens, wie wir sie auch in der geheimen oder maskierten Selbstbehauptung, die dem modernen Ideal von Moral innewohnt, wiederfinden. Sein Heilmittel dagegen ist die Umwertung, die den kritischen Denker zu der Frage cui bono auffordert, das heißt dazu, nach dem absoluten Wert dieses Wertes zu fragen, nach dem also, der davon profitiert, ein ursprünglich Gutes zu benennen und den eigentlich völlig unzureichenden Gegensatz von �Gut“ und �Böse“ aufzureißen. Wir reden hier wohlbemerkt einzig und allein von der Gesellschaft, in der angeblich Männer und Frauen gleich sind, die Klassen nivilliert, ähnlich 1 Siehe weiter dazu Babich, “Towards Nietzsche’s ‘Critical’ Theory — Science, Art, Life and Creative Economics” in: Helmut Heit u. Sigga Thorgeirsdottir (Hg.), Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation (Berlin: de Gruyter, 2016), S. 112–133 und, neben den anderen aufschlussreichen Beiträgen zu diesem Sammelband als ganzes, “Habermas, Nietzsche, and the Future of Critique: Irrationality, The Will to Power, and War” in: Babich (Hg.) Nietzsche, Habermas, and Critical Theory (Amherst, NY: Humanity Books, 2004), pp. 13–46. ONE HUNDRED PER CENT BABETTE BABICH 33 die Gegensätze von Reich und Arm, Gesund und Krank, Schwach und Stark, Christ und Jude, Europäer und Nichteuropäer und, nicht zu vergessen, Abend- länder und Nicht-Abendländer, wenn auch nur weil schon dies, Abend- und Morgenland, und vielleicht mehr noch Nord und Süd von zentraler, ja entsc- heidende Wichtigkeit sind, um von Bruno Latours quasi-hermeneutischer Ex- istenzweisen auszugehen. Eine Anthropologie der Modernen hier Abstand zu nehmen, nicht etwa, weil das, was er in diesem ‚Projekt‘ schreibt ist falsch, sondern weil noch mehr Überlegungen dazu erforderlich ist. In Bezug auf die �Lehre von der Gleichheit“ sollten wir, laut Nietzsche, ei- gentlich auf der Hut sein, denn sie steht nicht nur maskiert sondern in einen vielfarbigen Mantel gehüllt im besten Licht einer ‚Regenbogenpolitik‘: �… Aber es giebt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist. …“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, §48). Nietzsche argumentiert nicht gegen Gleichheit als solche sondern gegen die Gleichheit an sich denn es gibt keine Gleichheit und insofern wäre die Behauptung der Gerechtigkeit selbst unmöglich und würde lediglich unserer beschränkten Sichtweise entsprechen. Einer Kurzsichtigkeit.. die wir aus ideologischen Gründen gerne willkommen heißen. Doch wozu? Was Nietzsche in seiner Götzendämmerung als das Dionysische bezeich- net, lässt sich auch im Vokabular der Architektur wiedergeben, im Sinne einer dionysischen Architektur (wenn auch nicht als Anleitung für Kapitalisten, die sich für Ayn Rands Der ewige Quell begeistern), wenn man ihrem Einfluss und Stil nachspürt in Nietzsches Rede von Größe in Stil und Politik. Der folgende Satz lässt uns straucheln und ausscheren, sofern wir den Be- griff der Größe im Fahrwasser der ,großen Politik‘ und der �Nietzscheschen Kriege“ lesen, wie die Journalisten des Ersten Weltkrieges sie wohl genannt hätten, wenn wir also den Zusammenhang vergessen, als hätte Nietzsche sein- en Aphorismus nicht eng, nicht klein genug für uns gestrickt: �Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in Dem zum Ausdruck, was großen Stil hat.“ (Ebd.) Der musikalische Zusammenklang, nach dem Nietzsche sucht, findet sich in der gefrorenen Musik der Architektur wieder: �die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat… die ohne Bewußtsein davon lebt, daß es Widerspruch gegen sie giebt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als großer Stil von sich.“ (GD, Streifzüge eines Unzeit- PHAINOMENA XXVI/102-103 34 gemäßen 11) Der Interpret, der dem im Blick auf Nietzsches große Politik Gerechtigkeit widerfahren lassen könnte, müsste über Musik sprechen – Ni- etzsches Antipoden Rousseau ausgenommen, das heißt Beethoven (und dies würde uns zu Adorno führen). Am Ende, in der Mitte wie zu Beginn seiner intellektuellen Arbeit, die mit der Geburt der Tragödie einsetzt, untersuchte Nietzsche die Naturgeschichte von Leben und Macht in den Individuen, den Kulturen und der Geschichte. Ohne die Verheißungen des Christentums, ohne das Ideal der Erlösung gibt es hier nur Aufstieg und Untergang, Überfluss und Mangel oder Verfall. Diese Dinge für gleich zu erklären, bedeutet, die Optik des Lebens auszublenden, wobei diese Aussage nicht bedeutet, Nietzsche zu einem Verteidiger des Risi- ko- oder Aasgeier-Kapitalismus zu machen. Nietzsche blickt stattdessen auf die Kunst, denn was ihn vor allem interes- siert, ist das Leben. Die Wissenschaft (dies bildet die Schwachstelle des dialek- tischen Materialismus und wir können hier Bezug nehmen auf die Kritik der Dialektik, ihrer Genese und Entwicklung hin zur Dekadenz, wie Nietzsches sie am ‚Problem Sokrates‘ entfaltet), die Wissenschaft wurde, wie Nietzsche im- mer wieder behauptet, als solche nur möglich durch ihre Vorformen in Magie, Alchemie und Religion. Heute, in ihrer vollendeten Form ist sie eine Erbin, vielleicht die einzige, der Religion – das wollte schon zu Nietzsches Zeiten nie- mand