Weckn lmtl Vollen von Franz li. Hökcr. Vrittcg Üuch. München. Tkeodor Ackermann, 1SS1. Uebersicht. III. Uussischc Möglichkeiten. I. Aussichten. Seite !. Ol'^cnsiitzc........ 3 2. Ausdehnung und Wachsthum .... 4 3. Vor hundert Jahren nud heut^ .... 8 II. Hebel und Hindernisse. 4. ^cdmquiMu dc'v Fortschritts . , . . N 5. Geographische Laa,e...... 12 lll. Landcsnntnr. s>, ,^Iima und Landschaft...... 14 7, Kulturland........ 15 tt. kulturfeindliche Landstriche..... 18 9. Das mittlere Rußland...... 19 !<», Reichthum au O»trcide und ^lich .... 20 II. G«u«bliche ^ukuuft...... 22 IV. Volköart. 1^, Zähiqkcit........ 25 tii. Gleichartisskeit....... 26 14. Einsch,nclznnss frouidcr Volksart .... 27 15, Äildunft^trieb....... 30 16, Geistesart........ 32 V. Geschichtliche Ereignisse. 17. Langsam stätissc'r i'vnlturlianf! .... 35 !^. Dic beiden Kosakcustaaten..... 37 19. Historische Gesetze....... 39 II VI. Folgerungen. Seite 20. Hoffnungslose....... 43 21. Schwierigkeit und Gefahr..... 44 22. Nothwendige Verzichte...... 45 23. Redliche Arbeit....... 47 VII. Erschließen des llandcs. 24. Eisenbahnen........ 50 25. Andere Verkehrsmittel...... 52 2s). Ansiedelnngen....... 55 Vlll. Velelmug der Polksmassc. 27- Eigene nnd frcnide Kräfte..... 57 28. Kleinrussen und Polen...... 59 IX. Dcntsche Kräfte. 29. Menge und Ttellnng der Deutschen . . . 61 30. Gründe ihres Gewichts...... 03 31. Klassen der Deutschen...... 64 X. Juden. 32. Anzahl......... 68 33- Beschränkung oder Vollberechtigung . . . 69 XI. Einfuhr und Ausfuhr. 34. Vergleiche........ 72 35. Niedriger Vermögensstand..... 73 XII. Aenderung im Handel und Wandel. 36. Vermehrung fremder Geschäftslente . . . 76 37. Uttlwälznug des Handelsbetriebes .... 77 38. Bisherige Handelspolitik..... 79 39. Handelsfreiheit....... 81 Xll a. Erlösung von der Vrnuntweinftest. 40. Größe des Uebels....... 83 4t. Aufgabe der Regierung..... 85 42. Mithilfe der Staatsbürger..... 86 XIII. Volkserzichnug. 43. Befürchtungen....... ^ Ill Seite 44. Schule......... 89 45. Predigt, , ,...... 91 Xl V. Ncttgilinsfreihcit. !l>. Nndilldsamteil....... 93 47. Settenwesen . ,...... 94 4>!. Folssen von ^'etinionssreihcit , . . 97 XV. ttonstitutioneltc Freiheit. 49. Schwevo ^smMisso...... >00 5!>, Nothiveudi.iteit....... 107. 5>. Nnknüpfnussen....... >(>4 52. Weitere FordcrttNlicn...... 106 XVI. Langsame politische Entwicklung. 5^, Äiösslichkoit des sik'linsicii''..... >0« 54. Nevolutlonsfuvcht....... 109 XVII. Bestandtheile der Nihilisten. 55, Stände und Geschlochtor..... 1,12 5<>, Voltsarten........ 114 57. GeniM Allzahl....... Hü 58. Russische Inqend....... ,17 XVIII. Olltwicklung des Nihilismus. 59. Libcvatev Kutovbau...... 120 60. Sozialistische Ideen...... 122 <>>. Ins Volk gehen....... 124 XIX. Kampf der Nihilisten mit dem Staate. s>2. Einiuirkunss dos polnischen Nufstandcs . . . 127 li^l. Kchcimbünde....... 128 t)4. Tervoristeit........ 129 <»5. Vvssebnisi........ 130 XX. Stellung nach außen. W. KnegZstinnnuna,....... 132 67. Weite Aussichten....... 133 IV XXI. Herrschaftsgelüste. Seite nx. Slavisches Sonnensystem..... 135 <><). Weltreichsfthantasie...... 138 70. Nutzlosigkeit........ 139 XXII. Fciudsellsstcit siegen die Deutschen. 71. Deutsch-slavische itampfepochen . . . . !40 72. Gefiihlsuerschiedenhcit bei Volt ilnd ^ornehinen . 143 73. Ursache der Oefahr...... 145 XXIII. Ans alter und »euer .^cit. 74. Ehemals in Mostan...... ^47 75. Ein Mrnsse früherer Zeit..... 14«) 7<>. Nnter dein Petersbnra,er Rec^inient . . . 154 77, Hentzntaqe........ 152 XXIV. Verehren und ^clilschlnsscn. 7^. Tnnschuna nach nnßen nnd innen . . . ^55 7',», Spazierqang nach ^onstantixopel .... 157 l><). Schnialer Oeunnn .,,.,. l58 XX V. Deutschland und Oesterreich. >!!, Russische Politik....... X',2 «2. l'innstliche Vornlachtstellünft..... X'»4 <^3. Verbiirsievnnsi der deutschen Mächte . . . 1^5 XXVI. Maß der Kräfte. ,^4. Ttenertraft ........ 170 «5. Heeresstärke........ 173 80. Allianzen........ 176 X7. Deutschlands Aufsichten..... 179 88. Angnffspnntte....... 181 XXVII. Entweder ^ oder. 89. Mieaöpartei........ 183 90. Ncforinpartei....... 184 91. Der Möglichkeiten Schlnß..... 186 III. Russische Möglichkeiten. X ,,^^ U. Lühci, Nuhland III, I. Auslichten. 1. Gegensätze. „Von einem Ufer abgefahren -- am anderen nicht gelandet." Hcn'thansen setzte dieses Surüchwort des russischen Volkes seinen Studien über dasselbe an die Stirne, nm die Zustände zn bezeichnen. Seitdem ist ein Viertcljahrhundert verflossen, -^ ist das Schiff jetzt gelandet? O nein, es ist weiter als je vom Ilfer, es ringt zwischen Nntiefen nnd Strlldeln nnd treibenden Bamnstännnen. Die Besatzung steht jeden Morgen uo!l.Hoffnung ans zur Arbeit «nd legt sich jeden Abend mißmuthig wieder hin. Manchmal wird sie von wilder Vegeistenmg ergriffen , dann treibt der schäumende Rnderschlag das Fahrzeug vorwärts: doch siehe da, stärkerer Wogcndrang schlendert es wieder zurück. Wird es jemals landen? Niemals, wenn seine jetzige Besatzung nicht gründlich verbessert, wenn Wind nnd Segel nicht anders genommen werden. So lange Rußlands Volk und Regiment bleibt wie es ist, treibt das Fahrzeng noch lange ruhe--los auf den Flnthen oder — es zerbricht. Soviel läßt sich wohl von Weitein wahrnehmen. Nun ist mcm zwar wirklich und ernstlich bemüht, neue Kräfte anzu' stellen und den Kurs des Schiffs zn ändern. Gleichwohl bleibt es ein mißlich nnd gewagtes Ding, zu prophezeien: was wird jetzt ans dein russischen Volke werden? 1* ___4^ Diese Frage drängt sich aber auf die Lippe, sieht man rings um sich her die große Oährnng, aus deren Tiefen so seltsam knisternde Blasen emporsteigen, wie die hirngespinnste der Ni^ Misten und der altnationalen Slaven Freunde. In der ganzen, Welt finden sich nicht entfernt die Gegensätze so gehäuft und wunderlich beisammen, wie in Nußlaud. Sein Volk gleicht einem großen Haufen graner roher Feldsteine, zwischen denen überall Glas und Schmelz glitzert. — Nirgeuds ist das Weib so sehr zur Taglöhuerin des Mannes erniedrigt, und nirgends giebt es so viel wilde Mädchen nnd Frauen, die den äußersten, Gedanken von Weibesselbstständigkeit gleich in That nnd Wirk' lichkeit umsehen. ^- Wo träfe man auf ciue Volksmasse, die vom gröbsten Aberglauben so dick nnd dumpf wie in Wolken eingehüllt dahin lebt, und zugleich auf solche Schaarcn von Freidenkern, die losgerissen von der letzten Faser religiösen Wanbens? — Wo auf der Erde wäve der Mensch massenhafter und tiefer zum dienstthuenden Thier herabgewürdigt, als noch vor Kurzem in Rußland der Fall war5 Wo hätte sich Willkür-Herrschaft so breit, so roh und stark eingebürgert, als in Rußland theilwcise noch jetzt der Fall ist? Wo aber gäbe es anch so Viele, die so leidenschaftlich kämpfen für daB größte Maß demokratischer Freiheit? — Oder findet sich wohl in der ganzen Geschichte, in Asien oder Europa ein Beispiel, daß eine große Voltsmenge, über deren Gränzen die Kultnrftro'mung beständig hinüberschlug, sich so trag nnd thcilnahmslos dagegen verhielt? Wo aber gäbe es Neuerer, die so heiß uud ungestüm au der Arbeit, vor dieser selben Strömung alle Dämme wegzureißen, als in Nußlaud? So wie sie sind, köunen doch die Dinge nicht bleiben, — was aber soll noch daraus werden? 2. Ausdehnung uud Wachsthum. Die Frage hat zwei Augen. Da? eine schauet iu die all-gemeiue Weltgeschichte hiuein, das andere sieht insbesondere die Nachbaren der Nüssen an. 5 Wird Rußland bald eiu Kultlirstaat von enropäischem Gepräge, jedoch mit nationaler Färbung? In Beziehung anf die Nachbarvölker dreht sich Alles um die gewaltige Ausdehnung des Reiches nnd seine rasche Volts-Vermehrung. Das russische Reich nmfaßt jetzt, nachdem durch den Berliner Frieden Vessarabien mit 127,000 Einwohnern hinzugekommen, in Enropa 5,418,526 Quadratkilometer nut 74,421,633 Bewohnern. Kaukasien Sibirien nnd Mittelasien bringe,! an Landgebiet sehr viel, an Bevölkerung sehr wenig hinzu. Der Ge-bietsumfaug steigert sich durch ihre Hinznnahme anf 21,702,688 Quadratkilometer, die Bevölkerung nur auf 87,722,500 Köpfe. Läßt man das eigentliche Asien bei Seite nnd rechnet bloß die Bevölkerung Kaukasicns zur europäischen hinzn, so erhebt sich diese auf nahezu 80 Millionen Menschen, Das ist also mehr als ein Viertel der gesammten europäischen Bevölkerung. Allein die Menschen wohnen in Rußland vier bis fünfmal weniger dicht beisammen, als in Mitteleuropa, sie zer-strenen sich über weite Flächen. Im Ganzen genommen kommen durchschnittlich nnr 13 Menschen auf ein Quadratkilometer. Aehnlich wie Mitteleuropa ist das Land nur bevölkert in Polen, in Kleinmßland, in der Mitte von Großrußland: dort kommen 30 bis 70 Köpfe anf jenes Landmaß. Au: stärksten ist die Volksmenge in Polen, in Klcinrußlaud nimmt sie schon ab, nnd die Abnahme setzt sich beständig fort bis zur Wolga hin. Dieser mittlere bevölkerte Theil Rußlands ist aber nach Süden Osten und Norden nmgeben von einem breiten Landgürtel, in welchem man nnr 10 bis 25 Köpfe auf ein Quadratkilometer rechnen darf, nnd auf diese Zone folgt wieder nach jenen drei Richtungen eine audere, wo die Bevölkerung anf I bis 10 herabsinkt, während sie höher im Norden noch nnter 1 bleibt. Eine übersichtliche Zusammenstellung wird die Beoölkerungs-Verhältmsse je nach den Nationalitäten klarer machen: 6 Es wohnen auf je 1 Quadratkilometer') in 1. Königreich Polen — 10 Gonvernements Polen im Gebiet von 0,1 Million Hj Kil. M. 51 Menschen. 2. Kleinrußland ^ 4 Gollv. Kleinrussen mit Polen im Gebiet uon 0,2 Mill. ^ Kil. M. 36 Menschen. 3. Weißrußland — 8 Gonv. Weißrussen mit Polen im Gebiet von 0,4 Mill. H! Kil. M. 2!-i Menschen. 4. Ostseeprouinzcn ^ 4 Gonu. Letten mit Teutschen im Gebiet uon 0,1 Mill. lü Kil. M. 22 Menschen. 5. Südrnßlcmd ^^ 5> Gonu. Kleinrnsscnmit N li in ä n e n nn Gebiet uon 0,4 Mill. j^Kil. M. 14 Menschen, 6. Kankasien. Rnssennnd T s ch erkessen im Gebiete uon 0,4 Mill. I^,W.M. 12 Menschen. 7. Großrußland — 19 Gonu. Großrnssen im Gebiet von 2,2 Mill, l^ Kil. M. 10 Menschen. 8. Ostrnßland ^ 10 Gouu. Großrussen mit Finnen nnd Tataren in: Gebiet von 1,4 Mill. ID Kil. M. 10 Menschen. 9. Finnland — « Gouu. Finnländcr m itSchwede n im Gebiet uon 0,3 Mill. lH Kil. M. 5 Menschen. 10. Mittelasien. Turanier im Gebiet uon 3,3 Mill. !D M. M- 1"/" Menschen. ') Andrcc Atlas, ^eipziq 1880, Anhang 2, 70. II. Sibirien. Russen mit Mogolen im Gebiet von 12,4 Mill. ^ Kil. M. '/n^ Menschen. Polnisches Land übertrifft also alles russische außerordentlich an Voltsmeilsse. Soviel Polen auswandern oder unter rnssischer Herrschaft verloren gehn, es bleibt immer nur ein kleiner Vruchtheil gegenüber dem raschen Nachwuchs. Soweit klein- und weißrnssische oder deutsche Bevölkerung der großrussischen beigemischt ist, hält sie sich noch auf ciuer gewissen Höhe, sinkt aber sofort bedeutend, wo die Großrnssen lediglich unter sich sind. Bei einer so düuueu Bevölkerung ist also noch Platz für zahlreiche Millionen, namentlich in den fruchtbaren Gegenden Kaukasiens und rings nm das Asow'sche nud Schwarze Meer. Land genng nnd deßhalb Nahrnng genng -— das ist der Grund weßhalb Rußland, gerade wie Nordamerika, das Land der frühzeitigen Heirathcn ist. Fünfzig Prozent der Eheleute heiratheten, ehe sie zwanzig Jahr, und dreißig Prozent, ehe sie fünfnnd-zwanzig Jahre alt waren. Weitans die Meisten sind alfo schon in einem Alter verehelicht, nach dessen Ablaufe man bei nns erst daran denkt, ob man den Schritt wohl wagen dürfe? Die Folge ist wie in Nordamerika rasche Vermehrung der Vcuölkcrnng. Man darf rechnen, das; sie alle sein. Wenig verschlagt es da, wenn die Hand des Todes von Zeit zn Zeit hundert Stunden weit über die Dörfer fährt nnd die Hütten halb entleert: es wächst gleich wieder nach. lind stürben bei der bärle des Klimas nnd der rohen Behandlung die kleinen Kinder nicht wie die Fliegen dahin, nämlich volle drei Fünftel in den ersten fünf Jahren, so würde mau bald sagen können, in Nußland K des Volkes soviel wie Sand am M^re. Rußland hat seit der Zeit, als Peter dcr Grosic sich zum Kaiser aller Ncnßen erklärte, sein Gebiet iu Europa um etwas mehr als 1 Million Quadratkilometer, in Asieu aber um sechsmal soviel vermehrt. Sein Ausdehnnngstrieb aber ist uicht schwächer geworden, sondern hat sich, wie es scheint, beinahe im selben Grade verstärkt, in welchem Gebiet nnd Bevölkerung zunahm. Kann Nußlaud sich in dieser Größe behaupten? Tann drängt nothwendig sein Schwergewicht dazu, sich weiter zu wälzen nach Westen und Tilden wie nach Osten hin. Ooer wird früher oder später seine Einheit in Stücke gehen? Was aber folgt dann für unsern Welttheil daraus? !!. Vor hundert Jahren «nd heute. So viel ist wohl klar, daß nach den Wechselfällen und Einwirkungen einer mehr als tausendjährigen Geschichte der Hoffunug zuviel Naum gewährt ist, weun es in einem amtlichen Erlasse heißt: „Rußland trägt im Herzen jene zwei heiligen Unterpfänder seines Glückes: Glaube und Nationalität, mit welchen unzertrennlich der dritte: die Autokratie, verbuudeu ist. Ihr Emblem ist ein Jüngling voll Kraft und Muth, reif an Verstand, dürstend nach Kenntnissen, der aber dabei dies kostbare Erbe dcr ersten Jugend bewahrt hat: die Einfachheit dcr Titten nnd das Vertraueu auf den Himmel." Erste Jugend ? Nach so langem geistigen Nichts der Bauernmasse? Jung-lingsfrische mit so greisenhaften Wüthen wie der Nihilismus? Versetzt mau sich aber iu die ^»»stände, wie sie uoch vor hundert Jahren gewesen, so ist der Fortschritt doch gvoß uud einleuchtend. Vor hnndert Jahren ging die Waldung noch bis an die Slädte, man holzte darin nach Belieben, uicht das Holz hatte einen Preis, sondern bloß die Arbeit des Hanens uud Heraus-fahrens. Wo keine Wnlduug sich ausbreitete, da war jede Stadt oder Dorfschaft — die Städte waren ja nnr größere Dörfer mit ein paar Rcgiernngsgcbänden und Adelshöfen -^ umgeben von ivciten Strecken Heide oder wüsten Angers, die auch nichts werth. Weil es so viel Land gab nnd wenig Vieh nnd Menschen, hatte man auch bei oberflächlichem Anbaue Fcldfrncht genug. Das Korn wurde sackweise uerkanft, der Tack kostete zwanzig oder dreißig Kopeken, ein Pferd ein paar Rnbel, .Hühner und Eier eigentlich gar kein Geld. Die Gutsbesitzer erstickten in der Fülle, und es blieb ihnen nichts zn wünschen, als wie das Svrnchwort sagte: „Gebe dir Gott Gesundheit und den Generalsrang." Ihr leibeigen Hausgesinde konnte sprechen wie Ossip in Gogols Revisor: „Mau hat sein Weibchen, liegt den ganzen lieben Tag auf der Ofenbank und läßt sich die Fetttnchen gnt schinecken," Auch die Fronbauern und die auf den großen Horrengütern brauchten gewohnlich nicht hart zu arbeiten. In schlechten Jahren freilich verhungerten wohl manchmal ganze Landstriche, man konnte den Leuteil ja nicht zu Hülfe kommen, die Wege waren zu weit und uufahrbar, und mit dein Hunger kamen dann schreckliche Seuchen. Im Nebrigen aber wurde die glückliche Friedensstille nur unterbrochen durch das Wehgeschrei und Stöhnen von Vanern, welche das Schicksal gehabt, einem rohen Kronbeamten oder einem der „fünfzigtausond kleinen Tyrannen" — einem kleinen oder mittleren Gutsbesitzer — anheimzufallen. Welch anderen Anblick gewährt Nnßland ietzt! Die großen Ortschaften sind noch großer geworden nnd die meisten haben einen gemauerten Stadtkern gewonnen. (5ifen-bnhnen ziehen dnrch das Land, und Wege, die doch einigermaßen fahrbar, führen bald hier bald dort zn den Eisenbahnen. Tie Waldungen sind schrecklich znsammengehnnen, nnd von den wüsten Flächen ein ansehnlicher Theil angebaut. Die Bevölkerung hat sich, das nordische Drittel ausgenommen, fast in allen Ge-genden verdoppelt und verdreifacht. Korn uud Vieh und Holz sind überall gut zu verkaufen. 10 Während früher über den: ganzen Lande eine trübe Dnmuf-heit der Seelen lag nnd mir in den Wohnungen vornehmerer Edelleute und Veamten etwas wie Geist und Wissen aufblitzte, giebt es jetzt in jedem Regierungsbezirke ein paar Städte mit hohen und uiedercn Schulen, auf denen man die Geschichte Rußlands nnd fremde Sprachen lernt. Uns den AdelMzeu auf dem Lande nnd in der feineren Gesellschaft in den Städten treibt sich eine qnellendc Nebcrfnlle von allerlei buntem Wissen umher. Verwundert hört der Fremde dort ans den Werken französischer, englischer, dentscher nnd nordamerikanischer Phil» sovhcn und Nationalökonomen, Chemiker und anderer Natnr-forscher Lehren nnd Sähe hersagen, und die Damen reden mit bezaubernder Frische über Goethe und Calderon und Viktor Hugo. Alles das läuft durcheinander wie in einem Tcppich mit stechenden Farben, gleichwie sich über Nußtand auch eine Musterkarte von englischer, französischer, deutscher nnd eigentlich russischer Lebensart ansbreitet. Alles hat einen Zug anfwärts nach Aufklärung und Mchrwissen, nach feiner Lebensart, nach vornehmer Gesellschaft, und in der ganzen Welt hört man vielleicht in einem Monate nicht so viel von Vildnug reden, als in einer Woche m Rußland. Es mag ein Jeder über dies Wesen seine eigenen Gedanken hegen, doch angcnfällig ist der Fortschritt gegenüber den Zuständen vor hnndert Jahren, es ist ein großer nnd mächtiger Fortschritt, Warum soll dies Fortschreiten nicht andauern, ja warum soll es im Ganzen nnd Großen nicht noch mächtiger und beflügelter werden? II. Hcbe! und Hindernisse. 4. Bedingungen des Fortschritts. So viel Erfreuliches mm der Riickblick ill die letzten hundert Jahre zeigt, einen so unangenehmen, fast bedrohlichen Eindruck machen die tausend Jahre russischer Geschichte, die uor dem letzten Jahrhundert liegen. Gewiß haben die Spotter Unrecht, die da sagen, die Nüssen hätten nicht viel mehr erfunden, als Knute und Nagaika nud einige Pferdegeschirre. Ihre Literatur bietet doch, wenngleich auf beschränktem Gebiet, Perlen von originellem Glänze, nnd ihr Kleingewerbe hat viel Merkwürdiges. Immerhin, irgend etwas uinß gehindert haben, daß Rnßland in all der laugen Zeit nur so Winziges zu deu Kulturgütern der Menschheit beitrug. Welcher Art waren diese Hindernisse, und mit welchem Gewichte bestehen sie auch iu Zukunft fort? Darum handelt es sich. llm der Lösung dieser Frage näher zu kommen, sind kurz die rn'cr Haiwtursacheu iu's Auge zn fassen, welche den Kultur« grad eiues Voltes höher oder niedriger stellcu. Die erste beruht in seiner Weltstellung. Diese ergiebt sich aus der Lage zwischeu andern Ländern uud Völkern, der näheren oder entfernteren Aenihruug mit ihueu, insbesondere anch ans deu Küstenlinien und den Wegen zum Meere, 12 Die zweite Ursache liesst in der Landesnatur, wozu außer dem Klima die größere oder mindere Fruchtbarkeit des Bodens, seiue Unterbrechung durch Gebirge oder Flüsse und Seen, und der Eindruck gehört, in welchem die Landschaft sich in Geist und Gemüth wicderspiegelt. Den dritten Faktor bildet die Volksart, oder die körperlichen uud seelischen Wissenschaften, die vorwiegenden Neigungen, die stärkere oder geringere Begabung, die Gleichartigkeit oder Verschiedenheit der Nestandtheile, das Vorwiegen der Jugend oder des Alters, und dergleichen mehr. Endlich das vierte Mitbestimmende geht zwar ans den drei vorgenannten Ursachen hervor, kann jedoch auch nnabhängig ein Völkerschicksal gestalten: das sind die geschichtlichen Erlebnisse. Daß z. B. gerade Dentschlano einen dreißigjährigen Krieg hatte, hing mit Lage Landcsnatur und Volksart eng zusammen, die vernichtende Härte dieses Kriegs aber ergab sich ans der damaligen Weltlage. Prüfen wir nun ganz im kurzen, wie es sich mit diesen vier Faktoren in Nußland uerhält. 5. Geographische Lage. Die Weltstcllnng Nußlands bringt für die Entwicklung seines Volkes entschieden Nachtheile mit sich, keineswegs aber konnten und köunten darin danernde Hindernisse liegen. Es war ja dem byzantinischen 5lnltnrsil, eben so nahe, als Spanien Holland Dänemark dem römischen. Und erst in nnserem Jahrhunderte, wie wenig bedeutet die weiteste Eutfernung bei Dampfschiffen und Eisenbahnen, Presse nnd Telegraphen! Allerdings ist das Reich an das europäische Ostende hinaus-und unch Asien hineingeschoben, darin liegen jedoch auch zwei Vortheile, die nicht zn unterschätzen sind. Rußland brancht sich wenig zu beschäftigen mit Wehr und Wache gegen unruhige und eroberungslustige Nachbarn. Es ist 13 in der glücklichen Lage, daß es die ganze Volks- und Geisteskraft frei verwenden kann anf seine innere Entwicklung und Förderung. Der andere große Vortheil aber, welchen ihm seine Weltstellung iu die Hände giebt, ist der Zwischenhandel zwischen zwei Welttheileu. Dieser bestand von jeher, hat jedoch in den letzten Jahrzehnten eine ungeahnte Ausbreitung gefunden und die Truhen des russischen Kaufmannes mit Millionen gefüllt, lind doch ist das erst der Anfang eines großartigen Handeln uerkehrs, wie er gar nicht ausbleiben kann. Niederdrückend fällt dagegen in's Gewicht, daß die Groß-russen uom völkerverbindenden Meere so lange Zeit abgeschnitten blieben, und daß sie anch jetzt nur zwei entlegene Zipfel des atlantischen Ozeans erreicht haben, die nur matt seine Ränder bespülen und keineswegs mit weilen Armen iu'Z Land hinein greifen. Dafür bieten die Flüffe keinen Ersatz, zumal sie den größten Theil des Jahres unschiffbar sind. Das russische Land selbst ist ein nngehenres Binnenland. Wenn nnu die Erfahrung lehrt, daß schon in einen: zehnmal kleinem Gebiet Diejenigen, welche in der Mitte sitzen, lieber nnd länger in ihrer alten Gewöhnung verharren, lebhafte Ne-wegung scheuen und das Neue und Fremde schwer au sich heran kommen lassen, ^ wieuiel mehr muß dieses iu Rußlaud der Fall seiu, so lauge uicht belebte Eisenbahnen es in jedem Ne» gierungsbezirk durchziehen! III. Llmdeslmtur. 6. Klima und Landschaft. Mohr als in der Wcltstellung, liegt in russischer Natllr und Landschaft Etwas, was feinere Gesittung nicht begünstigt. Zwei sehr lange Jahreszeiten, die eine uoll Schnee nud grimmer Kälte, die andere voll Stand und Sonnenglnt, ^ dazwischen zwei sehr kilrze Jahreszeiten, in: Frühling ein frischer duftiger, ach nnr so kurzer Blütheuschimmcr, im Herbste zwar viele Tage uoll Glanz und Stille und entzückender Klarheit, aber noch uicl mehr, wo die Luft uoll Nebel, kalter Feuchtigkeit und bleierner Schwere, — dann die endlosen Regentags, wo die Wege im unergründlichen Kothe zerstießen, ^-nnd wiederum die eudlosen heißen Tage uoll dunstiger Schwüle, znm Ersticken, -^ dabei in einem wie im anderen Falle stetZ die traurige Eintönigkeit, verbreitet über wechsellose Ebenen, wo leine Berghohe, kein majestätischer Wald, nichts, das kräftig ausgeprägt wäre, das Auge, fesselt, kurz die Landschaft fast immer trübe nnd langweilig, in den beglücktesten Gegenden sich unr zn einem sanften leichten Gemälde erhebend, -— all dergleichen bietet für Geist und Sinn gar zn wenig Anregendes, gar zn uiel Niederdrückendes. Doch anch über diese Ebenen weht nach der Glut- nnd Nebelzeit immer wieder eine kräftige und belebende Luft, öfter 15 der erregende und wohlthuende Geruch vom frischgepflügteu Acker oder voui Schnitte des (Grases und der (darben. Im Sommer badet sich, das Steppengebiet ausgenommen, die Flur im reichlichen Than, der allerorten blinkt und glänzt, und ,nan sieht Grünes und Graues iu einander gemischt, grünes buschiges Gehölz und aschgraue Ortschaften und weißliche Birkenhaine, und dahinter stets wieder die Aussicht in das Freie und Lichtweite. Also wenigstens nichts, was Geist und Seele immerdar beengen und niederdrücken könnte, liegt in dieser Landschaft. Die Aehnlichkeit mit nnseren norddeutschen Ebenen ist zu unverkennbar: warum haben denn die Nüssen nicht ebenfalls die Flächen mit prangenden Städten und Cchlösseru, mit hoch-rauschenden Parks und Wäldern besetzt? 7. Kulturland. Doch was hier von Klima und Landschaft gesagt wurde, deutet nur den allgemeinen Eindruck an. Näher betrachtet, er-weisen sich allerdings uom russischen Gebiete ganze ungeheure Theile geradezu kulturfeindlich. Wohl umfaßt das Neich schon in Europa mehr als die Hälfte des Welttheiles und ist cilf Mal so groh als das deutsche Reich. Allein von dieser kolossalen Fläche ist nur ein einziges Fünftel Ackerland, und nicht das allein, sondern es entzieht sich auch mehr als der volle vierte Theil von: ganzen Gebiete geradezu allem und jedem Anbau. Dieser vierte Theil des Landes wird ewig ode bleiben, denn er besteht in Sümpfen oder steinigem Aodcn oder in nackter Steppe. Rechnet man in den ssauptländern Europas jede Art von Bodennutzung zusammen/) und bezeichnen wir Ertragsfähigkeit ') „Tie Bodennutzung im deutschen Reich" iu den Monatsheften zur Statistik des deutschen Reichs, Berlin 1880. Ik überhaupt nut I, landwirtschaftlichem Werth mit II, forstwirth^ schaftlichem niit III, so treffen von 100 Bodentheilen in Ullgarn auf I 96,2, davon auf II 69,2, auf III 27,0 Deutschland „ 93,2 „ 67,6 „ 25,7 Oesterreich „ 91,2 „ 60,7 „ 30,5 Italien „ 85.0 „ 63,5 „ 21.5 Nußland „ 74,3 ., 34,1 „ 40,2 Frankreich ., 71,7 „ 68,5 „ 3,2 England „ 63,0 „ 60,7 „ 2,3 Das landwirtschaftlich benutzte Gebiet zertheilt sich in Frankreich auf 49,7 Ackerland, 13,9 Wiese und 4,9 Weinberg. Weideland, Deutschland 47,8 „ 19.5 „ 0,3 Ungarn 41,4 „ 26,5 „ 1,3 „ Italien 37.0 „ 20,2 „ 6,3 „ Oesterreich 33,8 „ 26,3 „ 0.6 England 29,8 „ 30,9 „ — „ Nnßlaud 21,6 „ ^!2,5 „ — (^icr ist unter dem ertraa,Mhia,eu Laude das gesammte russische Waldlaud mitgerechnet, das i>n gauzeil Norden nicht einen Kopck auf den H^'tar nbiuirft, nnd iiu ganzen Reiche, eines in's andere gerechnet, nnr einen Neinertrag von 5 Kopeken anf deu Hektar gewährt. ^) Fragen wir ^aber, wieviel im russisch europnifchen Gebiet enthält die Bedingungen, untn' deucu Vcrstaud uud Fleisi der Aubauer sich Wohustätten bereiten, in welchen sie ein menschenwürdiges Dasein führen, wie es halbwegs gebildeten Menschen znkommt: so lautet die Antwort sehr traurig. Veinahe die uolle Hälfte müssen wir dann vom ganzen Gebiete abstreichen, nämlich dic nördliche Zone nnd den größten Theil der südlichen Zoue, diese Läuder siud kein Kulturland uud werdeu es nimmer. Die andere Hälfte aber, die zwischen beiden Zonen liegt, hält ') Ivcelues (iöoKriipliie universelle «57, 17 auch nicht entfernt den Vergleich ans mit dein Neichthume, welchen das übrige Enropa an Vortheilen für höhere Entwicklung darbietet. Es zerfällt nämlich das europäische Nußland in fünf verschiedene Theile, Den einen bilden im Nordwesten Polen mit Grodno Wilna und Kowno und die Ostsceprouinzen, ein keineswegs von der Natur begünstigter Landstrich, gleichwohl altes Kulturland, in welchem Fleiß nnd Verstand dem kargen Voden einen Ertrag von Nahrnngsnmteln abringen, der zur Zeit noch den Ertrag der fruchtbarsten Landstriche übertrifft, die es in Rußland nnd überhaupt nur geben kann, nämlich der Schwarzerde. Für ein Korn Aussaat erhält man in Polen und den Ostseelanden in der Ernte 4,54, dagegen anf dem Gebiete jener fruchtgcfchwelltm Schwarzerde nur 4,44, und auf einen Einwohner treffen dort 2,56 Tschctwert Korn nebst 2,31 Tschetwert Kartoffeln, während hier das höchste Maß 3,f>7 Korn nnd 0,35 .Kartoffeln erreicht. ') Hätten diese polnischen und deutsch'lettischen Landesthcile, in denen allein sich rationeller Landban weit verbreitet findet, an den Fortschritten Deutschlands Theil genomüien, wie hoch möchte wohl heute Wohlstand und Volksmenge stehen! Der Provinz Posen fehlte im Jahre 1816 zu einer Million Bevölkerung noch ein Fünftel: jetzt hat sie eine ganze Million mehr, nnd Städte nnd Dörfer, Straßen nnd Waldung bieten einen ganz anderen fröhlichen Anblick, als damals. Rechnen wir diese nordwestlichen Provinzen ab, die nicht russischer Art sind, so scheidet sich Nußland von Norden nach Süden je nach Klima nnd Boden in vier Zonen, die schr von einander verschieden. l) J. Wilson Apon-u sfcatisüque de ragricultm-o . . . . dc Russio, St.