UDK 830.09-13"! 1/12":711.424 DIE STADT IN DER HÖFISCHEN DICHTUNG Anton Janko Es gibt viele Städte, die in der höfischen Dichtung Erwähnung finden. Teilweise sind es alte Namen aus der Antike, die geographisch etwas ungenau geortet sind, teilweise fiktive Städtenamen, nach denen man in der mittelalterlichen Geographie vergebens sucht (z.B. Patelamunt, das mit dem Appelativ burc versehen wird) (Parzival 17, 4). Die Fiktivität dieser Ortsnamen selbst stört nicht, entmutigend ist nur, daß sie nicht beschrieben werden. Mein Interesse galt der geschichtlichen Relevanz und dem konkreten Realitätsbezug der erwähnten Städte zur Zeit der Entstehung dieser Dichtungen. Das Resultat war eher dürftig; konsequenterweise mußte ich mir die Frage nach den Ursachen dieses Befunds stellen. Die Antwort darauf fordert zur Suche nach der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit auf - so fragwüridg dieses Unterfangen auch sein mag - über die mittelalterlichen Städte, das Rittertum und das Verhältnis zwischen den beiden. Zuerst ist festzustellen, daß die Städte Europas mit dem Niedergang des Handels zu Beginn des Mittelalters an Wohlstand verloren haben. Außerdem war die Mehrzahl der früheren römischen Städte zerstört, wogegen im byzantinischen und moslemischen Osten die Städte auch weiterhin eine bedeutende Rolle spielten. In dieser Hinsicht stellte Italien eine Übergangszone dar. Einige seiner Städte entwickelten sich weiter, während besonders die nördlichen (die Langobarden haben viele Städte zerstört) und auch zentralitalienischen Städte der allgemeinen westlichen Entwicklung, d.h. dem Verfall folgten. Erst im späten 9. Jh. trat mit dem Wiederaufleben des Handels auch eine Belebung des Stadtwesens ein, obwohl die Städte nicht mehr als politische Zentren funktionierten. Dabei drängt sich gerade die Entwicklung in Deutschland als exemplarisch auf, wo sich der Kaiser - trotz der Bedeutung, die Aachen und Magdeburg zugemessen wurde - mit seinem Hof auf einer Dauerreise befand. Im 10. bis 12. Jh. wurden um Kloster, Burgen und an bedeutenden Brücken und Wegkreuzungen neue Stadtsiedlungen gegründet. Der Austausch von landwirtschaftlichen Produkten und der Verkauf von Handwerksartikeln führten zur Einrichtung von Märkten und Messen, die wiederum die Städte stärkten. In den ersten Phasen ihrer Neuentwicklung wurden die Stadtgemeinden von Vertretern der weltlichen oder kirchlichen Herren regiert, deren Machtbefugnisse jedoch mit der Entwicklung von Kufmanns- und Handwerkerzünften auf deren Vorsteher und allgemein auf die reiche Kaufmannsschicht überging. Diese erkämpften von der Obrigkeit Vorrechte und bald volle oder teilweise Autonomie. In Italien wurde diese Auseinandersetzung durch die Verschmelzung der landbesitzenden Aristokratie mit den reichen Kaufmanns- 7 schichten erleichtert. Nördlich der Alpen, also auch in Deutschland, verlief die Entwicklung anders, so daß es zwischen diesen beiden Ständen zu Spannungen kommen mußte. Daher auch die verschiedene Entfaltung in Italien bzw. Deutschland. Ein Florenz war im Mittelalter in Deutschland nicht vorstellbar. Das Bürgertum des Westens Europas bestand aus einem Mittelstand, der zwischen dem feudalen Adel auf der einen Seite und der großen Masse der leibeigenen Unterschicht auf der anderen Seite situiert war. Es kam aus der gleichen Unfreienschicht wie die Ministerialität, jedoch vollzog es zur Gänze nicht den Sprung zur Oberschicht wie die Dienstmannschaft, differenzierte sich jedoch von der Bauernschicht und dem Arbeitertum, ohne sich dagegen abzusperren und stellte dadurch keine geschlossene Gesellschaft dar. Die Entfaltung dieses Mittelstandes sprengte die alte feudale Gesellschaft und setzte eine nicht feudale Lebensform, Denkart und Wirtschafts- bzw. Arbeitsgesinnung durch, der sie auch gesellschaftliche Anerkennung verschaffte. Mit dem Aufstieg des Bürgertums ist die geschlossene hochfeudale Gesellschaft und ihre Welt zu Ende, ohne daß damit der Feudalismus besiegt wäre. Das ist aber erst seit dem Beginn des 13. Jh. klar zu sehen. Die Dynamik und Aktivität dieser neuen Schicht wird durch Arbeit, Geld, Erwerb, Gewinn und Leistung angeregt und ist daran orientiert. Dieses neue Ethos beginnt seit dem 12. Jh. die Obrigkheit, die Kirche, den Geist und die Kultur zu verwandeln und