glauben, selbst nachdem er in seiner Unzeitgemäßen Betrachtung die aufgeklärte Theologie eines David Friedrich Strauß, Schriftsteller und Theo- loge, ins Visier nahm, was nur eine andere Form der Beschreibung dessen ist, wie man ein aufgeklärter Reformtheologe (und was sind evangelische Theolo- gen anderes) werden kann zur Erbauung und zum Vergnügen und nicht zu- letzt zum höchst-persönlichen Vorteil, sozusagen ein Deepak Chopra des 21. Jahrhunderts oder ein Dale Carnegie des 20. Jahrhunderts, der einen lehrt, wie man dabei zu ‚Freunden‘, medial-digitalem Einfluss und zu schnellem Geld kommt. Das ist der härteste Teil von Nietzsches Kritik dieser aufgeklärten Theolo- gie, Psychologie, Biologie (das betrifft Darwin und Malthus), Ökonomie (Car- lyle und Malthus) – vergesst Malthus nicht, sagt uns Nietzsche, und verwech- selt niemals Malthus‘ Visionen mit irgendetwas in der Realität! Das bedeutet nicht, dass wir die Welt nicht durch Malthus’sche Augen betrachten. Doch, wir ONE HUNDRED PER CENT BABETTE BABICH 35 tun genau das und daher sehen wir überall Mangel und Verknappung, die uns dazu zwingen, anzuhäufen oder zu zerstören, zum Beispiel Wälder abzuholzen mittels Agent Orange und seinen Derivaten in Afrika, Asien oder Südamerika, alles Grüne zu vernichten mitsamt dem, was einst hier lebte, unseres mehr als nur hochtechnisierten, motorisierten, sondern Monsanto-getreuen Ackerbaus wegen oder auch nur, um zu den Bergen zu gelangen, deren wir meinen zu unserer eigenen Zerstörung zu bedürfen, seltene Erden (schöne, aber faktisch ironische Benennung!), nach Gas fracken, nicht, weil wir keine Ölreserven mehr hätten (haben wir vorrätig), sondern um ausreichend sicherzustellen, dass es sich dabei nicht möglicherweise um ein Mangel handelt (man denkt nicht an das Grundwasser). Geologen im Auftrag von irgendwelchen Gesell- schaften lügen, alle Wissenschaftler leben für nichts als Fördergelder. Auf diese Weise schaffen wir eine Welt nach unserem eigenen Malthus‘schen Bilde. Wenn Nietzsche nie abließ von seinem eigenen Unterfangen, die kritische Frage nach der Wissenschaft aufzuwerfen, sie gewissermaßen selbst infrage zu stellen, die Wissenschaft selbst, wie er sagt, als eine Frage, so dass wir schließlich, wie er immer wieder betont, dahin gelangen können, uns selbst, wie wir es noch keineswegs tun, zu kennen – �Man muß wissen, wer man ist…“ (GD, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, §7) –, dann liegt hier der Grund, warum seine kritische Theorie letztlich gesellschaftlicher Natur ist. Menschliches, Allzumenschliches lesen. Nietzsches ,guten Euro- päer‘ Etliche Forscher haben über Nietzsches, guten Europäer‘ geschrieben, über dieses Ideal jenseits des guten Deutschen, des guten Franzosen oder Englän- ders. Nimmt man den Begriff �gut“ über den europäischen Kontext hinaus, könnte man auch vom guten Amerikaner, vom guten Asiaten oder vom guten �Nah-Ostler“ sprechen – und damit wären wir bei der gegenwärtigen Flücht- lingskrise angelangt. Hier möchte ich mich mit diesem Begriff im Zusammenhang von Mensch- liches, Allzumenschliches beschäftigen, einem Buch, dass vor allem Leserinnen und Leser anlockt, die sich in den Kapitelanordnungen und -sprüngen des ersten Bandes (1878) verlieren, und denen es oft nicht gelingt, sich auch nur PHAINOMENA XXVI/102-103 36 ansatzweise zu dem fortzubewegen, was dann den zweiten Band ausmachen wird, nämlich die Vermischten Meinungen und Sprüche (1879). Und nur die Wenigsten unter den Nietzscheforscher haben sich mit dem reflexiven Diskurs als solchem zwischen dem Wanderer und seinem Schatten (1880) befasst. So lässt Nietzsche seine Vorrede zum zweiten Band mit einer nützlichen Überle- gung à la Wittgenstein beginnen: �Man soll nur reden, wo man nicht schwei- gen darf; und nur von dem reden, was man überwunden hat, – alles Andere ist Geschwätz, ‚Litteratur‘, Mangel an Zucht.“ Ein Buch, das als ein Buch für �freie Geister“ erklärt wird, scheint ein überaus freies Buch zu sein, sogar eines, das einem wenig abverlangt. Doch hier handelt es sich um ein (aus verschiedenen Gründen) schwieriges Buch, und zwar für Nietzsche-Spezialisten wie für Laien gleichermaßen.2 Allgemein neigt die Forschung allesamt Nietzsches Denken in drei Phasen aufzuteilen. Man spricht gerne von einer �frühen Periode“ – das heißt, irgend- wie �noch nicht“ Nietzsche –, einer zweiten Periode – für vielen fängt das an mit die Phase des �freien Geistes“, zu der Menschliches, Allzumenschliches ge- hört, sowie auch die Morgenröthe und der erste Teil von Die fröhliche Wissen- schaft, die daher eine Art Schichtkuchen-Buch darstellt, da die ersten vier Teile der Ausgabe von 1882 gipfeln in Zarathustras Prolog als der letzte Abschnitt �Incipit tragoedia,” §342. Dies ist ein entscheidenes Detail und Nietzsche fährt fort, als einzelne Bücher nacheinander zu veröffentlichen, die einzelnen Teile, 1-3 von Zarathustra, bevor er das fünfte und letzte Buch zur 1887er Ausgabe von Die fröhliche Wissenschaft hinzufügt. Die Frage, die mich hier beschäftigt, ist allerdings ausschließlich die, wie wir Menschliches, Allzumenschliches eigentlich zu lesen