Ilya Inishev DIE BEDEUTENDEN FLÄCHEN: DIE FEHLENDE MATERIALITÄTS- ANALYSE IN HERMENEUTISCHER BILDTHEORIE „Bilder sind bedeutende Flächen“ (Vilém Flusser)1 1. Hermeneutische Bildtheorie: Exposé Bekanntlich spielt die Problematik des Bildes im ganzen hermeneutischen Projekt Gadamers eine wichtige, sogar paradigmatische Rolle. Aber die Motive dieses paradigmatischen Status des Bildes bleiben bis heute nicht ausreichend klar. Es ist auf den ersten Blick recht merkwürdig, dass sein programmatisches Werk “Wahrheit und Methode”, das die „Grundzüge“ der allgemeinen philoso� phischen Theorie der Interpretation zu seinem Thema macht, die ihrerseits in erster Linie mit sprachlichen Phänomenen zu tun hat, initiiert sich mit einer Kunstanalyse, die sich fast ausschließlich auf die visuellen Kunstformen fokus� siert. Dabei tritt die Bildwahrnehmung als das Paradebeispiel der Kunsterfah� rung auf. Die Sache aber wird noch komplizierter aussehen, wenn wir darauf aufmerksam werden, dass der ganze dritte und entscheidende Teil des Bu� ches die universale Dimension der Sprache thematisiert. Es fragt sich, warum Gadamer all diesen Umweg gegangen war, um letzten Endes zum Schluss zu kommen, dass die Sprachlichkeit grundsätzlichen Vorrang hat? Kurze Antwort darauf kann wie folgt klingen: Gadamer geht seinen Weg zur Universalität der sprachlichen Dimension der menschlichen Erfahrung über die Bild�Analyse, 1 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie. Berlin: Edition Flusser, 2006, S. 8. 179 um die Trivialität der überlieferten Sprachauffassung zu vermeiden, d.h. sie nicht auf die expliziten Sprachformen (mündliche und schriftliche Rede, die zudem ausschließlich in syntaktisch�semantischer Hinsicht thematisiert sind) zu beschränken. Darum spricht Gadamer nicht nur über die Sprache, sondern auch über die Sprachlichkeit. Die Sprachlichkeit, obwohl sie in Schrift und Rede ihre vollgültige Manifestation findet, zeigt ihre wichtigen strukturellen Charakteristiken und wesentlichen – zwar im Rahmen des „Linguozentris� mus“ nicht sichtbaren – kommunikativen Potenziale gerade in anderen Media wie Malerei, Musik, Theater, Dekor und vor allem Architektur. Was diese verschiedenen Medien auf einen gemeinsamen Nenner bringt, ist das Geschehen der Darstellung, die laut Gadamer nicht nur den Effekt, sondern auch die eigentliche Seinsweise der Kunstwerke ausmacht. Diese darstellen� de – ins Da bringende – Seinsweise zeichnet sich durch Performativität und Transformativität aus, die Gadamer als „Verwandlung ins Gebilde“ bezeichnet. Diese Verwandlung ins eigenständige sinnhafte Ganze ist bekanntlich total, oder allumfassend. Daraus folgt unter anderem, dass auch die Materialität der Kunstwerke – welcher Art auch immer – ihre ursprüngliche Bestimmung aus der Darstellung gewinnen muss. Und wenn wir in Betracht ziehen, dass ein integraler Aspekt der Darstellung nach Gadamer die Verwandlung der Wirkli� chkeit „ins Wahre“ ist, dann müssen wir zum Schluss kommen, dass auch die Materialität der äußeren Welt in den modifizierenden Sog der darstellenden Seinsweise gerät. Gerade im Kontext dieser hermeneutischen Ontologie, die intersubjek� tiven Sinn, individuelles Selbstverständnis und materielle Textur in strukturel� len Zusammenhang zu bringen sucht, spielt die Problematik des Bildes eine paradigmatische Rolle. In seiner Bildanalyse strebt Gadamer seine These über den medialen Charakter der Kunsterfahrung, die an den transitorischen Künsten wie Musik und Theater ausgewiesen wurde, auf die statuarischen Künste auszudehnen. Die Medialität der (hermeneutischen) Erfahrung, die nicht ausschließlich der Kunstwahrnehmung inhärent ist, aber an ihr sich am leichtesten explizieren lässt, ist gerade die Schlüsselidee der oben erwähnten hermeneutischen On� tologie, die die hermeneutische Plastizität der Welt, ihre Geschichtlichkeit, Performativität, ihre Erfahrungs� und Situationsabhängigkeit systematisch 180 PHAINOMENA XXVI/100�101 betont. Die Medialität der hermeneutischen Erfahrung, die sich zuerst in to� taler Vermittlung von künstlerischem Artefakt und seiner Darstellung („äs� thetische Nichtunterscheidung“) zeigt, wird letzten Endes als die Kernstruktur des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins (Horizontverschmelzung) aus� gewiesen. Dabei macht die Darstellung�Ontologie und ihr Paradebeispiel, die Bildwahrnehmung, den Hintergrund auch der Gadamerschen Reflexionen über Geschichte und Sprache aus. Bei all ihrer Innovativität enthält Gadamers und vielleicht