MUZIKOLOSKI ZBORNIK * MUSICOLOGICAL ANNUAL XL UDK 78.01(436) Barbara Boisits Kommission für Musikforschung der Österreichischen Akademie de Wissenschaften, Wien Komisija za muzikologijo Avstrijske akademije znanosti, Dunaj Formalismus als österreichische Staatsdoktrin? Zum Kontext musikalischer Formalästhetik innerhalb der Wissenschaft Zentraleuropas Formalizem kot avstrijska državna doktrina? O povezanosti glasbene formalne estetike znotraj srednjeevropske znanosti Zusammenfassung Povzetek Die Perhorreszierung des deutschen Idealismus in der (offiziellen) österreichischen Philosophie und Ästhetik hatte ganz wesentlich auch politische Gründe, da diese Richtung grundsätzlich für politisch-historische Entwicklungen offen war (vgl. den sich in der Zeit entfaltenden Weltgeist) und ihr ein revolutionärer Charakter zugeschrieben wurde. Dagegen favorisierte die politisch restaurative Staatsführung in Österreich Theorien, die einerseits inhaltliche (und damit möglicherweise auch politische, nationale, soziale usw.) Bestimmungen ausklammerten und denen andererseits ein bewahrender, klassizistischer Charakter innewohnt. In dieser historischen Konstellation wird Hanslicks Formalästhetik sowohl im Zusammenhang mit der philosophischen Tradition in Österreich als auch mit dem Einfluss des politischen und historischen Kontexts auf Entstehung und Wirkung seiner Schrift Vom Musikalisch-Schönen betrachtet. Odklanjanje nemškega idealizma v (uradni) avstrijski filozofiji in estetiki je bilo v osnovi tudi politièno, ker je bila ta smer v temeljih odprta za politièno-zgodovinska razvijanja (prim, v èasu razgrinjajoèi se svetovni duh) in so ji pripisali revolucionarni znaèaj. Nasprotno je politièno restavrativno vodstvo države v Avstriji favoriziralo teorije, ki so po eni plati izloèale vsebinske (in s tem po možnosti tudi politiène, nacionalne, socialne itd.) doloèitve, ki jim je po drugi plati imanenten ohranjujoè, klasicistièni znaèaj. Prispevek obravnava Hanslickovo formalistièno estetiko v tem zgodovinskem položaju tako glede filozofske tradicije v Avstriji kakor tudi v luèi vpliva, ki ga je imel politièni in historièni kontekst na nastanek in uèinek njegovega spisa O glasbeno lepem. 129 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICQLOGICAL ANNUAL XL In der Literatur zur österreichischen Wissenschaftsgeschichte wird immer wieder betont, dass die Theoriebildung in der Donaumonarchie auf so verschiedenen Gebieten wie der Philosophie, der Rechtswissenschaft, der Nationalökonomie und den Kunstwissenschaften im 19- und frühen 20. Jahrhundert durch einen »realistischen« Zug gekennzeichnet sei, d.h. durch eine Konzentration auf das Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen, ohne in relativierender Weise das wahrnehmende Subjekt gebührend zu beachten.1 Eine solche Sichtweise innerhalb der Humanwissenschaften führt zu einer Fokussierung auf die formale Struktur der zu untersuchenden Objekte, während die Frage nach deren Bedeutung ausgeklammert wird. Als Erklärung für solche Theorien wird gerne auf die spezifische historische Situation verwiesen - insbesondere auf die stets schwelenden nationalen und sozialen Konflikte im Vielvölkerstaat -, die von staatlicher Seite Wissenschaftsmethoden begünstigen habe lassen, die Untersuchungen von Formalstrukturen gegenüber inhaltlichen Bestimmungen bevorzugen, weil letztere nämlich prinzipiell auch für politische oder ideologische Vereinnahmungen offen wären. Ist also, allgemeiner gefragt, ein spezieller Kontext für die Entwicklung kontextfreier (= formaler) Theorien verantwortlich? Im folgenden Beitrag werden zunächst Spezifika einer »österreichischen« Philosophie und Ästhetik vorgestellt, im Anschluss daran die Verbindungen zur Musikästhetik aufgezeigt und am Ende die Möglichkeit einer genetischen Erklärung bestimmter wissenschaftlicher Methoden aus dem sozio-kulturellen und politischen Kontext erörtert. Eine weitgehend »realistische Ausrichtung« charakterisiert also die Entwicklung einer eigenständigen österreichischen Philosophie. Kants revolutionäre Einsicht -seine berühmte »kopernikanische Wende« -, dass nämlich die Gesetze der Natur nur jene unseres Denkens spiegeln und nicht umgekehrt, Raum und Zeit also bloße Formen unseres Erkenntnisvermögens sind, wurde hierzulande nicht rezipiert.2 Dies gilt bereits für den Ahnherrn der österreichischen Philosophie, den Prager Philosophen und Theologen Bernard Bolzano (1781-1848). In seiner Wissenschaftslehre (1837) definierte er »Vorstellungen« und »Sätze an sich« als objektive, vom subjektiven Denken und Sprechen unabhängige Wahrheiten.3 Ein Vertreter eines explizit gegen Kant gerichteten Realismus war auch der deutsche Philosoph Johann Friedrich Herbart (1776-1841), der die »offizielle« österreichische 1 Vgl. Peter Stachel, Ethnischer Pluralismus und wissenschaftliche Theoriebildung im zentraleuropäischen Raum. Fallbeispiele wissenschaftlicher und philosophischer Reflexion der ethnisch-kulturellen Vielfalt der Donaumonarchie, Diss. Graz 1999 sowie ders., Leibniz, Bolzano und die Folgen. Zum Denkstil der österreichischen Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Band 1: Historischer Kontext, wissenschaftssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, Wien 1999, S. 253-296. 2 Rudolf Haller, Wittgenstein und die »Wiener Schule«, in: Walter Strolz und Oscar Schatz (Hg.), Dauer im Wandel. Aspekte österreichischer Kulturentwicklung, Wien-Freiburg-Basel 1975, S. 137-162, wieder abgedruckt in: Rudolf Haller, Studien zur Österreichischen Philosophie. Variationen über ein Thema, Amsterdam 1979, S. 163-187, hier S. 167 (Hervorhebung original). Vgl. auch J. C Nyiri, Von Bolzano zu Wittgenstein. Zur Tradition der österreichischen Philosophie, Wien 1986. 3 In vergleichbarer Weise definierte später Alexius von Meinong die »Objektive« und Ludwig Wittgenstein den »Sachverhalt«. Diese antipsychologistische Haltung hatte auch Einfluss auf Edmund Husserl, und Bolzanos logischer Realismus wurde (neben der empiristischen Tradition) einer der Grundpfeiler der Philosophie des Wiener Kreises (bekannt als logischer Positivismus bzw. Neopositivismus) 130 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK » MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Philosophie im 19. Jahrhundert aufs Stärkste prägte (ähnlich wie Hegel die preußische). Von größter Wirksamkeit war sein Einfluss auf die Reformpädagogik nach 1848, die den Schüler lehrte, mit freiem Willen und in Erfüllung seiner Gewissenspflicht das zu tun, was die »ethische Ordnung« verlangt bei gleichzeitiger »Anerkennung einer statischen Weltanschauung«, die »die semifeudale österreichische Gesellschaft« stützte.4 Für unseren Zusammenhang sind seine ästhetischen Auffassungen von besonderer Bedeutung. Schönheit begreift Herbart rein formalistisch: Sie bestehe in den formalen Relationen zwischen den Elementen eines Objekts und wird vom Subjekt mit »ursprünglicher Evidenz« wahrgenommen.5 Die begleitende Wahrnehmung inhaltlicher Aspekte sowie durch die Rezeption hervorgerufene Gefühle werden gleichzeitig