haben. Als Akademi- ker wissen wir aber bereits im Voraus, wie es sich gehört ein Buch zu lesen: ganz einfach. Man macht mit der ersten Seite den Anfang und liest es dann bis zu Ende durch. Und schon hier stoßen wir auf die Schwierigkeit, diesen �An- 2 Wenn man es Studierenden in einem Einführungsseminar an der Uni nahebringen muss, wie es mir obliegt, wird man sich dieser Schwierigkeiten vielleicht eindringli- cher bewusst. Siehe weiter, Babich, “Nietzsche’s Influence and Meaning Today,” in: Ekaterina Polyakova und Yulia Sineokayau, Фридрих Ницше: наследие и проект. М.: Культурная революция,/Friedrich Nietzsche: Heritage and Prospects, Moscow, Cultu- ral Revolution, 2018), S. 391–406. ONE HUNDRED PER CENT ll r re e , o an nicht schwei- BABETTE BABICH 37 fang“ bei Nietzsche zu finden, der seine Bücher stets wiederkehrend, ja schein- bar so oft wie möglich veröffentlicht hat. Er hatte zudem den Hang, exempla- risch der Regel zu folgen, dass ein Autor die Einführung zu einem Text jeweils erst ganz am Schluss hinzufügt, so dass er seine Vorreden oft erst viele Jahre nach der Niederschrift des Buches selbst verfasste.3 Demzufolge schrieb er die Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches auch erst, nachdem er 1886 alle drei Bände gemeinsam veröffentlicht hatte. In der ursprünglichen Erstausgabe von 1878 hatte er dem Leser noch eine Art epigraphisches Motto an die Hand gegeben, in dem er auf der linken Seite einen örtlichen, zeitlichen und auf eine elliptische Weise affektiven Hinweis anbrachte4 und auf der gegenüberliegen- den rechten Seite – �An Stelle einer Vorrede“ – eine �aus dem Lateinischen des Cartesius“ übersetzte Passage zitiert, die von Descartes’ eigener Suche nach ganz bestimmten Lesern zeugt. Die von Nietzsche 1886 hinzugefügte einfüh- rende �Vorrede“ fungiert somit nicht zuletzt als Teil der Publikationsgeschich- te seines Buches. Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausge- drückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an al- len meinen Schriften gäbe, von der �Geburt der Tragödie“ an bis zum letzthin veröffentlichten �Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“: sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für un- vorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforder- ung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Ge- wohnheiten. Wie? Alles nur – menschlich-allzumenschlich? […] Man 3 Dem Problem der zeitlichen Nachbarschaft muss man jenes hinzufügen, dass Nie- tzsche seine Vorreden direkt an den Leser adressierte, was die Texte nicht unbedingt zugänglicher macht. Deshalb möchte ich eine der problematischsten Vorreden in Erinnerung rufen, in welcher der berüchtigte und noch immer nicht geknackte Satz formuliert wird: �Vorausgesetzt das die Wahrheit ein Weib ist –, wie?“ (GM Vorrede) 4 Erstmals 1878 richtete sich Nietzsche mit der folgenden kleinen Bemerkung unmit- telbar an den Leser: �Dieses monologische Buch, welches in Sorrent während eines Winteraufenthaltes (1876 auf 1877) entstand, würde jetzt der Oeffentlichkeit nicht übergeben werden, wenn nicht die Nähe des 30 Mai 1878 den Wunsch aller lebhaft erregt hätte, einem der der grössten Befreier des Geistes zur rechten Stunde eine per- sönliche Huldigung darzubringen.“ PHAINOMENA XXVI/102-103 38 hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. (MM, Vorrede; KSA 2, 13) Es ist bekannt, wie nachhaltig sich Nietzsche mit der ausbleibenden Rezep- tion seiner Bücher selber beschäftigt hat. Wir sollten das Projekt dieses Buches daher als eines begreifen, in dem sämtliche Hauptstücke – vom ersten, über- schrieben mit Von den ersten und letzten Dingen, bis zum abschließenden neun- ten Hauptstück Der Mensch mit sich allein – miteinander korrespondieren. Angesichts der gescheiterten Rezeption seines ersten Buches, für wen schreibt Nietzsche sein faszinierend betiteltes Menschliches, Allzumenschliches? Aber so- bald wir diese Frage stellen, glauben wir, dass wir die Antwort haben: Es müssen wir selbst sein, seine Leser. Also glauben viele von uns gerne als dafür auserko- ren, zu Nietzsches ernanntem Weggefährten �in Blindheit“, wie er sagt, zu wer- den, frei von Verdacht und Fragezeichen, die unsere Geselligkeit mit Nietzsche empfindlich stören könnten. Infolgedessen, und dies erklärt das zunehmende Interesse an Nietzsches sogenannter Mittelperiode, besonders für englischspra- chige Gelehrte, aber auch für französischsprachige Experten, betrachten sich viele von Nietzsches Lesern als �Freigeister“. Nietzsche jedoch verwendet diesen Begriff in Anführungszeichen, denn der �freie Geist“ entspricht zugleich einer reinen Konvention. In der Tat, Nietzsche ihn, wie er sagt, in Ermangelung von Besserem schliesslich �erfunden“, denn […] dergleichen �freie Geister“ giebt es nicht, gab es nicht, — aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, — als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. (Ibid., §ii; KSA 2, 15) Wenn nun solche freien Geister schon nicht als wirklich existent behauptet werden können, so sind wir doch (wie Nietzsche selbst) frei, so zu tun, als ob es sie gäbe: sie