jede andere phänomenologisch�hermeneutische Bildkonzeption auch einige, nicht uner� hebliche Nachteile. (1) Vor allen Dingen möchte ich den Dualismus von Bild und Abbild erwähnen, der den Bezugsrahmen für die ganze Gadamersche Be� sprechung der ontologischen und epistemischen Eigenart des Bildlichen an� gibt. Dieser Dualismus führt aber zur ungenügenden Differenziertheit der An� alyse, die als Ergebnis zahlreiche Zwischen� und Hybridformen des Bildlichen aus dem Blickfeld verliert. (2) Der andere Nachteil ist mit der vorherrschenden thematischen Ausrichtung der Überlegungen Gadamers verbunden, die in der Akzentuierung des räumlichen Aspekts der hermeneutisch�performativen Medialität zum Ausdruck kommt. Merkwürdigerweise – wenn Gadamer „der Bezug des Bildes zu seiner Welt“2 diskutiert – nimmt er als das Modell des Bildlichen den Dekor und die Architektur, was den Gebilde�Charakter (ei� gentümliche Räumlichkeit) und Diesseitigkeit der Bilderfahrung herausstellt. Im Vordergrund seines thematischen Interesses steht der Interpretationsbei� trag, den die Wahrnehmung des Dekors und der Architektur explizit leistet. Das, wofür sich Gadamer in seinen Bild�Analysen vorwiegend interessiert, sind die Erfahrungsstrukturen, aber nicht die Materialität des Bildes, die auch, wie gesagt, ins künstlerische Verwandlungsgeschehen produktiv involviert ist. (3) Diese Indifferenz gegenüber den Fragen der materialen Konstitution schränkt drastisch die Tragweite der Gadamerschen Bild�Analysen ein und ist offensichtlich ein der wesentlichen Merkmale der phänomenologischen Tradi� tion im Ganzen. Das findet seinen Ausdruck in der augenfälligen Diskrepanz 2 Hans�Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Gadamer H.�G. Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1999, S. 142. 181 ILYA INISHEV zwischen den ausführlichen Erfahrungsanalysen und den seltenen und wenig informativen Aussagen über die Gegenstandsseite. Das gilt auch von seinen späteren Texten zum Bild und zur Literatur, wo er den sinnlichen Aspekt der interpretierenden Erfahrung in den Vordergrund seines Interesses rückt. Da� bei wird die „semantische“ Funktion der Materialität – der Stimme in der Lit� eratur, der Farben und Linien in der Malerei und der leiblich wahrnehmbaren Räume in der Architektur – meistens nur angegeben, aber kaum untersucht. Und in der Tat, wenn wir mit Gadamer davon reden, dass das Bild „mehr an Be� deutung“ darbringt,3 dann müssen wir uns nicht mit der emphatischen These vom Bild als das Wahrheitsgeschehen begnügen. Vielmehr wäre es fruchtbar, sogar notwendig, diese These in die analytischere Besprechung der semantis� chen Fragen überzuführen. Das setzt unter anderem voraus, dass die Analyse des semantischen Potenzials der Materialität des Bildes den geeigneten und relevanten phänomenalen Boden und Ausgangspunkt ausfinden kann. Als solchen Boden und Ausgangspunkt werde ich im Folgenden die ma� terielle darstellende Fläche betrachten. Der methodische Vorrang der Bild� fläche für unsere Fragestellung hat hauptsächlich drei Gründe. Erstens, bei aller Vielfalt der historischen und gegenwärtigen Formen der Bildhaftigkeit – von Kleinplastik bis IMAX�Kinos – kann gerade bildhafte Fläche als Kon� vergenzpunkt dienen, der den thematischen Schwerpunkt nicht aus dem Blickfeld verlieren lässt. Dabei entspricht die Plastizität der Idee der bildhaften Fläche in vollem Maße der Vielfalt der sie verkörpernden Bildtypen. Zweitens, jede bildhafte Fläche, welcher konkreter Form der Bildlichkeit auch immer, stellt unbedingt eine phänomenale Konkretion dar, deren jeweilige Kondition mit entsprechendem Typus der Bildlichkeit korreliert. Dies erlaubt einen gee� igneten Forschungsfokus auszubilden, der den Forschern der Bildproblematik helfen kann, die unmerkbaren Auswechslungen des Forschungsgegenstands zu vermeiden, weil nicht alles, was in der Umgangssprache ein Bild genannt wird, das Bild in der Tat ist. Drittens, das Modell der bildhaften Fläche steht im Einklang mit der allgemeinen Tendenz der gegenwärtigen Bildtheorie zur „Horizontalisierung“ der semantischen Frage nach der spezifisch ikonischen Bedeutung. Dies ist unter anderem das, was den Dialog mit Bildtheorien aus 3 Ebd., S. 159. 