immer stärker zu bestimmen. Daraus ist auch zu verstehen, daß die neuen sozialen Gegebenheiten und Verhältnisse von der zeitgenössischen Dichtung noch nicht in ihrer ganzen Tragweite erfaßt, verstanden und so auch nicht in ihre Werke integriert werden konnten. In den Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Adel hatte die höchste politische Instanz, der König bzw. der Kaiser, eine schlichtende Rolle zu spielen, wobei er oft zu Kompromissen gezwungen wurde, etwa Friedrich II., der durch die Erteilung des großen Privilegs der confederatio cum principibus ecclesiasticis 1220 unter anderem in eine städtefeindliche Politik hineinmanövriert wurde. Der Trend zu den wirtschaftlich aufblühenden Städten hatte die geistlichen Grundherren viele Leibeigenen und Hintersassen gekostet, die sich ihnen entzogen. Barbarossa hatte in ganz erheblichem Umfange Städte auf Königs- und Kirchenboden gegründet. Friedrich II. traf, winigstens prinzipiell, eine Entscheidung gegen die jungen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte, welchen die Zukunft gehörte. Auch das statutum in favorem principum (1231) das für alle Fürsten galt, war vor allem gegen die Städte gerichtet. Sie hemmten am stärksten den Ausbau der fürstlichen Landeshoheit, darum widersetzten sich die Landesherren einer liberaleren königlichen Städtepolitik. Es ist ein leichtes, daraus zu folgern, daß die höfischen Dichter als exponierte Vertreter ihres Standes gerne bereit waren, die Positionen des Adels zu verfechten. Daß das Rittertum, der Adel, die neuen Tendenzen nicht richtig erfaßte und begriff, zeigt sich u.a. in seinem Verhältnis zu der Schulbildung, die von Kirche und Stadt gefordert wurde. Gute Schulbildung scheint unter den Großen der höfischen Dichtung nur Gottfried für wichtig gehalten zu haben. Sein Tristan ist nicht nur ein Beispiel der höfischen Vollkommenheit, sondern - und eigentlich vor allem - auch der damaligen schulischen Ausbildung. Es sind bemerkenswerterweise die Kaufherren diejenigen, die Tristans Sprachkenntnisse und auch andere Fertigkeiten zu schätzen wissen, und ihn deshalb auch entführen. 8 Über die Städte, die z.B. am Anfang des Parzival genannt werden, wie z.B. Alexandrie, Babilön, Ntnive, Dämas, Hälap (merkwürdigerseise verwendet Wolfram hier den arabischen Namen für Aleppo), d.h. über Städte im Land der Heiden {in heidenschaft, ze Marroch und ze Persiä) (15,16-17), deren einige durch die Kreuzzüge recht bekannt geworden sind, erfahren wir nichts, wenigstens nichts Konkretes. Wolfram selbst war sich des beinahe fiktiven Charakters seiner Angaben von Stadt und Land bewußt. Auf die Frage, die er sich anläßlich des Itinerars Gahmurets stellt, nämlich wie vil er land durchrite und in schiffen umbevüre? (15,8-9), gewährt er die folgende Antwort: ob ich iu da nach swüere, so saget iu üf minen eit min ritterlichiu Sicherheit, als mir diu äventiure giht. ich enhän nü mer geziuges niht. (15,10-14) Wolfram beruft sie auf seine Quelle - wie es zu seinerzeit auch üblich war - und übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit seiner Angaben, berichtet nur, was ihm diu äventiure giht. Wolfram hätte oft Gelegenheit gehabt, sich über stat, veste, burc auszusprechen, aber er nimmt sie nicht wahr. Von Patelamunt, der Hauptstadt von Zazamanc, wo die schöne Belacäne belagert wird, erfahren wir nur Beiläufiges und Angedeutetes: ein Hafen und eine befestigte Stadt mit vielen Gassen, die dem Helden die Gelegenheit bieten, sich in all seiner Pracht und Glorie zu zeigen. Die Stadt als solche interessiert den Dichter überhaupt nicht. Ähnlich verfährt er, als Gahmuret in dem lande ze Wäleis Station macht. Vor der Hauptstadt des Königreiches, Kanvoleis, wird ein Turnier ausgerufen: Die Königin (die unvermählte künegin Herzeloide) und ihre beiden Reiche werden dem Turniersieger als Preis verheißen. Wie man weiß, nimmt Gahmuret an diesem Turnier nur widerwillig teil. Auch hier dient die Stadt lediglich als Kulisse für das ritterliche Treiben. Der Palast der Königin, dessen Mauern teilweise auch die Stadtmauern sind, übernimmt die Rolle der Zuschauergalerie: dar obe stuont der palas. ouch saz diu küneginne zen venstern dar inne mit maneger werden vrouwen. (61, 2-5) Von diesem Blickpunkt kann man gut beobachten, was die Knappen und die Ritter