hervorzuzaubern, wenn man sie braucht, und abblitzen zu las- ONE HUNDRED PER CENT sä tli a tst vo ersten, über- BABETTE BABICH 39 sen, wenn man sie nicht haben will. Und tatsächlich haben wir ja heute solche Virtuelle-freien Geister an der Hand, auf Facebook oder Twitter, Freunde, die nur solche sind, wenn wir sie brauchen – und deren Nachrichten weggedrückt bzw. stummgeschaltet werden, wenn wir sie nicht gebrauchen können. Man kann Nietzsche aber heute nicht nur als einen Wahrsager lesen, der in seinem Schreiben das gegenwärtige digitale Zeitalter vorausgesehen hat, sondern auch als jemanden, der nichts Geringeres und Zeitgemäßeres im Blick hatte als ein- en Begriff von Europa.5 „Der gute Europäer“ oder: Nietzsche und die EU. Der Brexit-Ef- fekt In unserem durchaus unhistorischen Begeisterung, Nietzsche als unseren eigenen Zeitgenossen zu lesen, riskieren wir allerdings, zu vergessen, ihn zu- gleich im Zusammenhang seiner eigenen Epoche und unter seinen eigenen Zeitgenossen zu verstehen. Wir sollten also Überlegungen zu Nietzsche und der Geschichte, wie sie etwa von Christian Emden oder Manuel Dries oder Thomas Brobjer angestellt werden, im Kopf behalten, ebenso wie die anderer Forscher, die über Nietzsches Reisen schreiben oder über seine Verflechtungen mit der Disziplin der Geschichte als solcher, wobei man sich hier meiner An- sicht nach nicht ausschließlich auf die zweite der Unzeitgemäßen Betrachtun- gen beschränken sollte. Folglich gibt es unter den Nietzsche-Lesern zum einen Forscher im buchstäblich Sinne, während sich andere (wie man im Blick auf Emden und Dies festhalten sollte) mit dem beschäftigen, was die analytische Philosophie als �Geschichte der Philosophie“ benennt. Dennoch scheint gerade diese Unzeitgemäßheit zugleich das eigentliche Ziel Nietzsches zu sein, vor allem in dem Abschnitt, den man als den locus 5 �Dass es dergleichen freie Geister einmal geben könnte, dass unser Europa unter sei- nen Söhnen von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Sche- men und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie be-reits kommen, langsam, langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kom- men zu beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe? –� (Ibid.) PHAINOMENA XXVI/102-103 40 classicus des �guten Europäers“6 bezeichnen könnte, eben in der folgenden unzeitgemäßen Annahme, man solle sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, Dolmetscher und Vermittler der Völker zu sein, mitzuhelfen vermögen. (MM §475) �Beiläufig“, so fährt Nietzsche fort, sei �das ganze Problem der Juden“ nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kom- men muss, so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt – und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden –, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen. (Ibid.) Nietzsche versichert hier, dass wir, wenn wir nur zu der durchaus wörtlich gemeinten �Vernichtung der Nationen“ und dem Ideal der �Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse“ gelangen würden, zugleich eine Lösung des, Judenproblems‘ hätten. Dann nämlich wäre �der Jude als Ingredi- enz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest“ – und man könnte sich eine solche Lösung (auch wenn dies eine andere Ar- gumentation verlangen würde, um die Sache voranzutreiben) ebenso für das, islamische Problem‘ vorstellen. 6 Um sicherzugehen greift Nietzsche diesen Punkt in FW §357, in einem Abschnitt, der mit �Zum alten Probleme: �was ist deutsch?“ überschrieben ist, erneut auf, und wieder in FW §377 �Wir Heimatlosen“ sowie am Ende von Zur Genealogie der Moral III:27; und er schließt seine einleitenden Worte zu Jenseits von Gut und Böse mit den Worten: �Aber wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister –“ (JGB, Preface). Eine Nachlassnotiz fasst diese Reihe von Überlegungen wie folgt zusammen: �der Unstäte, Heimatlose, Wanderer – der sein Volk verlernt hat zu lieben, weil er viele Völker liebt, der gute Europäer.“ KSA 11, 31 [10], 362. ONE HUNDRED PER CENT BABETTE BABICH 41 Der Hinweis auf die Rasse ist entscheidend, da Nietzsche diesbezüglich auch von den Deutschen und anderen Nationalitäten auf die gleiche Weise spricht wie von den Juden, insofern es letzlich die Religion sein soll, die hier die Schlüsselfunktion hat. Diese führt ihn sodann zu einer Reflexion über die Verbindung von Orient und Okzident, Athen und Jerusalem, die ich im Blick auf meine eigenen Überlegungen zur Betrachtung der Religion im Achten Hauptstück später aufgreifen werde. Hier hilft es zunächst weiter, sich das Erste Hauptstück Von den ersten und letzten Dingen als einen ebenso strategischen wie zweckmäßigen Wegweiser in Erinnerung zu rufen. Um uns also den Beginn des Achten Hauptstücks zu vergegenwärtigen, sehen wir uns den Titel des ersten Aphorismus an: �Um das Wort bitten.