aspekte musikalischer autonomie im mittelalter RUDOLF FLOTZINGER Universität Graz Izvleček: Ideja o absolutni glasbi je v poznem 18. stoletju nedvomno prinesla spremembo paradigme, vendar ta ni bila tako korenita, kot večinoma mislimo. Prinaša tudi momente t. i. longue durée, ki se začnejo z različnim pojmovanjem termina glasba že v antiki in se nadaljujejo vse do številnih principov komponiranja v skladu s tako imenovano modalno ritmiko po 1210. Ključne besede: sprememba paradigme, longue durée, modalna ritmika, glasbena oblika, organum. Abstract: Without a doubt, the idea of absolute music in the late 18th century brought about a paradigm shift, but this was not as radical as is generally believed. The idea also harbours earlier moments of longue durée, beginning with the differentiation of the term "Music " in Antiquity and continuing up to the establishment of several principles of composition in accordance with the so-called modal rhythm after 1210. Keywords: paradigm shift, longue durée, modal rhythm, musical form, organum. Unabhängig davon, ob man zwischen „autonomer" oder „absoluter" Musik unterscheidet, ist keine Frage, daß die betreffende Idee relativ jung ist: nämlich erst im späten 18. Jahrhundert entstand und im 19. zu einer dominanten ästhetischen Kategorie wurde. Auf den ersten Blick könnte daher mein Versuch überraschen oder gar auf Unverständnis stoßen: gilt doch die mittelalterliche Kirchenmusik - sowohl der einstimmige Choral als auch seine mehrstimmigen Weiterfuhrungen; vornehmlich um solche wird es jedoch im Folgenden gehen - wegen ihrer Bindung an den christlichen Kult als ein Musterbeispiel „funktionaler" Musik. Erst auf den zweiten Blick, wenn man nicht nach vollgültigen ästhetischen Kategorien, sondern bloß A s p e k t e n von solchen im Mittelalter sucht, erscheint das Unterfangen nicht mehr so abwegig und wird - wie zu zeigen ist - das Ergebnis keineswegs nur negativ ausfallen. Auch ohne die Erwartung eines unmittelbaren Beitrags zum Selbstverständnis der slowenischen Musikkultur ist die Fragestellung angebracht: um nämlich gewisse, heutzutage zunehmend als eher belastend - kaum als angemessen oder gar erklärend - aufgefaßte Dichotomien (wie funktional vs. autonom, usuell vs. artifiziell, amateurhaft/dilettantisch vs. professionell, Folklore vs. Kunst) zu relativieren. Sogar nach einer mittelalterlichen Musikästhetik zu suchen, ist keineswegs so unangebracht, wie man vielleicht meinen könnte: nach Grundvorstellungen über das Wesen der Musik und der musikalischen Wahrnehmung hat man ja nicht erst seit dem 18. Jahrhundert zu fragen begonnen, sondern wohl in allen Kulturen schon seit urdenklichen Zeiten: das zeigen einschlägige Mythen, Aussagen früher Philosophen und schließlich frühe schriftliche Abhandlungen rcepi ^ouoikîîç oder de musica. Auch wenn diese vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Musiktheorie entstanden sind, lassen sie doch die jeweils dahinter stehende Musikanschauung meist recht gut erkennen. Selbstverständlich wird es nicht möglich sein, diesen gesamten Fragenkomplex aufzurollen (z. B. würden sich auch im mittelalterlichen Schrifttum nicht sämtliche Aussagen nur dem Schlagwort „Gottesdienst" zuordnen lassen). Meine Absicht ist wesentlich bescheidener: nämlich vor Augen zu führen, daß der Paradigmenwechsel, den die „Idee der absoluten Musik" im späten 18. Jahrhundert einleitete, keineswegs so radikal war, wie meist angenommen wird (z. B. sprach Carl Dahlhaus gar von einer „Verkehrung" der bis dahin von Vokalmusik geprägten „ästhetischen