MEDNARODNI FILOZOFSKI SIMPOZIJ "OSEBA IN DOBRO" INTERNATIONAL PHILOSOPHICAL SYMPOSIUM "PERSON AND THE GOOD" Kurt Walter Zeidler DIE SELBSTÜBERSCHREITUNG DER PERSON1 STR. OD-DO Wenn es denn zutrifft, daß sich das lateinische „persona" vom Namen eines etruskischen Unterweltgottes herleitet, könnte man versucht sein zu glauben, daß dieser Gott im Begriff der Person weiterlebt und durch sein untergründiges Wirken alle Bemühungen um eine saubere Begriffsbestimmung hintertreibt. Wie immer es um die Etymologie des Begriffs bestellt sein mag, Tatsache ist, daß er zunächst die Maske und die Rolle des Schauspielers bezeichnete und sodann als Übersetzung für die beiden griechischen Termini prosopon (soziale Rolle) und hypostasis (Stütze, Grundlage) seine philosophische Karriere antritt. Man könnte über diese Doppeldeutigkeit viel rätseln, sollte aber vorweg zur Kenntnis nehmen, daß der Personbegriff seine philosophische Karriere von Anbeginn einer Verlegenheit verdankt, die in eben dieser Doppeldeutigkeit ihren Ausdruck findet: der Terminus „Person" verdankt seine Karriere der Verlegenheit in die das Denken gerät, sobald es versucht, Selbständigkeit und Relationalität zusammen zu denken. Die Frage, wie Selbständigkeit und Relationalität zusammen zu denken sind, wie die Einheit Selbständiger und darum nicht allein deren Einheit, sondern zugleich und ebenso sehr deren Verschiedenheit gedacht werden kann, ist seit Parmenides und Platon die spekulative Grundfrage unserer philosophischen Tradition. Durch das Christentum wurde diese spekulative Grundfrage aus dem engen Kreis des philosophischen Monotheismus gerissen, den Parmenides mit seinem All-Eins-Denken und Platon mit der Idee des Guten betreten hatten. Und mit dem lateinischen Christentum, das für das griechische Trintätsdogma die Formel „una substantia, tres personae" (Tertullian) prägt, hebt denn auch die philosophische Karriere des Personbegriffs sogleich auf dem denkbar höchsten Niveau an. Mag man auch das spekulative Potential dieser Formulierung und die Spitze des Problems zumeist nicht erkannt haben, weil man substantia (ousia) und persona (hypostasis) zwar verbal unterschied, aber weitgehend synonym verstand und die Relation der tres personae zunächst im Sinne des Subordinationismus als einseitiges Gefälle und Abhängigkeitsverhältnis begriff, so blieb das Trinitätsdogma doch ein ständiger Stein des Anstoßes für das vorherrschende Substanzdenken, das die Relation nur als akzidentielle Bestimmung und die Person daher nur als eine besondere Substanz unter anderen Substanzen verstehen konnte.2 !Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung des Vortrags auf der im November 2005 von der Slowenischen Philosophischen Gesellschaft abgehaltenen internationalen Konferenz "Oseba in dobro (Die Person und das Gute)" und entstand im Rahmen eines vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Wien) geförderten Forschungsprojekts (P16827). 2Seinen bündigen Ausdruck findet dieses Substanzdenken in der berühmten Definition des Boethius, der die Person als die unteilbare Substanz eines vernunftbegabten Wesens "naturae rationabilis individua substantia" (mpl 64, 1343 c) bestimmt. 288 Mit der Wende vom Substanzdenken zum funktional-relationalen Denken der Neuzeit,3 ist nun allerdings der substantialistisch gefaßte Begriff der Person fragwürdig geworden und an seine Stelle ihr funktional-relationaler Charakter in den Vordergrund getreten. Mit Blick auf den zwiespältigen griechischen Ursprung des Personbegriffs, kann man feststellen, daß die Person in der Neuzeit, spätestens seit John Locke,4 über ihre Relationalität, über ihre - vor allem soziale und rechtliche - Funktion und Rolle (also als prosopon) definiert wird, wogegen die substantialistisch aufgefaßte hypostasis nunmehr im Hintergrunde ein unbegreifbar schattenhaftes Unwesen treibt. Die Umstellung vom substantialistischen auf den relationalen Begriff der Person hat weitreichendste