pathologisiert, damit aus dem rein ästhetischen Akt ausgeklammert und der Psychologie überantwortet.6 Unter den österreichischen Philosophen hat insbesondere Robert Zimmermann (1824-1898) die herbartianische Philosophie fortgeführt. Dies ist insbesondere auf Grund von Zimmermanns großem Einfluss - er hatte den Wiener Lehrstuhl von 1861 bis 1895, also über dreißig Jahre, inne - von Bedeutung. Zimmermann verdanken wir nicht nur die erste umfassende Geschichte der Ästhetik, sondern er lieferte in einem zweiten, systematischen Teil auch seine Vorstellungen einer »Ästhetik als Formwissenschaft«7, als »Morphologie des Schönen«8. Zimmermann postulierte, »daß Alles, was gefällt oder missfällt, durch Formen gefallen oder missfallen müsse«.9 Schönheit wird als Eigenschaft des Objekts definiert, ihre Wahrnehmung ist unmittelbar evident. Sie löst einen »allgemein und nothwendig gefallende [n] Vorstellungsinhalt«10 aus, der nur - und darin besteht die eigentliche ästhetische Leistung - von jenen Bildern »gereinigt« werden muss, die »bloss vorübergehend vermöge der individuellen Gemüthslage des Subjektes beigelegt« sind.11 Die romantische Kunst wird abgelehnt, weil sie im Betrachter subjektive Emotionen hervorrufe. Im Grunde plädiert Zimmermann für Spezialästhetiken in Form von Handwerkslehren, in denen der Ästhetiker dem Künstler in dessen eigener Sprache hilfreich zur Hand geht. Während beim idealistischen Philosophieren über Kunst »kaum noch ein William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Graz 1974, S. 288. Aus einem ähnlichen Grund - weil er die bestehende Welt als die beste aller möglichen Welten betrachtete und seine Monadologie die Einheit in der Vielheit lehrte - genoss auch die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz 1646-1716) hohe Attraktivität im habsburgischen Vielvölkerstaat (vgl. Stachel, Leibniz, Bolzano und die Folgen, S. 274f.). 5 »Das Schöne und Hässliche, insbesondere das Löbliche und Schändliche, besitzt eine ursprüngliche Evidenz, vermöge deren es klar ist, ohne gelernt und bewiesen zu sein.« (Johann Friedrich Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie [1813]. Mit Einführung neu herausgegeben von K. Häntsch, Leipzig 1912, S. 130). 6 Vgl. Robert Zimmermann, Geschichte der Aesthetik als philosophische Wissenschaft (= Aesthetik, erster, historischkritischer Teil), Wien 1858, S. 759. 7 Robert Zimmermann, Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft (= Aesthetik, zweiter, systematischer Teil), Wien 1865. Vgl. zum Folgenden auch Christian G. Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Phänomene, Göttingen 1987, S. 255-257. Allesch behandelt auch die Reaktionen der Vertreter einer psychologischen Ästhetik auf Zimmermanns formalistischen Entwurf. 8 Ebda. S. 30. 9 Ebda. [Hervorhebung original]. 10 Ebda., S. 23. 11 Ebda., S. 22. 131 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL leiser Anklang an das Wesen derselben, an Töne, Farben, Umrisse, Silben-, Wort-und Gedankenmaasse übrig geblieben war, hält diese Aesthetik sich einfach an dasjenige, ohne welches der Tonkünstler keine Musik, der Maler keine Gemälde, der Bildhauer, Architect und Poet weder Statuen noch Gebäude noch Gedichte hervorzubringen vermöchten.