Grundvorstellungen ins Gegenteil"1). Er enthält durchaus auch Momente von longue durée, die sich ins Mittelalter zurück verfolgen lassen. Nur mehr bedingt von Fernand Braudel ausgehend, versteht man unter longue durée heute eine besondere „Tiefendimension" langfristiger Zeitstrukturen „scheinbar unveränderter, de facto aber sich nur besonders langsam wandelnder Aspekte historischen Geschehens", die sich sozusagen „hinter dem Rücken der Zeitgenossen und jenseits ihrer ereigniszentrierten Aufmerksamkeit vollziehen."2 Solche sind nicht nur in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte (speziell der Alltagskultur), sondern schon seit einiger Zeit auch in kulturellen Bereichen beobachtet worden. In Phänomenen wie der Musik aufgesucht, scheinen sie sich besonders hinter einer gewissen „Selbstverständlichkeit" zu verbergen, die einerseits die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen beeinträchtigt, aber auch auf einmalige (bloß besonders erfolgreiche) Setzungen zurückgehen können. Das trifft meines Erachtens auf eine Reihe von Aspekten zu, die in unserer Musik sogar als besonders „typisch abendländisch" gelten. Das gilt es anhand von Beispielen zu zeigen. Bereits der europäische Musik-Begriff ist eng mit Fragen von Autonomie (Unabhängigkeit) und Identität verbunden: Man nimmt an, daß der antike Ausdruck ^ouoik^ eine enge Verbindung von (vereinfacht gesagt) Sprache, Gesang und Tanz bezeichnet habe: aufgrund ihrer Gemeinsamkeit des Rhythmus und der körperhaften Darstellung3. Das bedeutet einerseits, für die schrittweise Wandlung zu unserem heutigen Verständnis von „Musik" bereits einen ersten Prozeß der Loslösung (Verselbständigung) vorauszusetzen, der zumindest im 5. Jh. v. Chr. abgeschlossen gewesen sein muß4. Andererseits lebte, trotz der unterschiedlichen Gegebenheiten in den Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein, eine enge Verknüpfung von sprachlichem und musikalischem Rhythmus lange Zeit weiter: im „gesungenen Gebet" sowohl des jüdischen Tempels als auch der christlichen Kirche. Obwohl in der lateinischen Sprache - um nur diesen Strang zu betrachten - die Quantitäts-Rhythmik nicht mehr in gleichem Maße prägend war wie in der griechischen (die eine Dehnung oder Verkürzung der einzelnen Silben gar nicht zuließ), blieb die Verbindung 1 Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel [...], Deutscher Taschenbuch Verlag, 1978, 5. 12 f. 2 Lutz Raphael, Longue durée, Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hrsg. Stefan Jordan, Stuttgart, Reclam, 2002, S. 202. 3 Thrasybulos Georgiades, Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik (Rowohlts deutsche Enzyklopädie 61), Hamburg, Rowohlt, 1958. 4 Albrecht Riethmüller, Musenkunst versus Musik, Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil 6, 2 Ed., Kassel [...], Bärenreiter, 1997, Sp. 1206f. zwischen Sprache und Musik derart eng, daß der sprachliche Rhythmus nach wie vor den musikalischen bestimmte, und zwar sowohl in der Prosa des Chorals als auch in den Versen der jüngeren (mittelalterlichen) Gattungen5. Rhythmus wurde daher in Traktaten der (bekanntlich zum Quadrivium resultierenden[I can't verify this meaning of the word „resultieren" in German. alternative: „gehörenden" or „zählenden"]) Musik nur selten und die längste Zeit nur nebenbei erwähnt; er blieb eine Angelegenheit der Grammatik (Teil des Triviums). Immerhin fällt auf, daß Aufkommen und Entwicklung der mittelalterlichen Gesangsformen keineswegs linear verliefen, sondern bis ins 12. Jahrhundert sozusagen in Schüben: Zeiten, in denen