-Pötcrsljourg 187(5, p. 72 ff. u, Löher, RuUüub III, 2 18 8. Kulturfeindliche Landstriche. Der nördlichste Theil, das Wald- Sumpf- und Moorland, das kaum einen Werth hat, umfaßt beinahe ein volles Drittel des europäischen Rußland. Während in Mittel-Europa die Quadratmeile durchschnittlich 4000 Einwohner zählt, ist 80 bis 90 hier schon hohe Zahl. Die Grde hat zu wenig Humus, das Klima zu viel Rauhhcit. Für die Bearbeitung des Bodens bleibt, da der Winter sieben bis acht Monate danert, nicht die Hälfte soviel Zeit, wie in Deutschland. Der größte Theil dieses Gebietes, die Gouvernements Uleaborg Oloneß Wologda nnd Archangelsk, sind verurtheilt, für immer in diesem Znstande zu bleiben, in welchem sie nichts liefern können als Theer und Pech, Pelzwerk, Thran uud Vogel-federn. Auch die südliche Zone, das Steppenland, bringt es in den eiusmnen Gegenden nicht über 100, in den belebten nicht über 1100 Bewohner auf die Quadratmeile. In den breiten Thalfurchen, welche die Steppe durchziehn, läßt sich leben: die hohe Steppe aber trägt noch entschiedener mcuschen-fciudlicheu Charakter, als das nördliche Wald- und Sumpfland. Der Winter dauert zwar um drei Mouate, diese sind aber voll scharfer Winde und gräßlicher Schncestnrme. Der Frühling muß sich ans schwarzem Schlamm uud Gewässer hervorkninpfen, dann erfreut er das Auge durch blumiges Grüu, jedoch die Herrlichkeit dauert nnr kurze vier Wochen, Der Herbst hat eben so lange Zeit Nebeltagc. Den ganzen übrigen Theil des Jahres liegt die Fläche verdorrt, grau, todt unter der Sounenglut, und wird keine eiuzige Nacht durch Thau oder Regen erfrischt. So war dieser Landstrich schon zur Tkytheu-Zcit, uud uoch immer ist Vcwalduug so außerordentlich schwierig, wie, da die trägen Flüsse kein geuügendes Gefalle haben, regelmäßige Bewässerung. Nur in den Flnß-thälern kann sich Wald uud Leben ansiedeln. Dieses 19 Steppengebiet umfaßt aber einen sehr beträchtlichen Theil von Rußland, da seine nördliche Gränzlinie, Uebergriffe des Schwarz crdebodens abgerechnet, sich von der Mitte Beßarabiens bis zur Wolga-Krümmung bei Samara und in gleicher Richtung weiter bis zmn Ural zieht. ». Das mittlere Rußland. Es bleiben also — bei Abrechnnng der vorbezeichneten drei Bestandtheile -— für das eigentliche europäische Rußland als Knlturboden nnr etwa zwei Fünftel des Ganzen übrig, und davon besitzen die Kleinrnssen den besseren, die Großrnssen zwar den größeren, aber viel schlechteren Theil. Es scheidet sich nämlich dieser mittlere Theil Rnßlands in eine größere nördliche nnd kleinere südliche Hälfte: jene ist mäßig fruchtbares Ackerland mit Industrie, diese der fette Schwarzerdeboden. Feldbau, verbunden mit Gewerbe, herrscht in sechszehn Gouvernements, wo der Boden ziemlich gleichartig den: in Polen und den Ostseeprovinzen, gleichwohl aber, da er nnr das dritte Korn ergiebt, nicht so viel Nahrnng darbietet, daß seine Bewohner damit auskommen könnten. Sie müssen, was fehlt, ans dem Schwarzcrdegebiete einführen und den Preis dafür durch Handarbeit verdienen. Die Bevölkerung ist anch in diesem Hauptlande der Großrussen nicht entfernt so dicht, wie in Mittel-Europa. In drei Gouvernements hält sie sich unter 1000 auf der Quadratmeile, erreicht in einem diese Zahl nahezu, nnd steigt in den übrigen bis höchstens 1500. Die Volksmasse der beiden Hauptstädte Petersburg uud Moskau bleibt dabei natürlich außer Vergleich. An feineren Obstbau ist in diesen: ganzen Gebiete so wenig zu denken, wie an Weinban, die Viehzucht steht auf 2« 20 sehr niedriger Stufe, mid der Ackerban bedeckt die Flächen ein-fömig nur nnt den gcwöhulichsten FeldfrüÄ)teu. Die größte Fruchtbarkeit entwickelt dagegen der berühmte Schwarzerdeboden, welchem der größte Theil von vierzehn Gouvernements angehört, nnd zwar die von Podolien Kursk Tambom und Pensa vollständig. Die glänzend schwarze Erde, wcl6)e zu anßerordentlicher Tiefe hier sich ausbreitet, ist in undenklichen Zeiten ans 3iasenbildnng eutstcmdeu. Ohne alle Düngnng des Bodens gedeiht Getreide jeder Art prächtig, Futterpflanzen schießen riesig ins Kraut, und die Zuckerrübe erreicht staunenswerthe Größe nnd Fülle. Gelänge hier eine regelmäßige künstliche Bewässerung, so köunten Reisfelder den reichsten Ertrag liefern. Dieser eiue begnustigtc Landstrich umfaßt die volle Hälfte der gesammten Veuölkcrnng des europäischen Nußland, ist die stets gefüllte Kornkammer für die andere Hälfte, und kann trotzdem noch beinahe eben so viel, als er für jene hergiebt, von seinem Getreide ins Auslaud abführen, 10. Reichthum an Getreide und Vieh. Das russische Reich besitzt also au diesem weitgedclniten Schwarzerdegebiete, das theilweise anch mit Wald bestanden ist, einen unermeßlichen Werth, der von der größten Vedentnng für die Zukunft ist, sobald die Verkehrswege überall hergestellt sind. Die Bevölkerung — 17W bis 2300 auf die Qnndrat-meile — erreicht schon jetzt durchschuittlich die Hälfte der Dichtigkeit in Mittel Europa nnd geht an einigen Puutten über die Hälfte hiuaus. Ernähren kann sich auf diesen fruchtbaren Auen leicht das Drei- und Vierfache der gegenwärtigen Volks-menge, und wird noch immer genug Getreide für die übrigen Promuzen da seiu. Schon jetzt besteht die Hälfte aller Bahn fracht in Rnsiland aus Getreide. Man berechnete für das Jahr 1378 die rnssische Ausfuw' Getreide uud Mehl nud Hülsen^ 21 fruchten auf einen Werth an 380 Millionen Rubel, dazn kamen noch 82 Millionen für .holz und andere Walderzeugnisse. Die Menge des Getreides aber, das zur Ausfuhr übrig, ist im raschen Anwachsen begriffen: während es 1869 noch nicht volle 22 Mill. Hektoliter waren, stieg die Zahl bereits 1878 anf 87.') Dieser Mcuge an Bedürfnissen steht der Viehreichthum zur Seite. Es kommen auf 100 Menschen in Rußland 20 Pferde 29 Rinder «0 Schafe 13 Schweine Deutschland 8 „ 38 „ 16 „1? Frankreich 8 „ 31 „ 08 „ 14 Oesterreich-Ungarn 9 „ 35 „ 55 „ 19 Großbrittannien « „ ^0 „ «9 „ 11 Diese Zahlen sind dein großen neuen geographischen Werke uon Neclues cntuommen, der augenscheinlich bestrebt ist, die Zahlen zu Gunsten Rußlauds, wie Frankreichs zu erhöhen-Nach ihm hat Rußlaud mehr Pferde, als das gauze übrige Europa, au Niudvieh Schafen und Schweinen ungefähr halb so viel. Allein es ist dabei auch in Anschlag zu briugeu, daß dieser Viehrcichthum sich hauptsächlich auf das Steppeulaud beschränkt, das übrige Rußlaud dagegen, wenn man Polen uud die Ostseelande nusnimmt, verhältuißmäßigschruiehann ist- Selbst die Viehineuge der Steppe für ganz Nußland eingerechnet kommt auf den Kopf zwar mehr als das Doppelte der Pferdezahl, ucm allem übrigen Vieh dagegen weniger, als iu Mitteleuropa- Und dürfte mau das jämmerlich genährte Vieh von geringer Rasse in Rußlaud wohl dem mitteleuropäischen znr Seite stellen? Was aber der Pfcrdereichthum betrifft, fo ist, währcud die Bevölkerung sich rasch vermehrt, überall eine noch raschere Ab» nähme der Pferdezahl zu bemerken,') Immerhin wirft das Steppenlaud in die Ausfuhr Rußlands ein bedeudcntcs Gewicht ein- Man rechnet, daß l) And ree Atlns S, 71. ^) Noolno« c^uFnrMi« uinvcr«o1Iü, I'ack1880, V 801—8«2, 22 jährlich über 30,000 Pferde, an 40,000 Rinder, und eine halbe Million Schweine in's Ausland verkauft werden. -- Der Ausfuhr au lebendem Vieh aber tritt die andere an thierischen Erzeugnissen, als da sind Leder Häute Wolle Talg, Haar und Knochen, nicht minder gewichtig an die Seite. ^) In solchem Reichthum an Getreide und Vieh hat Rußland eine Quelle der Ernährung uud des Gcldznflnsses, die nicht leicht versiegen kann, vielmehr in den nächsten Jahrzehnten, noch immer wird ergiebiger werden. II. Gewerbliche Zukunft. Gestützt also auf die immerdar offeue Kornkammer der Schwarzerde uud ans die Viehmenge der Steppe, besonders an Pferden und Schafen, kann die Industrie der mittleren Zone noch uuschätzbar gesteigert werdeu. Zur Zeit liefert sie für die Ausfuhr nur noch einen sehr geringen Werth ab. Was ans Rußlaud über die europäische Gränze geführt wird, täßt sich ziemlich genau berechnen. Diese Ausfuhr hat einen Werth uou 600 bis 700 Millioucu Rubel, davon kommen anf alles, was Bergbau, Fabriken und Hand-gewerb liefern, noch nicht 15 Millionen- Gleichwohl ist die Industrie im raschen Wachsthum begriffen, namentlich in und um Moskau uud iu deu audern größeren Ttädteu. Sie kann nicht genng für den innern Vorbrauch schaffen. Das gilt insbesondere von der Baumwolleuiudustrie. Ziemlich die Hälfte der Suiudeln, die in Frankreich oder Dentsch-land beschäftigt sind, drehen sich auch in Nnsilaud, Nach der Baumwolle kommt gleich die Wolle, die ja in Rußland selbst in Masse, wenn auch uoch keineswegs in Güte, erzeugt wird. Feine Lederwaare sollte viel mehr, als der Fall ist, in's Ausland gehen; die Russen begnügen sich zur Zeit mit dem Gerben des Leders, wobei ihnen der Ueberfluß an Birkenrinde, welche ') Andrcc a, n, O. _____23___^ ihm den angenehmen Geruck giebt, zu Statten konnnt. Die gewerbliche Thätigkeit, die Stearin, Zucker, grobe Metallwaare, chemische Stosse, Papier, Glas, nud selbst schon Maschinen aller Art schafft, ist fortwährend im Steigen- Schon uor zehn Iahreu durste man den Gcsammtwerth ihrer Erzenguisse, freilich Branntwein mitgerechnet, auf ein Fünftel des Werthes schätzen, welchen Nußland dem Ackerbau uerdaukt.') Nicht erfreulich aber ist der Rückgang des Hausgewerbes auf den Dörfern, In den sechszehu Gouvernements der nördlichen Mitte besitzt Rußlauo nämlich eine eigenthümliche bäuerliche Bevölkerung, die halb der Fabrik, hall, dein Feldbaue angehört und für das gesammte Aufblühen des Landes nicht genug anzuschlagen ist- Sie verfertigt gröberes Gewebe ans 6'lachs und Baumwolle, Lederwaare ist der zweite Hauptartikel, Holzwaare der dritte, Bastwaare der vierte. Einen fünften großen Iudustrieartikel macheu die Hciligeubiloer aus, deren Verbrauch auf Rußland beschränkt, gleichwohl aber sehr umfangreich ist, weil jedes Hänschen weuigsteus ein Heiligenbild besitzen muß: ohne dasselbe wäre es ja nach dem Volksglauben nicht besser, als heidnisch uackt und schutzlos. Die auoeru Waaren gehen aber, sofern sie billig uud leicht zu beförderu sind, massenhaft nach Asien, nnd es kann gar nicht fehlen, daß, je mehr Asien erschlossen und in den europäischen Haudelsucrkehr hineingezogen wird, Nußlaud desto größere Meugen uon jener billigen Waare nach dem Osten liefern wird. Allein die Großindnstrie entzieht der kleinen Geld nnd Hände. Reißend geht es mit ihr abwärts. In Leinen ist sie bereits vollständig uom Markte verdrängt. Die Lnst nnd Anlage zur Fabrikthätigkeit wird dadurch uicht verkümmert. Was das Aauernhaus verliert, wächst der großen Fabrik zu. Da sich nun auch rings um Moskau, am Touetz nud am Westabhauge des Urals ausgedehnte und reiche Kohlen- *) Rcclues S1?»—875, 24 lager finden, die kaum erst in Abbau genommen, und da der Ural an vorzüglichem Eisen Knpfer Gold Platina unerschöpflich ist: so besitzt Rußland in jenem weit verbreiteten Talent für Industrie und in diesem Mineralreichthumc, verbunden mit der Vieh- nnd Getreidefülle der Steppe und des SchwarzcrdebodenZ die Vedingnngen zur Entwicklung einer großen gewerblichen Volksthätigkeit, die viel weniger den Werthschwankuugen in Bezng ans Rohstoff und Arbeit unterworfen ist, als europäische Fabrikländer. Wir sehen also, daß bezüglich zwei der Hanptursachcn, uou welchen Höhe und Breite der Kultur eines Volkes abhängt — nämlich in Wcltstellnng nnd Landesnatnr ^- Nußland nicht gerade übel bestellt ist. Zeigen sie Nachtheile, besitzen sie auch eigenthümliche Vorzüge. Freilich im Vergleiche mit jeden: anderen europäischen Lande, nur etwa Skandinavien nnd Spanien aus» genommen, ist das Nussenland am wenigsten begünstigt. IV. volkülltt. 12. Zähigkeit. Suchen wir jetzt dem dritten Factor, welcher Fortschritt oder Stehenbleiben in der Cultur bedingt, das Maß zu uclunen-Dieser dritte und wichtigste Factor ist die Volksnatilr. Zuerst kann darüber wohl kein Zweifel sein, daß bei den Großrnssen, wie, hoch oder niedrig der Ttand ihrer Cultur sein mag, das eigenthümlich nationale Wesen stet-/ durchscheinen wird- Es durchdringt sie uiel kräftiger nnd zäher, als die weicheren rein slavischen Völker, dic .Aeinrussen eingerechnet. Schon im Körperbaue der Großrusseu steckt etwas Festes und Danersames, der harte breite Nacken ist nicht so leicht zu brechen, der üppige Haar- und Bartwuchs nicht zu zähinen. Dabei sind sie ein stattliches, ja schönes Volk- Dies gilt bei dem gemeinen Volke zwar nur von den Männern: bcincrkens« werth ist aber, daß das Weib, sobald es aus der rohen Masse sich zur gebildeteren erhebt, sofort sich vortheilhaft zu entwickeln ansaugt, ein gewandtes leichtes feines Wesen annimmt, ja eine natürliche Grazie in Haltung Schritt nnd Geberde, wie sie vielleicht kaum von der Französin erreicht wird. Mit Ausnahme der zahllosen urkräftigen Schimpf» Droh-und Befehlwörter, und mancher bezeichnender Wörter, wo der Ton zum Sinne paßt, wie Sägclärm zu Liebcskoscn, scheint das Russische 26 mehr eiueFraueusprache zu sein, als für Denker und Staatsmänner gemacht. Keine andere ist so reich an Wärme und Zärtlichkeit, an Unbestimmtheit, au Lanne und spöttischem Lächeln und wetterwendischein Geschicke. Auch der Fremde, wenn er sich wörtlich übersetzen läßt und das Vielfältige, das Flüssige und Schwebende wahrnimmt, das Wort und Satz iunewohnt, ist geneigt, Gogol zuzustimmen: „Keine Sprache ist so kühn, so flink, kein Wort wallt und zittert so lebhaft im Gemüthe, als ein treffend gesprochenes russisches Wort." Man muß aber hinzn setzen: Keine Sprache ist so unmathematisch, weil in keiner Wort und Satz so wenig genau den Begriff nnd Gedanken deckt. Wie aber könnte die Fähigkeit zu raschen Entschlüssen, das sofort auf das Ziel Losstürzende, die seltsame Verbindung uom geistreichen, leichtspielcnden, phantastischen Wesen mit der denkbar derbsten Auffassung aller Dinge jemals im Russen erlöschen! Streift man alles Fremde und Angebildete ab, so ist die russische Eigenart immer noch da, jenes fröhliche, gutherzige Sichaneinanderschmiegen, das mit unglaublicher Leichtigkeit zur Nohheit und Tücke übergeht, jene feurige nnd stürmische Willenskraft, die im Handnmdrehen zusammensinkt wie cin schwaches Nohr nud doch niemals bricht, kurz jene „breite Natnr", die gleich aller Welt sich anpaßt und doch niemals sich ansgiebt. 13. Gleichartigkeit. Die Großrnssen haben den unschätzbaren Vortheil, daß ihre 40 Millionen durchaus gleichartig beisammen sind, durch keine andern Volksarten unterbrochen, als dnrch die eingesprengten Neste der Finnen und Tataren, die politisch ganz nnvermögend. Auch durch Stammesnnterschiede sind sie nicht zertheilt und hängen alle wie Kletten aneinander. Da es in dieser ungeheueren Masse Menschen, auffallend genug, keine Stammes-reibungen giebt, lassen sie um so leichter sich nach einem einzigen Willen bewegen. Sie sind anch sammt und sonders gleicher 2? , Religion: die Religiolt ist aber in Nllßland gleichwie im Orient nicht blos verumchsen mit der Nationalität, sondern bedeutet sie nnd ist sie zu nicht geringem Theile. Im eigentlichen Rußland gehören 85 Prozent der griechisch-russischen Kirche an, die anderen 15 Prozent verschwinden in dieser Masse. Das gemeinsame politische Oberhaupt aber nnd daunt ihren staatlichen Znsammen-hnug besitzen die Großrussen uugeschwächt und ungebrochen seit beinahe fünfhundert Iahreu. Vei keiucm europäischen Volte besteht eiu so gleichförmiger, durch keine Gebirgszüge uud keine geschichtlichen Ereignisse unterbrochener nationaler, religiöser, politischer Znsammenhang, als bei den Grosmlsseu, eine Gleichartigkeit, die über ein so ungeheures Gebiet vertheilt nicht blos selten, sondern wahrhaft seltsam ist. Jedes europäische Volk, und wenn cs anch zehnmal kleiner als das russische, schickt sich uach Stämmeu und Landschaften in mehrere Besonderheiten, nnd wo diese nicht von Anfang an vorhanden, da schafft sie uuausblciblich die Geschichte iu Tracht uud Sitte, Charakter und Lebensart, religiösem nud politischem Aegehreu- Bei den Großrussen giebt es nichts von solchen Unterschieden. So einförmig das Land, so einförmig das Volk. So stark sein nationaler Znsammenhang, so farblos, so grau iu grau jede matte Schattirung in demselben. Wie ist dies Räthsel zu erklären? Ist denn jeder Trieb zur cigeueu freien Lebeusgcstaltnug, jeder individuelle Keim bei Mann nnd Weib erstickt? Oder war er vielleicht niemals vorhanden? Collte es wirklich ans der Erde eine Art von Heerdeuvölkeru gebend 14. Einschmelzung fremder Volksnrt. Tie Großrusseu gebcu uus noch andere Räthsel anf. Die Energie und Triebkraft, die in einem Volke steckt, offenbart sich je nach dem Grade der Leichtigkeit, mit welcher es andere Voltsnatureu an sich zieht und mit seiueu eigenen 28 Gefühlen mid Ideen beseelt. Früher hielt sich Alles, was nicht selbst großrussisch war, innerlich fern davon. Die von Westen Stammenden erachteten sich für besser als die Großrussen, nnd die östlicher Wohnenden beharrten in gewohnter Starrheit, Die Großrussen selbst mochten anch sich mit Fremden so wenia, gern uer-mischen, wie im Mittelalter Christen nnd Juden, Tas ist seit dreißig fahren anders geworden- Alls einmal ist nnter den Rnssen Selbstschätzung, Stolz nnd Zuversicht anf eine große Zukunft erwacht, uon welcher die fremden Volksarten, die auf russischem Gebiete sich bcfiuden, nicht unberührt bleibeil konnten- Alle europäischen Völker suchen sich in unsern Tagen für die Zukunft zu konstituiren, die Einen kämpfen und ringen schmerzlich, den Andern hilft die geistige Ucberlegenheit oder der Massendruck. Jetzt ist das Eis gebrochen: die Anziehung und Einschmelzuug geht ersichtlich voran. Von der letzteren fühlen sich zuerst betroffen die durch Kirche und Sprache verwandten Memrusscu, l 4 bis 15 Millionen, dann die uielgemischtcn ärmlichen Weißrussen, nur:! bis 4 Mil< lionen. Nach ihnen kommen die in den groß nnd klcinrussischen Städten angesiedelten Dentschen. Diese hatten bis zu unseren Tagen znm größten Theil ihre Sprache Sitte uud innere Na-tnr rein nnd frisch erhalten: jetzt aber sind die im Reiche zer-streuten Deutschen iu Menge im Uebergange zu russischer Voltsart begriffen, sie nehmen rnssischen Geist, russische Denk- nnd .Handlungsweise in sich auf, Jüngere schwärmen bereits für Rußlands Oröße und Zukunft gleich Panslauisten. Nach den Deutschen sind es die Armenier, die sich am meisten dem russischen Wesen anschmiegen, ^ nach ihnen Vulgären nnd Nnmänen, —sodann die Finnen Eschen und Lieven, — daranf die Polen, weniger die Lithauer nnd Letten, noch weniger Tataren, ^ am allerwenigsten Jude» nnd Griechen. Wie wenig anf die Länge die kleinen Völkerschaften im 29 Reiche der übermächtigen russischen widerstehen können, zeigt ein Blick auf das Mas; ihrer Bestandtheile. Im cissentlichen Rußland (Polen und Finnland nicht mitgerechuet) giebt es >) Nüssen...........79.70 Prozent Lithauer..........^0 „ " Finnen...........3.80 „ Juden...........2.90 Dentsche..........2.10 Tataren..........2,10 Baschkiren nnd ^erwnndte .... 1^.05 „ Polen........... 1.s'0 Rumänen........> - 1.40 /, Andere...........0,55 Ncclues') stellt nach eiucr Wahrscheinlichkeitsrechnung fol> ssende Völkertafel für das europäische Rußland auf: Großrnssen.........40,— Millionen Klcinrussen.........16,:; Weißrussen.........3,6 „ Bulgaren nnd Eerbcn ..... —.1 ., Polen...........5,— Lithauer.......... 1.9 „ Letten...........1.1 Rumänen' .......... —.7 „ Deutsche.......... L— „ Schweden..........—.2 „ Indon........... 3," „ Finnen, Lappen, Ussricr.....5,6 „ Tataren, Baschkiren, ^vivsshisen . . 2,— „ Kalmücken nnd Samojeden .... —.4 „ Griechen und Aruicnier.....—.1 5, l) Gothacr Hosialendcr 1^7!, 30 15. Bildungstrieb. So also erscheint uns das Rnssenthum im Verhältnisse zu den anderen Völkerschaften des Reiches- Doch gehen wir jetzt von dieser äußeren Vetrnchtnng mehr in daZ Innere und fragen zuerst nach der Stärke des Vildungstriebes, der bei den Rnssen vorhanden. Da ist leider zu sagen, daß seit mebr als tausend Jahren mehr als eilf Zwölftel des Volkes in einer Art von Pflanzen-schlaf verharrten. Gerade weil sie ohne alle innere Neibnng und Mannigfaltigkeit dahin lebten, deshalb fehlte ihnen Reiz und Anregung und Bewegung- Jetzt erst ist das gemeine Volk etwas aufgeweckt durch Aufhebung der Leibeigenschaft, allge-meine Wehrpflicht, Schulen, Eisenbahnen und lebhafteren Handelsverkehr, Noch aber gleicht die russische Volksmasse einer uuabsehlich graueu Flut, auf deren Oberfläche es ganz leise wellt und wogt, noch überdeckt von einer tranrigen falben Dämmerung- Am fernsten Horizonte will sich etwas Leuchteu-des erheben. Hier und dort zuckt ein röthlicher Blitz über die trübe endlose Fläche, nnd wo der Blitz herfahrt, fängt es an, sich zu ringeln und zu kräuselu. DaZ ist die geistige Gcgeu-wart der großen Menge. Noch hat die Kultur geringen Reiz für sie. Ein ganz kleiner Theil macht eine scharfe Ausnahme. In seinen Kreisen drängt nnd arbeitet der unruhigste Vildungstrieb. Was nur im modernen Enropa gedacht gesagt geschaffen ist, erscheint ihrem Hnnger schmackhaftes Futter. Beinahe ist zu fürchten, daß sie sich schaden durch rasches Ginschlingen der verschiedenartigsten Kost. Aller Gegenwart Ailduugsstoff. sage ich, nicht aller Zeiten. Mit den Völkeru des Mittelaltcrs, dcu Völkern des Alterthums oder gar den Aegyutcrn und Indern, knrz mit jenem geistigen Gnte, dessen man nur durch rückwärts gewandtes Stndinm, durch allmähliges Eindringen uud Wiederbeleben sich bemächtigt, will der Russe nicht gern zn thnn haben. Der- 31 gleichen schätzt er gar wenig. Noch merkwürdiger, daß er mitten im hastigen Sammeln und Einnehmen von allerlei Ideen nnd Anschauungen plötzlich den Appetit verliert und gar nichts mehr davon wissen will. Es ist, als fürchte er, die fremde Kost schlage ihm doch nicht an- In keinen: Lande giebt es nntcr den oberen Klassen so wenig glückliche, so wenig harmonisch durchgebildete Menschen, die auf sich selbst beruhen, — in keinem eine so große Anzahl verbitterter nnd verschrobener Naturen. Die Einen finden die Ursache dieser Erscheinungen im Mißverhältnisse zwischen Wunsch nnd Anlage, die Anderen in irgend einem Charatlerfehlcr. Irgend ein Hinderniß, das tief im Volke selber sitzt, mnß vorhanden sein- Wie ließe sich sonst der dnukle Abstich gegen Skandinavien erklären! Entlegener, unwirthlicher, unzugänglicher war dieses Land doch fünf Mal mehr als Rnßlaud, Und wie hoch steht es darüber in behag» licher Einrichtung des Lebens wie an Bildung! Nun verbreitete sich in Ekandinauien wie in Deutschland der Unterricht gleichmäßig durch das ganze Land. In Nnsi-land aber ist Lust nnd Antrieb zum Schulbesuche am stärksten in den westlichen Gränzlandcn nnd nimmt immer mehr ab, je näher mau der russischen Herzmitte kommt. Im Lehrbezirke Dorvat gehen von schulpflichtigen Kindern 52,7 Prozent in die Echnle, im polnischen Lehrbezirke Warschan sind es nur noch 26 Prozent, diese Zahl schwindet im Petersbnrger anf 14 zusammen, erhält sich im Odessaer nnd Wilnacr noch anf 12,3 nnd 11,l>, im Lehrbezirte Charkow sind es nur noch 11, Kasan noch 9,9, Kiew 7, Moskau nnr noch 5.7'). Je weniger Großrnssen, um so besser die Schulen, ^ je mehr Großrussen, nm so vernachlässigter der Unterricht. !) E, Pfeifer Vergleichende Zusammenstellung der europäischen StaatZllusgllben, Stuttgart 1877, Seite ^9 ff, Bericht des Unterrichtsmi-uisters snr 1»73 bei Schw ancvach Statistische Stizze des russischen Reiches, St, Petersburg. 15?,',, Seite 17 ff. 32 111, Gcistesart. Die eben erwähnte Thatsache giebt wohl zu denken. Im gebildeten Rnsscn eröffnet sich, sobald er mit Freindeir ins Gespräch kcmunt, eine innere Helligkeit, ein wunderbares Verständniß für Alles, was Jener weiß nnd mitbringt. Sein Geist schweift gern in weiten Zügen dnrch Geschichte nnd Welt>< ramn, findet gleich heraus, was ihm dienlich, nnd faßt es sofort mit fester Zange an. Der gemeine Russe ist dagegen der leibhafte Nomade. Sorglos wandert er dnrchs ganze Reich, sein Handbeil im Gürtel, seine Stiefeln über den Nacken. In der einen Gegend verdingt er sich als Hirte Jäger Fischer Schiffszieher oder Holzschläger, in der anderen als Maurer Zimmcrmaun Heiligemnaler, nnd kommt er in eine Fabrik, be--greift er alles Wert ans der Stelle. Beinahe möchte man dem Einen wie dem Anderen natürliches Genie zuschreiben, und doch bleibt der Eine wie der Andere gewöhnlich bei den: stehen, was er gehört oder gelernt hat. (5s diente flüchtig znm geistigen Spiele oder um eine Handvoll Geld zu gewinnen. Wollen sie einmal die Sache dnrch eigenes Denken und Schaffen weiter bilden oder anch nur in eine andere Form gießen, so fängt der Eine wie der Andere gar leicht zu pfuschen nn und geräth ins Absonderliche nnd Unzweckmäßige. Kommen jnnge Nnssen anf unsere Universitäten, so erregen sie häufig Erstaunen dnrch ihre rasche Fassungsgabe nnd praktische Anstelligkeit, fast noch mehr, als die Studenten aus Nord-Amerika, Beide lafscn anfangs den Deutschen weit hinter sich zurück und werden doch regelmäßig von diesem eingeholt-Während fie noch bei den Anfängen der Wissenschaft stecken, beginnt Dieser bereits felbststündig darin zn denken nnd zu schaffen. Es scheint beinahe, als wolle in der Helligkeit, aber kalten Leere rnssischer Denkart nichts ordentlich keimen nnd sprossen-Wachsthum im Geist nnd Gemüth bmncht wie im Erdreich 83 etwas Dunkel und Wärine, daß es zum hohen Baume erstarke, mit dessen Wipfel Wind nnd Wolken spielen und des Himmels Lichter kosen. Oder treten wir in die Werkstätte, iu den Gutshof, worin jener anstellige Nomade Arbeit gefunden, Wirthschaften dort Mehrere seiner Art beisammen, so erblickt mau Schntt, Lumpen, zerbrochenes Geräthe, Unordnung überall: über dem Ganzen liegt ein graner düsterer abschreckender Grnndton wie über der Erde am schmutzigen Regentage, .haben aber englische oder französische oder dentsche Arbeiter in jener Werkstätte oder auf jenem Gutshofe die Mehrheit, so findet sich allsgebreitet etwas Sauberes, Nettes. Einladendes. Allein sie haben beständig zn ramnen und zn hindern, das; die Unordnung, die bei den Russen gleichwie von selbst sich einstellt, nicht anch ihnen anf den Leib rücke. Läßt sich für diese rnssische Eigenart ein anderer Schlüssel finden, als ein Nest turanischer Naturanlagc? Diese aber kann ^ abgesehen von dem Erfolge, den ernster Wille und Arbeit des Einzelnen an sich selbst vollbringt — erst durch langdauerude Volkserziehung und durch Eiuschmelzuug von etwas anderer Volksnatnr sich zersetzen lind umwandeln- Ans der anderen Teito aber ist es offenbar, daß bereits in Menge tüchtige Leute da sind, Männer nnd Frauen, nicht bloß voll Verständniß dessen, was geschehen muß, sondern begeistert auch von patriotischen Entschlüssen, es zn vollbringen. Ihrer müssen jetzt ohne Frage mehr uud mehr werdeu. Die An-sänge zn europäisch-städtischem Leben, die auch außer dcu wenigen Großstädten in allen Gegenden Rußlands bereits wnhrznnehmeu, müssen zweifellos an Zahl wie an Vedeutuug sich verstärken, und von ihnen aus muß europäische Art nnd Weise sich weiter nnd weiter über das Land verbreiten- Europa zieht Rußland an sich, mag es sich wehren uud sperreu, wie es will. Handel nlld Industrie und Wisseuschaft siud heutzutage Mächte, v- 2 ü her, Rußland III. 3 34 die ofsen eine so gewaltige Ttoßkraft, hninlich cine so em-schleichende Verführnng entwickeln, daß dagegen keine Negier nngsknnst uiehr helfen will, auch keine Starrheit des Kirchen-thmns, anch nicht mehr Unverstand nnd Trägheit der großen Masse. V. Geschichtliche Ereignisse. 