182 PHAINOMENA XXVI/100�101 der analytischer Tradition, der bis heute noch nicht begonnen hat, möglich macht. Man kann sogar behaupten, dass all das, was phänomenologisch�her� meneutische und analytische Bildtheorien, die nicht selten als divergierende betrachtet werden, miteinander gemein haben, ist die folgerichtige – und gegenüber der traditionellen Bildtheorie ganz innovative – Überführung der Bildproblematik von der vertikalen in die horizontale Dimension. Diese Überführung besagt, dass von nun an nicht die „vertikale“ Beziehung des Bild� Zeichens zum abgebildeten, d.h. außerbildlichen Objekt im Vordergrund des bildtheoretischen Interesses steht, sondern die „horizontalen“ Beziehungen von innerbildlichen, d.h. ikonischen Elementen, die von sich aus die spezifisch ikonischen Bedeutungen erzeugen können. Mit anderen Worten wird nun das Spektrum der Repräsentationsfähigkeit der Bilder in engem Zusammenhang mit dem Spektrum der Modi ihrer Selbstpräsentation betrachtet. Die bildhaf- ten Bedeutungen und bildhafte Erscheinungen sind eng miteinander verwoben. Auf jeden Fall gibt es zwischen ihnen eine Korrelation, die die prinzipielle Grundlage der möglichen Klassifizierung der bildhaften Repräsentationstypen darstellt. 2. Bildzeichen und Bild. Normativität des Bildbegriffs Ich möchte im Folgenden eine Position vertreten, dergemäß die Darstellungs� funktion von mindestens einigen Bilder nicht nur von unserem Interpretations� und Wahrnehmungsvermögen, sondern auch von ihrer materiellen Verfassung abhängt. Das scheint aber nicht nur für Bilder, sondern auch für alle Zeichen gültig zu sein. Die Materialität von jedem Zeichen, jedem bedeutenden Objekt partizipi� ert an seiner Fähigkeit, Bedeutungen zu vermitteln, d.h. an der Semiose. Wohlbekannt ist, dass ein Objekt – um als ein Zeichen fungieren zu kön� nen – erst ein Zeichen werden muss. Nicht nur in dem Sinn, dass es als ein Zeichen konventionell gestiftet und verwendet wird, sondern auch, dass seine materielle Verfassung auf die Zeichen�Funktion zugeschnitten wird. Dieser Sachverhalt deutet unter anderem darauf an, dass der vom Zeichen vermittelte Sinn meistens dem Zeichen selbst vorausgeht. 183 ILYA INISHEV Das betrifft nicht nur die Sprachzeichen. Es gibt genug auch bildhafte Dar� stellungen (sogenannte ikonische Zeichen), deren Struktur auf solche Weise beschrieben werden kann: z.B. Passfoto, Verkehrszeichen, Logotypen, Pikto� gramme usf. Hier ist das Bild�Zeichen in seiner materiellen Verfassung ganz und gar der Repräsentationsaufgabe unterworfen. Das Bild selbst tritt dabei in gewissem Maße zurück. Es muss in gewissem Sinn halbdurchsichtig bleiben: d.h. unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sofort zum gemeinten Objekt weiterleiten. Also bleibt hier das bildliche Zeigen dem sprachförmigen Meinen untergeordnet. Aber es gibt auch die Bilder, die auf ganz andere Weise funktionieren. Sie haben im Vergleich zu linguistischen und ikonischen Zeichen mehr Autonomie, was nicht zuletzt mit Besonderheit ihrer materiellen Verfassung verbunden ist. Diese Bilder stellen nicht ein Element des semiotischen Verhältnisses dar, son� dern machen den Raum der Semiose aus, d.h. schließen solche Verhältnisse in sich ein. Also gibt es im Hinblick auf den Prozess der Bedeutungsbildung, d.h. auf den der Semiose einen deutlichen Unterschied zwischen ikonischen Zeichen und Bildern. Während die Materialität der sprachlichen und ikonischen Zeichen in die Semiose (d.h. in unsere Interpretationstätigkeit) einbezogen wird, bezieht uns (d.h. unsere Verstehens� und Interpretationstätigkeit) die Materialität der Bilder in die Semiose ein. Jetzt möchte ich den Begriff des Bildes jenseits der Vorstellung vom Bild als ikonischem Zeichen präzisieren. Damit soll der Bildbegriff als ein geschichtli� cher und normativer einführt und begründet werden. Bekanntlich gehört der Begriff des Bildes zu geschichtlichen Begriffen, de� ren Bedeutung sich im Lauf der Zeit ändert. Insbesondere heute – in der Zeit der unwiderstehlichen Differenzierung und Pluralisierung der Welt – fallen un� ter den Begriff Bild sehr verschiedene Dinge: Kunstwerke, imaginäre Inhalte, fiktionale Objekte, Diagramme, Zeichnungen, Piktogramme und so fort. Aller Wahrscheinlichkeit nach müssen wir mit Wittgenstein auch im Hinblick auf verschiedene Bild�Phänomene über die „Familienähnlichkeit“ sprechen. Es gibt keinen identifizierbaren „inneren Kern“, ein Verzeichnis „wesentlicher“ Merkmalen, die dem „Bild “ inhärent wären, und die es uns erlaubt hätten, ir� gendein Objekt aufgrund der formalen Anzeichen als ein Bild zu qualifizieren. 