die Melodieerfindung im Vordergrund stand, scheinen mehrmals solche gefolgt zu sein, in denen - zweifellos auch aufgrund von Interessen der Kirche - Texte bzw. Textierungen forciert wurden (Hymnen, Tropen, Sequenzen usw.). Melodien und Texte wurden entweder gemeinsam erfunden oder (bevorzugt) Texte a n h a n d von Melodien. In dieser Tradition hat man - wenn auch nicht ganz zurecht - lange Zeit auch die jüngste Gattung gesehen: nämlich die Motette ausschließlich (anstatt bloß a u c h) als Textierung von mehrstimmigen sog. Clauseln. Wir werden darauf zurückkommen. Ein deutlicherer Hinweis auf unser Thema mag sodann die Tatsache sein, daß, wenn im Mittelalter zwischen musica und cantus unterschieden wird, musica stets der abstraktere Begriff ist, dem cantus untergeordnet ist (z. B. wenn mit cantare in organis Instrumentenspiel gemeint ist). Vor allem aber kommt die Mehrstimmigkeit ins Spiel. Sie ist offensichtlich von den kirchlichen Obrigkeiten nicht (jedenfalls nicht generell) gern gesehen, sondern diesen durch die Musiker sozusagen abgetrotzt worden: mithilfe ständiger Hinweise auf das (auf anderen Gebieten völlig unbestrittene) Schmuck-Prinzip und der Beteuerung, daß durch die (anfangs primitive und erst mit der Zeit raffiniertere) mehrstimmige Ausführung der zugrunde liegende Choral zwar vielleicht rhythmisch, nicht aber melodisch verändert werde. Das entspricht zwar weiterhin einer Definition von Musik vornehmlich über die Melodik (den Rhythmus erhielt sie sozusagen durch den Text), enthält aber als einen weiteren Gesichtspunkt den (Zusammen-)Klang. Die in diesem Zusammenhang natürlich vermehrt diskutierten Qualifizierungen von Konsonanz/Konkordanz bzw. Dissonanz/Diskordanz zeigen nicht nur, daß man sich über sie nicht gänzlich oder ein für allemal einig war und daß es durchaus gewisse Änderungen gab (z. B. in der Einschätzung der Quart bzw. der Terzen). Hier interessiert vor allem das Prinzip: d a ß sie an bestimmten Stellen stehen sollten bzw. n i c h t vorkommen durften (im alten organum des 10. Jahrhunderts anders als aufgrund der modi des 13., auf die wir ebenfalls noch kommen werden). Dieses Prinzip ist uns noch heute geläufig: in Regeln für Stimmführung im klassischen Vokalsatz ä la Palestrina oder Fux, für die Dissonanzauflösung der Harmonielehre ebenso wie in der Aufhebung ihres Gegensatzes durch gewisse Richtungen der Moderne6. Ein spezieller Fall davon ist das bekannte Verbot von parallelen Oktaven und Quinten: es läßt sich auf die zunehmende Ablehnung des reinen Parallelorganums (ab dem 10. Jahrhundert) zurückführen, ist als Regel aber erst nach dem discantus des 13. Jahrhunderts entstanden. Und 5 Ewald Jammers, Der mittelalterliche Choral. Art und Herkunft, Mainz, Schott, 1954. 6 Vgl. Rudolf Flotzinger, Musikalisches Mitteleuropa im europäischen Kontext, oder: Was kann die Musikhistorie zur Bestimmung von Mitteleuropa beitragen, Muzikoloski zbornik 40 (2004), S. 43-52: 48-50. ein ebenso besonderer Fall der Qualifizierung ist die des Tritonus als diabolus in musica. Ich weiß nicht, wann der Ausdruck erstmals belegt ist; Tatsache ist, daß seine Ablehnung ziemlich unverändert erhalten blieb und noch für Paul Hindemith ein Hauptkriterium seiner Intervall- und Akkordwertungen abgab7. Lediglich eine Kehrseite der Qualifizierung von Zusammenklängen ist die - ja nicht selbstverständliche - Bevorzugung des konsonanten Schönklangs in der europäischen Kunstmusik bis in die Moderne. Sie hat - wie ich meine: nicht zuletzt aufgrund theologischer Überlegungen - ihre Wurzeln im mittelalterlichen organum