17. Langsam stäligcr Kulturgaug. Es ist noch zu erwägen, ob durch irgend eine gewaltige historische Ennvirkuug in das russische Volk eine Bestimmung hinein gelegt wurde, die nicht bereits dmch seine Lage nud Natur gegeben war. Von Ereignissen dieser Art stoßt nns nur ein einziges in'Z Auge. Die russische Geschichte hat beständig einen gesetzmäßigen Gang eingehalten. In jedem Jahrhundert hätte ein einigermaßen kundiger Veobachter ans den Zuständen, die er vor sich sah, prophezeien tönneu, was kommen mußte, wobei es freilich einerlei sein durfte, ob ein oder zwei Menschenalter früher oder später. Die Waräger wurden als Herren nur gerufen, als sie bereits hier nnd da in's Land eingedrungen waren nnd sich als Herrscher geltend geinacht hatten, während es oentlich geworden, das; die großen rnssischen Gemeinden es zu keinem kraftvollen staatlichen Verbände bringen konnten. Des „apostelgleichen" Wladimir Mutter wurde, als die Icit kam, daß die Russen mit den Byzantinern näher mußten bekannt werden, zmn Christenthum hingezogen, und ihr Sohn oder ihr Enkel hatte sich diesem Beispiel nicht mehr entziehen 36 könucn. Der Fall des Patriarchensitzes anl I^osporus hatte zur natürlichen Folge, daß die Rnssen ihr eigenes Patriarchat erhielten nnd in Religions- nnd Kirchensachen vom Oriente un-abhängig wurden. Die beiden Iwans wmdcn, als das halb geeinigte Reich uon der Oberherrschaft der Mogolcn frei wurde, von selbst angetrieben, es ganz zu einigen, indem sie die Reichsmacht in des Zaren Hände brachten. Peter der Große nnd seine Nachfolger tonnten nicht mehr anders, als sich eine Stelle unter den cnropäischen Staaten zn suchen und deren, Bewohnern ihr Volk durch Reformen anzunähern: hinter ihnen lag Asiens Ocde nnd vor ihnen das so viel herrlichere Enropa, Znfällig, d. h. nicht nothwendig aus dein Vorhergegangenen iu Verbindung mit Weltstellnng, Bandes- und Volksart sich ergebend, erscheint in der ganzen Entwicklung blos der eigenthümliche Charakter dieses oder jenes Herrschers nnd die besondere Art seiner Einwirkung auf Staat und Unterthanen. An schweren Schicksalen' aber, welche das russische Volk nnvermnthet trafen, sind außer dein Einbruch der Mogolen nnr noch drei Ereignisse zn nennen' die Eroberung des Landes dnrch die Gothen, das Eindringen der Polen, der Feldzug des ersten Napoleon. Doch wie gering wiegt das Alles gegen die erschütternden, das nationale Leben in der Tiefe ergreifenden nnd umändernden Begebenheiten, die sich über jedes andere europäische Land hinwälzten! Welchen Einfluß die gothifche Einwanderung hatte, dauon wissen wir wenig: wir können nur schließen, daß das Gothenreich auf den Flächen des östlichen Europa die Erinnerung au eine große Neichseinheit hinterließ. Die beiden andern Ereignisse haben das rnssischc Volk wohl Opfer gekostet, musiteu aber nnansbleiblich sein Nationalgefühl und damit das Streben nach besseren Zuständen erwecken. Die Mogolenherrschaft aber hat ohue Zweifel den ohnehin schon schwerfälligen Knltnrgang der Rnsseu noch mehr verzögert, keineswegs jedoch ihn ans längere Zeit unterbrochen. Anch 3' -ein tapferes Volk konnte wohl von diesen nenen Hunnen nieder-gerannt werden, denn ihre Geschwader kamen hcrangebraust nnabsehlich, fünfzig oder sechszig tansend Pferde stark. Allein jedes andere Volk, als die Russen, hätte, als es das Unglück traf, von rohen Horden unterjocht zu werden, entweder gerungen und gestritten, bis es im grimmen vergeblichen Kampfe zusammenbrach, oder es hätte sich später mit aller Seeleukraft innerlich erhoben und bei seinen christlichen Nachbaren Hülfe Nath nnd Stärkung gesucht. Die Nüssen thaten keines uon beiden: sie ließen das Elend über sich ergehen, in welchem die Schmach größer war als die Noth, duldeten, beugten nnd schmiegten sich, und harrten aus. 18. Die beide« Kosakcustlmtcll. Die Mogolcnherrschaft und was ihr in Klcinrnßland folgte, die Eroberung des Landes durch die Lithaner und später durch die Polen, hatte außerdem, daß sich nutcr dein Schntze des GroßkhanZ die Gewalt des Moskaner Zaren fast über alle Großrnsscn ausdehnte, noch eine andere Folge. Als Moskaus Stern zu glänzen anfing, erlosch das Feuer auf dem alte» Kulturheerd zu Kiew, uud während das Neich der Grosirussen sich stärkte, wurde das der Kk'iurnssen zerbrochen. Ans diesem historischeu Ereignis« ging aber ein anderes heroor, welches Rußland seinen Hnuptschat; an Nomantik einbrachte, seinem Binnenhandel Charakter nnd Mittelpunkt gab, nnd seiner Geschichte einen nenen beweglichen Geist mittheilte, der znr Eroberung nnd Besiedeluug uuermeßlicher Wüsteneien im Süden nud im weilen Osten führte. Vor dem Andrang und Wuthgehenl der asiatischen Horden flüchteten freie Krieger in die Steppe, sammelten sich, fristeten ihr Leben so gnt sie konnten durch Jagd und Ranb, Viehzncht und etwas Ackerban, nnd als ihrer mehr wnvdcn, unternahmen sie Raub« Mgc nah nnd fern, und damit diese besser von Statten gingen. Z8 begannen die uereiuzelten ,Yalifen, sich untereinander zu verbrüdern und eine gewisse Ordnung und Halwtmanufchaft ein-zuführen. Die erste staatliche Verbindung der Kosaken, so naunte man von jeher frei nmherschweifende Räuber und Krieger der Steppe, fand um die Mitte des dreizehnten Jahr" Hunderts statt, als der Mogole in den Kiew'schen Landen wüthete, und sie wurde vollendet zwei Jahrhunderte später, als die Lithauer dieselben eroberten nnd neue Schaare» von Hab^ losen und Verzweifelten sich in die Einöden warfen. Dies wiederholte sich in noch größerem Maßstabe bei dem räuberischen Schalten und Walten der Polen in Kleinrnßland. Damals wurde der ewige Krieg gegen sie förmlich zum politischen und. sozialen Grundgesetz der Kosaken erhoben. Der große Name, welchen jetzt die Kosaken sich »lachten, zog Abenteurer lind Flüchtlinge aus allerlei Völkern herbei, lind es bildeten sich dnrch diese Mischung zwei Staaten freier Krieger, — die Einen am nutern Dnjepr, zwischen den Wasserfällen des Stromes und dem Meere, die deshalb „die, jenseits der Wasserfälle" oder die Snporoger hießen, — die Andern am untern Don, welche man „die Don'schen" nannte. Es war hier dieselbe Mischung und Verschmelznng uon allerlei cnropäifchem nnd asiatischein Volke vor sich gegangen, welche den Unterschied zwischen G«ß° und Kleinrnssen bedingte. Den Saporogcr Freistaat gründeten hauptsächlich Slaven, nämlich Kleinrnsfen und Polen, zn welchen sich versprengte Neste von Chasaren Polowzern und Petschenegen einstellten, während die Tonschell Kosaken aus Großrussell mu einem starken Ansatz uon Mogolen nnd einem gcringereu voll Tschcrkesscn bestanden. Die Kosaken hießen jeden Tapfern willkommen, der aus Bedrängnis; in die freie Steppe flüchtete nnd ein flinkes Roß mitbrachte. In ihrer Verfassung waren beide Freistaaten sich ähnlich. Nicht Vorbedacht sondern die Natnr der Dinge hatte sie geschaffen. In freier Volksversammlung beriethen sich die Männer 39 und erwählten ihre Obersten nnd Hanptleutc, und wenn sie die-selben erkoren hatten, verbeugten sie sich vor ihnen nnd ftreneten Erde auf ihr Hanpt znm seichen der Unterthänigkeit. Das hielt sie aber keineswegs ab, die Führer abznsetzcn, »uenn diese Unglück hatten oder sich unlieb machten- Das Leben und Treiben der Kosaken ging auf Ranbzüge und Kämpfe gegen alle benachbarten Völker, gegen Nüssen nnd Mogolen, Polen und Lithauer, Türken nnd Rumänen. Vald flogen ihre reisigen Geschwader über die Steppen, bald eilten ihre kleinen schiffe, gleich geschickt für Segel wie Ruder, die Flüsse hinunter iu's Meer hiuaus, um die Küstenbewohuer zu überfallen nnd 511 plündern. Bis tief in Kleinasien hinein dehnten sie ihre Ranbzüge ans. (5in rechter Kosak mußte gleich gnt das Ruder wie die Lanze zn führen, das Roß im rasenden Lauf zn lenken wie die Segel in stürmen nud Wogendrang zu richteil verstehn, (5i>le ganz ähnliche Erschciunug waren die verbiindeten Zeevänber, welche Pompcjno besiegte, und die (Mensen. Die lüedcrlänbischeli Freiheitskämpfer hatten ihre schwer zugänglichen Verstecke zwischen den Inseln und Untiefen der Meeresküste nnd brachen hier nud dort hervor, nm die Tpanier und deren Allhang mit Raub »ud Krieg heimznsnchen, 1l>. Historische Gesetze. Ueberschant ma»> mm den in langsamer Breite sich fort--schiebenden Gang der russischen Geschichte, so wird darin abwechselnd tnrzes Anschwellen nnd langes Niedersinken deutlich. Das Volk nimmt einen Aufschwnng nach hartem Anstoß von anßen oder wenn ein gebieterischer Yerrscher Wille uom Throne herab eingreift. Dann aber braucht es gewöhnlich eine lange stille Zeit, nm sich mit den neugeschaffenen Znständcn abzufinden, während ieder kräftige Wuusch uud Wille zu schlummern scheint. Nachdem die Waräger einen Ttaat anfgerichtet haben, be- 40_____ ginnt ihre Schöpfung alsbald schwächlich zu werde»; sie zersetzt sich mehr und mehr, bis es gegen Ende des zwölften Jahrhunderts über fünfzig Theilfürsteu giebt. Das Christenthum theilt sich rasch dein ganzen Volke mit, dann aber fängt es sofort zn erstarren an in der byzantinischen Art und Fassung, in welcher es nach Rußland gekommen: es bildet sich nicht weiter, weder in nationaler noch in evangelischer Weise. Als die inogolischen Horden deu Horizont ucrdunkeln, giebt es im Volke weder eine nationale, noch religiöse, noch politische Widerstandskraft. Kloimnnthig verharrt es in seiner Schmach Jahrhunderte lang, bis in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts eine neue Reichsbildung beginnt und die beiden Iwans alles nieder treten, was noch selbstständig sein Haupt erheben will. Das Ergebniß ist, daß Reich Staat nnd Zaren« Herrschaft durch ein einziges Wort ausgedrückt wird. Durch die Freistaaten der kühnen Krieger am nntern Ton und Dnjepr wird die russische Geschichte um eiu paar färben helleVlätter bereichert. Während aber dieGeuscunud die eilicischeu und kretischen Ceeräuberbündnisse etwas Vorübergehendes waren, bestanden die Kosakenstaaten, -^ geschlitzt durch die Schwäche der uächst benachbarten Völker, noch inchr onrch die Entlegen-heit der Steppe nnd die Unmöglichkeit, ein Kricgshcer darin zu ernähren, — Jahrhunderte lang und konnten daher nicht ohne Nachwirkung bleiben. Die Ideen uud Schilderungen vom freien Kriegerleben auf nnbegränztcr Steppe haben sich ebenso fortgepflanzt, wie die zahllofeu Kosakenlieder. Seitdem jene wilden Freistaaten im russischen Reiche aufgingen, theilte sich demselben ein uncherschweiscnder Geist des Vordringens und Eroberns mit. Kosaken waren es ja, welche das Land an der obern Wolga in Besitz nahmen nnd Sibirien eroberten, nnd wenn der ebenso unwahre als zugespitzte Witz Napoleons ^Europa wird republikanisch oder kosakisch" zum geflügelten 41 Worte geworden, so geschab es uur, weil das poetische Bild des Nüssen in Enropa ein wilder sorgloser zugreifender ilosake geworden. Der Einfall der Polen wie der Franzosen hat einen großen Haß gegen die Westländer ,nnfgeregt, zugleich aber ein An-schwellen des Volks- nnd Selbstgefühls. Nach Vertreibung der Polen nimmt die Nation selbst ihre Geschicke in die Hand, sie erhebt ein neues Herrscherhaus, die Aojaren bilden eine Art Reichsrath, Abgeordnete der Geistlichkeit des Adels nnd der Städte treten zu einer Art Parlament zusammen. Nach der Wiederkehr aus den Feloziigen nach Paris erwacht die Einsicht, wie weit Rußland noch uon bürgerlicher Freiheit entfernt sei, nnd besonders unter der Jugend giebt sich eine lebhafte Sehnsucht darnach knnd. Allein es wurde Peter dem Großen nnd Nikolaus gar leicht, das glimmende Fener in den Gemüthern auszutreteu. Ein anderes historisches Gesch gab sich kund in Rußlands Verhalten gegenüber großen Nachbarvölkern. Wenn eine gewaltige Machi an ihren Gränzen emporsteigt, ziehen die Russen sich gern mit Phantasie nnd Denken davon zurück und wenden sich nach einer anderen Richtung hin. Fängt aber der Gefürchtcte, wieder zu sinken an, dann werden sie uon einem Gefühl der Leere dort und des eigenen Schwergewichts augetrieben, sich nach dem Gebiete jener Macht hin zu bewegen, Drei Veispiele werden dies deutlicher machen. Der Mogolen^ staat der goldenen Horde, so locker er gefügt war, hielt doch Mnz Nusilaud im Zaum. Der Haß aber gegen die asiatische Barbarei trieb die Russen dazu, sich langsam Enropa zn nähern. Erst als das Mogolenreich iu Schwäche sank, fingen sie an, sich der Wolgagegenden zu bemächtigen. So lange das mittelalterliche deutsche Reich so breit nnd machtvoll nnfgerichtet dastand, daß sein Schatten drohend über die slavischen Bänder hinüber nach Osten fiel, keimte bei den Russen keine Vorstellung, daß sie nach Westen oder Norden sich 42 ausdehnen könnten. Neigung dazu erwachte erst, als die Ge-sammtstärkc der Dentschen zerbröckelte. Als die Türken Konstantinouel eroberten, war den russischen Gedanken die Richtung nach dem Bosporus uerschlosscu, sie wendeten sich nach der Ostsee nnd den polnischen und kosakischen Ländern hin. Erst dnrch die österreichischen Siege wurde der Zar nufgerufeu, der zurückweichenden Türkenmacht aufdemFußezu folgen- In den letzten hundert Jahren übt uun das unaufhaltsame Sinken der Türkenmacht einen starken Einstich auf die russische Geschichte. Sie bekommt einen entschiedenen Zng nach dem Süden hin und weiter über ihr eigenthümliches Volksgebiet hinans, deun man fühlt iu Rußlaud, daß jeuseits der Siid-Gräuze oiue grosie Leere eutstaudeu ist. ^iilsilnud nimmt den alten Kosaken Kampf aegen die Türken mit größerem Orfolge auf nnd setzt mit uollstem Recht seiue Ehre darein, jetzt der Vorkämpfer der Christenheit a,ca,en die blutigen Barbaren zu sein. Seitdem regt sich im ganzen Volke ein ncucr kriegerischer Geist, welchem die Regierung Rechnung tragen mnß. VI. /ollMNlNM. 20. Hoffnungslose. Es ist also — das ist das Ergebniß unserer Untersuchung — Gewißheit uorhandeu, das Nnsscn-Volk könne sich auf die Höhe eines europäischen Knlturstaates erheben, ohne deshalb seine nationale Eigenart einzubüßen. Bei den zahlreichen nnd talentvollen Dichtern der russischen Romane nnd Novellen — Krcstowsty (Iran Nadeshda Saiont-schewskij?), Schedrin (Saltykow). Michailow, Poticchin, Graf Leo Tolstoi, Fürst MestscherSkij, Pestscherskij lMelniko,v) — ist freilich wenig von dieser Znversicht anzutreffen: >i>n so allge^ meiner erbeben sie sich einer dumpfen Verzweiflung. Sie suchen, gleichwie die beiden großen Meister Gogol nnd Turgenjew, die splitternackte Wirklichkeit ihres Volkes zu zeichnen; sie verweilen fast immer, gleichwie die Franzosen erst nach ihrem großen Nationalnnglnck thaten, bei solcher Selbstschau: durch-gängig aber ist die Schilderung düster, gran in gran, selten durch ein Sonnenlächeln, einen flüchtigen Vlüthenhauch verschöllt. Einstimmig schildern sie, wie bei den Russen in Menge herrliche Ideen aufblühn nud wieder untergehn ohne Frncht, ttntergehn in flotter Leichtlebigkeit, oder im rohen gemeinen Getriebe, das alles Edlere leicht überwuchert. 'Die Beamten werden dargestellt baar jeden Ehr- uud RcchtZgcfühles, der 44 geringe Mittelstand als gleichgültiger Zuschauer, der Bauer inid Handwerker als gefangen in ewiger Stumpfheit Ohninacht nud Trunksucht. (5s herrscht in uielen dieser Erzählungen eine gewisse kalte Bosheit, welche das Elend des Vaterlandes bloßlegt, ein grausames prüfendes Hineintasten, wie tief und trostlos seine Wunden, ein stiller Hohn, mit welchem jede dauernde Energie, jede Möglichkeit sittlichen Aufschwunges geläugnet wird. Uns scheint diese Verzweiflung, welche die sogenannte Anklageliteratnr beherrscht, völlig unberechtigt, wir erklären sie auch um aus der wohlbekannten ungeduldigen Großmannssucht. 2l. Schwierigkeit und Gefnhr. Wohl aber ist eine allgemeine Besserung der Zustände schwierig, stockend, leicht unterbrochen. Erstens hat jeder Fortschritt in Rußland mit größereu Hiuderuissen zn kämpfen, als irgendwo anders. Zweitens alier erfolgt er nicht dnrch eine helluolle sittliche Erregung und Erschütterung des gesummten NolkeZ, so daß all seine Lebensgeister sich rühren nnd regen müßten; denn nicht von inuen uach außen geschieht hier die Bewegung zum Bessern, sondern von außen uach innen. Aenßerlich wird das gute Neue augenommcn nnd uou außen muß es nach iuueu wirkeud das Volk umwandeln. Taraus ergiebt sich nnn eine zwiefache Folge, ein eigenthümlicher Eharakter der Bewegung nnd eine große Gefahr für dieselbe. Das Aufsteigen zn einer höheren Stnfe von Aildnng nnd Wohlstand kann in der ganzen Breite des Volkes nur in außerordentlich langen Zeitränmen vor sich gehen. Gerade die Nnschhcit, nut welcher gebildete Russen sich zur Bildnngshöhe emporschwingen, schadet: sie springen gleichsam ans ihrem Volke heraus und haben fortan keine Einwirkung mehr darauf. Eine 45 schwere Decke, die über einem Volke liegt, zerbricht nur durch du? Anschwellen Drängen und Anstemmen Aller, die darunter sind, und nicht dnrch die Einzelnen, die sich eine Oeffnung bohren nud als befreite Vögel davon fliegen. Die (Gefahr aber besteht darn«, daß bei der Menge nnd Stärke der Fesseln, die ins rnssische Volks' Staats- nnd Kirchenwescn sich ciuklammern, nnd bei der inneren Schwäche, nnd Zartheit der ankämpfenden sittlichen Kräfte jedes Ereignis;, das im Lanfe der Geschichte wie ein Rückstoß oder nur wie ein augenblickliches Hemmnis; der Bewegung empfunden wird, sich gar leicht weithin wie eine Lähmung verzweigt, eine Lahm-ung, die zn überwinden stets wieder längere Zeit kostet. Wir pflanzen Palmen für unsere Enkel — dies indische Sprüchwort ist freilich gar nicht nach dem Sinns der gebildeten Nüssen. Nicht ein winziger, der nicht ungeduldig „Vorwärts, vorwärts!" lounnnndiren möchte. Allein die, Beschleunigung läßt sich nur erwirken durch Mühn und Ringen mit gesammten Kräften, dnrch entschlossenes Arbeiten auf das nächst Nothwendige hin. Was also thun? 22. Nothwcndisse Verzichte. Was thun? Die erste Antwort ist ein bitteres Wörtlein, es heißt Entsagen, und dieses Wörtlcin faßt gar Vieles in sich. Rußland mnß entsagen allen Gelüsten nach Primat und Führerschaft anßer feinen Grenzen, allem gewaltsamen Groß-russischmachen iin eigenen Lande, ja sogar allen Ideen, eine absonderliche russische Kulturwclt zn schaffen. Rnßland hat alle feine Kräfte nöthig für feine innere Arbeit, es hat durchans uichts dauon übrig für das Ausland, auch nichte für Tmnme und Illusionen. Es umß bestäudig seinen Arbeitsblock vor sich sehen in seiner ganzen Nacktheit und Größe. Dreifache Entsagung also! 4K Rußland ist reich an Getreide und Vieh, an Hol; nud Eisen, aber arm an Geld. Mit schwerer Noth befriedigt es seine Staatsbednrfnisse, bei jeder kriegerischen Anstrengnng, nnd sei sie auch verhaltnißmäßig nicht bedentend, ergiebt sich sofort nnd unvermeidlich ein nngehenres Defizit.') Dieser Noth nnd beständigen Gefahr, die in Unsicherheit nnd furchtbarem Schwanken der Finanzen liegt, >väre anf ein Mal ein Ende gemacht, für die dringendsten nnd ni'chlichsteu Uuteruehmnugen nnd Fortschritte wäre Geld genug vorhanden, wenn man sich entschließen könnte, den einen großen Schritt zu thun, nämlich das Heer nm die Hälfte zn vermindern. Die andere Hälfte winde mehr als hinreichen, Rnhe im Innern und Ansehen an den Gränzen zn behauuteu. Um aber das Heer anf die Hälfte stelleil zn können, müßte man entschlossen anf alle Händel nud Kriege, alles Ränto spinnen und Unrnhestiften außerhalb des Reiches verzichten, Nnßland braucht das nicht, es genießt in der Welt hinlänglich Achtnng. Gründlich mnß also nüt den alten Lieblingsideeu gebrocheil werden, alle Völker griechischen Glaubens, alle Völker slavischer Abstammnng unaufhörlich zn reizen, anzuziehen und wie Planetensterne nm die russische Sonne zn reihen, nnd diese rnhlosc Thätigkeit so lauge fortzusehen, bis die Zeit gekommen, wo die kirchliche und nationale heerfolge in eine politische zu verwandeln. Jegliches Negiunen dieser Art verzehrt gar zn viele Geld und Geisteskräfte, die man bei sich zu hause viel nöthiger hat, Uebrigcns scheint es anch, als wäre die goldene Zeit der rnssischeu Diplomaten vorüber. Man kennt jetzt diese Herren des blendenden Scheins und der verführerischen Rede ziemlich genan, uud durchschauet ihre dünste wie ihre Absichten. Das Nussenthum müßte sich sogar auf seiuen Hauptkern >) Man vergleiche dir VcrcchmmlMi von 18.14 bis 1«?2 bei Sanrauw „Das russlschc Reich seit dem ,Nrim-Kriege", Leipzig 1878, 47 zurückgehen und die Deutschen und Letten, die Kleinrusseu und Polen, die Finnen, Tataren und Tschcrkessen in Frieden lassen mit ihrer Neligion und Nechtsauschaunug. Sprache und Volks-sittc. Zersetzt, zerriebeil und zu Großrussen gestempelt, vermehren sie nur die Zahl: gedeihen sie aber in ihrer Eigenart frei nnd unbehindert, so kann Nußland gerade diese verschiedenen natio-unlen Kräfte vortrefflich brauchen und zu eigenem Ncsten vcr--luenden. Verzichten endlich müssen die Rnssen anf die Einbildnlig, als hätten sie das Zeug dazu, eine nene Kulturepoche herauf zu führeu, Dergleicheu Ideen sind nnr Zeichen der erst beginnenden Aildung. Ein junger Mensch, der spät zn studiren anfängt, konnut geivöhnlich zu ganz ähnlichen Selbstvorspiegel-nugen, wie sie so thöricht in russischen Schriften sich nmher-treiben. Es giebt eben -^ das kann nicht oft genug wiederholt werden — für die Menschen dieser Erde nnr eine einzige Civilisation, nur eine einzige Kunst und Wisseilschaft, gegründet genährt uud fortgebildet durch uuaufhörliches Zusammenarbeiten all der edelsten Völker des Alterthums, des Mittclalters, der Neuzeit, uud bis jetzt haben die Nüssen, so alt ihre OMichte, doch uon ureigenen Kulwrideen noch weniger kundgegeben, als Japaner und Araber, uud auch diese Völker müssen sich schließlich der europäischen Gesittung anschließen. ä.'t. Redliche Arbeit. Ter Absage aber einer unheilvollen, mindestens vergeblichen Thätigkeit muß selbstverstäudlich die schöpferische auf dein Fuße folgeu. Was oeu Russen allein helfen kann, was ihnen aber auch sicher helfen wird, das ist redliche Arbeit im .Hans nnd anf ^'>u Felde, im Staat nnd in der Gemeinde. Verständige nnd ausdauernde Arbeit macht den Einzelnen froh, und nnr dadnrch wird auch ein Volk geistig gesund, wohlhabend, kraftvoll nnd 4« gebildet. Nur durch Gewöhnung on tägliche unverdrossen!.' Arbeit wird nils Rußland die Menge der Menschen verschwinden, die da ewig tranken an Nnbefriedignng, am Bewußtsein eines hohlen leeren Daseins, wo Herz und Beutel leer sind und, was das Schlimmste, in Hirn und Annen die Spannkraft versiegt. Bekanntlich ist die Schell gerade uor pi'mktlicher ausdauernder Arbeit ein Nationalfehler der Rnssen. Aber sollte nicht der weit verbreitete Aergcr über diese Schell nnd den Schein uon Bildung, die Verzweiflung an dieser Hnlbkultnr, die nur wie ein schimmerndes durchsichtiges Gewebe die alte Nohheit verbirgt, sollte diese bittere Selbsterkenntniß, die sich so allgo mein ill der russischen Zeitnngs- nnd Novellen-Literatur aus-spricht, nicht anch dafür bürgen, daß inan endlich Ernst damit machen wird, jenen unglückseligen nationalen Hang nnd Leichtsinn zn bekämpfen? Daß Russen arbeiten können, arbeiten mit Geist nnd Ans duller und vorzüglichem Erfolg, das beweiset die schöne Reihe ihrer tüchtigen Forscher auf dem Gebiete der Geschichte, insbesondere der Rechts- Kirchen» uub Kulturgeschichte, uicht minder auf dem Gebiete der Länder« und Völkerkunde, das beweist anch die viel längere Reihe ihrer Männer des Handels, des GroßgcwcrbeZ und der Presse, die durch Verstand Fleiß und Ausdauer reich geworden. Nnr ans dein Gebiete des Staats-nnd Gcnieindelcbens zögert die ruhige Energie noch immer sich allgemeiner zu offenbaren. Und doch geben ia eine ganze Reihe russischer Staatsmänner der neuesten Zeit das Beispiel, wie viel ein Mann leisten kann, wenn er klug nnd beharrlich bei der Stange bleibt. Mögen daher die ächten Vaterlaudsfrenude, deren Beruf es ist, in den Staarsämtern, in den städtifchen Dnmas nnd den örtlichen Landtagen, in der Schnle nnd in der Presse zum allgemeinen Besten zu arbeiten, mögen sie einander das Wort geben, unverdrossen zu schaffen für das wahre Volkswohl, einen 49 Stein nach dem audcrn zum großen Van zu tragex, sich durch keine Nlisierfolge, keine der plötzlichen Lnhmuugen, die sich in Rußland so häufig und nnvermuthct einstellen, irre uiachen zu lassen. Ihr Beispiel und ihre Anreqnug wird allmählig Früchte traben. Der redlichen Arbeit hat noch in keinem Lande der Lohn gefehlt, und der Boden des russischen Volkes ist, wenn auch härter nud steinMr, als bei andern Völkern, doch auch ein menschlicher Boden. d. Löl, er, Rußlaich III, VII. Erschließen des Landes. 24. Eisenbahnen. In erster Linie steht die Aufgabe, Nußland nach allen Seiten aufzuschließen: das geschieht dnrch Vermehrung der Verkehrswege. Viel ist in den letzten dreißig Jahren geschehen, viel muß noch folgen. In erster Linie kommen hier die Eisenbahnen. Anf diese ist gerade Rnßland um so mehr angewiesen, als Schneestürme im langen Winter und langdauernde nasse Kothzeit im Frühling und Herbst den Verkehr im Lande so außerordentlich erschweren. Im Jahre 1855 hatte Rußland erst 1000 Kilometer Eisenbahn, im Jahre l868 auch nur erst 7N00, cilf Jahre später 24,500. Iu deu zwei Jahren des französisch-deutschen Krieges wurden allein 5677 Kilometer neuer Bahnen den: Verkehr übergeben. Wie wenig aber noch immer diese Zahlen bedeuten, erhellt aus einem Vergleiche mit anderen Ländern. Es besitzen anf 100 Quadratmeilen Belgien........13.5 Meter Eisenbahn England.......9.3 „ Deutschland ...... 5,8 ,, „ Holland ....... 5.8 „ „ Frankreich .......4.6 „ „ Oesterreich'UncM'n .... 3.2 „ „ Vereinigte Staaten ... 1.3 „ „ 51 Schweden ....... 1.1 Meter Eisenbahn Türkei........ 0.40 „ Europäisches Rußland . . . 038 „ „ Tasmania....... 0.A7 „ « Japan........ 0,2'., „ Also es ist kaum noch ein Vergleich mit Enropa möglich, es sei denn mit der Türkei, nnd anch von dieser wird Rnßland noch übertroffen. Es hebt sich nur eben über die Insel Tasmania bei NeuHolland nnd über Japan, das überhaupt erst in europäische Gesittung eintritt. Nordamerika, wit welchem Rußland in Ausdehnung nnd Handeltrciben so manche Aehnlichkeit hat, besitzt drei Mal so uiel Eiseilbahnen. ^) Lassen wir aber Rußlands gering besiedelte Landstriche ans dein Spiele nnd stellen bloß in Vezua, ans die volk- nnd ge-werbreichsten einen Vergleich an, so lantet er etwas trostreicher. Es zählen in Preußen die Provinzen, die am wenigsten mit Eisenbahnen bedacht sind, nämlich Pommern nnd Ost Prenßen, auf zehn Quadratmeilcn 1,66 bis IM Bahnmeilen: in Rußland kommen in den bestbeglückten Gonvernemcnts, nämlich Moskau Tula Orel, auf je zehn Quadrntmeilen doch schon 1 bis 1.^ Bahnmeilen.") Eines andern Ilebelstandes geschehe hier Erwähnung. Es webt kein Land, in welchem auf den Eisenbahnen so große Unsicherheit herrscht, als in Rußland. Haarsträubende Geschichten werden erzählt, wie Reisende betäubt und beraubt werden, wenn sie meinen, im behaglichen Bahnwagen sicher zu sein. Anf den Linien Woloczi)ska-Odessa, Brest-Kiew, Warschau-Petersburg soll kein Tag vergehen, wo nicht Reisende be» stöhlen werden. Dergleichen wäre nicht möglich, wenn nicht ') Meyers Deutsches Jahrbuch, Leipzig, Bibliogr. Institut, 1880, 2) v, üengcnfoldt Richlaud im 19, Jahrhundert, Berlin 1375, Seite 154 ff. 52 Vahnbedienstetc im verbrecherischen Büuduisi mit den Gaunern ständen. 25. Auderc Verkehrsmittel. Mit diesen stchl es ähnlich wie mit den Eisenbahnen. Die großen Flüsse und Seen Rustlands haben sich nnste mein rasch mit Dampfern bevölkert, Im Jahre !.^52 stab es nnr etwa 80, füilfzehll ^ahrc später schon achtmal soviel. Ist die Zeit des Hochwasser^, so tonnen Flnßdampfer vom Hanpt ström in die Nebenströme, ans dieseil ill unzähliche Nebenflüsse hineinfahren, aller Orten finden sie tiefes Wasser. Doch die schone flotte Zeit danert nicht lange. Der lange Winter deckt, die Flüsse mit Eis, die lange Sonnenglnth entgeht ihnen das Fahrwasser. An Dampfschiffen aber sür weite Fahrt hat Rußland bloß 151, während das kleine Dänemark l, Deutsch-land :>l0, Frankreich 54»;, England ',X>5, besitzen. Anzahl nnd Tragfähifiteit der Tesselschisfe znr Cre stehen ganz anßer Hier< hältnisi znr AnodehnllNst der ,Mstenlittien. ^s stiebt noch nicht !^000 rnssische Testelschiffe uüt noch nicht einmal 400,000 Last, und die Vemmmnnst dieser Schiffe besteht zum geringsten Theil an5 Nnssett. Ans dem schwarzen Meere fährt nntcr rnssischer Flagste der (krieche, ans der Ostsee der Finnländer nnd Deutsche. Was Diese nicht leisten, beschafft der englische Güterdampfer. Rechnet man die Handelsflotte Finnlands ab, die stets für sich selbst zählt, so nimmt das ungeheure Nnssenreich auf der See die neunte Stellung in Enropa ein, noch nnter den Spaniern nnd Schweden, Der Postenlauf kostet der russischeu Regierimg uur 2 Milliouen Mark jährlich. Freilich kommt auch erst nils 1^,700 (Äuiuohuer eine Postanstalt, während in Deutschland scholl auf 4,800, Auf eiuen Dentschen fallen im Jahre durchschuittlich nahezu 28 Briefe, auf eiuen Eugläuder doppelt so uiel, auf einen Russeu noch nicht 2 Postsendungen überhaupt, Vriefe Zeitungen nnd Packete 53_____ zusammen gerechnet. Nur der Türke schreibt noch weniger, auf einen Türken kommt im Jahre nur etwas mehr als V" Vrief. In Oesterreich ^ llngarn ist es der Magyarc Rumäne nnd Slouake, der sich nüt Schreiben nicht uiel abhiebt, jedoch treffen anf einen Einwohner des Kaiserreichs noch 12 Briefe. Die Verwaltung des Telegraphenwesens ist dagegen in Mßland besser bestellt, sie hat im Jahre einen ^ostenüberschuß, der sich wohl auf 5 Millionen Mark beläuft. Es hatte im Jahre 1879 Telegr, Aemter Leitlinien Gebühren Kilometer Länge Mill, francs Dentschland ','2',»:.' 