184 PHAINOMENA XXVI/100�101 Diese Variabilität des Bildbegriffs wird nicht selten nur in geschichtlicher Pers� pektive sichtbar. Die Formen der Bilder und Bilderfahrungen kommen und ge� hen, und nur das Wort „Bild“ nach wie vor bleibt im Gebrauch. Das „Bild“ ist – so eine der meinen Thesen – nicht ein deskriptiver, sondern eher ein normativer Begriff. Dieser Begriff nicht einfach beschreibt etwas, das an sich ein Bild�Objekt ist und entsprechende „bildhafte“ Eigenschaften hat, sondern einen offenen Horizont vorgibt, innerhalb dessen etwas als ein Bild er� fahren werden kann. Dies findet seinen Ausdruck unter anderem darin, dass Bildbegriff – ebenso wie Kunstbegriff – ein Streitbegriff ist. Ob ein Objekt in der Tat ein Bild ist, darüber kann man streiten. Und diese Streitigkeit ist in den Bildbegriff selbst eingebettet. Nicht zuletzt ist es damit verbunden, dass das Bild (mindestens sogenanntes eminentes oder starkes Bild) nicht auf eine Sinnge� bung von außen warten muss, sondern es selbst eine Quelle der Sinngebung sein kann. Der Sinn wird dem Bild nicht durch eine Leistung des wahrnehmenden Subjektes gebracht. Das gilt nur den bestimmten Klassen der bildhaften Darstel� lungen, deren materielle Verfassung im Großen und Ganzen arbiträr ist. Dazu gehören z.B. verschiedene Karte, Diagramme, Piktogramme, Schemata und so fort. Was die Bilder im engeren und sogar eminenten Sinn (z.B. Photographie, Film und Malerei) anbetrifft, können sie meistens nicht von ihrer situativen ma� terielleren Verfassung separiert werden, die zu ihrem „Sinngehalt“ einen essen� tiellen Beitrag leistet. Daraus folgt unter anderem, dass die Bilder von solcher Art gewisse Autonomie den subjektiven Sinngebungen gegenüber beibehalten. Ich plädiere also für einen sozusagen dynamischen und graduellen Bildbe� griff. Vielleicht ist es recht plausibel, die traditionelle philosophische (Wesens)� Frage auch im Feld der Bild�Forschung umzuformulieren: statt „Was ist das Bild?“, müssen wir – in Anlehnung an Nelson Goodman – „Wann ist das Bild?“ fragen.4 4 Oliver R. Scholz, „When is a picture?“, in: Synthese 95, den Haag: Springer, 1993, pp. 95–106. 185 ILYA INISHEV Das Bild ist nicht so viel ein Zeichen oder ein Artefakt als eine Konstel� lation, die dennoch die Prämisse des Vorhandenseins des auf bestimmte Weise geformten Objekts nicht ausschließt. Aber solch ein Objekt stellt eine der notwendigen Komponenten der genannten Konstellation dar, die obwohl auf diese Komponente angewiesen ist, geht dennoch in ihrer inneren Tendenz über sie (ihr bloßes Vorhandensein) hinaus. Das „Bild als solches“ ist eher als eine Möglichkeit zu verstehen, die in zahlreichen „faktischen Bildern“ ver� schiedene approximative Verkörperungen findet. Daraus folgt, dass der Bild� begriff einen normativen Charakter nicht nur in dem Sinn hat, dass er ein „konstitutiver“, „horizonterschließender“ Begriff ist, sondern auch angesichts seiner „Gradualität“. Viele bildhafte Darstellungen sind fähig, nur einen Teil der Potenzen in Gang zu bringen, die das Bild überhaupt zeigen könnte. Dar� um schlage ich vor, die „Bildhaftigkeit“ nicht als topologische (in der Imagina� tion lokalisierte Inhalte) oder gegenständliche (auf bestimmte Weise gestaltete Objekte), sondern als eine strukturelle Charakteristik (eine bestimmte Konstel- lation) zu verstehen. Mit anderen Worten, was ein Bild zum Bild macht, ist die besondere Erfahrungsstruktur, der die besondere Struktur sowie besonderer Status der Materialität des wahrgenommenen „Objekts“ entspricht. Dabei sind diese Strukturbildungen in Hinsicht auf ihre Vollkommenheit, oder Dichtheit sehr variabel, und die Entsprechung von Erfahrungs� und Gegenstandsstruk� turen wird jeweils in verschiedenem Grade realisiert. Um diese Konstellation zu erläutern, werden wir einen raschen Blick in die Grundstruktur des Bildes bzw. Bildwahrnehmung tun. 3. Die Grundstruktur des Bildes Wenn es sich um das graduelle und – das heißt – dynamische Verständnis des Bildes handelt, dann müssen die Extremfälle und entsprechende paradig� matische Beispiele angegeben werden, die das Bildhaftigkeitsspektrum (Spek� trum der Gradualität der Bildhaftigkeit) vorgeben. In Anlehnung an Gottfried Boehm, der bei der „ikonischen Wende“ Pate gestanden hat, unterscheiden wir zwei idealtypische Extremfälle der „Bild� haftigkeit“: schwache und starke Bilder, die in semantischer wie ontologischer 186 PHAINOMENA XXVI/100�101 Hinsicht ganz verschieden sind.5 Diese zwei Extremfälle, die unserer Distink� tion von ikonischen Zeichen und Bildern entsprechen, deuten auch auf den kategorialen Unterschied an, der zwischen dem Hinweisen (auf) und Zeigen (von) als zwei Grundformen der bildbezogenen Repräsentation besteht. Die