Konsequenzen, zumal die Wende vom Substanz- zum Funktionsbegriff (E. Cassirer) nicht nur einherging mit der Depotenzierung, Funktionalisierung und Segmentierung der Natur zu einem bloßen Inbegriff von Gegenständen der naturwissenschaftlichen Forschung und technischen Manipulation, sondern auch mit einer analogen funktionalen Segmentierung der Gesellschaft und Kultur in weitgehend autonom agierende Teilbereiche wie Politik, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft und Kunst, sowie mit einer entsprechenden Segmentierung der Vernunft in unterschiedliche Rationalitätsstandards. Man hat diese Entwicklung einerseits als Geschichte des Fortschritts und der Freiheit gefeiert, man hat sie andererseits als Verlust aller sinnfälligen Orientierungen und überlieferten Sinnstiftungen beklagt. Da man diesen Verlust nicht - jedenfalls nicht ohne noch weit gröbere Verluste - rückgängig machen und in vermeintlich bessere Zeiten zurückkehren wird können, bleibt zu fragen, wie der Verlust sinnfälliger Orientierungen und überlieferter Sinnstiftungen im Horizont des funktional-relationalen Denkens wettgemacht werden kann. Mit Bezug auf die Person und folglich auch mit Blick auf die spekulative Frage, wie Selbständigkeit und Relationalität zusammen zu denken sind, bedeutet das, wir müssen überlegen, ob und auf welche Weise der substantialistische und der relationale Personbegriff zu vereinbaren sind. Eine bekannte Hegelsche Formulierung aufgreifend, könnte man sagen, es gilt, die ,Substanz ebensosehr als Subjekt aufzufassen'.5 Wie wir in Hegels Phänomeno- 3Die Formulierung erhellt einerseits die hier verfolgten Problemzusammenhänge, ist aber andererseits höchst mißverständlich, so daß man - nicht allein mit Blick auf 'Parmenides und Platon' und auf das Trinitätsdogma - eindringlich vor retrospektiven Fehlinterpretationen warnen muß: die funktional-relationale Denkweise ist keine Errungenschaft der Neuzeit, sie findet sich jedoch zuvor in kosmologischen und theologischen Fragestellungen und Überlegungen, die von unserer neuzeitlichen Verstandeskultur mittlerweile zur Sache des privaten 'Glaubens' oder 'Aberglaubens' erklärt wurden. 4J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding (1690), 11, xxvii. 5G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke in 20 Bdn. (Theorie-Werkausgabe), hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. 3, Fft/M. 1969, S. 22. logie des Geistes nachlesen können, ist solches Auffassen nur in und über einen Prozeß der Selbstbildung möglich. Die Formulierung eines weniger bekannten Philosophen aufgreifend, können wir diesen Prozeß der Selbstbildung als „Selbst-Überschreitung" bezeichnen, müsse doch - so der Werttheoretiker und Pädagoge Jonas Cohn - unter einer Person, „eine selbstbewußte Einheit verstanden werden, die sich selbst überschreitet".6 Bleibt also die Frage zu beantworten, wie eine selbstbewußte Einheit, die sich selbst überschreitet, gedacht werden kann. Wie kann die Selbst-Überschreitung ohne Verlust der Einheit des Selbst gedacht werden? Wie kann die relationale Überschreitung des Selbst ohne Verlust seiner Substantialität gedacht werden? Oder in vertrauteren, wenn auch keineswegs verständlicheren Worten ausgedrückt: wie kann das, was im Begriff ,Bildung' vermeint ist, gedacht werden? Die Antwort auf diese Fragen verlangt prinzipientheoretische, fundamentallogische und ontologische Überlegungen, die an dieser Stelle nur mit Rücksicht auf das Generalthema der Tagung „Die Person und das Gute" zu skizzieren sind. Der systematischen Mehrdeutigkeit des Personbegriffs Rechnung tragend, ist die Antwort allerdings zweifach zu formulieren: einmal mit Blick auf die aufgrund der Relationalität der Person geforderte gesellschaftliche und politische Realisierung des Guten, das andermal mit Blick auf die Substantialität der Person und die ihr dadurch aufgetragene Verantwortung, sich selbst als Substanz des Guten zu realisieren. Wenn hier die Substanz des Guten gleichgesetzt wird mit der Verantwortung der Person vor sich selbst, so könnte man einwenden, daß diese Gleichsetzung die Substantialität von vornherein zugunsten einer Relationalität unterläuft. Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, daß in rein relationalistisch konzipierten Ethiken der Begriff einer Verantwortung der Person vor sich selbst undenkbar ist: im Horizont funktional-relationaler Interessen- und Nutzen-Kalküle können nur Pflichten gegenüber anderen, aber nie so etwas wie eine ,Pflicht gegen sich selbst' (Kant) gedacht werden. Zudem sind wir von der Frage ausgegangen, wie der Verlust sinnfälliger Orientierungen und überlieferter Sinnstiftungen im Horizont des funktional-relationalen Denkens wettgemacht werden kann, womit bereits klargestellt ist, daß wir von einem schlicht substantialistisch vorgegebenen „Guten" nicht ausgehen können. Das Bonum wird unter den Bedingungen der Neuzeit nur greifbar über einen Begriff prozeduraler Begründung. Genauer, und mit Bezug auf die Selbst-Überschreitung der Person gesprochen, wird das Bonum greifbar nur über einen Begriff selbstregulativer Begründung, der erlaubt, eine sich selbst regulierende Regel der 6J. Cohn, Selbst-Überschreitung. Grundzüge der Ethik, hg. von D.-J. Löwisch, Fft/M-Bern-New York 1986, S. 123. Vgl. Ders., Wertwissenschaft, Stuttgart 1932, S. i^iff. 290 Etablierung von Regeln zu denken J Die Frage, wie eine sich selbst regulierende Regel der Etablierung von Regeln gedacht werden kann, wird von uns implizit je schon beantwortet, wann immer wir Regeln formulieren oder auslegen oder befolgen. Entscheidend freilich ist in diesem Zusammenhang die Einsicht, daß wir zwischen der Formulierung von Regeln, der Auslegung von Regeln und der bloßen Ausführung oder Befolgung von Regeln zu unterscheiden haben. Diese Unterscheidung wurde denn auch bezeichnenderweise bestritten, sobald man den Personbegriff nur noch relational verstehen und mit dem ,Ich' die letzten Restbestände des Substanzdenkens austreiben wollte. Darum haben maßgebende Richtungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts unter teils sprachanalytischen und teils sozial-aprioristischen Vorgaben entschieden bestritten, daß zwischen der Ausführung einer Regel (ihrer Exekution) und ihrer Auslegung unterschieden werden muß: sie wollten das Regelbefolgen ausschließlich als sozial erlernte und überprüfte Praxis verstehen und nicht wahrhaben, daß Regeln zwar sozial erlernt werden, indem ihre korrekte Ausführung oder Befolgung sozial eingeübt und überprüft wird, daß aber gleichwohl nur ein ,Ich' eine Regel in concreto auslegen kann. Soll dieses ,Ich' oder - in zeitgenössischer Terminologie - die ,Perspektive der ersten Person' weder zu einem Gegenstand empirischer Beschreibungen noch zu einer uneinholbaren Voraussetzung verkommen, muß8 es als Voraussetzung prinzipientheoretisch bestimmt werden; das bedeutet, es muß als Funktion der Regelauslegung im Funktionszusammenhang von Regelauslegung, Regelformulierung und Regelbefolgung bestimmt werden. Mit anderen Worten: indem wir zwischen der Formulierung von Regeln, der Auslegung von Regeln und der bloßen Ausführung von Regeln unterscheiden, setzen wir implizit einen Zusammenhang dieser drei Handlungen voraus, der prinzipientheoretisch zu explizieren ist. Explizieren wir den Zusammenhang dieser drei verschiedenen Handlungen, dann haben wir bereits die sich selbst regulierende Regel der Etablierung von Regeln gewonnen. Wir haben die elementare dreigliedrige Handlungslogik gewonnen, die ihre klassische Formulierung zuerst in der Rechtsphilosophie, in Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung oder, besser gesagt - Gewaltenverteilung, gefunden hat. Seine klassische Unterscheidung von Exekutive (Ausführung der Regel), Legislative 7Grundsätzlich bedeutet dies, daß die traditionell in der Substanz verortete wahrhafte Einheit nicht als relationsloser Selbstbestand, sondern als