2^'»^ 19 Perein, Staaten W77 375 64 Oroßbrittanieu 5^'j6 184 36 Frankreich 5184 1,^2 23 Oesterrcich-Ilngaru :><>86 144 11 Rnßlaud 2:;2<) 143 22 Italien . 22,! l 84 10 Schweiz 1104 1l> 2 Rußland nahm also an Z Millionen "vranc^ Telenramin Oe^ bnhren mehr ein als Deutschland, obgleich die Zahl der beförderten Telegramme U Millionen weniger bctrna,. In Dellts6)land istnämlich das Telegraphireu billig, oiel billiger als in Rußland, «her anch billiger als in Amerika England nnd Frankreich, Es kominen aber auf emeu Einwohner in Rußland des Jahres ungefähr <' Tcl> gramme, in Oesterreich Ungarn 1',), in Dentschland 26, und eine Telegrapheuanstalt genügt in Rußlaild fiir ^»,700, in Oester' rcich-Uugarn für 5,7<><>, im deutschen Reiche für 5,200 Einwohner/) Dies ist ein uerhältnißmäßig günstiges Ergebniß für Nußland, welches sich dadurch erklärt, daß der Rmse lieber ') Meyers ^ahrlüich. 2ei, lvl>>, 8'>2, .lonina! !,^wfI,l,ino für 187!i, Allgriileine Zcituxg ix^» Handelsbcila^c 2>'>1, 54 ein kurzes Telegramm schreibt für seine weiten Entfernungen, als einen langen Brief, der Zeit nnd Mühe fordert. Jetzt benutzen in Rußland noch hauptsächlich Offiziere und Beamte die Verkehrsmittel: im vorletzten Jahre beförderten die Eisenbahnen über 7 Millionen Militärpersonen. Größerer Nutzen wird sich erst dnrch die fortschreitende Vclebnng des Handels ergeben, dazn sind aber Landstraßen erforderlich. Diese sncht man noch in den meisten Gegenden Rußlands vergebens. Im Schwarzerdegebiete tonnen, sobald es Regen- oder Than-wetter giebt, zwei Gespanne Pferde kaum eine leichte Kalesche fortbringen. Hoffentlich kommt für diesen reichsten Landstrich noch die Zeit, wo für kürzere Strecken Anlage von Perdebahnen sich lohnt. Holz und Eisen kann ia ans Rußland selbst beschafft werden, nnd der Boden ist tafeleben. In den Gegenden aber, wo es Steine giebt, werden sich durch Frohndeu, welche der Staat erheischt, doch einigermaßen fahrbare Wege herstellen lassen. Wer durch die Vereinigten Staaten reiset, erstaunt über die zahlreichen Kanäle, welche das Land ourchziehu, und über die Gütcnnenge, die sich auf ihnen in der billigsten Weise rasch fortbewegt durch ungeheure Entfernungen, In Rußland verwnudert man sich über das gerade Gegentheil. Was ist nicht schon geplant nnd vermessen, nm Kannlucrbindnngen durch das ganze Reich zn schaffen! Der Marienkaual zwischen den Seen Onega nnd Bjelo Osero und der Königskanal zwischen den Flüssen Bug uud Dnieper, welche die wichtigste Strecke zwischen der Ostsee nnd dem Kaspischcn nnd Schwarzen Meer vermitteln, geben herrliche Beispiele. Allein noch immer machen die Kanäle nur Vu<» aus vou den Wasserwegen im Innern Rnßlands, die zusammen sich bis auf ciue Länge von nahe 40 Millionen Kilometer berechnen. Noch immer sind Wolga uud Don und Dnjcpr nicht mit einander verbunden. Und doch ist der Boden so eben, Holz nnd Eisen nnd Arbeitskräfte reichlich vorhanden. Was ist der Grnnd? Liegt er in der _____55_____ Besorgnis!, daß das Winteröls die Ränder der Kanäle ansbreche, oder liegt er in der Furcht vor dein Raubkrieg, deu Beamte nnd Unternelnncr sofort gegen die Gelder eröffnen, welche der Staat zu öffentlichen Anstalten bestimmt? 2U. Ansiedelungen. Mit der Bahn- Weg- und Kanalarbeit sollte Hand in Hand gehen die Aegrünonng uon Ansiedelungen nnd Arbeitslagern. Das Werk mnß im Großen angegriffen werden, eine Tausendzahl von tauglichen Plätzen ausgewählt, die Auswanderung dorthin geregelt, die Ansiedelung unterstützt werden. Das ist ja in Rußland, wo im Bolke noch der nomadische Hang steckt, leichter, als irgendwo anders, zn bewerkstelligen. Aus den nördlichen Landstrichen brachen die Bauern, sobald sie nach der Leibeigeuschafts - Aufhebnng nicht mehr an die Scholle sich gebunden fühlten, schaarenweise auf nach dem Süden. Tie Regierung hat manches Mittel in der Hand, die Gründung uon Fabriten und städtischen Aulagen, die Eröffnung der Erz- nnd Kohlenlager, den Anbau uon Handetopslanzen zu begüustigcn. Erfahrungen, die Lehre, Warnung, Anreiz geben, sind ja gerade in Rnßland in Menge gemacht worden. Wie zuverlässig durch solche Unternehmungen der Verkehr und mit ihm die Kapitalkraft im Lande selbst nnd sein Kredit nach anßen vermehrt wird, dafür ist der Beweis laugst gegeben. Seit die Rcgicrnng ernstlich anfing, Bahnen zu bauen nnd den Handel zn fördern, vermehrten nnd vergrößerten sich Städte nnd Fabriken, stieg die Einfuhr nm das Vier-, die Ausfuhr nm das Fünffache.') >) Verzsi. die statistischen Ausüben im O» thai scheu H o s ka> »nid er bcr lrhten zwanzig Iah«, 56 Das Eröffnen des Landes nach allen Richtungen, dadnrch viel lebhafteres Einströmen von Handel nnd Verkehr in die entlegensten Reichstheile, dnnüt verbnnden eine kräftigere Förderung nnd Leitung der Wander- nnd Ansiedlerzüge im Innern des Reichs — das wird mächtia, dazu beitragen, die Nolksmasse ans ihrem ewigen Hindämmern aufzustören. Diese Masse im Großen nnd Ganzen zn bearbeiten, zu entwickeln, nnd in ihrer Trägheit zn zersetzen — darauf kommt Alles an. Sie gleicht einem weilen Visfelde, das von Nebeln bedeckt ist. Dadurch, daß man es mit Hacken nnd Aerten angreift, thanet es nicht anf, so wenig als von Fenerchen, die hier und dort angeziindet werden. Es muß vielmehr die Luftschichte, welche es durchdringt, wärmer werden, die Atome in dieser Lnft nmssen in Äewegnng gerathen. VIII. öclcbllitg drr VMsnmssc. 27. Eigene >md fremde Kräfte. Kann aber irgend etiva^ da',u dienen, im Volke mehr Leben und Bewegung anzufachen, so ist es das Einsprengen und Ein' pflanzen uou fremden ^olksarten, Rusüand bedarf ihrer noch lauge ^eit. Nur zwei Menschenalter brauchte die Zuströmling fremder Kräfte zu stocken, und die Großrnsfeu wiirden in Bil-dung nnd ^ieriuogen rafch lind unaufhaltsam zurücksinken. Nnn nuhren sich in der neueren ^eit ssanz uon selbst die Nllsländor, welche kommen, in Rußland Handel zu treiben, Fabriken nnd Wertstätten zu errichten, »nd nach Mineralien zu schürfeu. Die Hcchl der Deutschen und l>'na,länder, Franzosen und Italiener, Griechen und Armenier ist seit den letzten zwanzig Iahreu beständig im Wachsen, — gewis; daö untrüglichste Zeichen von Nnsüand^ Anfschwnna,, Die R^iernns, sollte aber ptintinäsiig möglichst viele An^läuder heranziehen und durch Erleichterung ihrer Ansiedwngen nud Geschäfte, durch Verweudeu im Staatsdienste, dnrch einige Jahre Steuerfreiheit planmäßig ihre Vertheilnng über das Reich leiten. Nach uordameritani-fchem Vorbilde wären den lHinwaudereru schon nach kurzem Aufenthalte politische Rechte zu gewähren, damit sie am Ge> meinwohlc sich betheiligen, ohne vor langer Haftbarkeit zurückzuschrecken, Gewik aber darf man es den Fremdeu nicht 58 machen wie den slavischen Gymnasiallehrern, die nach dem An^ stoße, welchen der Slaven Kongreß 1867 zu Mostan gegeben, zahlreich zum russischen Onkel zogen und alsbald, «erbittert durch schmerzliche Erfahrungen, es für räthlich hielten, entweder wieder heimzukehren oder ihre peinliche Lage durch Nebertritt zur russischen Ttaatskirche wenigstens etwas zn verbessern/) Es hegt aber das russische Reich selbst verschiedenartige Volkskräfte genug, nnd es kommt nnr daranf an, mit ihnen den großrussischen Volkskörper zn versetzen. Die Bewohner des Großherzogthmns Finnland, die sich trotz ihrer heimathlichen Armuth darin außerordentlich rasch vermehren nnd sich dnrch Aildnng Bravheit nnd tüchtiges Schaffen auszeichnen, — fast zwei Millionen ^ verbreiten sich zwar leicht an den Küstenländern der Ostsee, siedeln sich aber nicht gerne im Innern von Nußland an. Sie mögen der russischen Wehrkraft, insbesondere der Kriegsflotte, vielleicht an zweitausend Offiziere stelleu. Die finnischen Völkerschaften, die im Innern Nußlands noch hie und da zerstreut sitzen und im Ganzen genommen höchstens noch vier Millionen betragen, sind bei der Enge und Härte ihres geistigen Wesens nicht dazn gemacht, belebend auf andere Natioueu einzuwirken. Im Gegentheil trotz ihrer hartnäckigen Natur laßt sich eine nicht mehr ferne Zeit absehen, in welcher sie in den Großrussen werden aufgegangen sein, Aehnlich steht es mit den nicht mehr zwei Millionen starten Tataren, trotzdem Religion und häusliche Sitte sie von ihren christlichen Nachbnren abscheiden- Gewiß stecken aber im KankasuS noch frische und unternehmende Leute genug, die dazn dienen können, nnter die Groß-rnssen versetzt sich vortheilhaft umznthnu. Ausgezeichnet in jeder Art von Thätigkeit, wozn es Mutter- i) Dr, F, I. Lelesti» Rnnlant» seit Aufhebung der Leibeigenschaft, Lllibllch 1875. S. 2«li—2«8. 59 nutz und Rechnen braucht, sind die Armenier und Kriechen, die den Vortheil haben, unparteiisch zwischen den andern Volksarten zu stehen. Zur Zeit bewegen sich in der russischen Handelswelt etwa vierzigtansend Armenier und doppelt so viele Griechen. Zehnfach aber übertrifft ihre Bedeutung ihre geringe Zahl. Gäbe es mehr Griechen und Armenier in der Welt, würden sie nn-fchlbar alsbald den besten Theil im russischcu Handel befehligen. Deun vor dein hellen und listigen Geist der Hellenen und vor der unergründlichen Schlauheit der Armenier mnsi jeder Andere die Segel streichen. Wo sie hinkommen, bemächtigen sie sich ganz in der Stille einiger Hauptfädeu im Handelsgetriebe, und wo sie einmal sind, gehen sie nicht wieder fort. Weit östlich hinter Tataren, Kirgisen nnd Kalmücken entsteht offenbar eine nenc Volksart, die Sibirier, die nichl bloß viel Eigenthümliches in Charakter und Lebensart, sondern auch eiueu besonderen Lnndesstolz besitzen. Ihrer sind jetzt auf's Höchste vier bis fünf Millionen, nach zwei Menschenaltcrn werden es viermal soviel sein, nnd schon öfter ist prophezeit, sie würden sich dann gegen Rußland stellen, wie einst die nordamerikanischcn Kolonien gegen England. 28. Klciuruffcu und Polcu. Größere Belebung, Lehre und Anlcirnng kaun dem großrussischen Volte außer von denen, die sich ans seiner eigeuen Mitte zn höherer Vilonng aufschwangen, nur von Westen kommen, und da stehen mit in erster Linie die Polen. Diese geben ausgezeichnete Ofsizieve ab, namentlich m der Artillerie nnd bei dem Genie, nnd sind überall als Aerzte Techniker Gutsuer Walter trefflich zu braucheu. Sie sind jetzt beinahe sämmtlich scharf katholischi das; eiu Pole zur russifcheu Kirche übergeht, was früher nicht selten war, kommt nicht mehr vor. Die ka» lholische Geistlichkeit besteht fast in ganz Rußland ans Polen, uuo diese lassen nicht leicht andere aufkommeu, ähnlich wie es 60 die irländischen Geistlichen in Nordamerika machen. Auch nußcr in Religionssachen lassen die Polen gegenüber den Großrussen nicht ab von ihrer schweigsamen nnd etivas schroffen Zurückhaltung. Nas schadet's^ Sobald die Negiernng der Nationalität der Poleil gerecht würde, tonnte Rußland von ihrer Zuwanderung großen Gewinn ziehen. Ganz in der Ttille sollen sie in der lehtern Zeit wieder ill Lithauen, Weiß- nnd Klein-nchlaud zahlreicher werden und trol; der taiserlichen Verbote wieder mehr nnd mehr Güter an sich bringen. Da find ferner die schmieg- und betriebsamen Kleinrnssen, die Jahr für Jahr in Menge in die Tlädte wandern, ihrem Namen einen großrussischen Klang geben nnd ihr Glück zu machen wissen. Würden einmal nnter den russischen Geistes-großen und den Häuptern in Handel und Industrie und Schuld und ZeitnngFivesen gewissenhaft Alle aufgezeichnet, die klein-russischer Herknnft sind, so möchlen vor ihrer 3Ne»ge die Grosirnfsen sich etwas beschäült fühlen. Diese werden felbst von den Weißrnssen, die an uatio-naler Kraft so schwächlich, weit dahinten gelassen, wo eo antommt alif geistige Kraft nnd Auodauer, IX, ycittsche imiftc. 29. Meugc u»V Etellung dcr Deutschen. Von den Deutschen nnrd ihr ärgster Gegner fc!)werlich etwas Anderes behaupten können, als das; sie aller Orten, wo sie in Rußland thätig sind, in der Nessel dein Lande zum Segen ssereichen. Ihre Anzahl beträgt jetzt über eine Million, sie verstärken sich aber fort nnd fort dnrch Zuzügler. Nir veden in Deutschland stets uou unserer grosien Auswanderung nach Nord und Südamerika, nach dem 5laplaude nnd Australien: die Lnnd^leute, die jährlich nach Rnhland gehen und nicht nüeder kommen, werden kaum erwähnt. Und doch sind ihrer in den zwanzig Jahren 1^57 bis 187l', über eine halbe Million ssewesen allein ans den Ländern des deutschen Reichs, ^n dieser Zeit kamen 4,s,05,5'>!> Deutsche über die russische Gränze, es wanderten zurück nur 4,04^,164, verblieben also 557,395. Diesen Verlnst haben wir noch um die reichliche Hälfte zn erhöhen dnrch die Dentschen nnd Deutschssebildeten, welche aus Oesterreich jedes ^ahr in Nnsiland einwandern. Rechnet man diese Alle zn< sammen, so darf man für jedes Jahr 50,000 deulschredende Einwanderer in Ruhland annehmen. Im Jahr, 1877 waren es 30,650 ans dem deutschen Reich nnd ^3,560 aus Oesterreich, während unr I3W ans Frankreich kamen.") ') üuoiu« 852, 62 Diese Ziffern geben annähernd einen Begriff, in welcher Ausdehnung die deutsche Nation in das rufsische Gewerbsleben eingreift. Die vier Millionen aus dem dentfchcn Reich, die in jenen zwanzig Jahren Nnßland berciseten, kamen nicht des Vergnügens wegen oder um Verwandte zu besuchen, fonderu sie machten (Geschäfte. Die halbe Million aber, die zur selbeu Zeit sich in Rußland ansiedelte, belebte Handwerk Handel und Fabriken. Ihrer Zahl nach würde den Deutschen bei Hofe, im Heer und in den höheren Beamtenreihen von 80 Stellen 1 ge^ bühren: sie haben aber inne in den untern Kreisen der Regierenden vou hundert Stellen wenigstens 5, in den mittleren 10, in den höheren l5 Stellen- Je einflußreicher nud bedeutender eine Klasse, um so zahlreicher finden sich Deutsche darin. Die rnssische Armee hat die ungeheure Zahl von l>000 Generälen:') es kommt also, wenu mau eine Million Soldaten bei der Fahne rechnet, anf 125 Mann schon eiu General. Unter den Achttausend sind natürlich eine große Menge verab-schiedeter nud noch mehr Titel-Generäle, höchstens dürfte mau huudcrt Feldobersteu von Bedenwng zählen: uuter dieseu hnn dert mag wohl noch immer mehr als die Hälfte deutschen lli> fprungs sein, obgleich, wie schon erwähnt wnrde, Deutschcuhaft uuter ihnen in den letzten Jahren aufgeräumt hat. Nicht so leicht lassen sich die Deutschen aus den freien Gewerben verdrängen- In diesen mich mau, mil ihre gegeuwärtige Zahl nud Bedeutung in den größeren Städten Nußlands zu wür» digen, die eben erwähnten Prozentsätze verdoppeln, jedoch in umgekehrter Reihenfolge, da Handwerker Werkmeister Musiker die größere, Fabrikanten Kaufleute Aerzte die kleinere Zahl bilden. l) v. Moltte Ncise nach NMaub 182, 63 30. Gründe dcs Gewichts der Deutschen. Der Grund diefer Stellnug der Dcutscheu liegt einerseits iu ihrer Thätigkeit, andererseits in der Geschichte der Deutschen in Rußland. Kein Talent, doch ein Charakter, — schrieb Heine einmal über einen Gegner — von den meisten Nufsen gilt das gerade Umgekehrte. Man könnte gleich hundert heruehmem. ihnen eine Sache obenhin begreiflich machen, und sie schrieben gleich einen geschickten und fenrigen Artikel darüber, aber nuter den Hundert würde kaum Einer sein, dein die ruhige dancrndc Energie inuewohnte, die dazu gehört, ein gediegenes Werk zu verfassen. Die Deutschen besitzen keineswegs mehr Geist nnd Geschmack, als die gebildeteren Nüssen: aber ihr Verstand nnd Wille ist nachhaltiger, ihre Hingebung an das Ziel vollständiger, ihre .Handlungsweise zweckentsprechender. Dadurch leisten sie ungleich mehr, als gewöhnlich die Nüssen. Auch eiu geistig etwas beschränkter deutscher Hauptmann, hält seine Kompagnie in mnster-hafter Ordnung, während der genialste russische General leicht Gefahr läuft, sein ganzes Korps zu verpuffen. Au der Akademie der Wissenschaften in Petersburg überwiegen in der zweiten Klasse, welche der Pflege russischer Sprache und Literatur gewidmet ist, Nationalrussen. Möge diese Klasse sich doch anstrengen, durch herrliche Leistungen deu Ruhm der beiden audcrn Klassen zu verdunkeln, in welchen znr Ehre Rußlands deutsche Wissenschaft noch immer den Ton angiebt. Statt thörichter Weise dahin zu trachten, die Deutsche,! aus der Akademie hinaus zu stürmen, wird es edler nnd erfolgreicher sein, mehr Männer aufzustellen wie Bobrownikow, Vunjäkowski Sawitsch Tschebyschew, würdige Nachfolger der Baer Middeudorf Helmersen Mmtz Hofmann Klavroth Gräfe Aöthliuk Leuz Dorn Osteneck (Wostokow!) und anderer Dcutscheu. Es übten aber die Deutschen schon von den ältesten Zeiten her in Rußlaud großen Einfluß aus. Die Waräger trugen k,4 fränkische Waffen, die Hause besasi den besten Theil des russischen Haudels, an den Höfen der Großfürsteu gab es bald eine Menge deutscher Beamten und Gewerker, ln den größeren Städten frühzeitig dcntsche Gemeiilden. Peter der Große aber, der in Menge nene Offiziere Lehrer nnd Beamte brauchte, konnte nirgend anderswoher so leicht nnd so uielc und tüchtige bekommen, als aus den Ostseeprouinzen, Jeder seiner Nachfolger, nnr die Kaiserin Elisabeth ausgenommen, hielt es für gerathen, sich im böchsten Dienst mit Dentschen zn um-aeben, weil er glanbte, sich uorzngsiveise anf ihre Treue und Redlichkeit uerlafsen zn können. Sonderbar genug war das am meisten bei dem Baiser der Fall, der a,u meisten altrussisch dachte und den Wahlsprnch erkoren hatte! „Ein Volk, Ein Glanbe, Ein Herr!" Der Engländer, der in Rußland Geschäfte macht, giebt niemals feinen Dünkel gegen die Landesangchörigen anf nnd zieht gleich wieder fort, sobald er sich ein Vermögen erworben. Der Franzose uud Italiener schmiegt sich schou eher deu Nüssen an, behält aber die Sehnsucht uach seiner schönen Heimath ewig im Herzen und hört nicht anf, Vergleiche zum Nachtheil Rnßlands anzustellen. Keiner von ihnen kümmert sich uni des fremden Landes Gedeihen: es bleibt ihm fremd, Gerade das aber thut der Dentfche. Selbst dann, wenn er sich der Gedanken znr Rückkehr in seine Heiinath nicht entschlägt, wurzelt er gerne ein au: Orte, in welchem er lebt. uud nimmt von Herzen Theil an dessen Wohlergehen. Er kann eben nicht, anders, seine Natnr ist weltbürgerlich angelegt. ti. Klassen der Deutschen. Hierin liegt auch der Grnnd, wefchalb deutsche Ansiedler sich allmählig mit den Rnsseu verschmelzen uud zuletzt dcrcu Sprache und Sitte annehmen, während zugleich noch eine 65 längere Zeit in ihrem physischen, geistigen, sittlichen Wesen der Grundcharaktcr ihres Voltes dnrchschinnncrt. Je nach der größeren oder geringeren Leichtigkeit, uüt welcher sie sich in Russen mmvandeln, läßt sich eine fünffache Unterscheidung treffen. 1. Deutschrussen sind diejenigen, welche besser Russisch nnd Französisch, als Deutsch reden- Sie finden sich in allen Stünden, zahlreich aber in den höchsten Klassen der Hof' Militär und Ciuilbeamten, sowie der reichsten Grundbesitzer. Der Grafentitel, der ja nicht russischer .Herkunft ist, schmückt vorzugsweise solche Familien. Ihren deutschen Namen halten sie gewöhnlich fest, erinnern sich auch gern ihrer deutschen Abkunft, gehören aber mit Herz und Seele Nnßland an nud haben gar nicht selten uon dem grob befehlerischen Wesen der Großrnssen einen wuchtigen Theil angenommen. Soweit es auf Verstand nnd Willen ankommt, den russischen Staat stark, blühend nnd dauerhaft zu machen, sind diese Lente deutscher Herkunft vielleicht die besten Russen. 2, Stadtdentsche kann man diejenigen nennen, welche in Ortschaften wohnen, die den Namen uon Städten verdienen. Sie sind tüchtige Geschäftsleute und gedeihen fast überall. In ihren Familien pflegen sie in der Regel deutsche Sitte nud Literatur, crteunen bereitwillig alles Gute an den Russen nud noch mehr an, nud haben von deren Gutmüthigkeit und Gastfreiheit schöne Gewohnheiten angenommen. Nirgends ließ sich früher heimathlicher uud friedlicher leben, als nuter den Deutschen auf der Vasiliusinsel in Petersburg. Wo größere Kirchen- nnd Schnlgemeindeu sich zusammen geschlossen, ist an Aufgeben deutscher Art noch lauge nicht zu deuten. Jedoch macht — schon der Dienstboten nnd des Geschäfts wegen — in vielen Häufern das Russische bereits dem Deutschen den Platz streitig. Die deutsche Ingend aber ist znr Zeit fast durchgängig begeistert für Rußlauds Ruhm und Fortschritt, v. Lüher, RiMind III. 6 66 damit ist der Schritt zum Rnssischwerden halb gethan. Die Töchter heirathen jetzt luehr als früher in russische Familien, und die Söhne gründen außerhalb der Vaterstadt eigenes Geschäft nnd hören dann alimählig auf, zn den Deutschen zu zählen- Z. Von den vielen tausend C'inzeldeutschen, die vom Westen her ans gut Glück nach Rußland kanien nnd im Heer nnd ans der Flotte als obere nnd untere Oniziere, Aerzte nnd Wnnd ärzte, oder als kleine Beamte nnd Professoren, oder ans den Oiitern nnd Fabriken als Hauslehrer Verwalter Aufseher und Werkführer eine Stelle fanden, bleiben gewöhnlich Viele, wie es scheint, schon aus (Gegensatz zu ihrer rein russischen Nmgebnng, nn Herzen dentsch gesinnt, ähnlich wie die vereinzelten Polen polnisch bleiben. Sie enden gewöhnlich damit, daß ihre Sehnsucht nach dem Vaterlande sie zur Rückkehr zwingt, oder das; sie in den russischen Städten Familie gründen und den Vor-genannten sich zugesellen. 4. Im Gegensatz zn den deutschen Städtern kann man als Landdeutsche die Bewohner der vielen deutschen Ortschaften bezeichnen, die hier und dort inRnsiland kleine Landstriche ein nehmen. Diese halten das Vaterländische fest nnd in O'hren, ihre Religion Redlichkeit nnd Selbstachtung hängt enge damit zusammen. Jedoch auch bei ihnen machte das Russische in den letzten Jahren Fortschritte. Die jüngeren Söhne aber, die zahlreich ans diesen dentschen Dörfern heruorgehn nnd sich anderswo an gewerbreichen Plätzen ansiedeln, sind häufig in kurzer Zeit von Nnssen nicht mehr zn nnterfcheiocn. 5. Stol^ und scharf halten ihr deutsches Bewußtsein anf-recht die Ostscedentschen, die ans den baltischen Provinzen stammen, ganz besonders die Edelleute. (5s ist ihnen stets gewärtig, daß größtentheils ihrer und ihrer Voreltern Talent Arbeit und Ehrlichkeit Rnßland die Einrichtnng seines Staatsund Heerwesens verdankt, nnd es gehörte die ganze Mrrheit 67 der altnationalen Kroßrnssen dazu, gerade diese baltischen Deutschen his anss Vlnt zn reizen. Sie finden sich zahlreich in allen höheren und initiieren Stellen bei Hof, im Heer, in der 3'erwattnng, nnd es besteht nuter ihnen, wenn auch kein förmlicher, doch wohlbewnsiter Zusammenhalt. Der Eine brancht den Andern nnr anznblicken, um ihm die Witterung zn geben, woher wieder etwas gegen das klare nnd heilsaine Recht ihrer Heimath im Anzüge ist, und wohin der geschickte und ein-müthige Widerstand sich zu richten hat. Sagt man den Teutschrnsfen nach, sie hätten ihr Gewissen etwas nach russischer Art aufgeweitet, so ist alle Welt über die baltischen Deutschen einverstanden, dasi sie ihren Adel anch in strenge Ehrenhaftigkeit setzen. Zwischen den hier knrz bezeichneten fünf Klassen der Deutschen in Rußland besteht, da sie verschiedenen Ständen nnd Nerufsartcn angehören, nichts von InndZmannschaftlichem Zusammenhang. Die erste .Masse verkehrt mit der zweiten und vierten gar nicht, nnd mit der fünften nnr bei änßeren Anlässen. Würde grosknssischer Teits der nationale Gegensatz nicht gar so schreiend betont, so würde die Menge der in Rnßland angesiedelten Deutschen ^- nur die baltischen ausgenommen — ebenso zweifellos rnssisch werden, als die Tausende von deutschen Familien, die schon zwei- nnd dreihnndert Jahre dort lebten, im russischen Volke aufgefangen sind. X. Juden. 32. Anzahl. Eine ganz eigenthümliche Stellung uelnueu im russischen Handel und Gewerbe die Juden cm. Ihrer siud nn drei Millionen, aber sie dürfen uicht über das eigentliche Judouland hinaus, wenn sie nicht Oiuunasialbildnug oder die höhere Kaufmannsgilde oder besondere Erlaubniß haben. Das Juden-land aber umfaßt — neben Rumänien Ungarn und Galizien ^ alles in Rnßland, was ehemals polnisch gewesen, also anch Lithauen nud Weiß- und ,^leinrußland. Außerdein dürfen sie iu Kurland, in Odessa uud Cherson sich au^ siedeln. In beiden Städten sonne iu jeder größeren Ortschaft des vorgenannten Gebiets giebt es Juden iu großer Anzahl, die sich erstaunlich rasch vermehren. Im Königreich Polen gab es im Jahre 1870 schon 815,433 Juden, unter hundert Einwohnern beinahe dreizehn. Iu Kankasien zählte man 22,732, iu Asien 15,Z37, auf dem übrigen russischen Gebiete 1,944,378. Also damals schou fehlte, wenig an 3,000,000 : gegenwärtig wird diese Zahl längst erreicht sein. In den klein- und weißrnssischen Landestheilen bilden sie eUf bis zwölf Prozent der Bevölkerung, im Kouvcruemcnt Mohilew über sechszehn. ') i) Schwnnebnch Ttatistische Skiz.',c bcs russischen ZlrichZ, Petersburg 1876, Seite 12-l5, n»d O o t h ii c r Hrftalmder, 69 Der siebente Mann von ihnen hält eine Vranntweinschenke, die sechs andern sind Hansircr Krämer Kanflcnte Agenten Mäkler nud Bauguiers. Die Verschuldung des großeu und kleinen Grundbesitzes und in Folge dessen seine Zersetznng zu bewirken, scheint in Rnßland ihre Lieblingsanfgabe zu sein. Ansiedlungen r>on Juden als Landbauern wollen dagegen nicht gedeihen, souiel Mühe man sich es anch kosten ließ; denn der Inde schafft nicht gern selbst Güter, sondern uermittelt nilr ihren Uebergang uou Einem zum Andern, indem er den Geld-luerth der Güter steigert nud den Unterschied einsteckt. Alle polnischen und russischen Juden reden ihr verdorbenes Deutsch, welches sie yebräischdentsch, viuriteil;, oder das Jüdische, Iidich, nennen. Der Grnndcharakter ist Delltsch. vermischt mit hebräischen, polnischen, russischen Wörtern und dem Knnderwälsch der Gaunersprache. Nur bei sehr wichtigen Urkunden wird das Rabbiner Hebräisch gebraucht. Diese rus^ sischcu Indcu, deren Viele iu bitterer Ariuilth leben, sehen das deutsche als das Land an, in welchen: ihr Stamm am schönsten blühe, nnd möchten sich anch iu Nußland den Deutschen mehr oder weniger angesellschnften. Am dichtesten wohnen die Juden zwischen dem oberen Dnjestr uud Dnjepr- Dort ist Aerditschew ihr Jerusalem nud Schitoiuir ihr Jericho. Mit unglaublicher Rührigkeit kreisen ihre Hmtderttausendc von Minkrämern nnd Zwischenhändlern aller Art dnrch ganz Meinrusiland Volhymeu und Podolieu, und wagen sich nnter uerscl)iedenen Tchleieru uud Ausflüchten bis au die Wolga. Sie nehmen die größten Mühen ans sich und mit dein kleinsten Verdienste vorlieb. Ohne sie würde ein ansehnlicher Theil der Waaren, insbesondere der landwirthschaft-lichen Erzengnisse, nicht halb so beweglich werden. 'l!l. Beschränkung oder Vollbcrcchti^««ss? Was jüdischer Herkunft, fühlt sich in Nußland aller Orten beengt und niedergedrückt durch Maßregeln der Regier- 70 nug, nock) mehr durch den eingewurzelten Judenhaß, welcher die orthodoxe Kirche dnrchdriugt. Es scheint beinahe, als hätte sich aller Religioushaß alls den Zeiten der Krenzzüge nach Rußland zurückgezogen. Der tiefgründige jüdische Stolz giebt diesen .haß verdoppelt znriick. Die russische Regiernng stößt ans seine Spuren bei jedem großen Anlehen, das sie auf europäischen Börsen machen will, Iin eigenen Lande aber hat sie keine erboßteren und hartnäckigeren Widersacher, als die Juden. Man braucht nur ans ihre Zahl und Vedentnng unter den Nihilisten und Nihilistinnen hinzublicken. Da mm uon den 7^-tt Millionen Juden, die es auf der Erde giebt, ungefähr 5! in Rußland, nahezu l V^ in Oesterreich-Ungarn, über V2 in Deutschland leben, so stellt sich für diese Länder die Frage, ob die Juden ganz dieselben Rechte wie andere Staatsbürger besitzen sollen, auf eine ganz andere Grundlage, als für England oder Frankreich oder Italien, deren jedes nur 40 bis 50,000 Juden besitzt, die inan also wenig merkt in Geschäften und Gesellschaft. Für Nußland fragt es fich insbesondere, ob das Land der gntmüthigen, leichtlebigen und nicht gern lauge rechnenden Großrusseu der jüdischen Eiustromnng überliefert werden soll 5 Es ist mm wohl geringes Gewicht darauf zu legen, daß Rußland, so lange es seine Juden cm die westlichsten Prouinzcn fesselt und auch dort sie unter mancherlei Beschränkung hält, sich damit in schroffen Gegensatz zn allen gebildeten Ländern stellt. Am Ende ließe fich auch hinwegsehn über den Widerspruch, welcher darin liegt, daß die russische Regierung den eigenen Angehörigen uorenthält, was sie der rumänischen als Pflicht hat auflegen helfen. Es kommen ja auf russische Nechnnng herbere Widersprüche. Wohl aber möchte es ernstliche Erwäg-nng verdienen, ob es nicht räthlich sei, den erbitterten zähen Haß und Widerstand zn entwaffnen, welchen die Inden in ganz Europa, wie in ganz Rnßland der russischen Regierung 71 entgegenbringend Was aber die Hauptsache, alle Uebel und Widerwärtigkeiten, welche die freie Zulassung der Juden in den aroslnissischcn Landen herbeiführen könnte, verschwinden gegenüber dem großen Vortheil, welcher jenen Gegenden dnrch die Rührigkeit der Juden erwüchse. Die Juden würden zahllose Quellen des Wohlstandes, die jetzl noch verschüttet liegen, auf-spüren, und Millionen von Menschen zn größerer Erwerbsthätigkeit reizen und aufstören. Die russische Kirche würde schon sorgen, daß sie nicht zn früh sich der öffentlichen Aemter bemächtigten. Wir in Tentschland aber möchten den Nüssen diese Vortheile herzlich gerne gönnen- XI. Einfuhr und Ausfuhr. 