treiben. Die Stadt und die Wiese davor werden nur als Turnierstelle, als ein grandioser Theaterschauplatz geschildert und gezeigt. Wie in Patelamunt reitet Gahmuret auch hier durch die Straßen der Stadt mit all dem höfischen Pomp: höfeschlichen durch die stat der helt begunde trecken, die släfenden wecken. (62, 28-30) Das ganze Interesse des Dichters richtet sich auf den Helden, der genau beschrieben wird. Mit Posaunen, Tamburins, Flöten zieht er durch die Straßen: do legete der degen wert ein bein vür sich üf daz phert, zwene stiväle über blöziu bein. sin munt als ein rubin schein von der rcete als ob er brünne. ... sin Itp was allenthalben klär, lieht reideholt was im sin här, swä man daz vor dem huote sach. ... von schouwen wart da groz gedranc. (63, 13-26) Etwas mehr Interesse zeigt Wolfram für die Hauptstadt des Königreiches Bröbarz, Pelrapeire. Er beschreibt sie so, daß sie fast den romantischen Vorstellungen einer späteren Zeit entspricht. Der Weg zu ihr führt durch wilde gebirge hoch (180,19), die Stadt liegt an einem reißenden Fluß, der sich unterhalb der Stadt in die See wirft. Pelrapeir stuont wol zu wer (181, 6) und zu ihr führte eine wacklige Holzbrücke. In der Stadt entdeckte Parzival eine ausgehungerte Menschenmenge, die sich zur Verteidigung gegen Clämide eingefunden hatte und zusammen mit den Stadtbewohnern die Festung hielt. Iewederthalb der sträzen stuont von bovel ein gröziu schar. (183, 4-5) Unter den Fußkämpfern, Speerwerfern und Fußknechten, den besten von dem lande, mit langen starken lanzen scharpfen unde ganzen (183, 12-15), sind da noch viele Kampfleute versammelt, die auf Befehl ihrer Anführer zur Verteidugung der Stadt mit haschen und mit gabilöt (183,17) bewaffnet anrücken mußten. So viel zur Verteidigung. Ausnahmsweise wird auch die 9 Architektur der Stadt etwas eingehender geschildert, besonders noch die stark befestigte Burg: türne ob den kemenâten, wîchûs, berfrit, erkêr, der stuont dâ sicherlîchen mêr denne er dâ vor gesiehe ie. (183, 24-27). Die aschgrauen oder leimgelben Gesichter der Stadtverteidiger waren jämmerlich anzusehen, schreibt Wolfram, und berichtet weiter, daß den Bewohnern die Nahrung ausgegangen ist: si enheten keese, vleisch noch brôt. ... die wambe in nider sunken. ir hüffe hoch unde mager, gerumphen als ein Ungers zager was in diu hût zuo den riben: der hunger hete inz vleisch vertriben, den muosten si durch zadel doln. in troufvil wênec in die koln. (184, 8-18) Man sieht, daß der Dichter die Hungersnot genau kennt und er versäumt es auch nicht, gerade an dieser Textstelle sich selbst zu erwähnen, denn auch ihm geht es nicht immer gut: alze dicke daz. geschiht mir Wolfram von Eschenbach, daz ich dolde alsolh gemach. (185, 6-8) Hier wendet der Dichter nicht nur die ritterliche Tugend der milte an, die sich in seinem Mitgefühl für die schwererprobten Städter zeigt, er beschreibt auch etwas, was er aus eigener Erfahrung kennt, wahrheitsgetreu schildern kann und bewußt hervorhebt. Im siebenten Buch wird noch einmal die Belagerung einer Stadt geschildert. Wolfram berichtet darin (in einer Gâwân-Episode), wie Gâwân gein Bêârosche reit. (350,16) Fast beiläufig erfahren wir, wie eine Stadt sich auch dadurch wehren konnte, daß man all die Stadttore vermauerte, was als ein wichtiges Indiz für die unverfälschte Darstellung der mittelalterlichen Realität betrachtet werden darf. Des weiteren beschäftiget sich der Autor mit seiner âventiure bzw. msere und die Stadt wird nur mit einigen floskelhaften Epitheta beschrieben: burc und stat sô vor im lac, daz niemen bezzeres hûses phlac. ouch gleste gein im schöne aller ander bürge ein kröne mit türnen wol gezieret. (350, 17-21) Interessant ist allerdings, daß Gâwân der Meinung ist, in der Stadt wäre man sicherer vor Gefahr als vor ihr ûfder plân. (350, 24) Es werden dabei auch die Verteidigungsmaßnahmen ganz konkret und wahrheitsgetreu beschrieben: Gâwân gein einer porten reit, der burgsere site was im leit: si enhete niht betûret, al ir porten wären vermûret und al ir wîchûs werlîch. dar zue der zinnen ieslîch mit armbruste ein schütze phlac, der sich schiezens her uz bewac: si vlizzen sich gein strîtes werc. (351, 24-352,1) Auch hier beschäftigt Wolfram die Stadt nur insofern sie der adligen burc eine zusätzliche Sicherheit bietet. Als