diesen Grundformen entsprechenden sinnstiftenden oder sinnvermittelnden Potenzen beruhen, wie gesagt, auf der jeweiligen Rolle der Materialität in� nerhalb der bildlichen Darstellung. Was ein Bild vom ikonischen Zeichen (z.B. Piktogramm) unterscheidet ist die Tendenz zu – sogar Drang nach – der Herausbildung des unauflösbaren Zusammenhangs von sinnhaften und ma� teriellen Elementen der bildlichen Darstellung, d.h. des Zusammenhangs von der Repräsentation des im Bilde Dargestellten und der Präsentation des Bildes selbst. Um diese Behauptung zu erläutern, besprechen wir kurz die Grundstruk� tur des visuellen „starken“ Bildes, d.h. die Grundstruktur der entsprechenden Bildkonstellation. Als Paradebeispiel des Bildes dieser Art nehmen wir zwei� dimensionales materielles Bild (Gemälde, Photographie, Darstellung auf dem Bildschirm und so fort). Diese Wahl hat mindestens zwei Gründe. Erstens gelten heute die Bilder dieser Art als die bekanntest und verbreitest. Meistens denkt man eben an solche Bilder, wenn man irgendwie Bezug auf die Bilder – egal, von welcher Art – nimmt. Darum dürfen wir gerade solche Phänomene als Ursprungs�oder Basisformen der gegenwärtigen Vorstellungen vom Bild und Bildlichen betrachten. Zweitens hat dieses Beispiel einen wichtigen meth� odischen Vorrang der Externalität, was unter anderem uns erlaubt, die men� talistischen Fehldeutungen der Bilderfrage zu vermeiden und unsere Ausrich� tung auf die strukturellen Charakteristika nochmals zu unterstreichen. In Anlehnung an die Husserls dreifache Struktur des Gegenstands der Bild� wahrnehmung6 unterscheide ich drei Grundkomponente, drei Grundschich� ten der Bildkonstellation: 5 Gottfried Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder“, in: G. Boehm (Hg.) „Was ist ein Bild?“, München: Fink, 1994, S. 11–38. 6 Edmund Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomeno- logie der anschaulichen Vergegenwärtigungen (Husserliana XXIII). Den Haag/ Dordrecht: Nijhoff, 1980. S. 19. 187 ILYA INISHEV Die erste Grundschicht möchte ich tabula nennen. Darunter verstehe ich eine „physische“ Grundlage der bildlichen Darstellung: Leinen, Fotopapier, Bildschirm, Farbe, Pigment etc. Diese Schicht kann man auch Bild�Objekt oder Bildträger nennen. Obwohl tabula eine nicht unerhebliche Rolle im „Sein“ des Bildes spielt, macht sie kaum einen eigentlichen Gegenstand der Bildwahrnehmung aus. Anders gesagt zeichnet sie sich nicht durch Bildhaftig� keit aus. Dieses Element der Bilderfahrung hat vielmehr einen außerbildlichen Charakter. Daraus folgt unter anderem, dass nicht jede Bilderfahrung in die Bildwahrnehmung mündet. Es gibt verschiedene Umgangsweisen mit Bildern (im Sinne der Bild�Dingen), die sich auf ein Bild so beziehen, dass seine spezi� fisch bildhaften Züge nicht ins Spiel (und d.h. nicht zum Vorschein) kommen. Auf jeden Fall nicht direkt. Indirekt lenken diese im gegebenen Moment nicht erscheinenden Züge unsere mannigfaltigen „nichtikonischen“ Umgangsweisen mit Bildern. Z.B. hängen wir ein Gemälde an die Wand nicht ganz ebenso wie ein Bücherregal. Aber vor allen Dingen wirkt sich diese – „physische“ – Schicht auf die Verbreitungs� bzw. Präsentationsmöglichkeiten der bildlichen Inhalte aus. Die fast grenzenlose Mobilität der photographischen Darstellungen (ins� besondere der digitalen), die sie ihrer „physischen“ Grundschicht verdanken, hat zweifelsohne sehr starken Einfluss auf die spezifisch bildhaften Effekte der Photographie. Obwohl diese „physische“ Schicht des Bildes nur in der soge� nannten „normalen“ (pragmatisch orientierten) Wahrnehmungsweisen zu� gänglich ist, befinden sich diese letzteren ihrerseits im Gravitationsfeld der möglichen Bildwahrnehmung, in die sie gegebenenfalls verwandelt werden können. In dieser Hinsicht macht die Erfahrung von tabula eine Art Vorspiel und Vorfeld von jeder eigentlichen Bildwahrnehmung aus. Damit aber diese eigentliche Wahrnehmung stattfinden kann, muss die zweite Grundschicht – pictura – vorliegen. Pictura ist eigentlich „Bildnis“. Sie ist die „bedeutende“ Fläche, die durch eine bestimmte Anordnung der materiellen ikonischen (innerbildlichen) Ele� mente (Farbgrund, Pigmente, Farblinien, Farbpunkte und so fort) in Erschei� nung tritt. Pictura ist gerade das, worauf das Subjekt der Bildwahrnehmung blickt, aber nicht ganz und nicht immer das, was er in der Tat sieht. Aber diese zweifache Blickrichtung (Blicken und Sehen) stellt eine Ermöglichungsbedin� gung der Wahrnehmung der dritten Schichte – imago – dar. Dabei ist zu