«12 Zimmermanns formalistische Auffassung von Kunst, die Konzentration auf das »Wie« und nicht auf das »Was« der Darstellung hatte zahlreiche Gegner. Der deutsche Philosoph und Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer (1807-1887) witzelte, nach Zimmermann wolle ein Maler keinen Fuchs malen, sondern er benutze diesen nur als »Rechen, um gewisse Schattirungen von Roth, Gelb, Grau und Weiß daran zu hängen«.13 Eine solche Haltung brandmarkte er als »barocke Verbindung von Mystik und Mathematik«.14 Aber nicht nur durch die Ausklammerung der Frage der Bedeutung von Kunstobjekten unterscheidet sich Zimmermanns Ästhetik von der idealistischen, sondern auch die Dynamik der Kunstentwicklung wird verschieden beurteilt: Ist es Zimmermanns klassizistisches Ziel, das zu entdecken, »was schön sei, für alle Zeit und an jedem Ort«15, so betrachtet die hegelianische Kunstauffassung Werke unter dem Aspekt des je nach Epoche unterschiedlich in ihnen in Erscheinung tretenden Weltgeistes. Damit kommt ein geschichtliches Moment ins Spiel, das in Zimmermanns reiner Werkästhetik keinen Platz hat, sondern der Kunstgeschichte überantwortet wird. Zimmermanns radikale objektivistische Ästhetik forderte auch die Vertreter einer psychologischen Ästhetik heraus. U.a. entwickelte Robert Vischer (1847-1933), der Sohn von Friedrich Theodor, seinen Begriff der Einfühlung als Gegenkonzept zu Zimmermann, das in der Folge zu einem zentralen Moment innerhalb der psychologischen Ästhetik avancierte.16 Mit diesem Begriff wird der notwendig subjektive, ge-fühlshafte Anteil bei der Wahrnehmung von Kunst umschrieben. Denn nach Vischer »macht der Mensch keine bloßen Wahrnehmungen [...]. Er sieht nicht nur mit dem Auge und nimmt im Hirne Notiz davon, sondern er sieht fühlend als ganze Persönlichkeit, und zwar mit Hilfe der Vorstellung.«17 Auch Gustav Theodor Fechners (1801-1887) »Ästhetik von unten«18 richtet sich explizit gegen den ästhetischen Formalismus eines Herbart und Zimmermann. Für Fechner ist der ästhetische Eindruck untrennbar mit Assoziationen verbunden, d.h. Robert Zimmermann, Zur Reform der Aesthetik als exakter Wissenschaft, in: Zur Philosophie. Studien und Kritiken (= Studien und Kritiken zur Philosophie und Aesthetik 1), Wien 1870, S. 223-265, hier S. 265. Vgl. diese Haltung mit Arnold Schönbergs Auffassung, er habe mit seiner Harmonielehre, »den Kompositionsschülern eine schlechte Ästhetik genommen, ihnen dafür aber eine gute Handwerkslehre gegeben.« (Harmonielehre, Wien 1911, hier zitiert nach der 7. Auflage von 1966, S. 6). Kann man in der Bedeutung des Handwerklichen durchaus eine Gemeinsamkeit erblicken, so hätte Zimmermanns klassizistische, dem Neuen gegenüber keineswegs aufgeschlossene Haltung naturgemäß nicht Schönbergs Zustimmung gefunden. Friedrich Theodor Vischer, Kritik meiner Ästhetik, in: Kritische Gänge, Neue Folge, H. 6, Stuttgart 1873, S. 6. Ebda., S. 50. Robert Zimmermann, Die spekulative Aesthetik und die Kritik, in: Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst (= Beilage zur Oesterreichisch-Kaiserlichen Wiener Zeitung), Nr. 6, 1854, S. 37-40, hier S. 40. Vgl. Theodor Lipps, Ästhetik - Psychologie des Schönen und der Kunst, 2 Bände, Hamburg-Leipzig 1903-1906. Robert Vischer, Der ästhetische Akt und die reine Form [1874], in: ders., Drei Schriften zum ästhetischen Formproblem, Halle 1927, S. 45-54, hier S. 46, zitiert nach Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik, S. 329. Gustav Theodor Fechner, Vorschule der Aesthetik, 2 Bände, Leipzig 1876. 132 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK » MUSICOLOGICAL ANNUAL XL mit jenen subjektiven Momenten, die Zimmermann gerade als nur zufällige Elemente der Kunstbetrachtung eliminieren will. Nach Fechner wird aber Kunst gerade auf Grund dieses assoziativen Faktors bedeutsam, und er kritisiert davon ausgehend den Formalismus ähnlich wie Vischer: »Was von der sixtinischen Madonna nach Abzug aller Association noch übrig bleibt, ist eine kunterbunte Farbentafel, der es jedes Teppichmuster an Wohlgefälligkeit zuvor thut.