und die Forderung nach Gleichberechtigung der Dissonanz in der Moderne wird zurecht als „Emanzipation" bezeichnet. Daß all diese Momente ausschließlich Musikinterne waren, liegt ebenso auf der Hand wie, daß man sie als Beispiele von longue durée betrachten kann. Das gilt auch für die schon einmal erwähnte Motette: sie ist als seriöse Vokalgattung noch heute lebendig. Darüber hinaus führt sie zu einem der wichtigsten Paradigmenwechsel der abendländischen Musik überhaupt, der in Paris um etwa 1210 stattfand und die bekannten Persönlichkeiten Leonin und Perotin von einander trennt. (Sie - wie immer man sie identifiziert8 - als Repräsentanten einer einheitlichen sog. Notre-Dame-Schule anzusehen, ist - nebenbei gesagt - nicht mehr zulässig.) Dieser Paradigmenwechsel ging von Melismen aus, also von einem rein musikalischen Parameter. Er läßt auf vielen Linien (die hier nicht ausgebreitet werden können) erkennen, daß die Musiker damit etwas mit „Eigenlogik" anstrebten (in moderner, aber keineswegs allzu über-interpretierender Weise kann man geradezu von einem „Trend zum rein Musikalischen" sprechen). Das wichtigste Moment ist - und das mag nach dem Gesagten überraschen - das bekannte modale Rhyth-mus-System9, das allerdings nicht bereits um 1180, sondern erst im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts ausgebildet wurde, und zwar von Musikern, wenn auch nach dem Muster der Grammatik (Sprachlehre): des Laborinthus von Évrard de Béthune (f c. 1212) und des Doctrinale des Alexander von Villa-Dei (Villedieu, c. 1170-c. 1250). In diesen beiden um 1200 in Paris entstandenen Schriften sind erstmals jene sechs Versfüße als „ausreichend" dargestellt10, die wir seit gut hundert Jahren als die modi 1 bis 6 der bislang mit dem Schlagwort „Notre Dame" versehenen Musikepoche kennen und deren Notierung wir ganz gut in unsere Notenschrift übertragen können. Schwierigkeiten machte bis zuletzt nur die Transkription des sog. organum purum: eben w e i l es nicht der Modalrhythmik unterliegt und die betreffende Notation daher anders zu lesen ist. Dieses Faktum und daß der sog. Magnus liber, der ebenfalls zu Unrecht als persönliches Werk Leonins angesehen wurde, bestenfalls aber nur indirekt auf ihn verweist, bezeichnet die Kluft, die zwischen den Stilstufen zu sehen ist, für die Leonin bzw. Perotin als Repräsentanten galten (aber eher nur als Projektionsfiguren zu sehen sind). 7 Paul Hindemith, Unterweisung im Tonsatz, Mainz, Schott, 1937. 8 Vgl. Rudolf Flotzinger, Leoninus musicus und der Magnus liber organi, Kassel [...], Bärenreiter, 2003; Rudolf Flotzinger, Perotinus musicus. Wegbereiter abendländischen Komponierens, Mainz [...], Schott, 2000. 9 Es ist unzähligemale - jeweils mit den vergleichbaren Versfüßen versehen - in Darstellungen und Lehrbüchern wiedergegeben und kann daher wohl vorausgesetzt werden. 10 Erster Hinweis: Rudolf Flotzinger, Zur Frage der Modalrhythmik als Antike-Rezeption, Archiv für Musikwissenschaft 29 (1972), S. 203-208. Der entscheidende Unterschied zwischen dem vormodalen und modalen Stil liegt im nun erstmals ausschließlich musikalischen Rhythmus, genauer: in der Verbindung, die das Modalsystem zwischen dem Quantitäts-Prinzip in der Tradition der griechischen Sprache und dem Akzent-Prinzip der jüngeren lateinischen Dichtung herstellt. Obwohl die historische Ableitung des Systems noch nicht vollständig geklärt ist, halte ich - wie übrigens bereits vor hundert Jahren Hugo Riemann11 - das Akzentprinzip (also eine Frage der veränderten Aussprache des Lateinischen und der rhythmischen