besonders prächtig wird dann im achten Buch die Stadt Schanpflanzün beschrieben, die aber erst nach der Überwindung von hoch gebirge und manec muor (198, 26) zu erreichen ist. Keine andere Stadt wird in Parzival mit größerer Begeisterung geschildert: disiu burc was gehêret sô, daz Enêas Kartâgô nie sô herrenlîche vant, dâ vroun Dîdôn tôt was minnen phant. waz si palase phlsege und wie vil dâ türne Ixge? ir hete Acratôn genuoc, diu âne Babilône ie truoc an dem griffe die grœsten wîte. nâch heiden worte strîte si was alumme wol sô hôch, und dâ si gein dem mer gezôch, deheinen sturm si widersaz noch grôzen ungevüegen haz. (399, 11-24) Obgleich die befestigte Stadt hier besonders ausführlich beschrieben wird (hie ist von bûwe vil gesagt) (40-324), bleibt die gesamte Darstellung ikonenhaft, auch was die unausweichliche Ebene vor den Stadtmauern anbelanagt, die zum Turnier, aber auch zum Aufzelten des belagernden Heeres dient: dervor lac raste breit ein plân: dar über reit hêr Gâwân. (399, 25-26) Die Bürger interessieren wiederum nur als diejenigen, die die burc und die stat verteidigen müssen. Wie ein anderer höfisher Dichter, der meister Gottfried von Straßburg, die Not sieht, in welcher sich manche Stadt seiner Zeit befand, ist aus einer Tristan-Passage gut zu erschließen. In der Episode, die man gewöhnlich mit Riwalîn und Blancheflur überschreibt (245 ff), berichtet der Dichter von einem 10 Streit zwischen Riwalin und Morgan. Riwalin war - wie es sich ja denken läßt - ein hervorragender Ritter, ein vröude berndiu sunne. (255) Er war nur mit einem Makel behaftet, nämlich, daß er ze verre wolde in sines herzen lüften sweben und niwan näch sinem willen leben. (260-262) Riwalin herrschte nicht nur in seinem eigenen Land Parmenie, sondern regierte als Lehen aus der Hand des Briten Morgan noch ein anderes Land. Da er sich aber weigerte, dem Fürsten Morgan weiter Untertan zu sein, griff er ihn an. Weder ez dö not aide übermuot geschiiefe, des enweiz ich nicht, wan als sin äventiure giht, sd greif er Morgänen an als einen schuldigen man. (340-344), berichtet Gottfried. Kritisch bemerkt der Dichter, er selbst kein Ritter (das ist vielleicht von Bedeutung), daß Riwalin selten daran dachte, nachzugeben: vertragen, daz doch vil manic man in michelem gewalte kan, dar an gedähte er selten; übel mit übele gelten, kraft erzeigen wider kraft: dar zuo was er gedanchaft. (267-272) Er überfiel Morgans Land, ohne daß ihm dieser etwas angetan hätte. Gottfried erzählt: Er kam geriten in sin lant mit also kreftiger hant, daz er im mit gewalte genuoge bürge valte; die stete muosen sich ergeben und Ixsen ir guot unde ir leben rehte alse liep alse ez in was, unz er zesamene gelas gülte unde guotes die kraft, daz er sine ritterschaft so starke gemerte, swär er mit here kerte, ez weeren bürge oder stete, daz er vil sines willen tete. (345-358) Morgan blieb ihm nichts schuldig, er ergriff Gegenmaßnahmen: ich wsene im Morgan alsam tete, er valte ime ouch bürge unde stete und brach im underwilen abe sine liute und sine habe und tete im, swaz er mohte, daz doch niht vil entohte; wan in tete iemer Riwalin mit grözem schaden wider in und treip des mit in alse vil, unz er in br&hte üf daz Z'L daz er sich nihtes künde erwern noch sich niender trüte ernern niwan in sinen vesten den sterkesten und den besten. (369-382) Trotz solcher Textstellen, die Kenntnisse über die politische und wirtschaftliche Lage der Städte verraten, ist die Stadt für den Ritter, und auch für seine Dichter kein Thema. Das ist leicht zu verstehen, wenn wir die gesellschaftliche Position und die Ziele des Rittertums selbst einer näheren Betrachtung unterziehen. Um diese Ziele zu erreichen, sich selbst zu überzeugen, daß ihr Tatendrang und ihre Unternehmungslust berechtigt und ethisch zu verantworten war, schuf sich das Rittertum in Laufe des 11. und des 12. Jahrhunderts seine eigene Ideologie. Der Träger der klassischen höfischen Dichtung war vor allem die aus der Ministerialität aufgestiegene untere Schicht des Feudaladels, der sogenannte Ritterstand, gewesen, die im 12. Jh. die kulturelle und ideologische Führungsrolle innerhalb des Adels übernommen und dabei eine solche Bedeutung erlangt hatte, daß sich seitdem alle Angehörigen des Adels gerne Ritter nennen ließen und stolz darauaf