regulativ sich selbst konstituierende Einheit zu denken ist — oder, mit Hegel gesprochen, daß die Substanz ebensosehr als Subjekt aufzufassen ist. 8Dies Müssen ist die allzeit schwer vermittelbare Zumutung, die Philosophie von bloßer Gelehrsamkeit unterscheidet, dürfen wir uns doch in prinzipientheoretischen Untersuchungen nicht mit dem Beschreiben und Herzählen von Unterschieden begnügen, sondern müssen dem Grund der Unterscheidungen und dem Zusammenhang der Unterschiedenen nachspüren. (Formulierung der Regel) und Jurisdiktion (Auslegung der Regel), zielt ja nicht auf eine abstrakte Trennung (séparation), sondern auf die „Verteilung der drei Gewalten (distribution des trois pouvoirs)", auf daß sie, einander wechselseitig kontrollierend, stützend und ergänzend, eine sich selbst regulierende Einheit bilden. Dieser gegenseitigen Kontrolle, Stützung und Ergänzung von Gesetzesauslegung, Gesetzgebung und Gesetzesvollzug entsprechend, erfolgt die Etablierung jeder Regel in drei einander wechselseitig regulierenden Schritten: ein Gesetz oder eine Regel wird ausgelegt, indem man etwas als Anwendungsfall der Regel identifiziert, ein Gesetz oder eine Regel wird formuliert, indem man die möglichen Anwendungsfälle der Regel antizipiert, und ein Gesetz oder eine Regel wird exekutiert, indem man einen Fall unter die Regel subsumiert. Die elementare und schlichte Logik der Regeletablierung, die der Lehre von der politischen Gewaltenverteilung zugrunde liegt, blieb leider unerkannt; zum einen, weil Montesquieu seine Argumentation als Beschreibung der „Constitution d'Angleterre" tarnt,9 zum anderen, weil er die Stringenz der eigenen Gedankenführung durchkreuzt, indem er aus Sorge um die Rechtssicherheit der Jurisdiktion die Kompetenz zur Gesetzesauslegung abspricht und die Richter zu Subsumtionsmaschinen („seelenlosen Wesen") degradiert, die „nur ... den Wortlaut des Gesetzes" zu sprechen hätten.10 Ein vergleichbarer, vordergründig betrachtet gleichfalls auf ein spezielles Problem beschränkter und daher in seiner Logizität gleichfalls unerkannter und unerschlossener Ansatz zu einer Logik der Regeletablierung findet sich bei Kant, wenn er der reflektierenden Urteilskraft «ein Prinzip a priori " zuschreibt, „wodurch sie [...] ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene [sc. die Natur], ein Gesetz vorschreibt" (KdU a xxxv). Dieser Ansatz ist zwar dem Wortlaut und auch Kants eigenem Verständnis zufolge auf die Natur- und Methodenreflexion beschränkt, wäre aber weit darüber hinaus für prinzipientheoretische Untersuchungen fruchtbar zu machen, sofern man dem Weg von den Vernunftmaximen über die Vernunftideen und die Vernunftschlüsse zu den Relationskategorien durch sämtliche Instanzen der transzendentalen Logik nachspürte.11 In diesem Instanzenwege sind mit Bezug auf die Logik der Regeletablierung jedenfalls die drei Maximen des gemeinen Menschenverstandes zu nennen, die Kant in § 40 der Kritik der 9Montesquieu, De l'esprit des lois (1748), xi, 6. 10"les juges de la nation ne sont ... que la bouche qui prononce les paroles de la loi; des êtres inanimés qui n'en peuvent modérer ni la force ni la rigueur" (ebda.) 11Verf., Die Heautonomie der Vernunft, in: Th. S. Hoffmann, F. Ungler (Hrsg.), Aufhebung der Transzendentalphilosophie? Würzburg 1994, S. 25—39. 292 Urteilskraft zur Hilfestellung bei der Suche nach einem „Urteil [...], welches zur allgemeinen Regel dienen soll", formuliert: „i. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken" (KdU B 158). Kant formuliert diese drei Maximen (subjektiven Grundsätze) mit Blick auf die subjektiv zu leistende, kommunikativ zu bewährende und formallogisch zu stabilisierende Urteilsbildung, wobei er mit dem Selbstdenken, der ,Maxime der aufgeklärten Denkungsart', zurecht das in der Lehre von der Gewaltenteilung durch das Prinzip der Unabhängigkeit der Jurisdiktion angesprochene Autonomieprinzip in den Vordergrund rückt, da jeweils nur ,Ich' ein Faktum als Anwendungsfall einer Regel identifizieren kann. Das Urteil das sich dieser Identifizierungsleistung verdankt, beruht somit auf „subjektiven Privatbedingungen", die durch die ,Maxime der erweiterten Denkungsart' zu berichtigen sind, indem „man sein Urteil an anderer [... ] mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt", d.h. analog einem Gesetzgeber verfährt, der bei der Formulierung eines Gesetzes dessen Anwendungsfälle zu antizipieren versucht. Die dritte Maxime, die ,Maxime der konsequenten Denkungsart', Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken, schränkt das Urteil schlußendlich auf formale Konsistenzbedingungen ein (KdU b 157) und entspricht mithin der Exekutivgewalt, die das Gesetz vollzieht, indem sie den Fall (das bereits als Anwendungsfall einer Regel identifizierte Faktum) schlicht unter die Regel subsumiert. Nachdem die drei Maximen die selbstregulative Regel der Etablierung von Regeln mit Blick auf die subjektiv zu leistende, kommunikativ zu bewährende und formallogisch zu stabilisierende Urteilsbildung explizieren, ist die zugrundeliegende Handlungslogik nicht allein unter dem Aspekt der Legalität, sondern eben so sehr unter dem Aspekt der Moralität von Handlungen fruchtbar zu machen. Im Ausblick auf einen rational vertretbaren Begriff personaler Selbst-Verantwortung und daher auch im Rückblick auf Kants einschlägige Konzeption einer ,rationalen' und ,autonomen' Ethik, ist die selbstregulative Regel der Regeletablierung für eine prozedurale Rekonstruktion und Reformulierung des Kategorischen Imperativs fruchtbar zu machen, die aber nicht - wie man befürchten oder vielleicht auch hoffen könnte - die Strenge der Kantischen Beweisführung aufgrund anthropologischer Rücksichten ermäßigt, sondern seine Beweisabsicht, das Sittengesetz „aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten" (gms a 35), vielmehr allererst einzulösen erlaubt. Die sich selbst regulierende Regel der Etablierung von Regeln erlaubt, das Sittengesetz „aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten", weil die Regel der Regelbildung die Vernunft überhaupt erst auf den Begriff bringt, der die im Begriff der ,Person immer schon intendiert gewesene Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft zu denken erlaubt.12 Die von Kant gehegte Hoffnung, „es vielleicht dereinst bis zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens (des theoretischen sowohl als praktischen) bringen [...] zu können" (KpV 162), wird durch die selbstregulative Regel der Regeletablierung erfüllt, weil sie den rationalistischen Prinzipienbegriff sprengt, dem Kant wider bessere Einsicht verpflichtet bleibt, wenn er die erhoffte Einsicht in die „Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens" umstandslos mit der Hoffnung verbindet, „alles aus einem Prinzip ableiten zu können".13 Sein rationalistischer Prinzipienbegriff und das ihm entsprechende deduktiv-analytische Logikverständnis verhindern, daß Kant in den Maximen des gemeinen Menschenverstandes das gesuchte einheitliche und oberste Prinzip von theoretischer und praktischer Vernunft erkennt. Die Logizität der selbstregulativen Regel der Regeletablierung bleibt auch bei Kant - wie zuvor schon bei Montesquieu - verschlossen, weil sie die Schranken des deduktiv-analytischen Logikverständnisses durchbricht, insofern sie eben nicht bloß als ein Subsumtionsprinzip zur Ableitung bestimmter Erkenntnisse oder Handlungsanweisungen oder richterlicher Urteile dient. Die selbstregulative Regel der Regeletablierung bringt hingegen die Momente zur Sprache, die jedes Prinzip zum Prinzip qualifizieren: Ein jedes Prinzip qualifiziert sich durch die drei Momente der Unbedingtheit, der Allgemeinheit und der Gesetzmäßigkeit zum Prinzip: Ein Prinzip muß unbedingt sein, sofern es Prinzip und nicht bloß Prinzipiat ist. Ein Prinzip muß ferner allgemein sein, insofern es Prinzip für seine jeweiligen Anwendungsfälle ist. Und schließlich muß das