34. Vergleiche. Vergleichen wir Rußlands Handel mit der Handelsstatistik der anderen europäischen Länder, so findet sich ein starker Abstich. Professor u, Nemnann Spallart veröffentlichte eine in österreichischen Gulden angedrückte Zusammenstellung über den Waarenhandel der europäischen Staaten für das Jahr 1878, als dessen Ergebnisse sich überschauen ließen. Danach hatten^-die Werthe in Millionen Gulden — einen Gesa mm thandel, der sich in (5 infnhr nnd A ns f n h r zerlegte: England 6142,5 3687,7 2454,8 Dentschland 3291,7 1861,3 1430,4 Frankreich 2942,4 1670,5 1271,9 Nnßland 1360,8 516,8 850,0 Oesterr.-Ungarn 1206,8 552,1 654,7 Holland 1167,6 688,3 479,3 Belgien 1034,0 589,1 444,9 Italien 844,6 428,3 416,3 Türkei 413,5 215,0 198,5 Spanien 892,6 206,3 186,3, Der Russe ist also erst der Vierte in der Reihe. Rußland steht, was den Gesammlhandel betrifft, nur weltig über Oesterreich-Ungarn, trotz seines unermeßlichen Gebiets, trotz seiner 73 mehr als doppelt so großen Volkszahl, trotz seiner Bauern» massen, welche Korn Zuckerrüben und Vieh auf den Markt bringen, trotz seiner zahllosen Fischer und Jäger, welche Fisch-waare und Pelze herbeischaffen, trotz seiner ^ mit Ausnahme der Waldungen — kaum angebrochenen Bodenschätze. Vorstehende Tabelle, die im Einzelnen vielleicht noch Verbesserung znläßt, im Großen und Ganzen aber gewiß richtige Anhaltspunkte gibt, ist nnn besonders belehrend durch den Vergleich der verschiedenen Einfnhrwerthe. Die gang und gäbe Meinung ist: nur dasjenige Land befinde sich in gedeihlichem Znstande, defscn Ausfuhr seine Einfuhr decke oder überbiete. Wir sehen aber, daß gerade die hervorragenden Kulturländer bedcntend mehr ein- als ausführen, daß sich das Plus an Ein-fuhr sogar steigert, j,c wohlhabender ein Land ist. Ist dies Gesetz richtig, so wäre das Gerede uom armen Deutschland, von seiner Dürftigkeit insbesondere dein reichen Frankreich gegenüber, unbegründet. Deutschland steht nicht alleiu im Werthe des Ocsaniinthnndcls über Frankreich, sondern insbesondere im Plus der Einfuhr, nnd die deutschen Zahleil wachsen noch beträchtlich, wenn man hinzurechnet, was von den holläudischeu und belgischen hinzugehört; denn diese schwellen nnr deßhalb an, selbst hoch über die italienischen hinaus, weil in der Ans-uud Einfuhr Hollands und Velgieus die Waaren einbegriffen sind, welche nach Deutschlaud gehen oder uon dorther kommen. 35. Niedriger Vermügensstand. Das Räthsel aber des Ueberschusses der Ginfuhr über die Ausfuhr gerade bei wohlhabenden Ländern erklärt sich vielleicht in folgender Weise. Zunächst ist, um ein richtiges Verhältniß herzustellen, von den Einfnhr-Werthen abzurechnen, was darin steckt an Kosten der Fracht nnd Versicherung und vornehmlich des Verdienstes der Zwischenhändler und des letzten Verkäufers. Denn bei den eingeführten Waaren sind diese Kosten bereits in 74 den Werth eingerechnet, nicht aber in gleicher Weise bei den ausgeführten. Der dann noch verbleibende Neberschuß dessen, was ein Land mehr verzehrt, als es durch seiue Ausfuhr ausgleicht, muß durch andere Mittel gedeckt werden, Diese Mittel sind theils Zinsen vom 5iauital-Vermögen, theils laufende Credite, die vou Volk zu Volk und von eiuem Jahr ms andere gehen. 3tur wohlhabende Länder besil',eu diese Mittel, nur iu diesen fiudet sich so uiel von alter Zeit her augehäuftes Veriuogeu, nur diese haben so großen laufenden Credit bei deu übrigell Handelsuölkern. Ein armes Land dagegen darf sich keine große Einfuhr göuueu, um sich feine Weine Lecterbisseu kostbare >^enge, uud was sonst 'iU behaglicher Einrichtung gehört, anzuschaffen: ini Gegentheil ein armes Land muß, um seiue Bedürfnisse zu decken, immer etivas mehr ausführen, als seiue Einfuhr beträgt. Ein Beispiel wird dies klarer macheu. Eiu Handwerker, der nichts beNl;t, als was er sich durch tägliche Arbeit verdieut, muß durch deu verkauf seiuer ,^aud>vert<'waare — da5 ist durch seine Auofuhr -— hestreiten, was ihm seine Eiufnhr tostet, nämlich erstens die Rohstoffe, die er durch seiue Arbeit veredelt, nud ziveiteus die Lebcnsmittel, die er f»r sich Mio seiue Familie braucht. Allein er nuiß immer noch etwas mehr an seiner Handwerkswnare verkaufen, um davou auch drittells Tteuern, Schulgeld, uielleicht auch Ziusen von Tchuldeu zahlen zn ton-neu. Teiue Ausfuhr nnis; daher regelmäßig seine Einfuhr übersteigen, eben weil er leine auoereu (Geldquellen besitzt. To müssen deuu auch die wirthschaftlich am wenigsten entwickelten Länder Europas mit ihreu ciugeführteu Waaren zurückstehen hinter dem. wa5 sie auf den Weltmarkt briugeu. Es siud dieß uur vier Staaten, zwei große, nud zwei gauz tleiue, nämlich Nußlaud Oesterreich Ungarn Rumänien Mld Serbien-Bei Oesterreich, das mit seiner Eiufuhr nur mit wenig über einhundert Millionen dulden zurückbleibt, erklärt sich die Thatsache leicht dmch seinen ungarischen Auhang, weil in Ungarn 75 der Bauer — mit Ansnahme des deutschen — arm und bc-dürfnißlos ist. Die trägen Spanier dürfen sich nicht viel gönnen : sie haben nur 20 Millionen mehr Ein- als Ausfuhr. Bei den Nnmänen beträgt letztere 17 Millionen mehv, bei den Serben 400,000 Gulden: das erklärt sich bei beiden, trol; der Fruchtbarkeit des Bodens, durch den niederen Bilduugs- uud Ver< mögmsstand ihrer Bewohner. Auch in Nußlaud besteht die Voltsmasse aus Vaueru, die kein Bedürfnis; kennen, als Kohl uud Branntwein nud grobes Gewand, dazn ein Pferdchen und ein Wägelchelt nud ein armseliges Dack iiber dem klopfe: trügen sie nach mehr Verlangen, könnten sie es nimmermehr bezahlen-Im Verhältniß zu der großen Z"bl dieses armen Volkes wächst die Summe, mit welcher Nußlands Einfuhr hinter der Ausfuhr zurückbleibt, auf uicht weniger als 333 Millioueu Knlden, Mit diesem Mchvwerth seiner Anofnhr deckt Rusüand die Zinsen seiner Etaatsschuldcn und eiueu Theil der Heereskosten. XII. Aenderung im Hlilldel nnd WlNldcl. 3!?. Umwälzung des Hnudclsbetriebcs. Eeit den lel;ten zwanzig fahren macht nun die europäische Weise des Handelsbetriebe tiefe Eiubrüche iu die russische, lind zwar unaufhaltsam uud iu immer weiterer Auodehuung- Der gesammte Daudet Rußlands ist in einer Umwälzung begriffen. Es ist die Zeit der Banken, der Eisenbahnen, der Dampfschiffe, der Rübenzucker Fabrikatiou, der Getreide- uud Holzausfuhr. Ein eiuziger mächtiger Güterzug der Eisenbahn nimmt 78 soviel Fracht auf, als dreihuudert russische Lastiuagen, uud bringt diese Masse Güter an einem Tag weiter, als die dreihnudert Wagen es in einer Woche vermöchten, Telegraph nnd Presse kommen mit ihren Handelsberichten dein gebildeten und aufmerksamen Knufmanu zu Hilfe. Die Geschäfte werden fchiuie-riaer, erfordern ruhiges andauerndes Beobachten nud Berechnen, nud leiden nicht mehr die kühnen Unternehmungen ins Blane hinein. Das Dunkel und die Erregung des Lotteriespiels verflüchtigt sich vor den klaren Thatsachen nnd Zahlen- Das Gewühl anf den Märkten nud Messen wird schwächer, und der Hausirer wird nur noch auf Gütern uud Dörfern, die von der Eisenbahn weit abliegen, mit Ungeduld erwartet. Mehr und mehr muß der Nüsse deu Handel mit Europa deu Fremden überlassen und sich auf das asiatische Geschäft zurückziehen. Diese Bewegung, einmal in Gang gerathen, drängt vor-wärts. Der Welthandel ist heutzutage eine Macht geworden, ausgestattet mit unsichtbaren fernhin treffenden Waffen, vor denen es manchem Staatsmann der alten Schule unheimlich wird. Kein Land kann sich vor dem Welthandel mehr verschließen, es mnß ihm seine eigenen Güter hergeben nud muß fremde Güter von ihm annehmen. Immer mehr Cnchendc, Fordernde, Preisbictenoe klopfen an, wie aus dem Voden gewachsen stehen sie plötzlich hier uud dort, uud das Volk überhört nicht ihre Stimme. Das russische Eisenbahn-Netz wird unausbleiblich sich vergrößern nnd verdichten. Die großen Stränge werden sich bis Kiächta an der chinesischen Grenze ausdehnen und überall kleinere sich daran hängen. Alsdann wird Rnßland wieder die Stellung im Welthandel einnehmen, welche die hansischen Kanflente einst so zahlreich nach Nowgorod lind andern russischen Ansfuhrstätten führte, damals als die Seeschiffe es noch nicht mit den: Atlantischen nud Indischen und Großen Ozean aufnahmen. Damals kamen die Waaren alls Asien zu Lande über 79 die russischen Ebenen, bald wird ihnen Nnftlalid wiederunl dell tnrzesten Neberlandiveg darbieten, lieber seine flächen >vird der Welthandel rolleil zwischen dem herrschenden Enropa einer und Mittelasien China Japan Pcrsien Indien anderer-seits. Das wird dein rnssischen Lande und Volte Fördernug und Vortheile bringen, von welchen nur jeht erst kleine Allsänge sehen. :l^. Bisherig,.' Hnndelspolitit. Tann ivird sich auch fragen, ob die Negiernllg die eisernen Zollschranken anfrecht halte,i kann:' Sie beherrscht ein ungeheures (Gebiet, aber ein arnies Laud, arm an (Held nnd Knltur. Teine Indnstric fängt erst an, sich z» elitwieteln, sie erzenst i>n (i?r0s;ei! nnr Waare für den tätlichen Vedart des Nomaden, dev Vanern nnd ^leinbiirsserc'. Ihr V»rcheil be steht in der Villigkeit de5 Arbeitslohns lind der Nohlvanre, sie mnsi aber deli qrößteli !3heil uan Werkzenq liild Maschinen, die feineren Stoffe »nd s,ewöhnlich anch die Leiter der Werkstätten v»m Anslnnde bezieheil, Damit nnn das nnnbsehlielie Rußland ans seiner ewiqen ßieldarnluth, die ihm dei ieder Austrensiilnq Tchnneriiikcitell niacht, endlich heran^loinnie, musi es — so schließelt seiue Staatsniäliner -^ seine Iüdnstrie lliit allen Mitteln beleben, schichen und fördern, Ihre <3rzelliinisse aber tonnen fremde. Mitbe-iverbunq qar uicht ertragen, ihr Absatzgebiet ist znilächst nnr das eigene Land. Um wenigstens dieses Gebiet ihr zu bo hnnpten, glanheu sie, ninftte Rnßland sich lnit füllen wie mit Manern uuigeben llnd an seinen Gränzen der fremdeil Einfuhr Sperre und Plackerei ohne Ende hereiten, Nnn sind aber die eigenen Völker Rußlands im hohen Grade bedi'irfnißlos: sie kaufen wenig, weil sie wenig besihen und begehren. Die Negiernng imch also trachten, toste os, was es wolle, den rnssischen Fabrikwaaren Absatz nach anßen 80 zu verschaffen. Da dies nach Westen nicht möglich ist, so bleiben nur Asien und das untere Douau' und Valkanlaud. Eifersüchtig bewacht Rußland die Haudelsstraßeu, welche dm't hin führen, nnd wenn es anginge, würde es sie allen fremden Volkern abschneiden nud nur den eigenen offen halten. Mindestens ganz Mittelasien nnd wo möglich auch das größte Stück von Ostasicn hofft feine Politik für die russische Ausfuhr zu behaupten nud thut deßhalb manchen Echachzug, der anderswo nicht verstanden wird, weil er nur die russische Industrie im Auge hat. Wer eriunert sich nicht daran, welche Hindernisse die russische Regieruug vor dem Krimkriege der freieu Douau-Schifffahrt bereitete! Nei dein hochmüthigen und händelsüchtigen Charakter der großrussischen Beamten- und Diplomatcnwelt wurden die Plackereien am Ende so arg, daß sie keinen der geringsten Gründe bildeten, weschalb England nud Frankreich sich zum Kriege gegen Rußland entschlossen. Ein Hauptsatz des Friedens vertmgs nach dem Krimkricgc wurde eben die Wiederherstellung und Sicherung der freien Schifffahrt auf der Donau, nnd da man Erfahrungen hatte, wie die russische Politik mit Verträgen ihr Spiel trieb, so schritt man damals zu einem ernsten Mittel. Nußland wurde ganz uou der Donau abgesperrt. Es mußte seine Grenze zurückziehen, die nenc ließ keinen russischen Zöllner mehr ins Donauthal. Eine permanente Kommission, au welcher Vayern und Württemberg so gnt Theil hatten, als die Staaten an der untern Donau, wurde eingesetzt, um die Schifffahrt auf dieser vornehmsten Wasserader Europa's zu regeln- Sofort als die Douan von den russischen Fesseln nnd Aergernissen in ihrem Mündungsgebiete erlöst war, belebten sich Handel nud Schiffe fahrt im ganzen langen Flußthal. Man spürte den Segen dauon hinauf bis zu den Qnellen des Stromes. Was aber geschah vor drei Jahren? Nußland setzte, so- 81 bald es die Türkei niedergeworfen, Alles daran, das abgetretene Stück von Vessarabim wieder zu gewinnen. Rmnänicn, das für Rußland fein Blut in Strömen vergossen, wurde mit äußerster Gewaltthat bedroht, wenn es nicht die Dobrudscha nehme nnd jenes Stück wieder abgebe. Es wurde sogar geflissentlich das Gerücht verbreitet, der Wiedergewinn sei für Kaiser Alexander eine .Herzenssache, von welcher er so wenig ablasse wie von seiner Ehre. Und doch hatte der Fetzen Landes, der von Sümpfen nnd Seen dnrchsetzt ist, an sich für das unermeßliche Nußland so gut wie gar keinen Werth. Anf seinen Ebenen erblickt der schnellste Vogel, der darüber fliegt, wohl Viehheerde auf Viehheerde, aber keine große Werkstätte. Welche große oder kleine Macht die Münduugslandc der Donau beherrschte, die russischen Interessen könnten von dort alls nimmer beeinträchtigt werden. Allein die russische Politik wußte, was sie wollte, nnd sie bekam ihren Willeu- Sobald Nußland wieder eine Donaumacht geworden, begannen auch wieder die Händel bezüglich der Schifffahrt auf dem Strome. 3!>. Handelsfreiheit. Wie aber, wenn Nußland die Handelspolitik aufgäbe, die es jetzt argwöhnisch hütet als das Palladium seiner Zukunft, durch welche es sich aller Orten Händel nnd Feinde schasst — würde sein Schaden wirklich so groß sein? Für den Aufmiss gewiß, dio russische Industrie würde schweren Stand bekommen bei der Neberschweiumung mit aus« ländischer Fabrikwaare, nnd die Finanzen würden den Wegfall der.^ölle empfinden. Allein die wirklich lebensfähigen Gewerbe -^ lebensfähig, weil Rohstoff und Lohn billiger, als anderswo — würden sich alsbald erHolm, nnd sie würden dann um so mächtiger sich entwickeln, als sie theilnehmcn müsiten an dem gesteigerten Aufschwung des gesammten wirthschaftlichen Lebens. v. L ü her, Rnbland III. 6 82 Daß aber dieser Aufschwuug eintreten, daß dadurch die Steuerkraft des Volkes sich unberechenbar vergrößeru würde, darüber taun, — uach den Thatsachen zu schließen, welche das letzte Vierteljahrhmidcrt lieferte, ^ billiger Weise kein Zweifel sein. Oessnet sich Rnßlmid dein Welthandel, so wird er in kurzer Zeit das ganze Gebiet mit einein Netze von Eisenbahnen überziehen und die Erzeugnisse der Wälder, der Flüsse und Bergwerke, der Landwirthschaft und Viehzucht aus den entlegensten Gegenden heranholen. Im selben Grade aber, als sie größeren Werth bekommen, muß ihr Anbau sich steigern und sich durch Aufuahmc von Haudelspflau^en vermehren. Im selbeu Grade aber wird auch ill das russische Volk, das jetzt alls semen nackten Ebenen in fast kindlicher geistiger Nacktheit dahin dämmert, Leben und Veweguug kommen. Die Schleusen des Welthandels öffneil — das ist das einzige dnrchschlageude Mittel, es alls seiuem tauseudjahrigen Schlummer aufzurütteln. Wo die Eisenbahnen herziehen, belebt sich Arbeit uud Verkehr, entstehen Magazine, und auf den Kreuz ungspuukteu erblühen Städte und Fabriken, und dnrch die Millionen Hände, die neue Beschäftigung fiudcn, wird Wohl stand erworbeu. Das russische Volk hat eine große und sichere Zukunft, wenn es gehörig nusui'cht, was ihm die Natur ge^ geben, seine Arbeits- und Bodenkräfte und seiue Lage für den Welthandel, Eine große Zukunft! Freilich nur erst in weiter Ferne. Es wird noch lange dauern, bis die Einsicht iu das, was das Natur che uud deßhalb das Nichtige ist, die Interessen und Vorurtheile der Gegenwart besiegt. XII. Erlösung uon der Oranntwcinpcst. 40. Größe des Uebels. Zu den äußeren Mitteln, die Volksinnsse geistig und sittlich zu bclcbeu und zu heben, muß nun eine innere Befreiung hin zutreten, die Erlösung von der Vranntwcinuest. Nichts auf der Welt wäre auszndcnkeu, was das Volt so tief herab' würdigen, so sehr ihm jedes 'Aufstreben unterbinden, so gänzlich ihm die Freude an Besitz und C'vwrrb zerstören tonnte, als jene furchtbare Krankheit. Man erwäge nur, daß Rußlaud schon oor vier ^ahrcu an 4000 Branntweinbrennereien zählte, die nahezu :;V^ Milliouen Hektoliter Alkohol fabrizircu, daß aus dieser Menge Alkohol mindestens 8 Millionen Hektoliter Branntwein gemacht werden, daß also so ziemlich 10 Liter, sage zehn Liter Branntwein, des Jahres auf den klopf kommen, daß dieses Getraut versetzt ist mit Belladonna nnd andern Extrakten, einerlei wie giftig, wenn sie nur beranschen. Diese ungeheure Masse Giftstoff nimmt täglich der Volkskörper auf: sie verdirbt ihm das Blut, lahmt Nerven nnd Sehnen, zerstört die körperlichen, noch mehr die geistigen, nnd am ärgsten die sittlichen Kräfte. Namentlich für die Großrnssen stellt sich das Verhältniß erschreckend: denn die zehn Liter auf den Kopf vervielfachen sich für die Männer, da ja jedes alte Weib und jeder Tangling soviel Branntwein nicht ver- «4 tilgen kann. Sie vervielfachen sich aber noch mehr, weil man den Großrussen hauptsächlich zurechnen mnß, was Finnen nnd Tataren, Deutsche nnd Juden, Armenier nnd Griechen weniger trinken. Bei den armen Isländern kcmnncn doch nnr 6 bis 7 Liter Branntwein auf den Manu, nnd bei ihnen mag man diese Menge noch entschuldigen, da sie ein halbes Jahr hindurch unthätig in ihren dunkeln Wohnlöchern liegen nnd nichts zn essen haben, als trocknen Stockfisch nnd vielleicht rohes geräuchertes Schasflcisch. Grünlicher aber, als jene Vorstellung selbst, ist die Thatsache, daß das rnssische Staatswesen zu einem höchst ansehnlichen Theil seilte Mittel ans solcher Sanfwirthschaft bezieht. Rußlaud ist ohnehin unglücklich genug daran, daß seinen Staatskassen nur ein Sechstel des Nöthigen aus direkten Steuern, und zwar besonders ans der schlechtesten der direkten Steuern, aus Kopfsteuer zusticht, die andern fünf Sechstel aber durch indirekte Steuern, dnrch Zölle nud Abgaben von Branntwein Salz nnd Tabak aufgebracht werden müssen. Salz und Tabak aber ergeben jährlich bloß Ä> Millionen Rubel, die Gewerbs« bewilligungen gegen 15, der Stempel U>, Branntwein aber mnß 230 Millionen aufbringen.') Für mehr als ein Drittel ihrer sämmtlichen Einnahmen also ist die Negierung auf das gröhte Laster nnd das größte Elend ihres Volkes angewiesen. Vergebens suchen wir in der Geschichte nach Beispielen. Es ist wahr, die Engländer zwangen mit kinnonen die Ehiuesen, von ihnen Opiumgift zn taufen: doch bei Engländern kann dergleichen nicht Wuuder nchmeu, nnd uerübten sie die Schand that doch auch nur gegen Chinesen und nicht gegen ihr eigenes Volk. Sonst stößt nns kein Beispiel auf, daß eine Regiernng fort und fort ibr Geld münzte aus dem Verderben des Volkes. l) I^cinf, 875,. 91^—9)4, und dil! cmd«n sch»n gcuamttrn stntistischcu Wcrlo, 85 41. Aufgabe der Regierung. Jedes Mittel, das furchtbare Uebel auszurotten oder nur zu vermindern, darf man willkommen heißen. Den ersten Schritt muß die Regierung thun, sie hat das Branntweinmonopol, sie muß das Gift allmählich dem Volke entziehen. Sie kann sich nicht damit rechtfertigen, daß sie durch ihr Monopol den Branntwein thmrer mache und dadurch dem Uebermaß des Genusses vorbeuge. Das würde erst einen Sinn haben, wenn es wirklich anf die Höhe der Steuer und nicht auf die Menge des Verbrauchs ankäme. Die Steuer müßte dann hundertfach erhöht werden, von fünfzig Vranutweiuschmken höchstens eiue übrig bleiben, und anch diese unter strenger Aufsicht, damit sie nur eine gewisse Anzahl Liter wöchentlich verschenke. Leicht gesagt, schwer gethan — wird auf solchen Vorschlag jeder russische Staatsmann erwidern. Wie kann der Staat die Einnahme vom Verkauf und Verzehr des Branntweins entbehren? Woher sollen wir das fehlende Drittel nehmen? Läßt sich denn irgendwo eine zweite Geldquelle entdecken, eine von solcher Sicherheit und Ergiebigkeit, von solcher Leichtigkeit der Erhebung, als die Branntweinsteuer? Das sind nieder-schlagende Wahrheiten, nnd es bleibt nichts übrig, als jenes fluchbeladene Drittel, wenn man es nicht mehr einnehmen darf, auch nicht anszugeben. Woran anders aber kann einge spart werden, als an den Ansgaben für Heer nnd Flotte? Sie sind ia in jetziger Größe nicht nöthig, nm das Reich zu vertheidigen; denn Niemand will es augreifen. Das Uebermaß der Ausgaben für Heer nnd Flotte wird nur von der leidenschaftlichen Begierde gefordert, Nußlands hohe Ansprüche auf Ehre, anf Macht, anf Furchtbarkeit nnter den Volkern zu behaupten. Rnhm nnd Ghrc aber werden doch nicht blosi auf dem Schlachtfelde errungen, und nächst der glücklich erfolgten Freimachung des russischen Volks von der Leibeigenschaft ist kaum etwas zu denken, was ihm unter den Nationen so viel Ehre nnd Achtung 86 einbringen würde, als das Freiwerden von den ewigen Brauns weindünsten. Möge man doch nnr das Vine bedenken, daß für jede zehn Soldaten weniger, für welche die Einnahme von Branntwein wegfällt, ein Dorf mehr kann zu sittlicher und wirthschaftlicher Bessernng emporgebracht werden. Wer aber mag dem Uebel energisch zu Leibe gehn, so lange die Blüthe der Staatsftncmzen davon abhängig, daß viel getrunken wird? 42. Mithülfe der Staatsbürger. Damit man aber wirklich dahin gelange, das Volt von der Sklaverei des Branntweins ;n befreien, muß alles mit der Negierung mitschaffen und mitwirken, was nnr einen Funken von patriotischem Gefühle in sich trägt. Gutsbesitzer, Beamte, Lehrer uud Geistliche, Presse und Jugend, Alles sollte herbeieilen, uin den Quell zn verschütten^ der ihres Volkes Gedeihen und Gesundheit vergiftet, Auf jedem Dorfe muß sich eiu Vereiu erheben, dessen Mitglieder heilig geloben, sich des Vrauutweins zn enthalteu. Daß das Klima seinen Geuuß nicht fordert, liewriseu ja die Mitglieder der Sekten, die keinen Säufer dulden und deren Mitglieder gleichwohl trefflich bestehen. Niemand sollte einen Dienstboten oder Handwerker behalten, der eiu Säufer; Niemand mit Einem sich in Verbindung einlassen, der mit einer Vrauutweinschenke zu thun hat; das ganze Geschäft, welches dein Volke den Giftstoff znführt, muß für ehrlos gelten. Freilich, wenig ist zn hoffen, so lange Lehrstühle an den Universitäten leer stehn, weil die dafür Be-fähigten das gewinnreichcre Amt der Aufsicht über das Bräunt-weingeschäft vorziehen. Niemals aber wird der niederträchtige Dämon, der auf Rußlands Gegenwart und Zukunft drückt, vertrieben werden. 87 wenn man dem Volke nicht anderes Getränke beschafft. Dies kann nur in Bier oder Wein bestehen. An den Ufern des Schwarzen Asowschen und Kasvischen Meeres eröffnen sich noch viele Strecken, welche die segensreiche Weinrebe begrünen könnte. Und warum sollte es bei der Getreidefülle nicht möglich sein, Brauereien von billigem nnd kräftigem Bier hervorzurufen? In Kiew und Charkow sind ja bereits vielversprechende Anfänge dazu vorhanden. XIII. DMscrzichullg. 43. Befürchtungen. „Die Russen werden noch lange nicht ohne die Hilfe der Fremden fertig werden, namentlich nicht ohne die Beständigkeit, das Geschick nnd die Pflichttreue der Deutschen i denn nur lang-jährige nnd eiserne Strenge wird redliche russische Beamte schaffen können. Vor Allem aber muß der MeruZ für die Aufklärung gewonnen und selbst erst erzogen werden, aber das Ve-streben eines Jahrhunderts wäre wohl kein zu geringer Preis für eine wirtlich nationale rnssische Entwicklung" ^). Diese Er« Wrung des großen Moltke, des Scharfblickenden, sollten alle russischen Vaterlaudsfreuude sich stets vor Augen halten- Es ist ein schweres Werk voll langdancrnden Mühens, das sie vor sich haben, es gilt einer planmäßig einzurichtenden, uon einem Iahrzchent iu'Z andere fortznsetzenden Voltserziehuug. Allein -^ sollte man es glauben ? — noch immer giebt es in Rußland eiue Menge Leute, welche behaupten, die Volkserziehung sei uom Uebel, der großen Masse sei eiue gewisse gci' stige Unmündigkeit znträglich: werde das russische Volk aufgeklärt, so werde es gegen Adel nnd Regierung sich empören nnd alle Bande der Ordnung zerreißen, jedenfalls werde es ans seiner kindlichen Einfachheit des Denkens und Lebens herans» l) Moltle Relse nach Rußland 177-178, 89 gerissen, sich auflösen in Banden von Schachern und Betrügern. Thatsache ist es wirklich, daß im Jahre 18W die Regierung förmlich ein Gebot ergehen ließ, Bauernkinder sollten nicht in Stadtschulen eintreten, — daß 1562 die Sonntagsschulen, die sich von Kiew aus verbreiteten nnd schon von Ä>,000 bindern besncht wurden, aufgehoben wurden, ^ daß alles Bitten der Semstwos, Normalschnlen nach deutschem Muster zur Heranbildung von Schnllehrern einzurichten, vergebens blieb, bis -^ es auf einmal in Rußland allgemeine Redensart wurde, der deutsche Schulmeister habe bei Sedan nnd Metz gesiegt. Befürchtungen der Art sind doch wahrlich reine Thorheit. Dies gutherzige und gefügige Volk, dem Gehorsam so sehr zur andern Natur geworden, daß eZ sich von selbst überall einen Herrn sucht, soll durch ein bischen Lesen« nnd Schreibenlerncn auf einmal zn Löwen und Wölfen werden? Wird es denn soviel schaden, wenn die armen Leute sich nimmer so arg von den Beamten hudeln nnd schccrcn lassen? G^wiß werden sie einander nm so mehr betrügen, je gebildeter sie werden: allein das hat doch endlich seine Gränze. Mögen anch die Uebelstände, welche das Hervortreten der Bolksmassc ans ihrer Dumpfheit mit sich bringt, anfangs noch so fühlbar werden, hier heißt es, wie bei der Leibeigenschaftsaufhebnug: dnrch mnß man, nichts anderes bleibt übrig. 44. Schule. Die Erlösung von der Leibeigenschaft zieht nothwendig bessere Voltsschuleu nach sich. Der freie Mensch taun kein dnmmer Mensch bleiben. Sie zog auch die allgemeine Dienstpflicht nach sich, nnd durch dies Gesetz ist ebenfalls die Forderung hingestellt, daß der Soldat, der von der Fahne in seine Heimat zieht und während seiner Dienstzeit bereits einen Theil seiner früheren geistigen Beschränktheit eingebüßt hat, nun auch im Stande sei, dnrch Fleiß und Wissen sich zn ernähren nnd eine Familie zu begründen. 90 Die russische Regierung hat diese Aufgabe wohl erkannt und thut jetzt wahrlich nicht wenig, um ihr Volt höher zu heben- Bei ihren armen Finanzen giebt sie für Unterrichts« anstalten wohl die Kä'lfte von dem ans, was Prenßen vermag, dieses von seinen Staatsausgabcn l>,5> nnd Rußland 3,3 pCt-Nach der Voltszahl gerechnet, verwendet Preußen auf den Kopf 153 und Rußland 53 Pfennige. Gleichwohl, wenn man die Zahl der schnlpflichtigen Kinder anch nnr auf Vio der Aeuolkernng annimmt, während sie bei uns gut V2 beträgt, so kommen in Rußland von 400 schulpflichtigen Kindern nur etwas über 13 in die Schule, in Schweden 97, also nahezu alle. Die Folge ist, daß uon 100 russischen Soldaten nur I I bis 12 die Kunst des Lesens und Schreibens besitzen. Hier liegt also noch ein weites Arbeitsfeld. In ungleich größerem Maßstabe als bisher mnß die Regierung selbst die Gründung nnd Leitung von Volksschulen in die.Hand nehmen, den Schullchrern aber eine selbststandigere und geachtetere Stellung verschaffen- Die Lehrer sind im Gehalte zu ver-bessern, ganz insbesondere auch gegen unfreundliche Eingriffe von Geistlichkeit nnd Beamtenschaft sicherzustellen. Kleine Lehrkurse und öftere Versammlnngen der Schnllchrer, wie sie vielfach vor ein paar Jahren bereits im Gange waren, müssen eben so, wie kleine Tchnllnbliotheten, überall eingerichtet werden. Diese Aufgabe ist im Großen anzugreifen, und nicht eher zu ruhen, bis anf jede dreitaufeud Nusfcn eine Volksschnle, auf jede dreihnnderttanfcnd eine Lchrerschule in Thätigkeit ist. Woher das viele Geld dafür nehmen? Wir wisfen wieder kein anderes Mittel, als einen Theil der Summen welche die nnnöthigen Bataillone von Soldaten verschlingen, auf Schulen zu verwenden- Soll denn Nußlaud niemals die Rolle eines Emporkömmlings uon sich werfen, der seine Einkünfte der Erziehung nnd geistigen Blöße seiner Kinder vorent» hält, bloß damit sie vornehm gekleidet einhergehn? 