be� 188 PHAINOMENA XXVI/100�101 merken, dass pictura als solche nur für das analytisch eingestellte Bewusstsein zugänglich ist, das ein Ding als bedeutende Fläche (derer Elemente zueinander in einem nicht�metrischen Verhältnis stehen) zu identifizieren vermag. Was ich imago nenne, ist das Bild im engeren und eigentlichen Sinn. Imago ist gerade das, was in und durch „pictura“ gesehen wird, die bildhafte Dar� stellung, die nicht das Transzendieren (gedankliches Überschreiten), sondern die (innerhalb der Bildwahrnehmung zu vollziehende) Transformation der materiellen Bildfläche (pictura) ist. In diesem Sinn wäre es eine Missdeutung, die Materialität der bildhaften Darstellung zu verleugnen. Aber diese Materi� alität ist von besonderer Natur. Sie wird nicht einfach als eine passive Masse wahrgenommen, sondern sie leistet einen entscheidenden Beitrag zur unseren Fähigkeit, die Bilder (in allen drei Aspekten) wahrzunehmen. Jetzt werfen wir einen kurzen Blick auf die Typen der für die Bildwahrneh� mung konstitutiven Materialität, um dann ihre Rolle in der bildhaften Sinner� zeugung zu erörtern. Zuerst ist zu bemerken, dass die oben aufgezählten Grundschichten des Bildes relativ selbständig sind. Unter ihnen nur imago schließt in sich zwei an� dere ein, während tabula und sogar pictura ohne imago durchaus wahrnehm� bar sind. Dies kommt zum Ausdruck in den verschiedenen Erfahrungen, die wir mit den Bildern machen können. Wir können mit Bildern umgehen, ohne sie aktuell als bildhafte Darstellung wahrzunehmen: zum Beispiel im Fall der pragmatisch oder reflexiv�analytisch motivierten Zugänge zu Bildern. Diesen drei Grundschichten entsprechen drei Typen der Materialität, die ihrerseits verschiedene Beträge zur Bilderfahrung leisten, d.h. verschiedenen ontologischen und semantischen Status innerhalb der Bilderfahrung haben. Im Aspekt „tabula“ stellt das Bild ein materielles Objekt dar, das auf dieselbe Weise wahrnehmbar ist wie die anderen – nichtikonischen – Dinge. Diese Art von Materialität hat außersemantischen Charakter, was sich in der Notwen� digkeit ihrer verbalen Artikulation zeigt, die erst es erlaubt, diesen Aspekt zu identifizieren und konkretisieren. Materialität des Bild�Objektes können wir als abgrenzend kennzeichnen. Sie bietet uns die Möglichkeit, das Bild�Objekt im Raum zu lokalisieren und mit ihm auf passende Weise praktisch umzuge� hen. 189 ILYA INISHEV Im Aspekt „pictura“ ist das Bild ein ikonisches Zeichen: ein relativ dichter syntaktischer Zusammenhang der ikonischen Elemente. Diesem Aspekt wie jedem Zeichen entspricht präsemantische Materialität. Im Unterschied zur Materialität des „physischen“ Objekts fordert sie nicht eine „Sinngebung“ von außen. Sie muss jeweils in den Prozess der „Sinnbildung“, d.h. in die Semiose einbezogen sein. Also können wir die Materialität des Bild�Zeichens als unterstützend charakterisieren. Sie hat eine fördernde Funktion, indem sie zur Semiose einen Beitrag leistet. Diese Materialität hat einen relation� alen Charakter, weil sie sich nur innerhalb der Semiose zeigt (sonst wäre sie ein Teil des Bild�Objektes und hätte darum einen außersemantischen Sta� tus). In ontologischer Hinsicht ist solche Materialität nicht etwas Gegebenes (eine Eigenschaft, die ein Bild�Ding hat), sondern etwas Erscheinendes, das sich nur als integrale Komponente der bedeutenden Fläche offenbart. Da� raus folgt auch die relative Selbständigkeit der Materialität dieser Art. Die Materialität des „imago“ hat den semantischen Charakter. Sie inte� griert sich ins Geschehen des Sich�Zeigens des Bildes, das zugleich ein Ge� schehen der bildhaften Darstellung ist. Die Sichtbarkeit und Verstehbarkeit des starken Bildes sind miteinander verwoben. Das Sehen und Verstehen – Sehen�in und Sehen�als (Boehm) – machen eine dynamische und den� noch unhintergehbare Einheit aus.7 Die Materialität des starken oder emi� nenten Bildes können wir die ekstatische oder mediale Materialität nennen. Sie stellt eine integrale Komponente der eigentümlichen Präsenz des Bildes dar. Strenggenomen fällt sie mit dieser Präsenz zusammen. In gewissem Sinn geht sie der „zu erzeugenden Bedeutung“ voraus, weil diese Bedeutung letz� tlich jeweils aus ihr hervorgeht und nicht von ihr separiert werden kann. Damit ist auch eine gewisse Intransparenz oder Unhintergehbarkeit der bild� haften Materialität, eine gewisse Diffusion von Materiellem und Sinnhaftem verbunden. Zusammenfassend können wir diese drei Materialitätsformen auch auf folgende Weise charakterisieren: wenn die erste eine wahrnehmbare Eigen� schaft des Bilddinges ist, stellt die zweite ein Element innerhalb der Semiose 7 Gottfried Boehm, Wie die Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press, 2007, S. 39. 