«19 Auch Fechner ästhetischer Entwurf richtet sich - wie jener Zimmermanns - gegen die idealistische Ästhetik. Aber nicht deren Bedeutungslehre, zu der Fechner sich bekennt, ist hier der Angriffspunkt, sondern ihre spekulative, antiempirische Haltung. Fechners Ziel ist es nämlich, ästhetische Gesetze mittels empirisch erhobener, konkreter ästhetischer Urteile zu erheben und damit zu erfassen, was gefällt, und nicht das, was gemäß normativer Vorstellungen gefallen soll. Die wegen ihrer normativ-spekulativen Grundhaltung speziell in der zweiten Hälfte des 19- Jahrhunderts so schwer diskreditierte idealistische Ästhetik war zunächst auch der Ausgangspunkt Eduard Hanslicks (1825-1904) in seinen Schriften und Kritiken bis 1848. In ihnen kann man seine Haltung nicht anders als eindeutig hegelianisch bezeichnen: Kunst hat die Aufgabe, die ewigen Ideen darzustellen, die Kunstkritik jene, dies zu erkennen und mit den anderen geistigen Betätigungen und Bedürfnissen des Menschen (Philosophie, Religion) in Verbindung zu bringen. Die echte Kunstkritik wird sich bei Beurtheilung eines Kunstwerkes [...] nicht damit begnügen, in den Schacht des technischen Details hinabzusteigen, sie wird den Gipfel der Idee erklimmen. Sie wird darthun, wie die Idee, welche das einzelne Kunstwerk schuf, sich verhält zu den Ideen, welche die ganze Menschheit bewegen [...]. Die Kunst wiederholt die durch reine Contemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Bleibende und Wesentliche aller weltlichen Erscheinungen [...]. Die Kunst-Philosophie unserer Zeit sieht in der Kunst (Dank sei es vor Allem Hegel's Bemühungen!) nicht mehr ein bloßes Spielzeug zu sinnreichem Ergötzen, sie erkennt sie als eine Manifestation der Gottheit, als eine ebenbürtige Schwester der Religion, der Philosophie - welches nur verschiedene Brechungen sind desselben Lichtstrahls. [...] Wir sind über die dürftige Anschauung hinaus, welche in einem Musikstück nur eine symmetrische Aneinanderreihung angenehmer Töne und Tonfolgen sah, und die Definition des großen Philosophen Leibnitz [!] ist eine nurmehr [!] historische geworden. Die Werke der großen Tondichter sind mehr als Musik, sie sind Spiegelbilder der philosophischen, religiösen und politischen Weltanschauung ihrer Zeit. Weht nicht in Beethovens letzten Werken, und in Berlioz die stolze Hoheit und die schmerzliche Scepsis der Deutschen Philosophie?«20 Hanslick geht aber noch weiter und stellt die Musik explizit in den Dienst gesellschaftlicher, ja revolutionärer Aufgaben, was u.a. bedeutet, dass er ihr auch einen konkreten Inhalt zuschreibt: Ebda., Bd. 1, S. 118. Eduard Hanslick, Censur und Kunst-Kritik, in: Wiener Zeitung vom 24. März 1848, hier zitiert nach ders., Sämtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, Band I, 1: Aufsätze und Rezensionen 1844—1848, hrsg. und kommentiert von Dietmar Strauß, Wien-Köln-Weimar 1993, S. 156-158, hier S. 157. 133 MUZIKOLOSKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL »Die ,Stumme von Portici' tradirt im dritten Acte natürliches Staatsrecht, obendrein ganz gegen das Egger'sche Schulbuch21, und auf die Römer-Chöre in Wagner's ,Rien-zi' sollten die italienischen Regierungen ein scharfes Auge haben. Hört die Musik nicht bloß mit den Ohren, sondern mit dem Kopf und mit dem Herzen und sagt mir dann: Glüht nicht unter den ,Hugenotten' der vulcanische Boden der Juli-Revolution? Klirren nicht Ungarische Säbel in dem Finale von Schubert's C-dur-Symphonie? Und wenn ihr Chopin's Mazuren spielt, fühlt ihr sie nicht, die klagend schwüle Luft von Ostrolenka?