91 45. Predigt. Weniger Kirche und mehr Religion! Dieser Wunsch drängt sich wohl Jedem auf die Lippen, der dem russischen Volke aufrichtig wohl will, Nein Volt braucht im täglichen Leben mehr religiöse Worte nnd Formeln, nnd doch wirkt bei keinem die Religion so wenig für Sittlichkeit, Hierin ist der Russe vom Nord-Amerikaner gänzlich oer schieden. Wandert man durch die Vereinigten Staaten, — wie viel Hochmuth und Pharisäerthnm, wie viel Sinnliches, Verzerrtes nnd Lächerliches birgt sich hier nnter dem weiten Mantel der Religion, angefangen vom Neger-Tempel nnd methodistischen Waldlager bis hinauf zur aumuthcuden tevpichbelegtcn Saalkapelle der bischöflichen Kirche! Nnd doch, welch ein erbärmlicher Geselle wäre der Amerikaner, streute ihm nicht in das aufgeregte und die Seele austrocknende Geschäftstreiben die Religion ciu paar frische Lebenstropfeu! Währcud aber bei dein Nord'Amerikaner das kirchliche Gefühl sich sofort in ein praktisch-sittliches Handeln umseht, scheint bei den meisten Rnssen das Eine mit dem Anderen wenig zn thun zn haben. Für ihre (Gebildeten ist, Religion eine Sache der bürgerlichen Gesellschaft nnd des An-standes, nnd der gemeine Mann ist völlig mit sich zufrieden, wenu er uor den Heiligenbildern Lichter angesteckt, sich inbrünstig bekreuzigt und Gebete murmelnd niedergeworfen, nnd zu den gesetzten Zeiten das Sakrament genommen hat, damit ist seine Religion abgemacht. Sie besteht für ihn hauptsächlich im Glauben an dunkle geheimnißvolle Mächte des Heils oder Unheils, die man durch Gcberden und Formeln beschwören mnß: das Gemüth wird durch diese Art vou Religion ^ wenig geheiligt, der Wille kaum veredelt. Man lese z. B- von 5lreotowskii die „Petersburger Enthüllungen, ein Buch von den Hungrigen nnd den Satten" uud wird sich entsetzen, weniger noch vor dieser gehäuften Masse von Abscheulichkeiten, als vor dem Leichtsinn, mit welchem die Leute zu verbrecherischen Handlungen schreiten. 92 Wie aber da zu helfen, das ist eine Aufgabe, deren fast gänzliche Aussichtslosigkeit, wenigstens was die nächsten Jahrzehnte betrifft, wohl geeignet ist, den Patrioten mit Trauer zu erfüllen. Die Volksprcdigt voll Eifer und Seele, die tägliche Predigt allerorten niiißte ja großcntheils erst heruorge-rufen, das weitverbreitete und uielvermögende Popengeschlecht müßte erst für wahrhafte Voltserziehung erobert und äuge« feuert werden, damit an jedem Wochentage der Katechismus in der Schule, an jedem Tonntag die Predigt in der Kirche läuternd und religiös belebend auf das Volk einwirke. Damit das aber Statt finde, muß der Popenstand selbst erst umgebildet und mehr mit religiöser Weihe erfüllt werden. Der erste Schritt onzn ist jungst gescheheu, indem die Erblichkeit dieses Standes gesprengt wurde. Der zweite Schritt besteht darin, daß der Staat die Erziehung der Geistlichen mitteile und überwache, ^ der dritte, daß er den Dorfpfarrcrn einen anständigen Gehalt verbürge und sie schütze gegen Willkür nud Ungerechtigkeit der bischöflichen Konsistorien. Diese Konsistorien selbst bedürfen einer gründlichen Erneuerung, wozu das beste Mittel sein wird, bei der Answahl der Vischöfe nicht mehr damns zn sehen, ob sie stattlicher Gestalt und prächtigen Var-tes sich erfreuen, sondern ob sie ausgebreitetes Wissen und Eifer und Stärke des ächten Seelenhirten besitzen. Die ganze Maßregel spitzt sich znletzt wieder zu einer Geldfrage zu: woher das Geld nehmen zu solcher Erziehnng und Vesscrstellnng der Geistlichen? Da es nnmoglich ist, die Gemeinden mit größeren Stcnern zu belasten, bietet sich — will man nicht uon Staatseinkünften soviel für Schulen an wenden, als man für Soldaten und Kriegsschiffe weniger braucht — keine andere Geldquelle, als den übermäßig reicheu Mostergütern eine bessere Verwendung zn geben. XIV. Religionsfreiheit. 4«. Unduldsamkeit. Ein anderer Fortschritt, dem sich Rußland nicht mehr entziehen kann, ist Religionsfreiheit. Hort man Russen reden, so bestände sie bei ihnen in reinster Blüthe. Das ist aber ein Pharisäcrthnm, wie es ärger nicht sein kann. Wo sind Thaten religiöser Unterdrücknng, wie sie nnser Iahrhnndert schänden, in größerem Maßstab verübt worden, als von der russischen Regierung gegen Unirte der griechischen nnd gegen Polen undWeißrnssen uon der katholischen Konfession? Die Formen der Centralisation nnd Ncbcrwach nng, in welche die russische Negierung die eine wie die andere Kirchenmrwaltnna. eingezwängt hat, konnte man noch mit dem eingewurzelten System entschuldigen, welches für die Regierung verlangt, daß sie in alles einschanen nud eingreifen tonne, Wie aber tanu uou Religionsfreiheit die Rede sein in einem Lande, wo die Regierung über mehr als acht Millionen ihres eigenen Bekenntnisses eine Schmach Pein nnd Unterdrückung verhängt, wie sie anch in der Türkei nicht mehr vorkommt! Die Sache erklärt sich aus der innigen Verbindung, zn welcher Etaat nnd Kirche in Rußland verwachsen sind: wer nicht znr Kirche des Staates gehört, erscheint als kein rechter Rnsse. Allein, was man den dentschen Protestanten und polnischen 94 Katholiken zugesteht, sollte man doch in unserer Ieit einer so großen Menge der eigenen Volksgenossen, den RaZkolniks, nicht mehr versagen, Zum, allergrößten Theile bestehen gerade sie aus recht-lichen fleißigen und nüchternen Leuten: gleichwohl sind sie aller politischen, selbst der gewöhnlichen bürgerlichen Rechte beraubt. Ihre Ehen sind ungültig, sie dürfen ihre Söhne nicht auf Gymnasien schicken, dürfen keine religiösen Bücher drucken lassen, dürfen Leichen nicht auf ihre eigenen Kirchhöfe bringen, dnrften noch bis vor zwei Jahren ihre Nethäuser weder ausbessern, noch neue bauen. Nach dem Buchstaben des Gesetzes sollen sie von der Obrigkeit beständig aufs Haupt geschlagen werden, damit sie zitternd im Verborgenen bleiben nnd nicht wagen, Andere mit ihrem Gifte anznstechen. Im Einzelnen bestimmen Geistlichkeit, Polizei nnd Gericht, ob eine Sekte gefährlich wird. Das ist eben das Aergste für sie, daß sie nicht von Gesetzen, sondern von der Willkühr der geistlichen und weltlichen Polizei abhängig sind. Die natürliche Folge ist, daß sie sich in Geheimniß hüllen, nnd daß sie ihre eigene geheime Polizei anfstellen. Wo ihre Gemeinden bekannt werden, ertanft der Regel nach nnr der allmächtige Rnbel ihnen eine gewisse Duldung. Dnrch wachsame Verbindungen, welche sie dnrch das ganze Reich unterhalten, erfahren sie Alles, was vorgeht, nnd wissen dem kommenden Unheil geschickt auszuweichen. Sie bestechen die Beamten nnd kaufen von denKon> sistoricn ihre gottesdienstlichen Bücher, die ihnen entrissen worden, znrück, kaufen sich anch von den öffentlichen Kirchhöfen frei. Je mehr sie geängstigt werden, desto mehr müssen sie ihren geistigen und weltlichen Peinigern Geld opfern. 47. Sektenwesen. Nnd was haben sie verbrochen? Einein Nichtrusfeu ist so fürchterliche Strafe schwer verständlich. 05 Die große Menge besteht aus Starowerzen, d. h. Anhängern der alten Kirchengebränche, welche die litnrgischen Neueruugcu, die im Jahre 1654 begannen, nicht annehmen wollten, wahrlich nicht ans Lust an Widersetzlichkeit, sondern weil sie ernstlich glaubten, jcneNenerungen gefährdeten ihr Seelenheil, denn es werde die heilige Kraft der Sakramente und Gebräuche dadurch ver« nichtet. Diese gelten ia dem gemeinen Russen gleichwie Zauber-mittel, deren ^raft dahin, sobald au Wort oder Zeichcu etwas geändert wird. Weiln man daher, so meinten jene Altgläubigen, Iisus sage statt Mus, so sei nicht der Heiland gemeint i — wenn man das Krenz anders schlage, als mit dem Zeige- und Mittelfinger, so werde es eine gemeine weltliche Ocberde; ^ wenn die alten Heiligenbilder nicht genan kooirt würden, sei es aus mit ihrer magischen Wirkung; — wenn die Prozession nicht ihre Richtung nach dem Laufe der Tonne nehme, werde sie herabgesetzt zu einem gewohnlichen Geschäftsgänge. Die ganze Kirche hielten sie für entweiht und ketzerisch geworden durch jene liturgischen Aenderungen, und als eine Kirchenver> sammlnng im Jahre 1666 sie mit dem Vauuc belegte, flüchteten sie in ihre Wälder nud erduldeten die bittersten Entbehrungen und Verfolgungen- Ia Viele verbrannten sich lieber lebendig in ihren Hütten, als daß sie sich unterwarfen. Vergebens wurde die änsierste Härte gegen sie aufgeboten, sie ließen sich nicht ausrotten, und sobald sie wieder einige Zeit Ruhe hatten, breiteten sie sich wieder aus. Weil nun nach ihrer Ansicht die Sakramente kraftlos ge worden, so sielen sie in ihren verwirrten Sinnen von einer Settrnbildung in die andere. Die Einen sagen, es giebt keine apostolische Erbfolge und daher keine ächte Priesterweihe mehr-Die Anderen glauben, die Ehe sei unfgehoben. Wieder Andere wollen überhanpt nichts mehr von Sakramenten wissen. Einige verwerfen auch die Bilderverchrung nnd das Gebet für den Zaren, der ihueu -'.scheint als der Zwiughcrr eiuer besteckten Nft Kirche. Es giebt sogar nicht Wenige, die auf die Wiederkunft Christi auf dieser Erde warten, nud auch Solche, die sich rühmen, sie allein seien noch im besitze des ächten alten Salböles oder Chrisams. Nichts thun sie lieber, als über Glaubenssätze streiten, wobei sie sich zu Schlußfolgernngen versteigen wie, daß das Kirchenjahr nicht mitten im Winter beginnen könne, weil im Winter keine Aepfcl an den Bäumen hingen, Eua also ihrem Manne keinen Apfel habe anbieten können. Je mehr der Staat die Altgläubigen verfolgte, desto mehr verhärteten sie sich in ihrer stolzen Selbstgerechtigkeit, und zuletzt bildete sich auch eine Sekte, die Waudcrer, die flüchtig über die Erde ziehen wie edles Wild nno durch keinen Verkehr mit den verhaßten Ncugläubigen sich verunreinigen wollen- Dieser Starowerzen rechnet man gewöhnlich gegen 7 Mil^ lionen, es können auch 10 sein, ihre Unzahl verbirgt sich ins Dunkle uud Ungewisse. Sie wohnen zerstreut durch ganz Nnßland, insbesondere an der Wolga und in den klcinrussischen Landstrichen. Die Kosaken stemmten sich auf den alten Glaubeu schon deßhalb, weil der neue von Großrnssen herkam. Von den Don'schen Kosaken gehören die Meisten, die Ural'schcn beinahe sämmtlich zn den Altgläubigen. Daher mag es auch kommen, daß ein gntcs Drittel der russischen Kaufleute Stnro-werzen find, weil die Gilden der .Kaufleute sich hänsig mit Kleinrnssen anfüllen- Ganz andere Leute enthalten diejenigen Sekten, die mehr oder weniger protestantische Grundsätze hegen. Ihrer mögen ?> bis 4 Millionen sein. Die Hauptmasse heißt Malokanen, durchgängig anständige nüchterne nud redliche Leute, die iu Tracht Wohnnng nno Feldban sich vorthcilhaft auszeichnen und pünktlich ihre Steuern entrichten. Ihr Streben ist, die alte einfache Christen Gemeinde der Apostclzeit darzustellen. Ihre Presbyter sind ebenfalls Vaueru, die iu der Schrift am besten Bescheid wissen und Geist nnd Sprachgewandtheit be- sitzen. Alles was ich von ihren Versammlungen mid ihrem Glauben an innerliche Erleuchtung erfuhr, erinnerte mich an die deutschen Mennoniten in Ober-Canada, nnter welchen ich einst ein paar schöne Tage verlebte/) Wahrscheinlich ist der, eine oder andere von Mcnno Simons landfahrenden Schillern auch ius Innere von Rußland gerathen und hat den Samen, zu dieser Sekte ansgestreut. yabrn doch die Ttuudisteu an der mittleren Wolga die protestantischen Anschauungen von ihren deutschen Nachbarn angenommen. Dagegen fehlt jeder sichere Nachweis, nm an ein paar russische Sekten des MittelnlterZ auzntnüpfen, — an die „Geschorenen", die das Priesterthum verwarfen und im 14. Jahrhunderte in Nowgorod und Pskow, oder an die „Sabbatsfester", die zn jüdischen Ansichten zurückkehrten und im >5. Jahrhunderte in Kiew erschienen. Eine dritte Klasse — höchstens eine Million zusammen — verstieg sich in ihrem armen Gehirne zu allerlei lächerlichen und abscheulichen Ideell, wie sie an Stelle des einfachen Gottesdieustes eine Ekstase durch deftige rasch wiederholte Be-wegnngen des Leibes, uud au Stelle der Ehe, des allein menschenwürdigen Verhältnisses zwischen Mann nnd Weib, irgend eine andere Gemeinschaft nnd Verzückung setzen könnten. Dahin gehören die Springer, die Chlysten, die Skopzcn. Vielleicht ist die Sage von ihrem Treiben ärger, als die That. 48. Folgen von Religionsfreiheit. Würde nun auf den Wegen, die der menschenfreundliche Alexander II. schon zn Anfang seiner Negiernng betreten, fortgeschritten nnd Religionsfreiheit verkündigt, was möchte wohl die Folge sein? Von den letztgenannten Sektirern würden einige ähnlich, wie l)Lüher, Land und Leute m der alten und »eucn Welt. Göttingen 1855, Wi^and. I 115^158, v, Llihei, NMand III, 7 98 die Shaker in Nord^Amerika, bei der Oeffentlichkeit sich vielleicht ausbreiten, die verbrecherischen aber ersticke:! nntcr Verspottung nud Verachtung, Unter den. Altgläubigen würde ihr Princip, weil sie in der Religion sich an das Aeußerliche, die Liturgie, halten, mit verdoppelter Kraft auftreten, sie fort nud fort zur Zersplitter-nug in Unterseiten antreiben, nud gerade dadnrch würdeu sie an Bedeutling verlieren. Die protestantisch Gesinnten aber würden sich noch viel rascher, als es in der Stille schon geschehen soll, vermehren und ausdehnen. Ein großer Gewinn aber von nnfchälcharem Werthe würde jedenfalls dem Reiche zufließen. Im Inneren der Volks-masse, die für religiöse Dinge noch am meisten empfanglich, müßte mehr Leben nnd Regung sich entwickeln, die kirchliche Starrheit sich lösen, und an Stelle der jetu'gen Kirchlichkeit, die in liturgischen Worteu uud Gebräuchen befangen, etwas mehr Religion in Geist uud Wahrheit treten. Davon würden die sittlichen Kräste im ganzen Volke eine ungcmeine Belebung und Stärkung empfangen. Wie wenig von der russischeu Geistlichkeit selbst für die moralische Verjüngung ihres Volkes zn hoffen, ist Jedem sofort klar, der einen Blick in die Nacht von Unwissenheit uud Düukel gethan, in welchen die Meisten dieses Standes befangen sind-Ein Mann, der doch etwas von der Welt gesehen hatte, der Archimandrit Nikolaus, früher Vorstand einer Mission in Japan, lieh jüngst bei seiner bischöflichen Antrittspredigt sich folgender Gestalt vernehmen: „Der jetzige Unglaube ist die unausbleibliche Folge der ungesunden Ausdünstungen von den Eiterbeulen an dem ungesunden Leibe des Katholizismus und den uielen abgerissenen kaum noch lebendigen Leibcru des Protestantisinus. Noth thnt nns eine lebendige Thätigkeit, welche gerndezn gegen die 99 Ursachen des Unglaubens, gegen die Verdrehung der ächten Wahrheit im Katholizismus und Protestantisinus gerichtet sein muß. Wir bemühen uns mit ziemlichem Eifer, der Hydra den Kopf abzuhauen, aber tüchtige Werke gegen den Katholizismus und Protestantismus haben wir nicht." Die armen Prälaten! Warum schreiben sie denn keine solchen Werke? Zeit dazn hätten sie ja genug. Oder ist es den Herren vielleicht zu schwer? 7' XV. Konstitutionelle Freiheit. 4i». Schwere Besorgnisse. Würdeu die 3)iittel, um das Volk zu einem edleren Da-sein umzubilden, kräftig und audanernd angewendet, so umrde ihr Erfolg zwar erst nach und nach sichtbar werden, jedoch unausbleiblich. Die Russen selbst aber hoffen ungleich mehr von Reformen der Staatsverfassnug. Diese bedeuteu uun in Rußland wenig für deu großen Zweck i denu sie kommen nur dein geringen Vrnchtheil zu Gute. der sich zu deu Gebildctcreu rechnet. Nachwirken werden freilich politische Aenderuugeu all-mälig auch im Volte. Da ist nun der erste Oedanke eiue konstitlltionelle Ver-sassnng. Allein es giebt eiue kleine, aber mächtige Partei uuter den höchsten Würdenträgern, die Fnrcht uud Entsetzen hegt vor parlamentarischem Leben und Treiben in Rußland. Die Altkonseruativen weisen darauf hin, wie der großen Volks» masse diese Angelegenheit uöllig gleichgültig sei, nud mit noch mehr Recht betonen sie den oftbewährteu Gruudsatz, daß ein Staat durch das erhalten wird, wodurch er geschaffen ist. Nun ist iu der That das russische Reich eine Schöpfung der Zareu. Sie habeu in der Mogolen Zeit die Theilsürsteu-thiimer zusammengefügt, sie haben die Länder rings um den grosirnssischen 8tern erobert, sie haben alle und jede Stantsein-richtnng geschaffen, )hre Macht ist beständig gewachsen und IM zwar mit entschiedener Zustimmung des Volkes; denn der rus-fische Staatsgedanke ist der asiatische, welcher die Gewalten in einem Haupte einigt, und nicht der europäische, welcher sie nnter Behörden nnd Korporationen vertheilt. So ist die Kaiser-tronc der Ring geworden, der allein Rnßland znsammenhält, nnd der Zar ist wahrer Selbstherrscher mit einer Machtvoll» kommenheit, wie sie seit der letzten Römer-Zeit in Europa nicht vorgekommen. In Rnßland ist der Zar Alles, nnd alle Anderen sind nichts neben ihm. Sein Wille ist des Reiches Seele, nnd seine Macht festgewurzelt wie Religion in des Volkes Seele. Also von dem Tage an, so prophezeien die Altkonservativen, wo diese kaiserliche Vollgewalt geschwächt wird, ist auch das Reich geschwächt nnd gelockert, es fängt zn sinken an, nnd wer weiß, ob es den kommenden inneren und äußeren Stürmen widerstehen mag. Diese Anschauung der Dinge sollte man wahrlich nicht belächeln. Es ist alle Ursache znr Nesorgmß vorhanden, das innere Gefüge des rnssischen Reiches könne lahm und schwächlich werden nnd sich lösen nnd lockern, sobald die kaiserliche Macht mit der herrschenden Gewalt ihrer Offiziere nnd Veamten beschränkt wird. Denn außer dieser Macht lind Gewalt, die im innersten Bewußtsein des Volkes wurzelt, ist sonst nichts da, was das Neich znsammeuhält, als Gewohnheit, die den Erschütterungen der Neuzeit schwerlich widersteht, uud Vaterlandsliebe, die unter höher Gebildeten gewiß reichlich vorhanden, aber die Massen nicht hinlänglich durchdringt. Das geineine Volk hat überhaupt teiueu Staatssiun, seiu Denken und Thun geht nur alls das Allernächste, beschränkt sich auf die Gemeinde, nnd fällt deßhalb, sich selbst überlassen, sofort der Neiguug zur Kleinstaaterei anheim. Statt politische»: Verstandes und Selbstgefühls sehen wir hier nur die Nnmüu- 102 digkeit. Fürstliche Großgrundbesitzer aber bilden im Verhältnisse zur Ansdehnnng des Reiches nur eine sseringe Anzahl, ?uno diese ist ohne inneren Znsminnenhalt nnd ohne hervorragenden Einflnß ans das Ganze. Unter dem Landadel endlich nnd den gebildeteren Städtern findet sich wohl der reinste Wille, allein wenn altgewohnte historische Klammern fehlen, ist anch die edelste Vaterlandsliebe nicht ergiebig genug an Macht nnd Dauer, Und bezeugen nicht tausend Thatsachen, daß auch bei einem großen Theile des rnssischen Landadels eine politische Tngend fast ebensowenig zn finden, als bei den Bauern, nämlich die Tngend der Voranssicht nnd des beständigen Rechnens mit der Znknnft? Zwei Stände giebt es allerdings, die über das ganze Neich hin gegliedert nuo gewohnt sind, zusammenzuhalten, das sind die höheren nnd mittleren Ciuil- nnd Militärbcamtcn nnd die Geistlichkeit, Gerade ihr Einfluß aber würde durch die Verfassung gebrochen, es würde ihnen nach Nerkündnng derselben der Boden nnter den Füßen sinken, nnd es möchte sich fragen, ob der Rest vom Ansehen des Kaisers oder sein konstitutionelles Ministerium die fehlende alte Zarenmacht, nnter deren Schild sich Geistlichkeit nnd Beamte geschützt nnd geeinigt fanden, ersehen könnte. So erblicken wir in der Hauptsache nnr eine weiche, ungewisse, vielleicht glitschige Masse und nicht den festen historischen Untergrund, ans welchem ein konstitutionelles Gebäude zu errichten wäre. Mehr noch als eine innere Lockerung des Reiches ist zu befürchten, daß parlamentarische Regiernngsweise sofort einen Parteikampf in der Weise der Nengriechen und Spanier znr Folge hat, ein Ringen von Parteihäuptlingen um den Sieg lediglich zn dem Zwecke, den Staat für sich und ihr politisches Gefolge auszubeuten. Das würde einen großen Theil der besten Kräfte ^____103____ binden, deren freies Walten zum wirthschaftlichen und sittlichen Fortschritte die Nation driugend bedarf. Aergere Geschichten könnte eine derb realistische Anschauung der Dinge dieser Welt aufführen. Es wird wohl unvergessen bleiben, daß in den nihilistischen Kreisen ungescheut die Ansicht auftrat: Rußland müsse zurückkehren zu der Kleinstaaterei der Theilfürstcnthnmer, diese allein sei dem Genius des Volkes gemäß und natürlich, 60, Nothwendigkeit. Dem allen möge nuu sein wie ihm wolle, -^ so viel ist gewiß, es bleibt keine Wahl mehr- Auch das russische Reich treibt eiuer politischen Entwicklnng zn im modernen enroväischen Sinn und Geiste, In der letzten Icit Alexander I. verhandelte nur die Jugend lebhaft über konstitutionelle Einrichtungen, Unter dem Drucke des Systems des Baisers Nikolans I. dehnte sich das Verständniß derselben wie die Sehnsucht danach über die meisten Kreise der Gebildeteren aus. Schon 1858 wurde in den Adelsvcrsammlnngen der Ruf laut nach der ScmZkaja Dnma, der alten Landesvcrsammlnng, die ieht regelmäßig wiederkehren müsse. Im Jahre ll>i'ö tönte der Ruf noch heller, uud seitdem ist das Verlangen fort nnd fort heftiger geworden. Mitten in den eisigen Schrecken, welche die nihilistischen Unthaten verbreiteten, in einer Zeit, wo die Zusammcufnssnng und Verstärkung der Staatsgewalt als Nothsache erschien, vernahm man in der Presse keine andere Mcinnng, als diese, daß das Heilmittel eine konstitutionelle Verfassung sei. Beinahe Alles verlangt sie, was europäische Kleidnng trägt, verlangt sie ungestüm aus Stolz und Freiheitsliebe, verlangt sie voll Sehn-fncht, um breunende Wunden des Landes zu heilen, vielleicht noch mehr ans Scham, hinter allen anderen Völkern Europa's zurückzustehen. Es nmß ja die Russen empören, daß sie minder der poli» !04 tischen Freiheit werth erscheinen, als Serben nnd Nnmänm. Man legt übermäßig Gewicht daranf, das; schon die alte Bojaren-verfanunlnng den Zaren mit ihrem Neirathe zur Seite ssestanden, und erinnert sich, daß die Dolgornki, als fie 17W die Kaiserin Anna ans den Thron hoben, ihr das Versprechen abnahmen, zn regieren mit einem Neichsrath ans den vornehmsten Adeligen, und daß Katharina ll. ans dem ganzen Reiche im Jahr 17t>7 Abgeordnete nach Petersbnrg berief, lim Reformen ',>l erörtern. Verflucht nnd vermaledeit wird die Venmtenuevschwönmg, die jedesmal, gerade wie m der ersten Regiernngszeit des jetzigen Kaisers, dnvch ihre ^iänkc das Znstandekontnlen des edlen nnd hcilvollen Werkes hintertrieben haben soll. Bei der Raschheit, mit welcher jetzt der gesteigerte Handels' und Indnstrieuerkehr aller Orten Sammelpunkte uon städtischer Nildnna heruorrnft, bei dem einmal in Flnß aerathenen politischeil Getriebe, das hineindringt in die entlegensten Adels-kreise, läßt es sich nimmer wieder zur Ruhe bringen. Cs wird also unr wachsen nnd sich steinern, nnd könnte in gefährlichen Zeiten vnlkanisch auftreten. )lllr ein höchst sscscheidter und höchst eurrcn'scher Kaiser, der es verstände, die Massen an sich zn fesseln, konnte der andrängenden Gewalt widerstehen, welche die konstitutionelle Beweanna, einmal gewonnen hat, nnd sein Nachfolger würde ihr dennoch nachgeben. 51. Antnüftfunsten. Oefahr hier Gefahr dort, — jedes ist schlechter, wie das spanische Sprüchwort saat: auldo» son ^ooroZ. Es sieht sich allerdings so an, als könnte ein Parlament mit seinen Folgen für Nnßland eine Knr anf Leben nnd Tod sein. Doch das ist nnr Möglichkeit, ^ Gewißheit aber ist, das; ohne dieses Heilmittel im Volksleben eine langsam schleichende, aber nnauf-haltsame Vergiftung vor nch geht. Man muß eben anf die besseren Iustiukte des Voltes und 105 ouf die russische Gutherzigkeit nud Fügsamkeit vertrauen. Welche Wirbelwinde, welche Sturmfluten traten 1848 im deutschen Volke ans, nnd wie schön hat sich doch Alles wieder geebnet! So Viele der klügsten Lente in Preußen meinten früher, ein Volksparlament werde das Staatsleben außer Raud und Band treiben, nnd wurde es nicht unschätzbar dadurch belebt und gekräftigt? Muß denu aber der konstitutionelle Trank geboten werdeil, so ist es sicher klüger, gleich den vollen Becher hinzustellen, also ganz nach Art der europäischen Länder Ober- nnd Unterhaus zu schaffen mit dein Rechte der Steuerbewilliguitg und der Zustimmmiss zu den Gesetzen, daneben aber die Presse frei-zugeben. Nur dann ist zu hoffen, das; die Unruhe nud ärger-liche Aufregung sich legt, Tropfenweise verabreicht, könnte der Trank bei Gebern wie Nehmern wie verzehrendes ,"veuer wirken. Die neuen Einrichtungen aber ließen sich bereits an Vor» handcues anknüpfen, Das Unterhaus ergaben von selbst die Abgeordneten der Temstwos oder Prouinziallandtage, das Oberhaus wäre zusammenzusetzen ans dem Reichsrathe, in welchem der Baiser die Ttellen besetzt, und aus gebornen Reichs-rathen, deren Recht und Würde tbeils am Großgrundbesitze, theils au deu höchsten Aemtern der Großstädte, G^istM^is ^^ Universitäten hinge, Freie Presse aber ist die nothwendige Ergänzung jeder parlamentarischen Verfassnng. Welche Veränderungen sonst in den Ttaatseinrichtnngcn zn treffen, kann füglich mir Derjenige wisfen, der lange nnter deu bestehenden gelebt und sorgfältig ihre Wirkungsweise erwogen hat. Wie einmal die Dinge geworden, kann jede Maßregel, auch die unschuldigste, zweischneidig wirken. Man wird eben noch eine Zeitlang wie in halber Dämmerung um-hertappen. Bei der Eigenthümlichkeit der Charaktere nnd Zustände weiß unr etwa der tief Eingeweihte nnd zugleich vollständig Unbefangene zu sagen, wie weit man in der llmänoer I ung der bisherigen Organisation, welche das Reich gründete und zusammenhielt, vorgehen darf. Uns Ansieusteheuden schwebt kein anderes Muster vor, als die Staatsuerfassuug der Völker in Mittel-Europa, wir kennen nichts Besseres, und anch die Russeu werden fürs Erste verzichten müssen, Besseres zu schaffen, als was bei Völkern anf der Kulturhöhe als Erzeuguiß von jahrhundertelangen dämpfen nnd Erfahrungen dasteht. 