190 PHAINOMENA XXVI/100�101 dar, während die dritte als eine Art Erscheinungsmilieu fungiert, d.h. nicht so sehr als ein Wahrnehmungsgegenstand oder Voraussetzung, sondern als ein Wahrnehmungsraum. Dieser dreifachen Materialität entsprechen verschiedene Bilderfahrungen: das Manipulieren mit Bilddingen, das Identifizieren des Bildinhalts und das Verweilen bei der Bild�Konstellation. Um die materielle Eigenart der Bilder etwas klarer zu machen, möchte ich einen weiteren Unterschied vorschlagen: zwischen physischer Oberfläche und ikonischer Fläche. Dieser Unterschied hat normativen Charakter. Er kann als Bezugsrahmen für das Bestimmen des Spezifikums der ikonischen Materialität dienen. Aber er ist auch phänomenologisch ausweisbar. Physische Oberfläche zeichnet sich durch prinzipielle Pluralität aus. Jede Oberfläche wird durch die anderen Oberflächen begrenzt. Damit wir einzelne Oberfläche wahrnehmen können, müssen wir auch angrenzende Flächen in Betracht ziehen (mitwahrnehmen), die dabei als konstitutives Wahrnehmung� selement dienen (als notwendiges und phänomenales Limit). Die Erfahrung der physischen Oberflächen ist diskret, was andererseits eine grundsätzliche Voraussetzung der Kontinuität der Dingwahrnehmung ausmacht. Ikonische Fläche ist umgekehrt grundsätzlich singulär. Sie kennt keine si� chtbaren Grenzen (wenn man sie nicht mit physischer Oberfläche verwechselt, die ein Korrelat der pragmatisch motivierten Perzeption ist.). Im Unterschied zur physischen Oberfläche hat ikonische Fläche keine sie transzendierende Tiefe. Sie ist nicht auf einen entsprechenden Träger angewiesen (auf jeden Fall nicht bei ihrer Wahrnehmung), während im Fall der physischen Oberfläche wir in der Regel anzudeuten vermögen, was ihrer Träger ist, – etwas, das sie hat. Um diesen Unterschied noch schärfer zu profilieren, machen wir uns auf solchen konstitutiven Aspekt der Wahrnehmung der ikonischen Fläche wie Simultaneität aufmerksam. 191 ILYA INISHEV 4. Simultaneität: nicht-transitorischer Charakter der Bildwahr- nehmung Die Wahrnehmung der Bildfläche unterliegt den besonderen Bedingun� gen: Alle Elemente der ikonischen Fläche – in Unterschied zu physischer Oberfläche – müssen simultan wahrgenommen werden. Strenggenommen lässt nur diese Simultaneität die eine der Oberfl ächen eines physischen Bild� objekts zur ikonischen Fläche werden. D.h. nur durch sie kann die Bildfläche bzw. ihre eigentümliche Materialität zur Erscheinung gebracht werden. Hier schließe ich an Martin Seels These über den konstitutiven Charakter der Simultaneität für ästhetisches Erscheinen an, das dabei als eine bestimm� te Konstellation der „äußeren“ Welt verstanden wird.8 Gerade der folgerich� tige Externalismus ist ein der Vorteile des Seels Position in diesem Punkt. Aber ich möchte vorschlagen, den Unterschied zwischen dem ästhetischen (pictura) und ikonischen (imago) Erscheinen zu machen. Obwohl das letzte� re auf dem ersteren beruht, entspricht jedem von ihnen seine eigene Art der Simultaneität. Die ikonische Simultaneität zeichnet sich dadurch aus, dass sie die metrischen (messbaren) Verhältnisse der Elemente von pictura in die grammatischen (syntaktischen) von imago verwandelt. Die syntaktischen (oder sinnhaften) Zusammenhänge – im Unterschied zu metrischen – nicht so sehr anordnen die gegebenen ikonischen Elemente als machen sie erst sichtbar (ein Farbfleck kann zum ikonischen Element, d.h. zum Element des Bildes nur als ein integraler Teil der ikonischen Fläche werden). Bei dieser Verwandlung bleiben wir nicht nur an die Materialität der Bildfläche ange� wiesen, sondern gewinnen sogar näheren Kontakt mit ihr, tauchen in sie tiefer ein. Dieses Eintauchen ist nicht so sehr von sensitiver als kognitiver Natur, weil materielle Komponenten hier einen dichten syntaktischen Zu� sammenhang bilden und sich nur im und als diesen Zusammengang zeigen. Je mehr wir uns auf den „Inhalt“ des Bildes konzentrieren, desto nachdrück� licher die ikonische Materialität ins Spiel kommt. Der (materielle) Grund des Bildes wird dabei gerade nicht zurückgedrängt (zugunsten des freien Spiels der Phantasie des wahrnehmenden Subjekts), sondern ganz umge� 8 Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. 