Dichtung) für entscheidend. Das musikalische Ergebnis (das dann bis zur echten Vierstimmigkeit ausgeweitet wurde) war der neue modalrthythmische discantus-Satz, in dem alle beteiligten Stimmen der neuen Modalrhythmik unterliegen. Er wurde noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in einer beachtlichen Reihe von zwei- bis vierstimmigen Kompositionen praktisch umgesetzt und experimentell ausgelotet. Es gibt daher nur wenige Grundsätze der musikalischen Komposition (wie Wiederholung, Sequenzierung, Variation, Imitation, Umkehrung etc., bis hin zu raffinierten Symmetriebildungen, Zahlenspielen, Isorhythmik, nachvollziehbare Formgestaltung usw.), die nicht bereits anhand von Clauseln, Organa, Conducti und Motetten ausprobiert wurden12 - alles Beispiele von longue durée, woraus eben n i c h t Kontinuität gleichmäßiger Verwendung abgeleitet werden darf. Selbst wenn die Modalnotation scheinbar nur mit Längen und Kürzen arbeitet (weil nur diese darstellbar waren), regeln die modi doch auch die Akzente (z. B. im ersten modus auf der Anfangs-Länge, im zweiten modus der -Kürze) und bereiten so unseren heutigen Takt vor. Wenn durchaus noch darüber gestritten wird, ab wann von „Takt" in diesem Sinne gesprochen werden dürfe, bestätigt sich longue durée genau in der Art, wie sie eingangs charakterisiert wurde. Aber nicht nur der Takt, sondern das gesamte abendländische divisionäre Rhythmus- (und dem entsprechend: Notierungs-) System wurde hier grundgelegt. Es ist keine Frage, daß die Schöpfer dieser Neuerungen (ich vermute neben oder nach Alexander von Villa-Dei auch Johannes de Garlandia und vor allem Perotin selbst) sich zwar der Neuheit bewußt waren, die Folgewirkungen aber nicht abschätzen konnten. Ihre Systematisierung der 6 modi orientiert sich zwar noch an Vorbildern aus der Grammatik, doch daß sie durch (und für) Musiker vorgenommen wurde, setzt nicht zuletzt ein verändertes Selbstbewußtsein voraus. Und etwas von diesem Geist muß seither erhalten geblieben sein. Mag Europa - wie behauptet wird - in den Wissenschaften erst im 15. Jahrhundert eine gewisse internationale Bedeutung erreicht haben13: in der Musik trat es schon im 13. in den Vordergrund, und zwar im Zeichen des Rationalismus, der hinter jeder Systematik steckt. Auf der andern Seite zeigt der skizzierte Paradigmenwechsel, daß erfolgreiche Setzungen rasch zu derart hoher Akzeptanz gelangen können, daß sie zur Selbstverständlichkeit werden und in der Folge gewisse Änderungen bestenfalls als geringfügig, ja zu vernachlässigen erscheinen (die beste Voraussetzung für longue durée). 11 Hugo Riemann, Die Musik des Mittelalters (Handbuch der Musikgeschichte 1,2), Leipzig, Breitkopf und Härtel, 21920, S. 187. 12 Rudolf Flotzinger, Der Discantussatz im Magnus liber und seiner Nachfolge. Mit Beiträgen zur Frage der sogenannten Notre-Dame-Handschriften, Wien [...], Böhlau, 1969. 13 Benjamin Nelson, Der Ursprung der Moderne, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1977, S. 16. Ein Großteil der zur fraglichen Zeit verwendeten Fachausdrücke war bereits traditionell. Einige aber mußten eine neue, spezifische Bedeutung (nicht selten n e b e n der alten) erhalten, andere neu eingeführt oder überhaupt erst geschaffen werden. Dabei war man abermals mit Anleihen nicht zimperlich, die meisten wurden wieder der Sprachlehre entlehnt (z. B. modus, copula, clausula). Das Entscheidende scheint jedoch wiederum nicht so sehr der Ausgangspunkt zu sein, als der Wille zu einem eigenen, unabhängigen Verständnis. Auch wenn die Bedeutung des Vorgangs noch umstritten