52. Weitere Forderungen. Drei Forderungen aber scheinen wohl unabwcislich. Die erste ist, daß Treuuung der Justiz von der Verwaltung streng uud allgemein durchgeführt werde. Jede Art von fogenannter aomiuistrntwcr Justiz muß fortfalleu. Zweiteus möchte eben so nöthig als räthlich sein, die ge-sammte Staatsverwaltung möglichst zu vereinfachen. Also die Gerichtsbarkeit der „höchstdirigireudeu" Synode müßte auf rein kirchliche Angelegenheiten beschränkt werden, — statt des Reichsrathes wäre bloß eine Körperschaft zu lassen, welche die Gesetze vorbereitet, — die Geschäfte des Senates hätten die verschiedenen Ministerien unter sich zu vertheilen, ^ diese aber wären zugleich ganz in der Weise zn sonnen und zu verbinden, wie es in den europäischen Staaten Brauch ist. Die dritte Aufgabe ist die schwierigste, nämlich den Beamtenstand zn bessern. Erfolg ist nnr zn hoffen, wenn für jeden Zweig der Staatsverwaltung öffeutlich ciu bestimmter Gang vou Stndien, von praktischer Vorübung, und von streugeu öffentlichen Prüfnugen vorgezeichnet und zum unverbrüchlicheu Gesetze erhobeu wird, daß Nicmcmo, wer es auch sei, eine Stelle erhält, als wer sich durch Zeugnisse allseitig über Studien, praktische Vorschule, und gilt bestandene Prüfnngen ausgewiesen hat. Eudlich muß doch der Mißbrauch aufhörcu, daß Offiziere, die mau an der Spitze der Bataillone und Regimenter nicht mag, dem Ciuildieuste aufgelastet werden. Solcher „zn° 107 gezählten Offiziere", die wenig von dein «erstehen nnd leisten, was ihr Amt erfordert, foll es noch an zweitausend geben. Die Erbsünde rnssischer Beamten aber, — Fahrlässigkeit, Untreue, Bestechung, — auszutreiben, dazn hilft nnr die scharfe Leuchte der Presse nnd öffentlichen Verfolgung, Vielleicht möchte es anch ruthlich sein, bei jeder Semstwo eine Ait<> nnd Anklage-kannner für Jedermann einzurichten. Endlich — das darf doch nicht vergessen werden — konstitutionelles Staatswesen ist theuer. GZ regt die Kräfte an znm Arbeiten, uerzchrt aber anch rasch die Früchte. Man wird zu Ersparungen gezwnngen sein, welche nicht blos in den Haus' halt der Menge überzähliger Generäle cinschneiden. Reformen kosten Geld, wenn sie nicht auf dem Papier bleiben sollen. In Rnßland, wo man Alles gleich inZ Große anfangen muß und dabei das Geld, so wie es die Staatskassen verläßt, gleich zu versickern anfängt, kosten Nrformcn das Dreifache von dem, was anderswo genügt. XVI. Laug same politische Entwicklung. .',3. Möglichkeit des (helinsscns. Wie Berge hoch und steil erheben sich also die Aufgaben. Nur ganz langsam, Schritt für Schritt taun man sich der Erfüllung nähern. Unuorherznsehende Unfälle, Hindernisse olme Zahl werden sich einstellen. Nicht bloß die schlechten, auch die guten Eigenschaften der Russen können sich störend geltend macheu: ihr geistreiches und flüssiges Wesen, die surndelnde Ueberfülle uon Ideen und Vorschlagen, die Naschheit, mit welcher sie Alles ergreifen uud wieder liegen lassen. Nur durch Ansdaner nnd nncrschütterliche Festigkeit der Regierung, nur durch ernsten Willen uud Zusammenwirken aller Besseren werden sich die bösen Zwischenfälle allnmhlig überwinden lassen. Allein eine große Schwierigkeit liegt gerade darin, all die Männer, welche die Sache verstehen, so znsammenznschließen, das; sie sich nnter einander verstehen und einträchtig nnr anf das eine große Ziel hinwirken. Die Russen begreifen leicht und lernen langsam, Ihr ganzes Staats- nnd Voltswesen hat noch viel zn ruel von der Oewöhnnng, ich möchte sagen, von der Natur des asiatischen Despotismus, der es in alten Zeiten geformt nnd geschaffen hat, 3ie Umbildung kann nnr durch einen großen Kreis entschlossener und geduldiger Männer geschehen, die sich öffentlich über das ganze Reich hin die Hände reichen und höchste Klarheit des Denkens mit stets wacher Ge- l(»9 schicklichkeit verbinden, mn die Unarten und Rnclstöße des alten Tschin- und Zarenthnmes nnschädlich zn »lachen. Es wäre ja Thorheit, zu hoffen, die türkischen Griffe der Gewalt, das Schleichen der Polizei, die Neigung, sich bestechen zn lassen und Staatsgnt zn rnubeu, konnten in ein paar Jahren sich unterdrücken lassen-' man mnß froh fein, wenn fie nach Generationen verschwinden, So wird sich die Neforinarbeit uon einem Jahrzehnt lang-sain in das andere vorwärts schieben. Den Besten wird hundert Mal die Frendc daran verdorben werden, den Tapfersten wird hundert Mal Muth uud Hoffnung ausgehen. Allein vorwärts schieben wird sich die Arbeit, dafür sorgt schon mit seiner unsichtbar treibenden Nraft das Jahrhundert, in welchem wir leben. Ans die Dauer könnte das allmähligc Fortschreiten zn besseren Zuständen nnr dnrch zwei Ereignisse unterbrochen werden: dnrch Revolution im Innern nnd dnrch schweren Krieg von außen. Snchen wir nnZ anch darüber etwas klarer zn werden. 54. Ncvul«tion5furcht. Man bort häufig sagen: Rußland steht am Rande einer großen Revolution, in welcher Alles znsanniienbrichl. Diese Ansicht tritt aber außerhalb des Reiches viel häufiger auf, als in Rußland selbst. Schon ein Rückblick ans die Gefchichte sollte nns vorsichtig machen, solche Ansichten zn theilen. Wiederholt wurde schon betont, daß es nicht Art des Großrufsen ist, sich gegen ihr Oberhaupt zn empören und gewaltsam lluiwälzungen herbeizuführen. Sie ließen sich von jeher Alles nud das Fürchterlichste von der höchsten Gewalt gefallen, sie trünimten sich und schmiegten sich uud wichen aus, und fanden tanscnd kleine Mmste, die despotischen Gränel zn miloern, aber sie machten keine Revolution. Großrussische Art. den Despoten zu dekämpfen, ist nicht der offene Aufstand, soudern die geheime IN) Verschwörung, welche den Verhaßten umschleicht und plötzlich überfallt nnd beseitigt. Doch man sehe schärfer zu. Wer soll denn Revolution machcu? Die Bauern sind in Bezug auf politische Diuge die Gleichgültigkeit selbst, und die Soldaten, die aus dem Bauernstände hervorgehen, gehorchen Eid und Zucht, ohne viel zn denken. Die Kleinbürger haben nur Geschäft und Handwerk im Kopfe, und die Kaufleute wollen Geld und Rnhe. Die Empörung müßte also unter den oberen Ständen ausbrechcn. Von diesen ist aber die höhere Geistlichkeit der Regierung er. geben, und ein Theil der Beamten ist allrussisch konservativ. Die übrigen Beamten, die Edelleute, die Journalisten und Professoren müßten, wenn sie die Fahne des Aufstandes wollten flattern lassen, sie felbst tragen: sie wären sämmtlich Offiziere ohne Soldaten. Nur in dem einen Falle wäre ein Aufstand des Volkes zu besorgen, wenn man ihm seine Religion autasten wollte. Das könnte aber doch um dann geschehen, wenn die Rastolniks noch rascher, als es bereits der Fall ist, sich ausbreiteten, nnd die Regierung so unklug wäre, sie mit Gewalt unterdrücken zu wollen. Denn religiöser Zündstoff ist unverkennbar weit verbreitet , und die Naskolniks besitzen schon jetzt große Sympa? thieu bei dem Bauer, dem Kleinbürger, uud einem ansehnlichen Theile der Kaufleute. Wahrscheinlich würden aber auch dann nur hier und da Unruhen cutstehen, und die Regierung hinlänglich Macht behalten, diefe zu veremzelu und niederzuschlagen. Die großen Entfernnngen, die ungeheuren halbleeren Strecken verhindern in Rußlaud auf die natürlichste Weise, daß revolutiouäre Volksmasseu sich anballen. Aber der Nihilismus! Wie weuu zu der nihilistischen Bewegung eine religiöse hinzuträte, könnte da nicht ein ge^ waltiger Sturm die Gemüther der Vauern und Kleinbürger Ill erfassen? Würde das sie nicht endlich aufrütteln zu historischen Thaten? Manchmal scheint es wirtlich, als lasse so etwas in der Zukunft, als könnten ans ihrem Dunkel fürchterliche Thaten hervorbrechen, deren nächster Erfolg eine mogolifche Zerstörung sein würde. Um uns darüber klar zu werden, müssen wir in die Natur des russischen Nihilismns, in sein Entstehen und seinen Verlanf einzudringen suchen und uns in Zustände versetzen, in dmm, wie es im zweiten Theile des „Faust" heißt, nichts helfen will: Wenn's fieberhaft durchaus im Staate wüthet Und Uebel sich in Uebeln überbrütet, Wo Mißgestalt in Mißgestalten schaltet Und eine Welt des Irrthums sich entfaltet. Ueberhaupt läßt sich die nächste Zukunft der Russen nicht deutlich vorstellen, ohne Einsicht in das Wesen jener schweren Entwicklungskrankhcit zn gewinnen, die man Nihilismus nennt. Denn dieser Kranheit ist die Jugend verfallen, welcher Arbeit nnd Sieg oder Leiden für die beiden nächsten Menschcnalter angehört, nnd das ist derjenige Theil der Ingeno, in welchem am ungestümsten der Werdediang gährt, am heißesten die Sehnsucht glüht nach besseren Zustäudeu. XVII. Ocstlmdthnlc der Nihilisten. 55. Stände und Geschlechter. Daß wirklich die Theilnehmer an der nihilistischen Vcr-schiuörnng fast nur junge Leute waren, gab sich leicht uud nu°-zweidcntig zu erkennen. Die vor Gericht kamen, waren gewöhnlich in den Zwanziger, selten in den Dreißiger Jahren, und ihr Auftreten vom ersten Verhöre bis zum letzten Griffe des Henkers zeigte ganz den Ehrgeiz nnd Dünkel, den wilden Trotz nnd Todesmuth, wie sie nur der Jugend eigen. Nicht minder erschienen ihre Pläne so, wie sie unpraktische und unerfahrene Leute bliud in's Große hinein anlegen und dann ungeschickt ausführen, einige mcuchelmöroerische Angriffe ausgenommen, die plötzlich anf offener Straße gelingen tonnten. Ergraute Verschwörer winden nicht eben so nutzlos als uer-wegen ihre Vehmliriefe veröffentlicht und nicht nnt fürchten lichen leeren Drohungen nnd eitlen Schreckbildern um sich geworfen haben. Diese Art Verschwörer gefiel sich ahcr in dem Entsetzen, das sie verbreiteten, sie thaten groß als grimmige Weltverbesserer. Auch das war ganz nach Iugendweise, das; sie ihre Proklamationen öfter mit schauerlichen Gedichten be^ gleiteten, wie daß sie einander dnrch kühne Thaten und Heroismus zu übertreffen suchten. Auffallend häufig wurden unter ihnen Jünglinge be- iu; troffen, die entweder im Gramen durchaefallen oder sonstwie mi: Lehrern oder Behörden einen Anstoß schabt. Als die Erblichkeit des PopenstandeZ gesprengt war, drängten sich Sühne ans dieser Klasse zu den zahlreichen Stipendien, welche anch Aenneren das Studiren erleichtern sollten. Niedere Beamte aber kannten keinen höheren Ehrgeiz, als ihre Sühne anf Gymnasien nnd Universitäten zn sehen. Konnten die jnngcn Leute mm wegen Mangels an Fleiß oder Talent, oder weil ihnen bei den Professoren die Privatstnnden und andere Lehrmittel zn theuer waren, nicht vorrücken in die höheren Klassen, so wußten sie sich vor Unmnth nicht zn lassen. Schmal besoldete Tagschreiber, Lehrer, nnd andere kleine Beamte, anf welche der Drnck der Geschäfte mit der Nohhcit des Vorstandes lastete, lebten in ähnlicher Verbitterung. Einen zweiten Bestandtheil bildeten Juden, genährt von Kindesbeinen an mit Haß gegen die Negierenden; denn in Nußland findet sich ja dieses Volk eingeschränkt nnd znrückgesetzt wie kaum anderswo. Dazn kamen drittens Fähndriche und Lieutenants, die mit ihren Vorgesetzten einen Strauß gehabt, und viertens junge Edelleute, die in Folge der Anfhebung der Leibeigenschaft von dein glänzenden Vermögen, das ihre Eltern besessen, noch viel reden hörten nnd sehr wenig mehr zn sehen bekamen. Gab es neben solcher nlännlicher Verschwörerjugend noch eine andere, die in ihre Reihen trat nicht dnrch Unglück gereizt, sondern hingerissen vom bestrickenden Zanber der Ideen und Hoffnungen, fo war dies durchgängig der Fall bei den weiblichen Genossen. Weiberfinn fetzt fich bekanntlich, wo es anf Theorien ankommt, leicht inUnfinn über: daB wnrde anch hier recht offenbar. Eine Art Heldinnen aber waren wirklich diefe Mngen Frauen nnd Mädchen. Die reinste Ueberzeugung beseelte sie, nnd dafür opferten sie sich in heißer Leidenschaft, und kämpften voll Kraft und Ausdauer, wenn auch entledigt aller Anmuth. v. Lüher, Rußland III. 8 114 Noch niemals gab es eine große Verschwörung, in welcher das weibliche Geschlecht so stark vertreten, so feurig und streitbar gewesen. Dieses neue Blatt der Geschichte wurde erst in Rußland aufgeschlagen. Wer weiß, ob an den östlichen Amn» zonenkämpfcn, von denen das Alterthnm fabelte, nicht doch ein Fünkchen Wahres gewesen? 5U. Vollsarten. Es gab sich aber unter dieser verzweifelten Mädcheuschaar manche ethnographische Merkwürdigkeit kund. Trotzdem die Kleinrnssen, weil ihr Land so frnchtbar ist, wenig Armuth kennen, fand der Nihilismus doch vorzugsweise bei ihnen Boden, nämlich in der angeborncn Mißstimmung gegen die Großrussen, in dem Acrger über die großrnssischen Beamten und Ankäufer, die sich allerorten bei ihnen breit machen und insbesondere den altuolnischen Adel zu verderben trachten. Allein so häusig junge Männer ans Klein Nußland die Nihilisten verstärkten, so selten folgten ihnen darin ihre Landsmänninnen, Auch in Elend und Leidenschaft trägt eine Klein-rnssin noch ein wenig Poesie, noch etwas Kindliches nnd Ge< schämiges in sich, während die Großrussin entweder voll Geist nnd Lanne nnd Uebernmth ist, oder lauter Verstand und harte trockene Thatkraft. Es konnte daher nicht fehlen, daß junge Großrussinnen, sobald die sittliche und politische Erregung ihr Volk ergriff, sich schaarenweise in die Hörsäle nnd Litcratnrkreise drängten, und da die öffentlichen Znstände nnerträglich schienen, war sofort ein ansehnlicher Theil der Reuolutionspartei verfallen. In deren Zusammenkünften führten Gouvernanten, Lehrerinnen, Töchter von armen Beamten und Kleinbürgern das große Wort. Sie aber fanden die rührigstell Helferinnen an jungen Jüdinnen. Eine Jüdin, wenn sie einmal Grimm im Bnsen fühlt, hat ja bei ihrem eigenthümlichen kalten Fcner, bei 115___ der Hitze ihres Verstandes, Gift und Zorn genug für zehn Andere. Auch deutsche Frauen;immcr fehlten nicht: wo wären Deutsche nicht dabei, wenn irgendwo in Europa oder Amerika etwas ganz Besonderes sich zuträgt? Doch von diesen deutschen Nihilistinnen stand, soviel bekannt geworden, anch nicht eine Einzige mehr in den Tagen der Rosen. Von Männern dagegen fanden sich nnter den Nihilisten Vertreter all der europäischen Völker, welche das russische Reich umschließt, jedoch anffallcnd weniger aus Großrnßland, als alls Weiß- und Klein» rußland, uud vcrhältnißmäßig zehnmal mehr von jüdischer, als von russischer oder polnischer oder dentscher Abstammung. Die Menge dentschcr Nameu, die in den Nihilistenprozessen ans-tauchteu, gehörten fast durchgängig Juden cm, Viele von diesen trugen auch polnische Namen, Der Grnnd liegt nahe. Die lauge Mißhandlung des weiß« und klcim'ussischeu Volkes durch die Gwßrufsen erzeugt gegen Diese und ihren Staat ciucn Widerwillen, welchen der Knabe schon in der väterlichen Hütte einsaugt. Der stolze Jude aber kann sich vor Erbitternng nicht lassen, wenn er sieht, wie sein Volk nnd seine Religion in der ganzen Welt nicht mehr so schlecht behandelt wird, als gerade von Russen, die cr an Geschick und Geistesschärfe tief unter sich hält. Die meisten Nihilisten aber zeigten sich bekannt mit den Zuständen in Mitteleuropa. Entweder hatten sie viel darüber gelesen, oder Reisen in'ö Anstand gentacht, und daun trat ihnen fürchterlich der Abstich entgegen zwischen europäischer Bildung nnd Freiheit und der nackten jmnmcruollen Wirkliche keit in Rnßland, die diesen aufgeregten jungen Leuten noch mel abscheulicher nnd als ewig hülfloZ erschien, wenn sie nicht mi nencs Zeitalter herausführten durch gründlichen Umsturz alles Vestehenden. 8" 116 5?. Geringe Anzahl. Wenn man aber, wie außerhalb Rußlands gewöhnlich, ineint, die nihilistische Verschwörung sei weit verbreitet gewesen, habe tiefe Wurzeln im Volte und ihre Spitzen in den höchsten, Kreisen gehabt, so ist das — im Ganzen genommen — vollständig unrichtig. Die gemeinen Leute waren über die Verbrechen wüthend, die gebildeten voll Abscheu nnd Entsetzen. Nicht entfernt vermochten die Frevler irgend etwas wie einen Aufstand hervorzurufen. Was sie auch unternahmen, jedesmal genügte dazu eine .Handvoll entschlossener Burschen. Wohl aber steckten sie überall nmher, nnd gab es kaum eine größere Stadt, in welcher nicht Einige heimlich zusammenkamen. Auch fehlte es ihnen nicht an Geld, und sie mochten vielleicht nicht lügen, wenn sie sich rühmlen, sie hätten ein paar hundert' tansend Nnbel beisammen. Gleichwohl läßt sich von den höheren und mittleren Klassen -- das gemeine Volk kommt bei dieser Frage tau»! in Betracht ^ der Vorwurf nicht abwälzen, das; sie hier voll Gleichgültigkeit, dort in feiger Angst sich unthätig verhielten, Wo immer anch die Nihilisten ihre stillen Geldschrauben ansetzten, durften sie auf Nichtentdcäung rechueu, uud in den meisten Fällen soll ihr Spiel gelnmien sein. Wäre dagegen Zorn nnd Entrüstung, wäre der empörte Gemeingeist aller^ orten laut nnd nachdrücklich, zu Haus und in der Schule, auf öffentlichem Markte nnd in den Zeitungen, mit anschwellendem Nachhalle gegen die Frevler anfgetrelen, niemals hätten Diese e<' gewagt, mit so viel Hohnlachen und Frechheit Haupt und Hände zn erheben. Doch es war ja Alles wie vor den Kopf geschlagen, Wohl nnd Wehe des Reiches schien den Meisten ganz einerlei, nnd weil man allgemein den höchsten wie den nie? deren Beamten das Aergste zutrante, erregten die Angriffe auf Dieselben wenig Bedauern. Erst als die Meuchler sich an dcs Kaisers gesalbtes Haupt wagten, schrie das Volksgewisscn auf. 1!' 58. Russische Jugend. Wie ist nun die unheimliche Thatsache zu erklären, daß eine so bedeutende Anzahl von jungeu Leuten, die fast sämmtlich den gebildeten Ständen angehörig — rohe Bauern und Hand-werker find ja selten darunter ertappt — sich verband zu grimmigstem ^erstörungshasse gegen alle bestehende Ordnung nnd zu teuflische»! Verbrechen? Es ist nnsäglich traurig: im Lebensalter, wo goldene Träume und liebliche Hoffnungen um jugendliche Locken spielen, war und ist eiu Theil der gelnldeteu Iugeud iu Rnsüaud den elementaren Gewalten der Alleszer störnng, den unterirdischen Mächten verfallen. Die Erklärung bietet sich dar, sobald man einerseits russischen Charakter, andererseits die eigenthumliche Verkettuug von Ereignissen ins Auge saßt. Die nationale Eigenart tritt am hellsten im jungen Volte hervor. So bei den Romanen der Vang zum lebhaften geistig finulicheu Genießen, ^ bei den Deutschen die Idealität uud übervolles Geiuüth, — bei dem Eugländer roher Nationalstolz nnd Drang iu die Ferne, niu reich, uud iu die Oeffentlichkeit, um mächtig zu werdeu, — bei dem Nordamerikcmer abenteuere liches Plaueu in Handel und Technik, — bei dem Kreolen eine Smnenlnst, welche dem weißen Weibe voll Seele uud Schönheit die heiße dunkle Mnlattin vorzieht, — bei dein Russen Selbstüberhebung oder Tclbstvcrachtuug, leidenschaftliche Hingabe an ein Weib, an eine Idee oder scharfe schneidige Kritik. Da nun in der Jugendzeit dicht neben Glut nnd Sehnen und Jubeln die Verzweiflung liegt, so artet anch diese verschiedentlich je nach der Nationalität, Der junge Kreole wirft sich, wenn alle seilte Sterne nutergeheu, aufs Lotterbett uud schläft, oder er denkt an schmachvoll Tückisches. Der Nord-ameritauer duellirt sich auf Leben nnd Tod, oder stürzt sich in Trunk und Gemeinheit uud wird ein Rowdy. Der Franzose verpufft 118 Kräfte und Vermögen, bis seine Haut wird wie Pergament und sein Inneres ein bloßes Rechenbrett. Der Italiener nnd Tpanier wird ein uuheiluoller Bursche, vor dem Jedermann anf der Hut sein mnß, oder er ströuit seine Seele aus iu düsteren, jedoch nicht nmuelodischen Dichtungen. Der Engländer fährt nmher wie vom Teufel gejagt, nimmt Gift, oder wird ein querköpfiger, unausstehlicher Geselle. Dem Deutschen, wenn ihm das Herz brechen will, bricht es entweder wirklich und verzehrt sich in sich selbst, wic eine Kerze abbrennt, oder er flüchtet sich in Tchovonhaucr'sche Philosophie, oder endlich, er nimmt sich zusammen und wird ein tüchtiger Mensch, vielleicht auch ein Philister. Und was thut der juuge Russe? Entweder ergiebt er sich dem Alkohol, oder es fährt ein turanischer Geist hinein, der Alles zertreten möchte und zermalmen. In beiden Fällen ist ihm natürlich, was jeden Anderen nur dann überschleicht, wenn ihn das Unglück ganz zerschmettert oder ganz schlecht gemacht hat, nämlich eine Hcrzeuskälte, bei der sein Inneres so rein nnd ruhig wie stille klare Win-terluft bei zwanzig Grad unter Null. Nichts regt sich in dieser kalten Leere: nur der böse Wille ist wach nnd thätig, der denkende nnd rechnende böse Wille, durch kein Gefühl ge< hindert, durch keine Ehrfurcht und keine Kindesliebe, durch kein religiöses oder sittliches Vedenlen, selbst nicht durch Torge um sich selbst. Das ist die Cnmmung, in welcher sich der nihilistische Gedanke festsetzt. Unglücklicher Weise tritt zu jener Geistes» nnd Herzenskälte etwas hinzu, was der größte Feind auf' strebender junger Nusseu. Anf der ganzen Erde giebt es Niemand, der fremde Ideen fo leicht anfnimmt, gleich sie so rich' tig versteht nnd so fügsam sich ihnen anschmiegt. Anch der junge Nordamerikaner ist nicht im Stande, mit gleicher Raschheit sich ein nmfangrcichcs Wissen anzueignen. Der Rnsse 119 braucht nur hinzublickcn, so faßt er schon die Dinge nils. Mit einer gebildeten Russin ein Gespräch zu führeu, ist ciu ausgesuchtes Vergnügen. (5s rührt an alle Dinge, die unter dein Himmel uud tief in der Erde, Alles begreift sie im Nu, wendet sofort es au und zieht schneidend nud unerbittlich die Folgerung, Allein mitten im Forschen und Ttudiren überfällt den Rnssen regelmäßig eine ganz nnbesiegliche Unlust, weiter zu arbeiten, und sofort ist er auch völlig überzeugt, er wisse längst genug. Und was ist der Erfolg? Regelmäßig bleibt er in Halbbildung stecken. Selten ringt er sich empor zur Höhe des Wissens, ja nnr zn geistiger Selbstständigkeit uud fester Ueberzeugung. Mit Leichtigkeit denkt er sich in aller Welt An-sichten hinein, seine eigene Meinung bleibt flüssig, unklar, leicht umzuwandclu. DaB Ende ist, daß der junge Mann eben jener unglücklichen Halbbildnng wegen, weil, er doch an irgend etwas sich halten muß, sich in dem befestigt, was der grobe gemeine Verstand ihm als letzten Schluß darbietet. Gemüthskälte uud Halbbildung -— Beides ist der Grund und Boden, in welchem der Nihilismus Wurzel schlägt. XVIII. Elitwicklung des Nihilismus. 59. Liberaler Unterbau. Das Verständniß aber, was der Nihilismns für Rich land bedenkt, eröffnet uns die Geschichte seiner Entwicklung. Nach den Thatsachen zn schließen, die aus diesem dunklen Herssattsse bekannt geworden, glich der Nihilismus einem Gebäude, das von seiner unteren Grundlage sich nach oben zn beständig verkleinert, einem Oebäude von uier Stockoerken, jedes obere viel kleiner als das untere- Ter erste breite Ansatz war der liberale, ^ dieser verengerte sich zum socialistic scheu Getriebe, — dieses zur Unternehmnng, die höchsten Spitzen der Gewaltherrschaft zu vernichten,--nnr wenige Theil nehmer zählte noch der letzte Kreis, der sich gegen des Baisers Leben verschwor. Das oft wiederholte Wort „Rußland ist Despotismus, ssemildert durch Meuchelmord" ist iu der nihilistischen Ver» schwürung in eine neue und größere Erscheinnng getreten. Ehedem war blos; der Hoftreis politisch thätig, die ganze übrige Volksmasse still und stumpf, ^ damals eiuigten sich nur We nige znr blutigen That. In uusereu Tngeu, wo die gauze gebildete Welt Rußlands in fieberhafte Unruhe versetzt ist, tain der Meuchelmord aus dein Volke selbst, und weun er sich früher nur gegen ein einziges Hanpt richtete, sollte jetzt das Verderben alle Gewaltsmenschen treffen. 121 Neigung dazu war schon in deu lebten Jahren des Kaisers Nikolaus reichlich vorhanden. Harthansen, dem man in Bezug auf Rußland nichts weniger, als Neiguug zum Schwarzfärben nachsageu kann, schrieb im Jahre >84.1, zu einer Zeit, nio es nur noch wohlhabende Studenten gab, folgende Be-inerkung nieder: „Die Studenten stehen unter strenger Aufsicht und werden scharf beobachtet. Von eigentlichem Studentenwesen, Duellen n. s. iv. soll nichts zu merken sein. Nm so nuffalleuder ist die sich überall, wo sie nicht beobachtet nud controlirt zu sein glauben, kundgebende politische Gesmnnua., ineist der allerdestruetivsteu Nrt, uud doch ist die Literatur scharf überwacht, und von den Professoren hören sie iu den Vorträgen auch niemals nur die leisesten Audeutungeu solcher Doktriueu und Meinungen. Es ist ein Miasma! Die frühere geringe Ilebcrwachuug der Hofmeister uud Koiwernanten, welche alljährlich aus Frankreich uud der Schweiz uach Nußland strömten, trägt die Hauptschuld, daß diese Doktrinen sich dort im Schooßc aller Familien verbreitet haben. Die späteren Verschwörungen unter Baiser Alexander haben sie dann tvadi tionell der Jugend überliefert, Die Lehren herrschen in großer Ansbreitnug unter allen Studenten und selbst in deu Kmuna' sien und Seminareu, dann aber vorzüglich in den Kadetten-Häusern, den Erziehungsinstititteu der Hauptstädte, uud unter deu jungen Leuteu in Civil uud Militär, besonders deu jungen Gardeoffizieren,"') Es war ja natürlich, ie schwerer und beklemmcuder die Gewaltherrschaft die Geister niederdrückte, um so flammender wogte Has; und Empörung dagegen durch die Reihen der Iligeud. Weil das geistige Ont ibuen verkümmert, jede freudige Theilnahme an den öffeutlicheu Diugen verbittert wnrdc, gerade deßhalb erschielt den Jünglingen alles Staats- nnd 122 Regiernngswcsen als grnndschleä)t und unheilbar, und mit einer Art von Wollust dachten sic sich in die gründlichsten, grünlichsten Umwälznngsideen hinein. Wnrde doch in den gebildetsten Hänsern die Grundfrage nach der Berechtigung von Eigenthum, Ehe, Familie und Erbe so alltäglich besprochen, als ließe das alles sich ändern, wie man eine Hand umkehrt. Es war jene Gcsinnnng nicht gerade ein schlechtes Zengniß für die jungen Leute; denn der Jugend, die nicht welk geworden, ist es natürlich, das; sie das Schlechte und Niedrige haßt, in der Vorstellung es zehnfach vergrößert und nnwürdige Fesseln zn sprengen trachtet. 6tt. Sozialistische Ideen. Die schärfste Anfsicht konnte nicht hindern, das; die Bücher von Fourier, Prondhon und Louis Blanc, von Büchner, Karl Vogt und Molcschott massenhaft mit den sturmläntenden Schriften von Herzen ins Land kamen, heinilich von Hand zu Hand gingen, ihr Inhalt verschlungen und feurig erörtert wurde. Namentlich die Plattheiten in Ludwig Büchners „klraft und Stoff" richteten weit und breit eine wahre Verwüstung der Geister an- Da sollte nun den jnngen Nüssen in ihrer eigenen Sprache der Prophet erstehen — Tschcrnyschcwöky. Im Jahre l«55 begann er mit Veröffentlichung von Ansichten über Kunst und Aesthetik, deren Wunderlichkeit kaum die haus» backcne Armnth verbarg, und schritt dann znr Aufdccknng des wahren «anthropologischen Princips in der Philosophie". Darin wnrden Gedanke nnd Wille als etwas Selbstständiges gcläugnet, den Thieren Denkfähigkeit und ideale Gefühle beigelegt, jeder Antrieb auf den Egoismus zmückgeftihrt, das Gnte als das bloß Angenehme oder Nützliche erklärt, alles Schlechten Ursache bloß im Mangel an Mitteln zur Befriedig' ung der Bedürfnisse gefunden. „Nächst dem Athmen darf der Mensch nicht Mangel leiden an Essen nnd Trinken: würde 123 nur diese eine Ursache des Bösen beseitigt, so wiirden alsbald neun Zehntel alles Schlimmen aus der menschlichen Gesell» schaft verschwinden." In anderen Schriften zog Tscherm). schewsty gegen den persönlichen Aesil; zu Felde und verfocht leidenschaftlich den russischen Gesammtbesil; der Gemeinde. Später wegen revolutionärer Umtriebe verhaftet, schrieb er den Roman „8to ä«Iut.j?" „Was thun?" Da hatte nun auch die junge Frauenwelt ihr Evangelium. Das Weib ist durch die Ungerechtigkeit der Gesellschaft jetzt gefangen wie im dunklen Kerker, es trägt Fesseln an Leib und Seele: es muß sich aber entwickeln, entwickeln zur vollen Uuabhängigkeit, leben wie es selbst will, Niemand frageu und uou Niemand etwas verlangen, sein Brot sich selbst verdieueu nud Herrin sein seiner selbst. Rasch entschlossn machten einige snsche uud viele ver^ blühte Mädchen Ernst damit, und die jungeu Herren erachteten cö für einen himmlischen Beruf, die fchwcsterlichcu Glanbens-genossinnm aus der laugen Gefangeuschaft zu erlösen. Die erste Aufgabe war, in edler Unabhängigkeit sich selbst zn ernähren, die zweite, öffentlich wie Männer Dienste zu leisten in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Mädchen griffen zn Nadel nud Scheerc oder zur ärztlichen Hilfeleistung feiner und niederer Art, oder gingen, wenn sie Mittel hatten, ans höhere Schulen, Daß sie aber dcu alberueu Schranken der Weiblichkeit entflohen, sollte man ihnen schon von weitem ansehen. Sie be< waffnetcn sich mit blauer Brille, warfeu das Haar als lästig bis auf eine Handbreit weg, nud sahen mm ans wie nnwillige Knaben, hier mit geistreichen, dort mit verbissenen ^ügen, stets mit energischem Blicke uud Mundwinkel. Die Wonnen uud der Ekel und die Streitigkeiten freier Liebe verstanden sich bei manchen von selbst, die jungen Mädchen waren ja Priesterinnen der Vollfreiheit. Die Acrmstcn hatten keine Ahnung, das; bei dem Weibe heilige Scham die zarte Hülle ist von Seelenadel. 124 Tritt aber einmal das Weib handelnd auf den äffend lichen Markt, so geht sie darin eben so rasch vor, als der Mann im Denken. Die jungen Weltverbesserer erhielten dnrch ihre weibliche Genossenschaft beständig einen Ansporn, der bei anderen geschichtlichen Verschwörungen fehlte. Nur nnter den Franzoseu, hin und wieder bei den Spaniern, machte sich dies treibende, anfeuernde weibliche Element bei Volksbewegungen bemerklich. 