waren, zu diesem Stande zu gehören. Die epochale und auch progressive Bedeutung der ritterlichen Dichtung liegt darin, daß in Kunstwerken von hohem ästhetischem Wert eine feudalweltliche Ideologie verbreitet wird, die die Befreiung von der religiösasketischen Bevormundung und Weltverneinung einleitet. Das Rittertum hat vieles von seinem Vorbild, dem alten Adel übernommen. Das Bild, daß dieser Stand (Ritter und der ursprüngliche Adel) im 9. und 10. Jh. darbietet, ist allerdings nicht erhebend. Es war eine wilde, rein triebhaft sich gebärdende Kriegerkaste, die zwischen Fehderecht und Faustrecht kaum unterschied. Der Ritter war vielfach zur Landplage geworden. Sie pochten auf ihre physischen Kräfte, quälten die Bauern, beraubten die umherziehenden Händler oder fielen über Kirchen und Klöster her; sie zerfleischten sich aber auch gegenseitig aus Habsucht, Streitsucht, Geltungstrieb oder auch reiner Kampflust und Blutgier. Die altgermanische Tradition des Fehderechts und der Blutrache hatte die unheilvollsten Auswirkungen und artete zu einem brutalen Kraftprotzentum aus. Die immer wieder notwendige Rauferei mit 11 den Normannen und Sarazenen wirkte noch weiter verheerend. Und trotzdem waren diese adeligen Herren christlich, d.h. sie waren in ihrer Art naiv gläubig, haßten die Heiden, anerkannten die Kirchengebote, taten für ihre Sünden gelegentlich durch fromme Stiftungen und Wahlfahrten Busse. Es war ein primitives Christentum, dem der tiefere Geist fehlte. Aber es war immer etwas vorhanden, woran die Kirche anknüpfen konnte. Hier setzte sie mit ihrem Erziehungswerk ein und brachte es mit der Zeit dazu, daß das Faustrecht gerächt, das Rittertum mit religiösen Idealen erfüllt, veredelt und in seinen Sitten verfeinert wurde. Die Besserung ging von Frankreich aus, wo neben Italien die Mißstände am größten waren, und sie steht im engsten Zusammenhang mit der Kirchenreform, übten doch die Klöster der clunyschen Richtung gerade auf den Adel die stärkste Anziehungskraft aus. Die Wanderlust und der Abenteuergeist der Ritter wurde mit der Zeit in stärkerem Maße auf das Wallfahren hingelenkt. Man pilgerte nach Rom, nach Santiago de Compostella, oder auch nach Jerusalem. Der wachsende Wallfahrtseifer hatte nicht geringen Einfluß auf die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. Schon lange vor den eigentlichen Kreuzzügen gingen französische Ritterscharen über die Pyrenäen, nach der spanischen Mark, nach Aragonien, nach Portugal, um die christlichen Spanier im Kampf gegen die Mohammedaner zu unterstützen. Oft wurden sie von den Päpsten dazu aufgerufen, indem sie ihnen Sündennachlaß und das ewige Leben für den Glaubenskampf in Aussicht stellten. Der Begriff des heiligen Krieges bildete sich aus. Das ritterliche Waffenhandwerk konnte zu einem gottgefälligen Tun werden. Die Gelegenheit, dieses Ideal in vollem Umfang zu verwirklichen, sollten dann die Kreuzzüge bieten. So wurde das Rittertum seit dem 11. Jahrhundert allmählich veredelt und versittlicht. Gewiß blieb Menschliches genug an ihm haften. Das Benehmen der Ritter auf den Krezzügen beweist es zur Genüge. Treulosigkeit, Habsucht, Lüsternheit, Sinnenlust, Ehebruch und Grausamkeit sind auch im Hochmittelalter in der Aristokratie sehr häufige Erscheinungen. Aber all das ist menschlich. Es bedeutet schon viel, daß man auch sehr viele edle Gestalten antreffen kann und daß in der Ritterschaft im ganzen genommen ein hoher Idealismus aufkam. Daß die Kluniazenser- und Zisterzienserklöster zur Zeit ihres Aufblühens Scharen von Edelleuten anzogen, beweist, daß es an hohem Geist nicht fehlte. Die Schaffung der höfischen Ideologie war wohl die bedeutendste Tat des Feudalismus. In begrenztem Maße stellt sie eine Gegenanschauung zu der krichlichen Auffassung des korrekten Benehmens in der Gesellschaft auf dieser Erde dar. Die Kritik seitens der Kirche ist konsequenterweise nicht ausgeblieben, wurde schon in der Mitte des 12. Jh. laut. (Zuerst in England, dann auch in Frankreich und Deutschland). Dem Adel wurde maßlose Vergnügungssucht vorgeworfen: dazu gehörten die Jagd, Fest- und Trinkgelage, üppige Mahlzeiten, Lieder und Spiele, der überfeinerte Luxus, Ausschweifungen verschiedener Art und auch verschiedene Arten von Unsittlichkeit. Auch die Kultur, die an den Höfen entsteht, wird verworfen. So verurteilt Johannes von Salisbury die Beschäftigung mit der weltlichen Musik, weil die Männer dadurch verweichlicht wurden. "Heute wird die Bildung der Adligen darin gesehen, daß sie sich auch die Jagd verstehen, daß sie sich in verdammenswürdiger Weise im Würfelsglück üben, daß sie der natürlichen männlichen Stimme durch Kunstgriffe einen weichlichen Ton verleihen, daß sie, uneingedenk ihrer Männlichkeit, durch Gesang und Instrumentenspiel vergessen, als was sie geboren sind."1 l Zitiert nach: Joachim Bumke, Höfische Kultur, Deutscher Taschenbuch Verlag: München, 2. Auflage 1986. 