“ (MM § 438; KSA 2, 285) �Um das Wort zu bitten“ – diese Art zu sprechen erinnert an jemanden, der sich (wenn er sich auch nicht gerade im Sinne von Hölderlins Scardanelli als Unterthan versteht) gegenüber einem Be- fehl verhält. Es ist die Sprache der �militärischen Schule des Lebens“, willsagen: der �Kriegschule des Lebens,“ die eine so starke Wirkung auf Nietzsche hatte, dass er diese Miliärschule beschwört, um sie seinem ersten Buch bei seiner Wiederveröffentlichung �zum Geleit“ zu geben. Wir haben oben schon angemerkt, dass Nietzsche es sich zur Gewohnheit machte, seine Bücher immer wieder zu überarbeiten, etwa in dem ebenso berühmten wie entschiedenen �Versuch einer Selbstkritik“, den er im Spät- sommer 1886 in Sils Maria niederschrieb. Dieser �Versuch einer Selbstkritik“ schwankt zwischen dem modernen, selbstbezogenen Sinn einer Selbstein- schätzung oder -überprüfung bewusster Absichten und Intentionen, und der kantischen Kritik, die Nietzsche ja ebenfalls in seinem ersten Buch beschäftigt hat. Hier hatte Nietzsche ja keinesweg verkündet, der erste zu sein, der die jüdische Frage benennt oder die katholische oder, wenn wir so wollen, das deutsche Problem, auch nicht der erste, der das griechische Problem als solche (unter Altphilolgen betrachtet) in Angriff nimmt, sondern vielmehr der erste zu sein, die �Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst“ hat (GT §ii). Ich erwähne das nicht nur, weil mir die Fragen nach der Wissenschaft, nach Wahrheit, Vernunft und Logik ohnehin dauernd präsent sind, sondern auch, weil Nietzsche in den neun Hauptstücken von Menschli- ches, Allzumenschliches durchaus mehr macht, als einfach nur verschiedene Abhandlungen aneinanderzureihen. Es ist das Problem der Wissenschaft, das ihn beschäftigt, eines, das für Nietzsche, der sich ja letztlich um die unwissen- schaftliche Gefahr eines Triumphes der Methode über die Wissenschaft sorgte, als solches nicht unbedingt eine methodologische Reflexion verlangt. Man sol- lte daher daran erinnern, dass der �Versuch einer Selbstkritik“ von 1886 er- neut den ganzen Kontext seines ersten Buches beschwört, das während der seelischen Schlachten um das verfasst wurde, was dann zum Geist des �guten Europäers“ werden sollte, nocheinmal, nämlich zur Zeit �des deutsch-franzö- sischen Krieges von 1870/71“, in dem, wie Nietzsche schreibt, �die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggiengen.“ (GT §i) In seinem Einfühun- gsparagrafen bringt Nietzsche zudem ein persönliches Detail ein – er spricht davon, er sei, �als man in Versailles über den Frieden berieth“, �langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit genesend“ (ibid.) gewesen und habe �unter den Mauern von Metz“ über das �Kunstwerk des Pessimismus“ nachgedacht und sich gefragt, ob dieser insbesondere �bei uns, den ,mod- ernen‘ Menschen und Europäern“, tatsächlich �nothwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte“ sei. Ich zitiere all das, um die Überlegungen zu diesem ersten Buches mit dem vorletzten Abschnitt des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches zusammenzubringen, wo Nietzsche folgende Beobachtung formuliert: �Der demagogische Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, ist ge- genwärtig allen politischen Parteien gemeinsam […]“. Was er dabei im Blick hat, ist die Vermutung, dass dies zwingend für alle politischen Prinzipien gilt, die mit der Masse umgehen. Wenn wir diese Einsicht auf die Parteien von Do- nald Trump und Theresa May bzw. Jeremy Corbin und Angela Merkel – ganz zu schwiegen von der AfD usw. – übertragen, gewinnt man den Eindruck, dass Nietzsche uns wirklich auf eine sozusagen übersinnliche Art in die Karten guckt ist, als würde er tatsächlich unmittelbar zu uns, seinen Lesern, sprechen, und zwar über unsere heutigen Belange, bis hin zu den brandaktuellen, sprich- wörtlich an die Wand gemalten �Alfresco-Dummheiten“. Nietzsche fährt dann Schritt für Schritt fort, erst vom �Geblüt“ zu spre- chen (Menschliches, Allzumenschliches, §440), dann von der bereits erwähn- ten �Subordination“ (§441) und dem �Volksheere“ (§442). Er nimmt in die- PHAINOMENA XXVI/102-103 42 ONE HUNDRED PER CENT de �Volksheere“ (§4 2). Er nim t in die- sen Überlegungen Abstand von irgendwelchen Idealvorstellungen und zieht vielmehr Parallelen zu jener Geschichte, die ihm zugleich als Philologen am Herzen lag: �Aber wie die Griechen in Griechenblut wütheten, so [wüten jetzt] die Europäer jetzt in Europäerblut […].“ Und indem er das Herzstück seiner späteren Überlegungen zu dem geistigen und seelischen Tribut dessen antizi- piert, was er als �Große Politik“ bezeichnen wird, hält er fest, dass dabei relativ am meisten immer die Höchstgebildeten zum Opfer gebracht [werden], Die, welche eine reichliche und gute Nachkommenschaft ver- bürgen; Solche nämlich stehen im Kampfe voran, als Befehlende, und setzen sich überdiess, ihres höheren Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten aus. (§442) Dieser Aspekt sedimentiert Nietzsches Analyse der Umwertung aller Werte als Schachzug und Triumph der sogenannten Sklavenmoral, und zwar weni- ger im Sinne einer Schlussfolgerung als eines Motors, etwa wenn er schreibt: �Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger dumm, den Besiegten boshaft.