Prinzip als Prinzip gesetzmäßig sein, d.i. es muß, um als Prinzip für seine Prinzipiata fungieren zu können, eigener oder fremder Gesetzmäßigkeit gehorchen. Der Eine Imperativ der Sittlichkeit wäre demnach in drei Imperative zu differenzieren, in denen jeweils die Momente der Autonomie oder Unbedingtheit, der Allgemeinheit und der formalen Konsistenz zum Ausdruck kommen.14 Für 12Die zunächst als Regel der Regeletablierung angesprochene elementare Handlungslogik ist daher im folgenden als Prinzip aller Prinzipien zu bestimmen und war in anderen Zusammenhängen (im Kontext der theoretischen Philosophie) als logische Letztbegründung zu explizieren. Vgl. Verf., Grundriß der transzendentalen Logik, Cuxhaven 1992, § 29; Prolegomena zur Wissenschaftstheorie, Würzburg 2000, S. i^öff. 13Kant spricht von der "[...] Erwartung, es vielleicht dereinst bis zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens (des theoretischen sowohl als praktischen) bringen, und alles aus einem Prinzip ableiten zu können; welches das unvermeidliche Bedürfnis der menschlichen Vernunft ist, die nur in einer vollständig systematischen Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheit findet." (KpV 162) 14Kant unterläßt diese Differenzierung, weil er die drei Momente von vornherein in der gleichermaßen substan-tialistisch präformierten, wie moralisch aufgeladenen Vorstellung einer "Verstandeswelt" zusammendenkt. Der immer wieder gegen Kants Ethikkonzeption erhobene Formalismus-Vorwurf schrammt daher haarscharf an dem grundsätzlichen Problem vorbei: Kants Ethik krankt nicht am Formalismus, sondern an dessen unzulänglicher Ausarbeitung. Genauer gesagt, krankt sie an der materialen und meta-physischen Vorgabe einer substantialistisch als Gegebenheit vorgestellten Welt von reinen Verstandeswesen, da diese Vorgabe das Sittengesetz nur noch als unmittelbaren Appell und Konsistenzforderung der durchgängig moralisch verfaßten "Verstandeswelt" zu denken erlaubt. 294 diese drei Imperative bieten sich mit Rücksicht auf den zuvor angesprochenen Instanzenweg von den Vernunftmaximen über die Vernunftideen und die Vernunftschlüsse zu den Relationskategorien die folgenden Bezeichnungen und Formulierungen an15 - Kategorisch: Handle nach deinem Gewissen. Hypothetisch: Handle nach Maximen, von denen du wollen kannst, daß sie auch auf dich angewandt werden. Disjunktiv: Handle nach Maximen, die zu einer allgemeinen Gesetzgebung taugen.16 Der Kategorische Imperativ 'Handle nach deinem Gewissen', spricht die Forderung aus, mich selbst zum Subjekt der Moralität zu bestimmen, d.i. als ein vernünftiges Wesen, das seine Handlungen sich selbst zurechnet und daher - als vernünftiges moralisches Wesen - seine vorgehabten Handlungen von vornherein seiner eigenen moralischen Beurteilung (seinem Gewissen) zu unterwerfen hat. Da aber die Handlungen eines endlichen vernünftigen Wesens nicht nur von ihm selbst vorgehabt, sondern auch situativ von ihm gefordert sein können, ist der Kategorische Imperativ näherhin als Maxime der moralischen Sensibilisierung zu interpretieren. Die Forderung, meinem Gewissen gemäß zu handeln, bestärkt mich daher nicht etwa in der Autarkie und Selbstgenügsamkeit eines 'guten Gewissens'; sie verlangt vielmehr, daß ich mir ein Gewissen mache, was wiederum dreierlei bedeutet: erstens, die Forderung, meine Handlungsabsichten einer moralischen Prüfung zu unterziehen, zweitens, die Forderung, moralische Aufforderungen als solche zu identifizieren und drittens, die Forderung der Prüfung des eigenen Gewissens. Insofern sind das Moment der Anwendung und das Moment der Gesetzlichkeit des Sittengesetzes auch schon im Kategorischen Imperativ enthalten, sie müssen in den beiden folgenden Imperativen aber noch expliziert werden. Der Hypothetische Imperativ 'Handle nach Maximen, von denen du wollen kannst, daß sie auch auf dich angewandt werden', vermittelt die beiden Momente der Anwendbarkeit und der Verallgemeinerungsfähigkeit moralischer Entscheidungen, insoweit er nicht allein (im Sinne des geläufigen Verständnisses der 'Goldenen Regel') als Maxime der Selektion vorgegebener 15Verf., Die Dialektik der praktischen Vernunft und ihre Maximen, in: H.