2.Band, 584. 12 Ein deutscher Autor, der sogenannte arme Hartmann zählte in seiner Rede vom Glauben alles das auf, was die höfische Gesellschaft liebt und sich anzueignen sucht: goldene Becher, silberne Schüsseln, Edelsteine, Elfenbein, kunstvoll gewebte Goldborten, teuren Schmuck, verschiedene Seidenstoffe, Scharlach, Mäntel, Wandbehänge, Teppiche und Vorhänge mit Goldfäden durchwirkt, glänzende Rüstungen, leuchtende Helme, Sättel und Schilde mit Goldverzierungen, Reitpferde und Streitrosse, lange Lanzen mit seidenen Wimpeln (Fähnlein), reich gedeckte Tische mit Weißbrot, Fleisch und Fischen, Wein, eine bequeme Bettstatt und auch eine schöne Ehefrau. Hier wird all das aufgezählt, wobei die höfische Dichtung mit Vorliebe verweilt und genau beschreibt, ohne sich dabei die Frage zu stellen, wo und auf welche Weise diese Reichtümer hergestellt werden, wer sie zu bezahlen hat. Die Frage, wer all diese Kostbarkeiten herbeizuschaffen hat, wird nicht nur nicht gestellt, sondern sie wird nicht einmal registriert. Es ist kein Wunder, daß so in der höfischen Dichtung wie auch in der Gesellschaft, die sie schildert, dem Lohn ein genau so großer Wert beigemessen wird wie dem Dienst, der dem niederen Adel in materieller Hinsicht meistens wenig einbrachte. Vielleicht deshalb auch das übermäßig häufige Pochen auf Belohnung, die aus jedem literarischen Werk dieser Zeit zu hören ist. Wie groß die Wirkung dieser Kritik bei denen war, gegen die sie sich richtete, ist schwer zu sagen, schreibt J. Bumke und bemerkt: "Aufs ganze gesehen scheinen die geistlichen Einwände wenig gefruchtet haben. Weder die Anprangerung des höfischen Kleiderluxus noch die zahlreichen kirchlichen Turnierverbote hatten mehr als lokale Erfolge; und die geistlichen Mahnungen haben nicht verhindert, daß die Gesellschaftsmoral des Adels immer mehr verweltlichte und sich immer mehr aus der Bevormundung durch die Kirche löste."2 Die höfische Gesellschaft setzte immer bewußter ihre eigenen Maßstäbe für die Verurteilung des weltlichen Lebens, sie wurde immer mehr, wenn nicht schon ganz diesseitig orentiert. Daß auch die großen höfischen Dichter mit dieser Richtung nicht einverstanden waren, ist klar. Sie versuchten ihr teilweise durch Idealisierung, teilweise durch Übersetzung ins eher relgiöse (Hartmann) oder in ein geistiges Rittertum (Wolfram) eine Korrektur zu setzen und den gesellschaftlichen Anspruch des Rittertums durch eine verantwortungsvolle Haltung zu retten. Diese höfische Welt zeigt so auch in ihrer Dichtung das Doppelgesicht, das sie Ideologie einer Ausbeuterklasse haben muß. Der brutale Machtanspruch wird durch eine Selbstbändigung gemildert, die aus dem ritterlichen Tugendsystems resultiert und die dem Weiterbestehen dieser Schicht dienlich sein soll. Das höfische Schriftum, das meistens nur die idealisierte Form seiner Schicht und das Edle der höfischen Sitten zu zeigen gewillt und auch fähig ist, verleiht der höfischen Dichtung Spannung, und offenbart in ihr eine echte menschliche Komponente, die noch jetzt bewundernswert erscheint. Durch diese Doppelbödigkeit ist die neue höfische Ideologie der einheitlichen -und vor dieser Zeit dem Feudalismus dienenden - Ideologie der Kirche überlegen, da sie die beiden Lebensarten erlaubt und sanktioniert. Vergessen wir nicht, daß das Mittelalter in seiner Auffassung vom menschlichen Leben, dessen Bestimmung und Wert, in letzter Konsequenz die Weltentsagung predigt. Durch die höfische Ideologie wird dieser Gedanke verdrängt und in konkreten geschichtlichen Gegebenheiten oft ganz ausgeschaltet. Die Widersprüche, die dabei entstehen, sind kaum zu lösen bzw. zu überwinden. 2 Bumke, 589. 