“ (§444) Denn weil Nietzsche eine längerfristige historische Perspektive einnimmt, ist er in der Lage, auf eine unmittelbar zerstörerische und doch auf provozierende Weise verheißungsvolle Wirkung des Krieges hinzuweisen: �er barbarisirt in beiden eben genannten Wirkungen und macht dadurch natürlicher; er ist für die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt kräftiger zum Guten und Bösen aus ihm heraus.“ Es ist hier die in sich einkehrende Verbindung �gut und böse“, die zählt: Die Menschlichkeit wird, wie er in Zur Genealogie der Moral schreibt, �zum ersten Mal interessant“. Hier erfahren wir etwas von Nietzsches Kritik sowohl der Fürsten und Politiker als auch des Sozialismus und der Revolution — und in erster Li- nie interessiert natürlich immer das Geschäft. Was den Sozialismus betrifft, funktioniert der Scharfsinn der Kritik Nietzsches üblicherweise ohne Erläu- terungen, ohne irgendeine Begründung, auf die wir immer so versessen sind, wenn wir Nietzsche für den Faschismus oder Kapitalismus — ganz gleich, ob in denunziatorischer oder verteidigender Hinsicht — tauglich machen wollen. Das Problem des Sozialismus hängt nämlich mit der grundsätzlichen Frage BABETTE BABICH 43 zusammen, ob er �wirklich die Erhebung der Jahrtausende lang Gedrückten, Niedergehaltenen gegen ihre Unterdrücker ist“ (MM §446) oder nicht viel- mehr etwas ganz anderes. Wenn Nietzsche das übliche marxistische Argument wiederholt, der So- zialismus werde �Rechte“ erst dann durchsetzen können, wenn Krieg drohe, dann zielt dies auf eine andere Form von Empfindlichkeit, denn hier geht es jeweils um das, was Nietzsche als persönliche �Nutzen-Kalkulation“ bezeich- net. Es ist dieses Kalkül, was den Sklavenaufstand einer Umwertung der Werte wie auch weltweit jede andere Revolution vorangetrieben hat, und aus diesem Grund kommt es auch niemals zum Sozialismus. Was an seiner statt auftaucht, entspringt viel eher der Macht als der Gerechtigkeit, wie es ja auch der Titel des entsprechenden Aphorismus nahelegt: �wenn aber dann das kluge Rech- nen auf möglichste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag entstehen lässt. Ohne Vertrag kein Recht.“ (MM § 446) Und eben auch keinen Sozialismus. Wenn Nietzsche also in ei- nem späteren Aphorismus über Besitz und Gerechtigkeit (§452) nachdenkt, ist seine Behauptung nur konsequent, dass das, was wirklich not tut, niemals eintreten wird. Der Wille zur Macht findet sich auf jeder Stufe; er haust unter den Schwächsten, die nichts weniger zu erben hoffen als die Erde oder wenigs- tens die ewige Glückseligkeit im Jenseits, aber ebenso unter den Stärksten, er beherrscht die Herren ebenso wie die Sklaven. Daher steckt �die ungerechte Gesinnung […] in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht bes- ser als die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht.“ (§452) Das, worum es Nietzsche geht, hat daher im Grunde bis heute keinen Widerklang gefunden: dass �die Gerechtigkeit […] in Allen grösser werden [muss], der gewaltthätige Instinct schwächer“. (Ibid.) Das Problem besteht darin, dass ge- rade die Gerechtigkeit ein Schwafel-Wort ist, das für den einen dieses, für den anderen jenes bedeutet, weshalb auch der Ruf nach dem, was Nietzsche später �den äussersten Terrorismus“ (§473) im Namen des Sozialen nennen wird, in eklatantem Widerspruch steht zum Schwächerwerden des gewalttätigen Ins- tinks und vice versa dem Stärkerwerden eines Sinns für �Gerechtigkeit“. Nietzsches konträre Überlegungen zur Revolution würden den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Es reicht vielleicht zu sagen, dass er über die Genea- logie einer Geisteshaltung wider das Phantasma (bzw. den politischen Aber- PHAINOMENA XXVI/102-103 44 ONE HUNDRED PER CENT glauben) nachdenkt, indem er an Rousseau erinnert, �welcher an eine wun- dergleiche, ursprüngliche, aber gleichsam verschüttete Güte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erzie- hung, alle Schuld jener Verschüttung beimisst“. (§463, vgl. die Schlussfolgerung in §452) Wenn das eigentlich Problem im Streben nach Glückseligkeit (als der all- zu-amerikanischen Nutzenkalkulation) besteht, dann geht es letztlich um das Mysterium des Glücks. Und hier gemahnt uns Nietzsche daran, dass ein glück- liches Zeitalter �gar nicht möglich [ist], weil die Menschen es nur wünschen wollen, aber nicht haben wollen.“ (§471) Das �Schicksal der Menschen ist auf glückliche Augenblicke eingerichtet —–jedes Leben hat solche –, aber nicht auf glückliche Zeiten.