«22 Vergleicht man mit solchen Aussagen die in seinem Buch Vom Musikalisch-Schönen von 1854 vertretenen formalästhetischen Standpunkte, so lässt sich kaum ein radikalerer Bruch denken.23 Wohl finden sich in der ersten Auflage noch »idealistische« Spuren, aber diese sind schon durch abstrakte Überhöhung gekennzeichnet, wie sie auch in der romantischen Metaphysik der Tonkunst (etwa eines E. T. A. Hoffmann) finden: Die Musik wirke demnach nicht blos und absolut durch ihre eigenste Schönheit, sondern zugleich als tönendes Abbild der großen Bewegungen im Weltall. Durch tiefe und geheime Naturbeziehungen steigert sich die Bedeutung der Töne hoch über sie selbst hinaus und läßt uns in dem Werke menschlichen Talents immer zugleich das Unendliche fühlen. Da die Elemente der Musik: Schall, Ton, Rhythmus, Stärke, Schwäche im ganzen Universum sich finden, so findet der Mensch wieder in der Musik das ganze Universum.«24 Solche Sätze entfielen in den folgenden Auflagen unter dem Einfluss seines Freundes Robert Zimmermann. Hanslicks Wandel von einem Idealisten zu einem Formalisten vollzog sich also sukzessiv: Zunächst lehnte er die Wirkung der Kunst auf das subjektive Gefühl des Rezipienten als ästhetischen Gegenstand ab und delegierte diese Frage wie Herbart und Zimmermann an die Psychologie. Damit eliminierte er aber nicht zugleich die Frage nach der Bedeutsamkeit von Kunst, sondern beantwortete dieselbe durchaus im Sinne der romantischen Metaphysik der Tonkunst. In einem weiteren Schritt gab er auch diese preis und definierte Schönheit rein formal, mithin »specifisch musikalisch, d.h. den Tonverbindungen ohne Bezug auf einen fremden, außermusikalischen Gedankenkreis innewohnend.«25 Denn die »sinnvollen Beziehungen in sich reizvoller Klänge [...] dies ist, was in freien Formen vor unser geistiges Anschauen tritt und als schön gefällt.«26 Dies ist aber auch zugleich der einzige ästhetisch relevante Inhalt der Musik: »Tönend bewegte Formen sind Gemeint ist vermutlich Franz Eggers Kurze Erklärung des Österr. Gesetzbuches über Verbrechen und schwere Polizey-Uebertretungen, 3 Bände, Wien-Triest 1816 und 1817. Ebda. In der Schlacht von Ostrolenka im Jahre 1831 siegten die Russen über die aufständischen Polen. Geoffrey Payzant sieht hier keinen Bruch, weil er in Hanslicks Artikel vor der Revolution, die sich für eine Befreiung der Kunst von staatlicher Zensur einsetzen, bereits den späteren radikalen Autonomiebegriff von Musik vorgeprägt erkennt. (Geoffrey Payzant, Eduard Hanslick and Robert Zimmermann. A biographical sketch, 2001, S. 13, in: http:// www, chass .utoronto. ca/philosophy/twp/hanslick.pdf). Die Indienstnahme der Musik für revolutionäre Zwecke widerspricht allerdings dem Autonomiegedanken. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst [1854], hrsg. von Dietmar Strauß, Teil 1: Historisch-kritische Ausgabe, Mainz u.a. 1990, S.171. Ebda., S. 17 (Vorwort zur 6. Auflage, 1881, Hervorhebung original). Ebda., S. 74. 134 MUZIKOLOSKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.«27 Das Schöne wird dabei aber nicht nur formal, sondern auch - wie bei Zimmermann - überzeitlich, letztlich klassizistisch bestimmt: Es gehe darum, »nach[zu]weisen, was in jeder, auch in den entgegengesetztesten Schulen in gleicher Weise das Schöne ist.