13 Geht es in Tristan um den in der feudalen Ordnung unlösbaren Widerspruch Liebe und Ehe, so befaßt sich Konrad von Würzburg in der kurzen Erzählung Der Welt Lohn mit dem damals ebenfalls unlösbaren Widerspruch zwischen der Weltzugewandtheit und der von der Religion gepredigten Weltflucht. Auf diesen Dualismus haben bereits die feudal-höfischen Dichter gestoßen, und nur Wolfram von Eschenbach hatte ihn in seiner utopischen Gralsgemeinschaft überwinden können. In der Realität beherscht dieser Widerspruch das gesamte hohe und späte Mittelalter in ganz Europa, denn solange das grundsätzliche Dogma der scholastischen Theologie, diese Welt sei der Erbsünde verfallen, als allgemein gültug anerkannt wird, ist jedes Bekenntnis zur Weltfreude mit der Gefahr verbunden, als ein dem Teufel verfallener Ketzer angesehen zu werden. Selbst mittels der Kreuzzüge kann die ritterlich-höfische Moral von diesem Makel nicht freigesprochen und für das Christentum gewonnen werden, zumal der Idealismus, vor allem jener der Teilnehmer an den späteren Kreuzzügen, eindeutig für die Sache der Christenheit zu stehen, oft geheuchelt war und in der Hoffnung auf persönliche Bereicherung irgendeiner Art unternommen wurde. So klingt sogar in Hartmanns schönem Vers dem kriuze zimt wol reiner muot und kiusche site: so mac man sselde und allez guot erwerben mite. ... ez (das Kreuz) wil niht daz man st der werke drunder fri: waz touc ez üf der wät, ders an dem herzen niene hät? Kritik mit. Für ihre Dienste, wie schon erwähnt, erwarten Ritter immer auch eine Belohnung. Diese Erwartung auf Belohnung wird so sehr betont, daß der damalige Geistesmensch, und auch der spätere Betrachter darin nichts weniger als einen moralischen Fehler sehen muß, es sei denn, daß sich die Belohnungserwartungen aufs ewige Leben beziehen und vielleicht auch beschränken. Ein Dichter, der auf diese neue Ideologie setzt - und denen sind Hartmann und Wolfram zuzuzählen -muß sie verteidigen und zu gleicher Zeit versuchen, sie so zu gestalten, daß sie von allen Gesellschaftschichten akzeptiert werden kann. Die soziale Position des Ritters muß verteidigt werden, letzten Endes sind die meisten Vertreter des niederen Adels doch nur Emporkömmlinge, die ihre Position in der Gesellschaft erst zu festigen suchen. Das spiegelt sich auch in ihrer Literatur - und mag einer der Gründe dafür sein, daß sie in ihren Dichtungen wenig Zeit für die Stadt und ihre Probleme finden. Der große Erfolg einer solchen Darstellungsart ist unter anderem in der Tatsache zu sehen, daß der Anspruch des Rittertums, in die führende Schicht aufgenommen zu werden, auch vom alten Adel angenommen und sanktioniert wird. Diese Akzeptanz geht so weit, daß unter den Minnesängern auch Könige und andere Vertreter des hohen Adels zu finden sind. Besonders in der Epik fällt dabei auf, daß die Hauptprotagonisten Könige, Fürsten und Herzöge oder Grafen sind - d.h. der Uradel, der sich in der konkreten geschichtlichen Situation in Hinsicht auf ihre soziale Position nicht mehr zu behaupten braucht. Wenn das ein bewußtes Manöver der neuen Dichterideologen war, ist das zweifellos sehr zu bewundern, obfgleich es sich bald zeigt, daß dem neuen gesellschaftlichen Konstrukt wegen seiner Künstlichkeit kein langes Leben beschieden war. Die Fragwürdigkeit der höfischen Ideologie beweist gerade ihre Kurzlebigkeit und zeigt sich allein schon in den gesteigerten Begriffen ere, dienst, mäze, steete, die gerade dadurch, daß sie als absolute Werte hingestellt worden sind, ihre Glaubwürdigkeit und dadurch auch ihre durchaus ehrenhafte relative Objektivität einbüßen. In diesem ideologischen Gefängnis müssen auch alle echten ritterlichen Ideale welk werden, auch dieses Utopia verwandelt sich am Ende in einen Alptraum. 