“ Auch eine Besinnung auf Religion und Regierung (§472) würde mehr als einen Vortrag in Anspruch nehmen; Nietzsche widmet dieser Verbindung ja ein ganzes, wenn auch ausdrücklich polemisches Buch: Zur Genealogie der Moral. Es reicht hier also, lediglich darauf hinzuweisen. All diese Überlegungen erlauben es jedoch, einen Blick auf den europäi- schen Menschen und die Vernichtung der Nationen zu werfen, da Nietzsche die menschlichen Bedingungen des modernden europäischen Staates Punkt für Punkt auflistet: �Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefver- kehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur“. Und er fügt auch das Reisen hinzu – wir können hier an die Eisenbahn und andere neue Formen des Trans- portes denken, die uns �das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft“ er- lauben, gefolgt von ihren unmittelbaren Begleitumständen: Umherziehenden Arbeitskräften auf der Suche nach einer lukrativen Beschäftigung, eben �das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer“ (§475). Nach Nietzsche kann und soll all dies als eine der vielen Voraussetzungen der EU avant la lettre betrachtet werden: – diese Umstände bringen nothwendig eine Schwächung und zu- letzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss. (Ibid.) BABETTE BABICH 45 Der �gute Europäer“ ist eine Konsequenz sowohl der ökonomischen wie der technologischen Politik, die letztlich die eigentlichen Kräfte der Rassen- mischung bilden. Deshalb argumentiert er auch wieder konträr zu dem, was man anderweitig sagen würde (nämlich gut deutsch zu sein und die Idee des Deutschen verkörpern): �so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten“. (Ebd.) Wir haben oben auf die unmittelbare Verbindung zu dem �ganzen Prob- lem der Juden“ hingewiesen sowie zu dem Thema, das Nietzsche selbst am meisten am Herzen lag, nämlich �der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft“. Diese Verbindung erlaubt es Nietzsche, zu behaupten, dass es letztlich die dy- namische Arbeit des Judentums zwischen Orientalisierung und Okzidental- isierung sei, die das erzwinge, was nach ihm zugleich �in einem bestimmten Sinne so viel heisst als Europa’s Aufgabe und Geschichte einer Fortsetzung der griechischen zu machen“. Ginge es Nietzsche lediglich um eine solche ideale Verknüpfung zwischen Athen und Jerusalem, könnte man darin schlicht eine Renaissance desjenigen Geistes vermuten, der ein neues Deutschland im Sinne eines neuen Griechen- land ausruft. Die verwickelte Wahrheit des Krieges, mit der Nietzsche dieses Hauptstück begonnen hatte – noch einmal: �Um das Wort bitten“ –, erfor- dert es jedoch zugleich, zu verfolgen, wie er dieses Achte Hauptstück zu einem Ende bringt. Wir fahren also fort, indem wir einen Blick auf die �Grosse Politik und ihre Einbussen“ (§481) werfen. PHAINOMENA XXVI/102-103 46 ONE HUNDRED PER CENT Als Leser unterstellen wir gerne, Nietzsche sei ein Verteidiger der ‚großen Politik‘ gewesen.7 Doch was soll das eigentlich bedeuten? Denn diese Auffas- sung erweist sich als mehr als zweideutig, vor allem wenn wir diesen abschlie- ßenden Aphorismus von Ein Blick auf dem Staat: §481, �Grosse Politik und ihre Einbussen“ lesen. Worum es Nietzsche hier geht, weist weit über eine Auf- zählung der ökonomischen Kosten des Krieges hinaus, der Schäden an Körper und Geist, welche jene Individuen davontragen, die in die oben erwähnten �Volksheere“ zwangseingezogen werden, und nicht zuletzt des schrecklichen Tributes, welcher �dieser groben und buntschillernden Blume der Nation“ ge- zahlt wird, die nichts anderes ist als die Obsession des Nationalismus und sei- ner Interessen. Worum es Nietzsche geht, ist, dass im Griff des Nationalismus nicht die Interessen des Lebens in unseren Köpfen ihren Ort haben dürfen, die Leidenschaften der in Talent, Gesinnung und Liebe unterschiedenen Indivi- duen, sondern ausschließlich die �neuen Fragen und Sorgen des öffentlichen Wohles“. Dies zieht, so Nietzsche, �eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere Leistungsfähigkeit zu Werken, welche grosse Concentration und Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich.“ Anstatt über Philosophie oder den Sinn des Lebens zu reden, über die Sterne sowie Himmel und Erde, Liebe und Tod, über den Geist der Philologie, der Musik, über die antike Riten, sprechen wir über Politik. Nietzsche fragt demnach, ob es das eigentlich wert ist, diese und andere Lebensbelange zu opfern, er stellt also die Frage, derzufolge das Hauptanliegen eines jeden Einzelnen in einer Nation in nichts anderem mehr besteht als den Belangen dieser Nation und ihrer Ambi- tion, zur Top-Nation zu werden. Im Grunde stellt das Nietzsches Version der 7 Siehe dazu die Bücher von Henning Ottman, v.a., Philosophie und Politik bei Nietz- sche (Berlin: de Gruyter, 1999), S. 249ff sowie Hugo Drochon, Nietzsche Great Politi- cs (Princeton: Princeton University Press, 2016) und Gary Shapiro, Nietzsche’s Earth: Great Events, Great Politics (Chicago: University of Chicago Press, 2016) sowie Wil- -liam H. F. Altman, Friedrich Wilhelm Nietzsche: The Philosopher of the Second Re- ich (Lanham, VA: Rowman & Littlefield, 2013) und viellecht am wichtigsten, m.E., die Beiträge zu Jürgen Backhaus u. Wolfgang Drechsler (Hg.) Friedrich Nietzsche (1844–1900): Economy and Society (Frankfurt a/M: Springer, 2006). Vgl. dazu Babich, “Towards Nietzsche’s ‘Critical’ Theory — Science, Art, Life and Creative Economics” sowie Babich, “Tools for Sub-version: Illich and Žižek on Changing the World” in: Sylvie Mazzinie u. Owen Glyn-Williams (Hg.) Making Communism Hermeneutical: Reading Vattimo and Zabala (Frankfurt am Main: Metzler, 2017), S. 95–111. BABETTE BABICH 47 Brexitfrage dar, �welche [nämlich] ja doch nur als Furcht der anderen Staaten vor dem neuen Coloss und als dem Auslande abgerungene Begünstigung der nationalen Handels- und Verkehrs-Wohlfahrt zu Tage tritt.