«28 Aufgabe der Ästhetik sei es zu beurteilen, Aufgabe der Kunstgeschichte zu begreifen.29 An einem Beispiel erläutert Hanslick den Unterschied: »Mag der Historiker [...] in Spontini den Ausdruck des französischen Kaiserreichs, in Rossini die politische Restauration' erblicken, - der Aesthetiker hat sich lediglich an die Werke dieser Männer zu halten, zu untersuchen, was daran schön sei und warum.«30 Welch' ein Auffassungswandel, bedenkt man, dass er nur sechs Jahre zuvor in dem oben zitierten Artikel Werke Wagners, Meyerbeers, Chopins und Schuberts eben in dieser jetzt als »historisch« verunglimpften Weise selbst betrachtet hat. Hanslick leugnet also nicht den Zusammenhang bestimmter musikalischer Mittel mit bestimmten menschlichen Ausdrucksweisen, er hält aber eine wissenschaftliche - d.h. in Zeiten der erfolgreichen Naturwissenschaften kausale - Behandlung dieses Zusammenhangs für unmöglich.31 Was übrigbleibt, ist die formale Seite des Kunstobjekts, beschreibbar in technischen Termini. Ein derartig reduktionistisches Ästhetikprogramm forderte die Kritik heraus: So spöttelte August Wilhelm Ambros in ähnlicher Weise wie Vischer in der oben zitierten Stelle über Zimmermann und charakterisiert in parodistischer Weise den langsamen Satz der Fünften Symphonie Beethovens nach Art der Hanslick'schen Formalästhetik folgendermaßen: »Andante con moto, 3/8 Takt, As-dur. Singbares Thema, im Einklänge von Viola und Violonèeli gespielt, Bässe in einzelnen Pizzicatoschlägen - der letzte Takt des Themas von den Bläsern aufgenommen und zu einer neuen Phrase benützt - und so weiter. Statt im Apoll von Belvedere den schreitenden, zürnenden Gott zu sehen, der da kömmt [...] werden wir wohl thun, seine Muskeln gut zählen und seine Beine zu messen, die bekanntlich etwas zu lang sind.«32 Dass diese bewusst überzogene Beschreibung wohl kaum dem dynamischen Formbegriff Hanslicks gerecht wird, sei hier nur am Rande erwähnt. Die entscheidende Frage ist: Was hat Hanslick zur Revision seiner ursprünglichen ästhetischen Ebda., S. 75. Ebda., S. 92. Ebda., S. 94. Ähnlich urteilte auch Zimmermann: »Die Kritik trifft das Kunstwerk und nicht den Künstler. Für den ästhetischen Standpunkt ist es indifferent, ob der Künstler unter den ihm gegebenen Verhältnissen im Stande war, mehr als das was er leistete, zu leisten. Ihre einzige Frage geht dahin, ob der Künstler geleistet hat, was er sollte. Dies allein ist ästhetische Kritik, alles Andere ist psychologischer und biographischer Nachweis, ist Geschichte des Kunstwerks. [...] Diese [ die ästhetische Beurteilung] tadelt die Mängel, jene [die Geschichte der Entstehung des Werks] rechtfertigt sie.« (Zimmermann, Die spekulative Aesthetik und die Kritik, S. 39). Vgl. auch Dietmar Strauß, Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, Teil 2: Eduard Hanslicks Schrift in textkritischer Sicht, Mainz 1990, S. 78f. Ebda., S. 92f. (Hervorhebung original). Vgl. Barbara Boisits, Ästhetik versus Historie? Eduard Hanslicks und Guido Adlers Auffassung von Musikwissenschaft im Lichte zeitgenössischer Theorienbildung, in: Barbara Boisits, Peter Stachel (Hg.), Das Ende der Eindeutigkeit. Zur Frage des Pluralismus in Moderne und Postmoderne (= Studien zur Moderne 13), Wien 2000, S. 98-108, hier S. 91-94. August Wilhelm Ambros, Die Grenzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst, Leipzig 1855, S. 42. 