14 Bei der Verbreitung der höfischen Ideologie fällt dem Dichter die vornehmste Rolle zu. Der höfische Dichter schreibt sich eine neue Aufgabe von Dichter und Dichtung zu: Die Verkündigung eines für wenige bestimmten Wissens, an dem sich Würde und Wert des neuen Menschenbildes messen. Der Dichter hat erst jetzt, da er eine Wahrheit verkündet, die nicht die Wahrheit aller ist und die auch denjenigen, für die sie bestimmt ist, erst als umfassende Lebenslehre dem neuen nahegebracht werden muß, wirklichen Anlaß, Besonderheit und Wahrheitsgehalt seines Werkes zu betonen und mittels der Berufung auf die Autorität einer authetischen Überlieferung zu sichern.3 Der Dichter ist Interpret der in der Geschichte entfalteten aber verborgenen und erst von ihm aufzudeckenden Wahrheit. Der Autor des höfischen Romans findet die wahre Bedeutung der Gestalten und Ereignisse, indem er sie zu einem Sinnganzen, zu einer intensiven Totalität an Stelle der durchschaubar gewordenen extensiven Totalität schafft, die zugleich ursprünglicher und wahrer ist als die kontingente Welt. Diesem Gesetz ist auch alles, was er in der Realität seiner Zeit vorfindet, unterworfen und es werden allen Werten und Gegebenheiten Bedeutung und Rolle zugemessen, wie es ihm richtig erscheint. Dabei geht es nicht um eine bewußte Irreführung der Hörer oder sogar um eine historische Lüge, die die höfische Epik eindeutig doch darstellt, sondern um die interpretatorische Freiheit des Dichters, die Welt so zu ordnen, wie sie ihm am wahrsten erscheint. Das Rittertum schrieb sich eine universalgeschichtliche Rolle zu, die aber in der bis damals geschriebenen Geschichte nicht nachzuweisen war, weil sie auch den geschichtlichen Tatsachen nicht entsprach. Die sich zugeschriebene Rolle war historisch nicht legitimierbar. So mußte eine ritterliche Geschichte geschaffen bzw. in die alte eine neue Interpretation hineingelegt werden. Weil aber die historische Legitimation nicht vorhanden ist, wird die beanspruchte Wahrheit von der historischen auf die sittliche Ebene verlegt, die historische Wahrheit poetisiert, nach ästhetischen Kriterien konstruiert. So entsteht der höfische Ritterroman, der den Ritter dieser zurechtgemachten Zeitgemachten Zeitgeschichte entspricht.4 Die neue Gattung des ritterlichen Romans entfaltet ein Programm, worin ein Versuch enthalten ist, einen christlichen, aber weltlichen Heilsweg zu zeichnen. Der höfische Roman verfolgt denkerische, lehrhafte Absichten, vollziehet ein Experiment, gliederet sich aus als Dokument einer Gesellschaft, einer Autorenpersönlichkeit, er steht in der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit, Figur und Umwelt, Dichter und Stoff, er lebt in der Offenheit des Abenteuers und ist auf ein Ziel ausgerichtet (Synthese, Totalität), auch wenn dieses nur einen vorläufigen, symbolischen Abschluß haben kann. Der Bau des höfischen Romans ist, näher betrachtet, überaus kompliziert. Welch spanungsreiches und künstliches Unternehmen hier im Gang ist, lehrt schon ein Blick auf die verschiedenen Wirklichkeiten mit denen der Romandichter arbeitet. Wirklichkeit sei dabei vestanden zunächst als die besondere stoffliche Bildwelt, die jeweils auf bestimmte erzählerische Traditionen hinweist. Als Stoff muß sich dieser Roman das nehmen, was seinen Absichten am besten entspricht. Für den höfischen Dichter war der Stoff des antikisierenden Romans allzu festgelegt und so griff die höfische Dichtung nach dem gleichfalls scheinhistorisch 3 Vgl. Erich Köhler, Trobadorlyrikk und höfischer Roman, Rütten und Loening: Berlin 1962, lo ff. 4 Vgl. Max Wehrli, Formen mittelalterlicher Erzählung, Atlantis Verlag: Zürich und Freiburg i.Br. 1969, 182 ff. 15 ausgewiesenen Artus-Stoff, der aber ihren Deutungen ungleich größere Möglichkeiten eröffnete. Mit dem Artusroman wird die höfische Dichtung autonom, was ihr auch die Möglichkeit gibt, ein wesentlich profanes Menschenbild zu verselbständigen und von der krichlichen Theologie frei zu machen. Diese Dichtung konnte auch mit dem Stoff viel freier umgehen, obwohl sie sich bemühte, ihre Faktizität durch die überliefene Artuslegende zu untermauern. Sie zeichnet das Wunschbild einer idealen Wirklichkeit, die reale Gegenwart und das Ideal bleiben, wie ein jeder sehen konnte, unversöhnt. Je stärker die Spannung und die Anstrengung zu ihrer Überwindung in der Dichtung sich erwiesen, desto phantastischer wird der Stoff und desto willkürlicher der aus ihr bezogene bzw. in si hinein gelegte sens (Sinn) der Artusroman mit seinem Endstadium, dem Gralroman, kraft des beibehaltenen Wahrheits- und Erkenntnisanspruchs zur Verlautbarung ritterlicher Heilsgewißheit und somit wird der höfische Dichter um 1200 potentieller Rivale der Theologie. In disem Versuch scheitert der höfische Roman, weil auch die Gesellschaft, die er idealiter verkörpert, diesen Ansprüchen der Dichtung nicht gewachsen war. 16