“ (§481) Hier sind wir nach Nietzsche, der den genannten Sinn für Gerechtigkeit und für das räuberische Verhalten des gewalttätigen Instinktes sehr wohl im Auge behält, keinen Schritt über Platon hinaus, der Sokrates am Anfang der Politeia sagen lässt, dass man, wenn man nach Luxus und Reichtum verlange, nach dem Überfluss einer begünstigten Kultur, Krieg führen müsse, um und auf kosten seine Nachbarn, diese Annehmlichkeiten auf Dauer sicherzustellen. Hin zum Übermenschen: Über die letzten Dinge und das Genie des Herzens Wenn wir uns an Nietzsche wenden, sollten wir uns immer auch mit der Frage beschäftigen, was sein Schreiben mit uns anstellt. Ich habe mich dies- bezüglich an anderer Stelle auch auf Heidegger und weniger kontrovers und zweifellos populärer auf Leonard Cohens Wort vom kalten und zerbrochenen Hallelujah bezogen, nur um Nietzsches eigene Metapher für genau diese Art des Zerbrechens lesen zu können. Am Schluss der bereits oben erwähnten �Vorrede“ von 1886 zu Menschli- ches, Allzumenschliches, seinem Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, schreibt Nietzsche vom �Genie des Herzens“. Es ist dies ein Genie, �wie es jener grosse Verborgene hat, der Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss“. (JGB §295, und erneut in EH). Nietzsches Anspruch lautet, dass �jeder“, der von dieser Stimme be- rührt wird, �reicher fortgeht“, bereichert um ein alchemistisches, spri- tuelles Gold, und zwar (genauer) �nicht begnadet und überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt,8 sondern reicher an sich 8 Dies ist grundsätzlich ein wichtiger Punkt für Nietzsche, von dem man sagen kann, dass er, wenn er überhaupt gegen etwas war, dann gegen das Lebensideal des Ang- estellten, gegen das Ideal dessen, der gegen Bezahlung arbeitet. PHAINOMENA XXVI/102-103 48 ONE HUNDRED PER CENT selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen…“ (Ibid.) Aufgebrochen zu werden eröffnet somit einen Weg, sich auszuloten und neue Möglich- keiten zu entdecken, �zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener.“ Die Rede von Alchimie klingt seltsam doch Nietzsche nennt seinen �Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen“ beim Namen: �Dionysos“.9 Seinen Namen nennend, fügt er zugleich hinzu, �dass Dionysos ein Philosoph ist“, und dass es von Bedeutung sei für eine Sprache der Geister (wie für die Sprache der Blumen oder das Gewisper der Bäume), dass �also auch Götter philosophiren“. Hier stellt das Menschliche, das �Menschlich, Allzumenschliche“ grundsätzlich ein Verhängnis dar, vor allem für die zer- brechlichen und empfindlichen Möglichkeiten, denen das Genie des Herzens nachhorcht. Für den von Nietzsche verkündeten Übermenschen zumindest bedeu- tet jede Form der Verbindung mit dem Menschlich-Allzumenschlichen eine fatale und nicht wieder gut zu machende Kontaminierung. Wenn der kom- mende Übermensch an der Seite des letzten Menschen, jenes blinzelnden und selbstsüchtig auf der Erde herumhüpfenden Wesens, überhaupt zu überle- ben vermag, dann ist der Mensch nicht �mit sich allein“, sondern, und zwar unentbehrlich, in Gemeinschaft mit anderen Übermenschen. Gleiches wird eben nur durch Gleiches erkannt (wie die Griechen sagen), aber, wie Nietzsche hinzufügt, der Übermensch kann nur in der Gemeinschaft mit seinesgleichen das überwinden, was in ihm oder ihr selbst bzw. in der Gesellschaft und zum Wohle der Erde überwunden werden muss. Deshalb (aber nicht nur deshalb) muss es – ihrer Verletzlichkeit und Brechbarkeit wegen – viele Übermenschen geben.10 Ich kann das hier nicht weiter entwickeln, da man zugleich näher auf das Thema der Parodie eingehen müsste, auf die Frage nach dem Leben, der zu- künftigen Welt unser eigene Zukunft, der beißenden Bejahung, der Transfigu- ration und Wandlung. Vielleicht reicht es anzumerken, dass Nietzsches Feier 9 Babich, “Nietzsche’s göttliche Eidechse: ‘Divine Lizards,’ ‘Greene Lyons’ and Music” in: Ralph u. Christa Davis Acampora (Hg.) Nietzsche’s Bestiary (Lanham, VA: Row- man & Littlefield, 2004), S. 264–283. 10 Nietzsche, KSA 11, S. 541. BABETTE BABICH 49 lich i gnis ar, r l e t des Genies des Herzens seine Sympathie für die Möglichkeit als solche auf- zeigt. Überall schlummern Möglichkeiten, in jedem, und Nietzsche wusste, dass man aufgebrochen werden muss, und zwar in einem anderen und weite- ren Sinne als in dem der sklavenähnlichen, moralinen Selbst-Suche, die Nietz- sche ebenfalls in jedem Menschen wiedererkennt. Er schließt den ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches auf jeden Fall damit, dass er die freien Geister identifiziert, von denen er immer �als Entgelt“ gesprochen hatte, �die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage“, wo der Wanderer schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Ge- birges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Phi- losophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glock- enschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht ha- ben könne: – sie suchen die Philosophie des Vormittages. (MM §638) PHAINOMENA XXVI/102-103 50 ONE HUNDRED PER CENT