-D. Klein, J. Reikerstorfer (Hrsg.), Philosophia perennis, Teil i, Fft/M 1993, S. 257—276; 272ff. 16In Kantischer Terminologie sind alle drei Imperative als 'Kategorische Imperative' der selbstgesetzgebenden praktischen Vernunft zu verstehen. Wollte man hingegen die Ethik auf eine Güterlehre gründen, so fließen daraus die folgenden drei (hypothetischen) Imperative einer jeden heteronomen Ethik: i) Tu deine Pflicht. 2) Tu Gutes, damit auch dir Gutes widerfährt. 3) Gehorche dem Gesetz. Handlungsoptionen, sondern eben so sehr als Maxime des Entwurfs alternativer Handlungsoptionen zu verstehen ist. Dieser Doppelaspekt wird von Kant übersehen, weil er davon ausgeht, daß der Handelnde von vornherein über subjektive Grundsätze der Willensentscheidung (Maximen) verfügt; er kann daher die Vereinbarung der Anwendbarkeit und der Verallgemeinerungsfähigkeit solcher Maximen nur noch retrospektiv unter dem Aspekt einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit in Angriff nehmen, die aber, auch wenn sie als mögliche Naturgesetzlichkeit oder als reziproke Gesetzgebung und Selbstgesetzgebung in einem Idealstaate vorgestellt wird, mit der Frage der Maximenanwendung nur mittelbar zu tun hat. Mit anderen Worten: Kant berücksichtigt nicht, daß ein endliches vernünftiges Wesen nicht nur über ein Inventar vorgegebener Grundsätze und Handlungsoptionen verfügt, sondern sich dieses Inventar auch jederzeit erst zu bilden hat. Da er solcherart den Begriff der Person als eines 'endlichen vernünftigen Wesens' verfehlt, ist Kant nicht imstande, das Sittengesetz "aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten" (gms a 35). Versuchen wir diese 'Deduktion' des Sittengesetzes, genauer: die Deduktion seiner Anwendungsbedingung, nachzuholen, so ist zunächst daran zu erinnern, daß eine Person, die ihre Entscheidung angesichts einer bloßen Vielzahl möglicher Zwecksetzungen (Handlungsoptionen) träfe, bloß Subjekt der Willkür, nicht aber Subjekt der Moralität wäre. Die Handlungen der Person entspringen bloß subjektiver Willkür oder objektiver Zufälligkeit, sofern es ihr nicht gelingt, die Totalität vernünftiger Zwecksetzungen zu antizipieren. Diese Antizipation der Totalität vernünftiger Zwecksetzungen (des 'Reiches von Zwecken') ist für ein endliches vernünftiges Wesen aber nur vermittels einer hypothetischen Selbstanwendung jeweiliger Handlungsoptionen möglich; d.h. ich muß wollen können, daß in vergleichbaren Situationen auch ich selbst der gleichen Zwecksetzung gemäß behandelt werde. Da die hypothetische Selbstanwendung jeweiliger Handlungsoptionen stets Hand in Hand geht mit der Antizipation vergleichbarer Handlungssituationen, verallgemeinere ich die in ihrer Jeweiligkeit zunächst bloß zufälligen Handlungsoptionen zu subjektiv-allgemeinen Grundsätzen (Maximen) und bilde mir mithin meine Maximen, indem ich zugleich ihre Anwendungsbedingungen kläre. Da der hypothetische Imperativ die Totalität vernünftiger Zwecksetzungen jederzeit nur unter kontingenten Bedingungen antizipieren kann, bedarf diese Antizipation der Kontrolle durch einen zusätzlichen Imperativ, der die subjektive Allgemeinheit der Maximen auf ihre mögliche objektive Allgemeinheit hin zu überprüfen fordert. Der disjunktive Imperativ 'Handle nach Maximen, die zu einer allgemeinen Gesetzgebung taugen', den Kant unter der irreführenden Benennung eines Kategorischen Imperativs so beharrlich an 296 die Spitze und ins Zentrum seiner Argumentation stellt, kommt folglich erst auf der dritten Ebene des dreistufigen moralischen Beurteilungsverfahrens zum Zug, in dem die Person sich vor sich selbst als Substanz und ebensosehr als Subjekt des Guten (als praktische Vernunft) zu begründen, zu bewähren und zu rechtfertigen hat.