ist, Tatsache bleibt schließlich, daß die musica im Jahre 1215 in den Vorlesungskanon der im Entstehen begriffenen Pariser Universität Eingang fand. Hier suche ich daher auch die aktiven Männer, d. h. in einer Stadt, die an geistiger Regsamkeit wohl keine Konkurrenz hatte. Daß deren Selbstverständnis und ihre vornehmlich musikalischen Interessen (neben denen die des Gottesdienstes zwar vorhanden gewesen sein mögen, aber meiner Überzeugung nach untergeordnete Bedeutung besaßen) nicht bloß ein Produkt nachträglicher Interpretation ist, läßt sich beweisen: durch die Kirchenorgel14. Auch deren Geschichte kann hier nicht ausgebreitet werden. Es genüge der Hinweis, daß sie bautechnisch auf die antike Wasserorgel zurückgeht, in die Kirchen aber nicht über den Kaiserkult kam, sondern über die Musiktheorie (dessen bevorzugtes Instrument sie neben dem viel weniger leistungsfähigen Monochord ab dem 10. Jahrhundert geworden war). Auch in dieser Hinsicht sind die Vorstellungen noch immer von Sensationslust und Spekulation geprägt: vor dem 13. Jahrhundert gab es keine Kirchenorgel sensu stricto. In seiner nur etwas vor dem Jahr 1300 entstandenen Ars musica sagt der Spanier Aegidius Zamorensis: „Et hoc solo musico instrumento utitur ecclesia in diuersis cantibus & in prosis, in sequentiis, & in hymnis, propter abusum histrionum eiectis aliis communiter instrumentis / Allein dieses Musikinstrumentes bedient sich die Kirche in verschiedenen Gesängen, Prosen, Sequenzen und Hymnen, wegen des Mißbrauchs durch Spielmänner [aber] unter Verbannung der anderen allgemein gebräuchlichen Instrumente."15 Wie der Gebrauch aussah, sagt er nicht; aber es ist das einzige Instrument in der Kirche überhaupt. Eindeutig ist erstmals eine Rubrik im Ordinale von Exeter (1337): „Post Sanctus poterunt organizare cum voci-bus vel organis / nach dem Sanctus können sie organizieren, mit Stimmen [= vokal] oder Orgel [= instrumental]."16 Das klingt noch immer nach Restriktion (das Wort „poterunt" dürfte auf ein Nachgeben der Obrigkeit gegenüber dem Drängen der Musiker hinweisen, wie seinerzeit bei der Einführung des Organums), jedenfalls ist nur von einer Möglichkeit die Rede und eindeutig von einer vokal-instrumentalen Alternative. Auch diese kennen wir: als sog. Alternatim-Praxis. Hatte organizare bisher immer ein Singen „in der Art von Instrumenten" bedeutet, kann jetzt das Instrument nicht nur mit Präambula (Präludien) zu einer liturgischen Handlung hinführen, sondern selbst „organizieren" (= textlos „singen", wenn auch vorerst nur an bestimmten Stellen). Alternatim bedeutet also kein vokal-instrumentales Zusammenwirken, auch keinen bloßen Ersatz, sondern die Nutzung der vokal- 14 Rudolf Flotzinger, Wie kam die Orgel in unsere Kirchen?, Festschrift Otto Biba zum 60. Geburtstag, hrsg. Ingrid Fuchs, Tutzing, Schneider, 2006, S. 581-612. 15 Zit. n. Peter Williams, The Organ in Western Culture 750-1250 (= Cambridge Studies in Medieval and Renaissance Music), Cambridge, Cambridge University Press, 1993, S. 2. 16 Zit. n. P. Williams, op. cit., S. 83. instrumentalen Alternative, um nicht zu sagen: eine Betonung der vokal-instrumentalen Gegensätze. Entscheidend ist der nun von den Musikern endgültig erfochtene Sieg, die erstmalige Anerkennung einer Gleichberechtigung: des „Sprechens mit Tönen, wie die Literatur mit Worten spricht". Auch dieser Vergleich entspringt weder einer Unterordnung noch bloß heutiger Interpretation: er entspricht der gerade in der Diskussion um das Modalsystem bis zuletzt notorisch übergangenen oder falsch interpretierten