135 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK » MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Positionen gebracht? Man wird kaum fehlgehen, eine wesentliche Begründung für diesen Wandel in politischen Ursachen zu suchen. Traumatisiert von den Revolutionserfahrungen, trat Hanslick seinen sukzessiven Rückzug an und landete schließlich bei einem Autonomiebegriff, der die Musik nicht nur aus ihren gesellschaftlichen und politischen, kurz funktionalen Zusammenhängen löst, sondern sie auch noch von jeder Bedeutungszuschreibung befreien will. Schluss Das Festhalten an einem objektiven, zeit- und denkunabhängigen Wahrheitsbegriff in der österreichischen Philosophie wurde in diesem Beitrag mit einem in der zeitgenössischen Ästhetik zu findenden Schönheitsbegriff in Zusammenhag gebracht, der ebenfalls auf objektive und zeitlose Eigenschaften von Gegenständen abzielt. Damit wurde Ästhetik zu einer Formwissenschaft, die sowohl die Frage nach Inhalt und Bedeutung von Kunst als auch die Rolle des Subjekts im ästhetischen Akt als nichtwissenschaftlich abtat.33 Die Frage, die sich dabei stellt, ist, ob und in welchem Ausmaß der reale (politische, soziale, nationale) Kontext die Etablierung einer solchen Musikästhetik begünstigt hat. Es scheint plausibel, dass in einer von permanenten Krisen gezeichneten Region gerade für die an einem Gleichgewicht innerhalb des Gesamtstaates interessierten Kräfte (Kaiserhaus, Regierung, Bürokratie etc.) Theorien verlockend erscheinen mussten, die erstens von eindeutigen, unwiderlegbaren Verhältnissen ausgehen (Wahrheit, Schönheit), zweitens als formale notwendigerweise apolitisch sind und damit drittens prinzipiell von jedem voraussetzungslos als übernational angenommen werden können. Vor dem Hintergrund einer solchen Theorie wird Kunst zum probaten Mittel einer Völkerverständigung. Gleichzeitig ist zu betonen, dass Hanslicks Formalästhetik zunächst wohl kaum im Hinblick auf ihre Kompatibilität mit einer »Gesamtstaatsidee« entstand, sondern vielmehr aus dem Schockerlebnis der Revolution von 1848 heraus, das ihn von (auch politischen) Inhaltsbestimmungen der Musik absehen ließ. Auch hier war also der Kontext zunächst entscheidend für die Genese seiner Ästhetik so wie später für deren Durchsetzung. Hanslicks ästhetisches Konzept blieb in dieser Region ebenso wenig unwidersprochen wie die antiidealistische »Staatsphilosophie«34. Klar erscheint hingegen, warum Hanslicks Entwurf die »gesamtstaatlich« attraktivste Form der Ästhetik werden konnte. Vgl: »Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keine Gefühle erzeugt, ja wenn es weder geschaut noch betrachtet wird; also zwar nur für das Wohlgefallen eines anschauenden Subjects, aber nicht durch dasselbe.« (Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, S. 26). Man denke nur an das bereits zitierte Werk von Ambros oder an Ferdinand Peter Graf Laurencin {Dr. Eduard Hanslick's Lehre vom Musikalisch-Schönen. Eine Abwehr, Leipzig 1859) u.a., von den zahlreichen Popularästhetiken mit ihren banalen Inhaltsbestimmungen von Musik ganz zu schweigen. Auch in der Philosophie gab es Vertreter des Hegelianismus. Nicht selten mussten diese aber ihre Lehrstühle aufgeben (z.B. Ignäc Hanuš und Augustin Smetana). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass diese Vertreter nicht selten die Hegeische Dialektik zur Rechtfertigung des tschechischen Nationalismus heranzogen. Auf wieder andere Weise übte die spätere Wissenssoziologie Kritik am philosophischen Objektivismus, indem sie die Epistemologie soziologisierte, d.h. Erkenntnis vom (soziokulturellen) Ort der Entstehung abhängig machte (Wilhelm Jerusalem, Karl Mannheim, Ludwik Fleck, Alfred Schütz). 136