192 PHAINOMENA XXVI/100�101 il kehrt taucht er innerhalb der Bildwahrnehmung hartnäckig empor.9 Die Bildwahrnehmung (in erster Linie gilt das für imago) ist nicht so sehr der Akt der identifizierenden (erkennenden) Auffassung als der eigentümliche Zeit�Raum des „scannenden“ Verweilens (Vilém Flusser).10 Die Bildwahrnehmung (im Sinne von imago) hat eine eigene Zeitlichkeit und Präsenzweise und stellt eine Aufgabe dar, an der wir auch scheitern kön� nen. Offensichtlich ist ein solches Scheitern im Fall der sowohl Ding� als auch Zeichenerfahrung viel seltener, weil in diesen Fällen die Wahrnehmungsge� genstände unsere begriffsgeleiteten Antizipationen meistens bestätigen (während bei den vielen Bildwahrnehmungen diese Antizipationen weit über� stiegen werden). Die Bildwahrnehmung (imago) kann nicht in den Zusam� mengang von weiteren Wahrnehmungen eingebaut werden, egal, ob es hier um Bild� oder Dingwahrnehmungen geht. In diesem Sinn ist sie absolut, d.h. nicht-transitorisch. 5. Die bildhafte Präsenz/Die Präsenz des Bildes Zum Schluss sagen wir ein paar Worten über die Hauptprobleme des Auf� satzes: über das Problem der Bild�Semantik und das der Bild�Ontologie in ih� rem Zusammenhang und ihrem Bezug auf die Gadamersche Bildtheorie. Natürlich kann das Bild als ikonisches Zeichen fungieren, aber nur wenn eine bestimmte Bildkonstellation (bestimmte Anordnung der konstitutiven Bildelemente) vorhanden ist: nämlich, wenn eine bildhafte Darstellung sich strukturell auf zwei Elemente (tabula und pictura) beschränkt. Ein gutes Bei� spiel dafür ist Piktogramm. Wenn es aber um die „starken“ Bilder (imago, Bildfläche) geht, bleibt es zu wenig Gründe, das Wort „Zeichen“ in Bezug darauf zu verwenden. Die Ant� wort auf die Frage „Was stellt ein Bild dar?“ wird in diesem Fall auf folgende Weise klingen: „sich selbst“. 9 Jean-Luc Nancy, Am Grund der Bilder, Berlin: Diaphanes, 2006, 10. 10 �il�m Flusser, Für eine Philosophie der Photographie, Berlin: European Pho- tography, 2006, S. 8–9. 193 ILYA INISHEV V é r, eine Philosophie der Phot graphie, Berlin: European Pho� Aber „das Bild selbst“ (im Sinn des imago, des eminenten Bildes) ist kein Zei� chen, das über sich hinaus auf etwas hinweist, sondern eine Art Konstellation, eine besondere Art von Präsenz, die sich auf die Selbsterfahrung des wahrneh� menden Subjekts auswirkt. Solch ein Bild – als eine eigentümliche Interdepen� denz von Sinnhaftem und Materiellem – ist nicht so sehr ein Gegenstand (egal von welcher Art), der in der „äußeren“ Welt seinen Platz findet, als eine Ver� dichtung der Weltverhältnisse, die im starken Bild und als starkes Bild sichtbar werden. In diesem Fall kann das Sehen nicht umhin, gleichzeitig das (sinnliche) Verstehen zu sein. Während ein Ding auf das Sinnverleihen wartet und ein Sym- bol auf seine Verkörperung, stellt das starke Bild, das sich durch volle Bildstruk- tur auszeichnet, ein Paradebeispiel des („immer schon“) verkörperten Sinns dar. In Korrelation mit semantischen Fragen stehen die ontologischen. Den Modi und Funktionen der bildhaften Repräsentation entsprechen die bildhaf� ten Präsenzweisen, die ihrerseits in entsprechendem Status und entsprechen� den Funktionen der Bildmaterie ihren Ausdruck finden. Tabula, pictura und imago können sowohl die verschiedenen Manifestationen der Bildhaftigkeit (verschiede Bildarten) als auch die nur relativ zu verselbständigenden Schichten der komplexen Bildkonstellation sein. Die Bilder im Ganzen und starke Bilder im Einzelnen sind nicht schlechthin vorhanden. Sie führen eher eine Art schil� lernde Existenz, die nicht zuletzt von vorhandenem Register der Materialitäts� regimes abhängig ist. Wahrscheinlich, gerade dieser Zusammenhang von Geschehenscharakter des Bildes und seinen Materialitätsstrukturen rückt den Gadamerschen Entwurf der großangelegten Bildtheorie zum ersten Mal ins rechte Licht. Weil wenn das Bildhafte als ein universelles dynamisches Prinzip nicht nur der menschlichen Welt, sondern der ganzen Natur postuliert wird, soll in den transformativen Sog dieser vielstufigen und vielschichtigen Dynamik der “Verwandlung ins Gebilde“ auch die performativ formbare Materialität einbezogen sein. Nur in diesem Fall können wir über den allumfassenden Charakter solcher Transformation reden und die hermeneutischen analytischen Prozeduren, die sich im Kontext der grobmaschigen Analysen der allgemeinen ontologischen Erfahrungsstruktur als sehr fruchtbar ausgewiesen haben, auch auf die feinkörnigen Betrachtungen der sich ständig ändernden materiellen kommunikativen Milieus ausdehnen. 194 PHAINOMENA XXVI/100�101