zeitgenössischen Unterscheidung zwischen (musica) cum bzw. sine littera (von textierten und melismatischen Abschnitten der organa). Ersetzt man „sprechen mit" durch „denken in" (Tönen, wie die Literatur mit Worten), entsteht jedoch ein zentraler Satz in einer Abhandlung über die absolute Musik von Jules Combarieu aus dem Jahre 1895, den Dahlhaus am Beginn seiner einschlägigen Studie zitiert („penser en musique, penser avec des sons, comme le littérature pense avec des mots"). Quod erat demonstrandum. Die bereits um 1300 von kirchlicher Seite erreichte grundsätzliche Akzeptanz mußte zwar immer wieder verteidigt werden, aber war nicht mehr rückgängig zu machen17: sie wurde z. B. über die Alternatim-Messe des 15. Jahrhunderts bis zu den Orgel-Versetten und unterschiedlichen Gradual-Sonaten des 17. und 18. Jahrhunderts weitergereicht. Und zweifellos würden sich diesen Beispielen bei Ausweitung des Gesichtsfelds über die Liturgie hinaus noch viele weitere hinzufügen lassen. Immerhin aber ist bereits einsichtig geworden, daß die angeblich neue Denkweise im späten 18. Jahrhundert nicht voraussetzungslos vom Himmel gefallen, sondern eine Folge zunehmenden musikalischen Selbstbewußtseins ist, letzte Konsequenz eines entsprechenden (d. h. längst traditionellen) Denkens der Musiker. Als Kennzeichen der abendländischen Musik nannte Eggebrecht: Rationalität, Theorie, Notation, Komposition, Geschichtlichkeit und Transportabilität18. Bis auf letztere haben sich all diese Gesichtspunkte in unserer Skizze zwangslos ergeben. Methodisch hat sich gezeigt, daß Paradigmenwechsel sozusagen Knotenpunkte nach Abläufen von longue durée, aber nicht deren Gegensatz sind (vor wenigen Jahrzehnten war es Mode, besonders die Brüche innerhalb von Kontinuitäten zu behandeln). Aus der Erkenntnis, daß Hinweise auf longue durée keineswegs als bedingungs- und lückenlose Kontinuität gesehen werden dürfen, erscheint schließlich doch eine Schlußfolgerung als möglich, die auch hier in Slowenien zu konkretisieren wäre: Wenn - woran zu zweifeln kein Grund besteht - die Idee der absoluten Musik „aus der deutschen Romantik stammte"19, muß nicht alles, was ihr zu entsprechen scheint, auf bloße Nachahmung oder Import zurückgehen, sondern kann durchaus oder wenigstens zum Teil aus vergleichbaren Bedingungen entstanden sein. Aber selbst über Beispiele von sogenannten Kulturtransfers sollte nicht vorschnell und schon gar nicht einseitig geurteilt werden, sondern erst aufgrund offener Diskurse zwischen allen involvierten Seiten. 17 Die Bestimmung des Trienter Konzils (1563), daß bei allen musikalischen, also auch nicht vom Zelebranten gesungenen Anteilen der Liturgie dieser die Texte im Stillen zu sprechen hatte, richtete sich weniger dagegen, sondern sollte die Rechtmäßig- und Vollständigkeit der kanonischen Texte sicherstellen. 18 Hans Heinrich Eggebrecht, Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München und Zürich, Piper, 1991, S. 36-43: 37. 19 C. Dahlhaus, op. cit., S. 9. VIDIKI GLASBENE AVTONOMIJE V SREDNJEM VEKU Povzetek V nemščini se izraza »avtonomna« oz. »absolutna« glasba uporabljata pretežno sopomensko. Tega terminološkega vidika tu ne zasledujemo. Dejstvo je, da je ta zamisel sorazmerno nova; nastala je šele proti letu 1800 in v 19. stoletju postala prevladujoča estetska kategorija. Vprašamo se lahko po njeni predzgodovini, čeprav lahko poskus sprva preseneti, saj velja srednjeveška cerkvena glasba - vsekakor upravičeno - za vzorčni primer »funkcionalne« glasbe. Hitro pa se pokaže - in to je zelo pomembno -, da je treba dihotomije kot funkcionalno in avtonomno ipd. relativizirati. Nedvomno je »ideja absolutne glasbe« v poznem 18. stoletju uvedla spremembo paradigme, vendar pa sprememba nikakor ni bila tako radikalna, kot jo večinoma prikazujejo. Vsekakor pa vsebuje dejavnike »globinske razsežnosti« dolgoročnih časovnih struktur (fr. longue durée). Že evropski pojem mousike je z vprašanji avtonomizacije tesno povezan: antični izraz ^ouoiKrj je - zaradi ritma in telesnosti kot skupnih značilnosti - označeval tesno povezanost jezika, petja in plesa. Preobrat k današnjemu razumevanju muziké pomeni torej prvi proces osamosvojitve. Vendar pa je še dolgo živela tesna povezanost jezikovnega in glasbenega ritma, ne nazadnje v »péti molitvi« tako judovskega templja kot tudi krščanskih cerkva. Ostala je tako tesna, da je jezikovni ritem še naprej določal glasbenega. Ritem so zato v srednjem veku le redko obravnavali v (kvadrivialnih) glasbenih traktatih, ampak so ga v (trivialnih) slovnicah. Odločilne spremembe je povzročilo večglasno izvajanje cerkvenega petja (korala), ki je izšlo iz okrasnega načela in ki je poleg površinskega vidika sozvočja nujno spodbujalo tudi razlikovanje ritma (ki je odvisen od besedila) in melodike (dejansko glasbenega). Tu nas ne zanimajo toliko diskusije o kvalificiranju konsonanc oz. disonanc, kot pa to, da bi te od določene razvojne stopnje na določenih mestih morale stati oz. se ne bi smele več pojavljati. To načelo nam je znano še danes, in sicer v pravilih za razkroj disonanc nauka o harmoniji prav tako kot v odpravi njenega nasprotja z določenimi smermi moderne (ki glede enakopravnosti disonance govori kar o »emancipaciji«); le posebni primeri so npr. prepoved vzporednih oktav in kvint ali pojava diabolus in musica. Večinoma se spregleduje, da ima načelno favoriziranje konsonantnega blagoglasja v evropski umetni glasbi vse do moderne svoje korenine v srednjeveškem organumu. Da so bili vsi imenovani dejavniki predvsem glasbeno interni, je prav tako na dlani kot to, da jih lahko opazujemo kot primere longue durée. Eden od najbolj bistvenih preobratov paradigem v zahodni glasbi nasploh se je zgodil v Parizu okoli leta 1210: razvoj tako imenovane modalne ritmike, ki loči projekcijski figuri Leonina in Perotina. Izhajal je iz melizmov, torej iz »čisto glasbenih« parametrov, in je vsepovsod dajal čutiti, da si glasbeniki s tem prizadevajo za »lastno logiko«, torej je povsem mogoče govoriti o »trendu k čisto muzikalnemu«. Odločilni dejavnik je v zdaj prvič izključno muzikalnem ritmu (v današnjem smislu, tj. v povezavi kvantitetnega in naglasnega načela). Na osnovi odslej možnega diskantnega stavka, ki so mu vsi udeleženi glasovi nove modalne ritmike podrejeni, so se še v prvi polovici 13. stoletja razvila vsa nova osnovna pravila (npr. v tvorjenju forme) in sredstva glasbene kompozicije (npr. ponavljanje, sekvenciranje, variacija, imitacija, obrat itd.); prav tako so bili znova ustvarjeni ali definirani potrebni strokovni izrazi. Tudi razvoj cerkvenih orgel je potrebno opazovati s tega vidika: s tem glasbilom samim zase se je dalo organizirati, tj. »peti« večglasno, kar pomeni, da ima igrana pesem enak pomen (tj. liturgični učinek) kot péta, kar je nedvomno dejanje osamosvojitve. »Razmišljanje v tonih« 19. stoletja se zdi le stopnjevanje takega »govorjenja s toni«. Domnevno tako novi »avtonomni« način razmišljanja od poznega 18. stoletja naprej torej ni brez predpostavk kar padel z neba, ampak je posledica naraščajoče glasbene samozavesti in zadnja posledica že zdavnaj tradicionalnega mišljenja glasbenikov. 73