61. In's Volk gehen. Jene Gymnasiasten Studenten uud Literatcn hatten gefunden, daß in Nußland Alles schlecht sei, - daß Religion nud Staat, Recht und Besitz und jede bürgerliche nnd gesellschaftliche Einrichtung von Grund aus müsse geändert werden, — daß mau, nm zu dieser Aufgabe tüchtig zu sein, sich innerlich zu härten uud zu stählen habe, ^ daß mau Seelenliebe und Natnr-schwärmeu, auch Kunst nud Musik und Dichtung bei Teite werfen müsse als romantische Alfanzerei. Nur das Volk sei brav und groß uud bildungsfähig, nnr was dein Volke helfe sei gut. Weil sie nun gar nichts gelten ließen, Alles und Alles für faul nud in dcr Wurzel verdorben erklärten, so nannte sie Turgenjew iu seiuem Romane „Väter nnd Söhne" Nihilisten, und dieser Name blieb haften- „Ein Nihilist — hieß es darin — ist ein Mann, der sich vor keiner Antorität beugt, dcr kein einziges Prinzip auf Treue und Glauben annimmt, einerlei, wie hoch dies Prinzip in der Meinung der Menschen gilt," Freilich, was dann werden solle nach der allgemeinen Zerstörung, blieb im Einzelnen im Nntlarcn: nnr so viel scheint ausgemacht gewesen zn sein, daß Privateigen-thnm zu ersetzen durch gemeinschaftlichen Vesitz, Ehe durch Liebe nach Wohlgefallen, Kirche durch freie thcistische oder atheistische Zirkel. Staat durch Telbstregieruug der Gemeinden, 125 endlich das Reich durch eine Menge kleiner Freistunten, die sich nach Art der uoroameritanischen zu uerbüuden hätten. Unerläßliche Vorbedingung jeder Neuscho'pfung war der Sturz der gehaßten Regierung, der Stütze und Wächterin des Bestehenden. Dies Werk war aber nicht zu vollbringen, ohne dasi Ulan das Volk in Bewegung setzte. Da aber die nihilistischen Kreise, weil sie ja zu den gebildeteren gehörten, keine Berührung hatten mit der Bauernmasse, so entschloß man sich, unter das Volk zu gehen, personlich in das Dickicht der Land» beuölkerung hinein zu dringen gleichwie in einen Urwald, um darin zu renten, zu ackern, zn säen. Man machte sich „ge-meinlcutig", m» die gemeinen Lente zu erlösen aus Schmutz Armuth Sklaverei und Unwissenheit. In Volkstracht vei> kleidet gesellten sich Jünglinge nnd Mädchen hier zu Hemd-werkern, dort zu Bauern, thaten schön deren Weibern und Töchtern, lernten des Voltes Hauliruug, Deut» und Sprach-weise, nahmen uorlieb mit seinen Speisen nnd Getränken. Duftigen Handschuhs gewohnte Hände faßten Art nnd Kelle an, nnd der heiße Busen, der nnter feiner Wolle oder Seide klopfte, hüllte sich in grobes Bauerngewand. Es waren nicht viele nnter den Nihilisten, die so weit gingen, allein einige Hundert oder ein Tausend mögen es doch cn'wcsen sein. Keine Verschwörung der neneren Zeit bot solchen Reichthum uon Thoren und Närrinnen aus, aber noch seltener zeigte sich — das läßt sich nicht läugnen — so viel Heldenmnth nnd Opferwilligkeit. Es will schon etwas Heisien, den Ekel vor dem Zwiebel- nnd Fnseldunsle russischer Baueru zu über-windeu. Allein das Volt wollte uichts uou deu Erlöser» wisseu. Es hielt die Sache für eine nene verrückte Mode und war nicht säumig mit Gelächter nnd Spottreden. Die Volksanf-klärcr sahen wie dnrch eine Glaswand ganz deutlich in all sein jammervolles Elend hinein, aber die durchsichtige Glas- 126 wand, welche sie vom Volke schied, war vou solcher Härte, daß sie nirgends sich zertrümmern ließ. Die Versucher fanden höchstens bei ein paar armen Küstern nnd Popen nnd bei jnngen Handwerkern Anklang, sonst wurden sie allerorten abgewiesen, einige mißhandelt, andere als Unruhestifter den Beamten überliefert. XIX. Kampf der Nihilisten mit dem Staate. <»2. Einwirkung dcs polnischen Aufstandes. Die Regierung war schon längst anfmerksam ans dies Treiben, nnd als im Herbste 1861 Studenten in St.-Petcrsbnrg Moskau Kasan Charkow nnd Kiew, unbefriedigt uon den Uni^ ucrfitätsreformen, Unruhen machten und den Ruf nach Kon» stitntion erschallen ließen, als eine Adelsuersammlung nach der anderen darin den Studenten folgte, da griff man durch auf russische Art. Professoren wurden abgesetzt, mehr als zwei-hundert Studenten wanderten uon St.-Petersburg auf die Festung Kronstadt, eine Anzahl kani nach Sibirien, eine Menge unter polizeiliche Aufsicht. Es trat einige Ruhe ein. Die Erbitterung aber kochte in den Gemüthern. Die Nihilisten fanden jcht eine gewisse Anlehnung und Stärkung in den Ideen und Zielen jeder anderen Partei, hier weil sie gegen die deutsch-russischen Einrichtungen und Beamten sich empörten, dort weil sie aus altrussisches Ge-meindeeigenthum zurückgingen, bei den Meisten weil sie eine revolutionäre 5Iraft waren. Alles war ja einig im Hasse gegen das bestehende System, und die Entrüstung äußerte sich nm so leidenschaftlicher, je weniger die guten Früchte der Reformen Alezander II. zu Tage wollten- Die Schnld, so dachte alle Welt, liege am Regierungssysteme und seinen Trägem: so 128 schlecht seien sie, daß alles Gnte vor ihrem Giftathein wieder dahinwelke. Da hörte man 1>i<',.^ von der unsichtbaren Negierung des polnischen Aufstanden, von ihren geheimen Druckereien nnd Proklamationen, uon ihren Cteuererpressuugen nnd Hänge' gendarmen. Dies fürchterliche Beispiel machte liefen Eindruck. Längst bestand ein lebhafter Verkehr zwischen revolutionär gesinnten juugcn Offizieren und Kadetten von rufsischer und pol nifcher Herkunft: nach der Niederwerfung des polnischen Anf standes traten Lehrer und Soldaten des Nihilismus in Menge nach Rnßland über. Die Thaten Murawiews nnd seiner Genossen hatten die stille Rache der beschichte im Gefolge. Als den Edelleuten in Weiß-Nnßland nnd Polen die Güter genommen nnd nnter die Bauern vertheilt wurden, als man dem Volke andere Sprache und Sitte anfdrängte, das unterste zu oberst kehrte, da stieg der Nihilismus blank und praktisch aus dem umgewühlten Boden empor. Man sah sich einem Nichts gegen-über, das mit tückischer Ueberlegung geschaffen worden. Die Märe, was dort geschehen, pflanzte sich fort unter den russischen Studenten, und schlich selbst uon einem Bauerndorf znm anderen. Jetzt schärfte und stählte sich die Hauptidee der Nihilisten und trat mit voller Klarheit ins Bewußtsein. Jetzt richtete man sich anf Vernichten aller nnd jeder bisherigen Ordnung und Einrichtnng. Nicht bloß ihrer Formen, sondern es war zornige Verneinung ihrer Grnndgedanken selbst, oder, wie es Herzen bei einer Besprechung des erwähnten Tnrgenjew'schen Romanes von 1869 ansdrückte, als „die vollkommenste Freiheit von allen fertigen Begriffen, von allen ererbten Hindernissen nnd Störungen, die da hemmen das Vorwärtsschreiten des europäischen Verstandes, der den historischen Klotz an seinen, Füßen hat." <»«'!. Geheimlmnde. Im letztgenannten Jahre stiftete ein Lehrer an der Akademie in St.-Petersburg, Netschajcw, die geheime „Gesellschaft der 129 ^ Axt", die von einem engsten unsichtbaren Kreise aus sich immer weiter entfaltete in kleineren Kreisen, deren Mitglieder statt ihres Namens nnr eine Ziffer führten. Nnr die Angehörigen eines Kreises kannten siä>, waren jedoch nicht personlich bekannt mit den anderen Mitgliedern. Alle aber wnrden gelenkt uom geheimen Mittelpnnkte aus. „Wir haben nur den einen negativen unabänderlichen Plan schonungsloser Zerstörung", hieß es in einer Proklamation, nach der Zerstörung sollte die allgemeine Volkserhebung folgen. Die Negiernng bekam indessen die Hanptfäden der Verschwörung in die Hände, und es folgte ein zweites schreckliches Anfrämnen mit den revolutionären Literaten Lehrern Vnch--Händlern und allen Verdächtigen. Dies schaffte zwar wieder für einige Zeit Nuhe, allein die revolutionäre Strömung ging um so mehr in die Tiefe, gehegt und angefeuert in zahlreichen kleinen Gehcimbündcn, genährt durch Zeitschriften, welche aus dem großen Kapitale, das Herzen 187U in seinen: Testamente gestiftet hatte, unterhalten wurden. Die Titel dieser Zeitschriften waren bezeichnend. „Vorwärts!" hieß die eine, „Etnrmgloäe" die zweite, „Land und Freiheit" die dritte. Im Jahre 1.876 war, wie es nach den Anssagcn in den Nihilistcnprozessen scheint, aus der revolutionären und sozialistischen Partei eine kleine Volksparlei mit besonderer Eimichtuug ausgeschieden, die sich uumittelbarcs Eingrcifeu in die Volksbewegung zum Ziele setzte. s>4. Terroristen. Der Krieg gegeu die Türken uud seme geringen Erfolge steigertcu die Aufregung auf das Höchste. Da fiel im Februar 1878 der Schuß, welchen Vera Sassulitsch auf deu Obersten der geheimen Polizei abdrückte. Die Geschwornen sprachen sie frei, als sie erklärte, es sei die Rache gewesen dafür, daß er einen gebildeten jungen Mann im Gefängnisse habe prügeln u. Lüher, Rußland IH. 9 130 lassen- Jetzt, wie es scheint, schlössen sich, ohne Zweifel auch angeregt durch Sendlinge der Internationale — es war ja das Attentatsjahr — die Häuptlinge der Verschwörung znscnnmcn nnd bildetcn einen Ausschuß der Vollstreckung, das sogenannte Exekntiu-Comit6, welches sich zum Ziele setzte, durch unerhörte Freuelthaten und fürchterliche Drohungen das gauze Volk aufzurütteln, die Träger der Gewalt durch Meuchelmord auszu-rotteu, und die benöthigten Geldsummen dnrch alle Mittel des Schreckens und der weiblichen Verführung zn erbeuten. Es folgten jetzt der Anfrnhr in Odessa, MoZkan, Kiew, nnd die meuchelmörderischen Nufälle in den nudereu Hauptstädten. Die uuvermeidliche Rache war ein drittes Aufräumen mit deu Revolutionären. In noch größerer Zahl als früher wnrdeu Schuldige und bloß Verdächtige aufgegriffen, eingekerkert, verbannt nnd eine Reihe der Neberwiesenen hingerichtet. Wahnsinnig vor Wuth richtete jetzt der kleine Rest der Verschworer die Waffen einzig, wider das Haupt des Kaisers. Durch verruchte Attentate, durch ebenso leere als fürchterliche Drohungen verbreiteten diese Menschen eine Zeit lang Schrecken nnd Entsetzen über das ganze Reich. Die Folge war die Errichtung einer Art von Diktatur, nnd damit verband sich eine Wiederaufnahme der großen Neformen, die in den ersten füufzchu Iahreu der Regierung jetzigen Kaisers Statt fandeu. zumeist aber gegen uns Deutsche. Diese fei,ldselige Stinlmung, die hauptsächlich von Moskan ansging nnd von dorther beständig ucucn Zündstoff erhält, ist eine Angelegenheit gewor°> den, die nnserni Gesichtskreis verzweifelt nahe gerückt ist. In allem Ernst erhebt sich allmählig die Frage: ob den uralten Kauiftf zwischen Slcwen und Teutschen bald die russischen Heere aufnehmen? Karl der Große hatte mit starker Hand den Slaven ihre Gränzen gesetzt. Während aber unter seinen Enkeln das Reich in Stücke und Schwäche zerging, bildete sich rasch die weite großniährische Macht Sncntibolds, und als die Deutschen ihren Vundesstaat wieder aufrichteten, stürmten wüthend die Slaven an und begann der blntige Krieg des Königs Heinrich I. uud seiucr Nachfolger, -^ ein unaufhörlicher Kampf - wenn die Schwerter nnd Schlachtbcile rnhtcn, wnrdc er fortgefetzt durch deutsche Ansiedler, die mit Pflug uud Axt uordräugten. Ottokar von Böhmen war ein zweiter Suentibold: als seine Macht zerschlagen war, ging die Germanisirung in den Slaven-Ländern mit erneuter Kraft vorwärts. Die Meisten kennen 142 voll diesem alten weltgeschichtlichen Völkerringen nur einige große Umrisse, den Hergang im Einzelnen muß malt in den Chroniken der Städte nnd tleiuer Landgebicte lesen. Das Er-gebniß war, daß die Elavcn mehr als das beste Drittel ihres Volks nnd Gebietes an nns verloren. Znnr drittenmal erhob sich der slavische Ingrimm gegen die Dentschen, als Baiser litarllV, den Czechen dentsche Vild-ung anfgcnöthigt hatte: schrecklich ist das Andenken an die barbarischen Verheernngen der Hussiten, Die Folge aber war, daß die Czcchcn ringsuln uon der Gcrmanisation nm-zingelt wilrden. Vergebens versllchten sie noch einmal zu Anfang des dreißigjährigen Kriegs sich zn erheben. Unterdessen hatten längst die Polen nnd Nnssen den ^aiupf anfgenommen. Die verlustreiche Schlacht der Ordensritter gegen die Polen bei Tannenberg 1410, die siegreiche gegen die Nnssen 1501 bei IsborZk bezeichnen Wendepunkte. Es gelang Polen nnd Rnssen, den Deutschen die weiten Ländcrstrccken an der Oslseo zn entreißen: was aber in diesen deutsch geworden, das vermochten sie weder polnisch noch russisch zu machen. Nach dem dreißigjährigen kriege stockte die deutsche Ansiedelung eine Weile, ging aber bald im Kleinen, nnd Stillen wieder voran, nud setzte nach glücklicher Necndignng der Freiheitskriege am Rheine mit neuer Krast an im Osten. Niemals sind alle slavischen Völker so entschlossen, nie« mals so erbittert dieser Ränberin. die zugleich die werthvollsten Geschenke bringt, alle zugleich entgegengetreten, als heutzutage, wo die Zeitungen mit ihren Nachrichten nnd Anregungen nmher fliegen. Insbesondere nach Wiedemnsrichtnng der deutschen Reichsmacht geht wieder ein nnbehagliches Gefühl durch die slavischen Völker, als hörten sie ans der Ferne die dnmpfen Töne einer Todtenglocke sür ihre liebsten Hoffnungen. Sie sollten doch bedenken, daß wir nicht mehr im Mitlelalter 143 leben und von Ländererobem mid Völkerunterjochen keine Nede mehr sein kaun. Das Länderverschlicßen aber liegt in Macht nnd Willen jeden Volkes selbst, Wir möchten ja gern auf der einen Seite die romanische, auf der audcrn Seite die slavische Welt in voller Blüthe sehen, wenn sie uns selbst nur Ruhe ließen, ebenfalls unser Bestes in der Kultur zu leisten. Da aber die Tchildwachen auf unserer langen und vielverzwick-ten slavischen Gränzlinie hier uud dort bereits anfaugeu, einander „Wer da?" zuzurufen, so wcrdeu wir wohl thun, mit scharfem, Auge zu verfolgen, was auf deu iveiteu slavi-schon Gebieten vor sich geht. 72. Gefühlsverschicdcnhcit bei Volk und Vornehmen. Die große Masse m Nußland null teincu Krieg mit uuo. Im Gegeuthril soll man unter den russischeu Ballern und Kaufleuten öfter die Meinllug hören: der Zar würde init allen Völkern in der Nnnde ivohl fertig werden, schwerlich aber mit den Deutschen. Die große Masso besteht aber in Rußland an? armseligen Bauern, dic keinen politischen Verstand , keinen klaren Willen, sondern nur Instinkte besitzen. Sie fühlen gegen die Deutschen Achtung, jedoch nicht einen Hanch uon Ziineissnug, und noch uiel größer is! ihre Abueig-uug, sich Ulit ihueu zu messen, Ein Krieg mit den Deutscheu tönute niemals, anch nicht entfernt, so volksthümlich werden, wic der türkische Krieg es wirklich war. Denn die uralte Kaiserstadt am Bosporus, aus welcher die Rnsseu das Euaugelium erhielten, den Nilgläubigen zu entreißen, ist ein heißer Mnnsch, der anch dem gemeinen Nnssen schon seit Jahrhunderten in Fleisch und Blut überge« gangen. Allein uichtsdestowcniger werden die Massen in Nußland im Kriege gegen uns ihre Schuldigkeit thun. Sie gehorchen unbedingt dem Befehle, wenn er. bestimmt und geinessen von oben tommt. Erst müßten ein paar Revolutionen 144 über das russische Volk hingehen, ehe dieses Befehlsbedürfniß, dieser Gehorsamstrieb in ihm ausgerottet würde. Anders steht es nut dein kleinen Volkstheil, der allein auf Erlassen oder Zurückhalten jenes entscheidenden Befehls Einfluß hat. Fragen wir nämlich, welches Gefühl unter den gebildeten nnd halbgebildeten Nüssen ^ nächst dem Begehren nach freien Staats-formcn im Innern nnd nach dem Primat in Enropa — am weite« stell verbreitet sei, so möchten sich die Meisten wohl die Hand reichen in der gemeinsamen Abneigung gegen die Deutschen. Das ist eine Thatsache, mit welcher wir einmal rechnen müssen. Jenes Gefühl ist zu Zeiten gedämpft, oder scheint nntcrgegangen in der russischen Lauheit nnd Gutmnthigkeit: plötzlich aber springt der Haß ans wie ein Löwe, dem ein heißes Eisen in die Weichen fährt. Die Feindseligkeit, entstanden ans einem natürlichen Gegensatze der Nassen, nährt sich jetzt dnrch politische Gründe, Was die Slaven all die Jahrhunderte her gehindert hat, zu freier schöner Entwicklung zu gelangen, das war nach russischer Meinung, wie schon erwähnt, nnr der dentsche Eroberer. Was noch heutzutage die slavischen Völker in Gefangenschaft halte, was ihre Kräfte ewig binden und lahmen werde, das soll, wenn Nußland nicht helfe, wieder der Deutsche sein, Preußen miißten also seine polnischen Landestheile entrissen, der österreichische Kaiserstaat müßte ganz zerschlagen werden. Schon dnrch ihren bloßen Bestand stehen Tentschland und Oesterreich wie zwei Felsen da, gegen welche die russischen Znknnftsträmne ankämpfen wie eitel Wind nud Wolken. Nnr höchste Herzens- und Geistesbildung kann bei dem gebildeteren Nüssen den Unmuth gegen die Dentscheu vollständig vertilgen. Kaum. ein russischer Schriftsteller, der sich frei daoon hielte, selbst wcun er, wie Turgenjew, an poetischer Weihe allen voranständc. Bei den Nord Amerikanern treffen wir öfter auf ciu wahres Feingefühl, auf schwärmerische Bewunder- 145 iing für deutsche Idealität, für die Innigkeit deutschen Geulüths--und Familienlebens, der gewöhnliche Russe dagegen sieht bei dem Deutschen nur Mr zu ziern auf das kleinliche und Pedantische und Schwerfällige. Am Ende würde er sich mit dem Neuseeländer besser verstehen, als mit dem Deutschen. Und wenn wir ehrlich sein wollen, bleibt denn die innere Abneigung ganz nn-erwidert? Jeder voll uns wird sich der Art und Gründe sofort bewußt werden, wenn er sich denkt, in gleicher Gesellschaft zn sein mit Franzosen nnd Italienern, denen nnsere Cultur soviel, und mit Russen, denen sie gar nichts verdankt, 73. Ursache der Gefahr. Diese liegt eben darin, daß die Tonangebenden in Rußland an einer inneren Haltungslosigkeit leiden nnd doch der Regierung gegenüber eine Macht geworden. Die höheren blassen umgebeu den Zaren Hof dicht und drängend von allen Seiten nnd schließen ihn vom Volte ab. Kein Lant ans den Tiefen dringt bis zn den Höhen des Kaiserthrons, diese Tiefen sind stnmm. Die „russische Gesellschaft" aber wird fast beständig oon einer öffentlichen Meinnng hin und hergetrieben, die wie der Wind sis) plötzlich erhebt nnd wie der Wind plötzlich umschlagen kann. Sie treibt dahin wie ein Schiff mit weitgeschwellten Segeln ohne Ballast und Gleichgewicht. Wird nnn hcntzutage in diesen kreisen etwas heftig ompfnndcn oder gewünscht oder verabfchent, fo entsteht alsbald cin leidenschaftliches Vegehren, das mit einem Ungestüm, mit einer Unwiderstehlichkeit auftritt, von denen man früher in Rußland gar keine Ahnung hatte. Früher dachte, wollte, handelte bloß die Rcgiernng, ihr Szepter blinkte hoch über dein Volke in den Lüften, und vor seiner Allgewalt verstummte und gehorchte Alles. Ieht redet die Nation, o. h. die gesammte gebildetere Gesellschaft mit, nnd in ihrer Stimme liegt etwas Gebieterisches ", Lijher, Rühland III. 10 14s, und Drohendes. Es ist nicht mehr möglich, diese Stimme anders als für kürzeste Zeit wieder zum Schweigen zn bringen. Wir haben ja gesehen, wie die Regierung wider Willen sich znm letzten Kriege forttreiben ließ. Bekommt Rußland ein Parlament, so wird dieser Volkswille nur um so schneidiger sich Geltung zu verschaffen wissen. Denn fließend nnd geistreich zn reden verstehen die Russen, und in der Knnst politischer Schachzüge Finten nnd plötzlichen Neberfalls suchen sie ihren Meister. Wir kennen bei den Franzosen ähnliche Erscheinungen. Jedoch tritt dort die öffentliche Meinnng niemals so stürmisch, so allgemein und tyrannisch auf wie in Rußland, wo sie zu Zeiten gleichwie wildströmendes Gewässer alles mit sich fortreißt und Jeden für Feigling oder Verräthcr erklärt, der nicht mitthun will. Dann wagen anch die Besseren nnd Verständigeren kein Wort mehr, die Schlechten aber denken im Stillen: „Nur zn, nnr zn! Stürzt Cuch in die Flammen, Ihr Narren: nns soll es Spaß inachen, wenn Ihr brennt nnd schreit". In den letzten Jahren sind wiederholt solche Sturmwogen aufgetreten, und die Regierung — gab immer nach. Die Russen haben etwas von Weibernatnr. Sie können herzlich und geistreich, weich und mitleidig, und räch- nnd gefallsüchtig sein: immer aber bleiben sie leicht veränderlich. Mit den Italienern theilen sie die Neigung, plötzlich in Zorn und Feuer zn gerathen, uud weun, wie schon von Anderen beobachtet wurde, im frauzösischeu Charakter sie das eigenthümlich Gallische ganz besonders anzieht, so mögen wir nns erinnern, wie oft uud ungestüm die alten Gallier gegen Cäsar anstürmten, auch wo der Sieg unmöglich war. Bei den liebenswürdigsten Francn entscheiden in schweren Lagen selten rnhig berechnender Verstand, viel öfter Instinkte, und diese sind im russischen Volte gegen uns. XXIII. Ans alter und ncncr ^cit. 74. Ehemals in Mostnu. Da vielleicht etwas darauf ankoinmt, das! man sich üb« die Art des Pfühls klar morde, welches die meisten Russen gegcu nns Deutsche hegm, u:öge es sich hier noch i,i ein paar Beispielen ans alter und neuer Zeit kundgeben. NuserOlcarius erzählt: „Die Moskowiter mögen allerhand Nationen und Neligionsverwanotc ivohl leiden nnd mit ihnen nmgchen, als Lutheraner, Caloinisten, Armenier, Tartern, Persianer und Türken : aber Papisten nnd Juden mögen sie nicht gerne sehen noch hören, und kann nian eiuein Nüssen nicht weher thnn, als wenn inan ihn einen Juden schilt, wiewohl Etliche in der Kaufniannschaft den Juden ziemlich ähnlich. Die Lutheraner nnd Calmnisten sind bisher nicht allein im Lande hin nnd wieder, sondern auch in Moskau zu Hofe, wegen Handel und Wandel, den sie stark mit ihnen treiben, und ihrer Dicustc, so ihre Zarische Majestät sich zu Haus und Felde gebrauchet, gar angenehm gewesen, nnd sind derer, so in Moskau wohnen, bei tansend Hänptcr. Es wird Jedem nach seiner Art den Gottesdienst in öffentlichen Kirchen zu üdeu vergönnt. Es hatten die Pfaffen in Moskau schon vor fünfzehn und mehr Jahren geklagt, dasi die Teutschen unter den Nüssen in der Stadt wohnten, hätten die größten und besten Plätze von 10* 14« ihren Kirchspielgrüuden eigeu gekanft und bebanet, wodurch ihnen, den Pfaffen, viel von ihren Einkünften abginge, haben aber, weil der vorige Großfürst den Deutschen gewogen, nichts erhalten mögen. Jetzt aber als der Patriarch selbst sich beschwerte, daß die DentsHen unter den Nüssen in gleichen Kleidnngen ohne Unterschied wandelten, und ihnen gleichsam den Segen abstöhlen, nahmen die Pfaffen die Gelegenheit in Acht, verneuerten ihre alte Klage, und brachten es foweit, daß ein ernstliches Mandat oder Befehl erging: daß wer unter den Deutschen sich wollte anf rnssisch tanfcn lassen, möchte in der Stadt wohnen bleiben, ^ wer sich aber das zu thun weigerte, sollte innerhalb kurzer Zeit mit der Wolmuug zur Stadt hinaus vor die Pokrofki Pforte an den Ort, wo vor vierzig und mehr fahren die Deutschen cmch ihre Wohnungen allein gehabt, uud des Königs uon Dänemark Christian IV, Herr Bruder Herzog Johannes begraben lag. Die Deutschen haben uim bei Ihrer Zarischen Majestät suupliciret: Sie sähen wohl, daß fie bei der russischen Nation, nnd zwar ohne Ursache, stinkend worden, müßten bei ihren ge trcnen Diensten nnd guten Willen, so sie an Ihrer Majestät nnd dero Unterthanen erwiesen, auf der Straße von allerhand Lumpengesindel mit so schändlichen Worten angefallen und nachgerufen werden, — baten, Ihre Zar. Majestät wollten nach dem löblichen Er.empel seiner Vorfahren sie in ihren gnädigsten Schutz nehmen und wider solche Lästerer vertheidigen. Darauf haben Ihre Zar. Majestät alsbald öffentlich ausrufen lassen: daß, wer nach dem Tage anch dem Geringsten der Deutschen nachrufen wurde, ohne alle Guadc mit der Knutueitsche (ihrer Art nach) sollte bestraft werdeu. Sind auch Etliche Verbrecher dieses Gebotes also bestraft worden, daß sie mit blutigen Nucken nach Hanse gingen. Nnnmehr sind sie voll solchen schändlichen Nachrufen befreit, Ihre Zar. Majestät habeil auch dem Ort einen anderen Namen gegeben nnd ihm Nova InascnZkaSloboda, 149 die neue ausländische Vorstadt, genannt. Man hat daselbst einen Jeden, nach Beschaffenheit der Personen, Amt und Ge-werbe, einen gewissen Platz darauf zn bauen zngeeignet, nnd Alles in ordentliche Gassen abgetheilt. Die, so hölzerne Häuser in der Stadt hatten, licsicn selbige abbrechen, und in der Nova Inasemska Sloboda wieder aufscheu, da sie jetzt uor dem oft« mals plötzlich cutstehcndeu Fenevsbrnnsten der Nüssen viel sicherer als in der Stadt leben- Daher die meisten Deutschen sageu, daß ihuen durch Ablegung der russischen Meider uud Absonderung von den rnssifchcn Häufern uud täglicher Conversation fo wehe geschehen, als dem Krebs, den man hat zur Strafe im Wasser ersaufen wollen." ^) 75. Gin Altrusse früherer Zeit. Dieser Erzählung unseres Lauosmauues aus der crsteu Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts setzen wir die Betrachtungen eines ächten Russen aus der zweiten Hälfte zur Seite- Der Herausgeber der Manuskripts^) P. Bessouow berichtet daraus wie folgt: „III unermeßlichcu Schaarcn stiegen fie (die deutschen Kaufleute) wie ein Schwärm Heuschrecken herbei lasseu sich in: Lande nieder uud verzchveu alle Früchte. Bei uus kaufen fie das rohe Material, bereiten es selbst zn nnd verkaufen es uns wieder zu hohen Preifen. Der ganze Umsatz ist in ihre Hände gerathen, Durch sie breitet fich uuuöthige Ueppigkeit und Keuusisucht vou oben herab aus uud dringt durch alle Volksschichten i mau befriedigt sie, setzt aber hierbei nicht unsere, sondern fremde Hände in Bewegung. Die Fremden bestimmen uns die Strafe nnd wir beugen uns gezwungen nnter ihre drückende Gewalt. Wo immer Ihr nur hinblickt, überall sind Ansländer, nud wie wächst ihre Macht uud ihr Linflus; durch nnsere eigene Schuld, ourch unsere Un^ ») Olcarius «17, !N«—Wi, ") Nudeustcdt Russisch,,- ssmMente II 251-255, 150 wissenheit, unsere Schwäche, Faulheit uud die Ilubeivcglichkcit unserer Händel Hier lüfteu die Gesandten, in stolzen Reihen eiuherschreitend, nicht einmal die Mütze vor den theuersten Heilig« thümern des Volkes. Dort im Heere gehen sie mit unsern als Gemeine dienenden Söhnen nach Belieben um uud plageu sie auf den Märschen. Da gehen sie uuter uns spazieren, sich mit ihrer Waare, ihrer Meisterschaft vor uns brüstend oder vor unseru Aussen mit dem bei uns erworbenen Gelde klingelend, oder Stoff sammelnd zn beißenden Pasguilleil und zu Büchern gegen Rußland." Sehr ergötzlich ist zu lesen, wie dieser Nationalrnsse, der offenbar ein Poue gewesen, seinein hasse gegen die Dentschen Luft macht. „Sie verfluchen lins, weil sie nns nicht ganz unterjochen können, wie die Ungarn Polen nud Czechen, weil sie Ketzer sind nud uuserc wahre Religion hassen, weil ihnen unsere Genügsamkeit nud einfachen Sitten ein Dorn im Auge. Deßhalb sagen sie, wir seien die feigsten und niederträchtigsten Lente uon der Welt, nud ich hörte eiucu deutschen Offizier prahlen: „Vor zehn Deutscheu oder Tataren im Felde säuken hundert Nüssen zn Äoden uud ließen sich zusammen, schneiden wie Rüben," Maßlos holen sie uns Getreide uud audere Lebensmittel fort: deßhalb bleibt Nußland so arm an Menschen, weil ihueu die deutsche Ausfuhr die Nahrung nimmt. Au Stattlichkeit nnd Redefluß übertreffen die Deutscheu viele, in mechauischeu dünste», iu Schifffahrt und Handel über< treffen sie alle Völter: deßhalb sind sie so hochmüthig nnd rühmen sich ihrer Treue, Redlichkeit, und Stcmdhaftigkeit. Sie betrügen und stehlen aber im Großen, und wenn sie in der Schlacht nicht mit den Aildcru flüchten, so geschieht es nur deßhalb, weil sie schwerfällig sind. In ihren Häusern ist des üppigen und reichlichen Lebens kein Ende, ihre marmornen Fußböden halten sie so sauber wie 151 «inen Altar. Unermeßlich ist ihr Trinken, sie trinken bei Mnsik Trompeten nnd Kanonenschall. Durch die Deutschen gießt der höllische Feind die Ketzereien über uus und gauz Europa ans, theologische und politische uud magnetische Ketzereien. Nur dnrch ihre Künste trieben sie Boris Godnnow an, den Thron zn begehren. Wie der Teufel im Alterthum durch die Griechen die roheren Völker verführte, verführt er sie hentzntage durch die Deutschen." ?<». Nntcr dem Pcterölmrger Regiment. Hören wir solche Erzählungen und Erbositheiten aus laugst vergangenen Tagen, so liegt doch etwas Tröstliches darin. All der Aerger bestand schon in so früher Zeit und hat doch nicht Viel geschadet, weder den Deutscheu noch den Russen. So ist wohl nicht ganz unbegründet die Hoffnung, daß Verstand und Nachdenken auch jetzt den Unwillen wieder besiegen. Seit Peter des Großen Neuerungen ist eigentlich nnablässig auf die Deutscheu geschimpft wordeu. All die Unzufricoeuen Gepreßten und Gchchteu sagtcu: „Das kommt von diesen verfluchten Dcutscheu, die uus das Petersburger Regiment über den Hals geworfen. Zur Hölle mit ihnen, daß wir wieder frei athmen können, -^ uud Rußlands Gräuze muß mit sieben Schlössern verwahrt werden, daß Kciucr wieder hereinkommt." Wie wonnig, wie leicht zu erwerben lächelte den vornehmen Russen die französische Bilduug au! Die Deutsche war schwerfällig, düster, langweilig. Von jeher gehörte es bei Adel und Gebildeteren ans dem Lande wie in den Städten zum guten Ton, über die Dentschen zu spotten. Unvergessen blieb das Wihwort „Die Pferde gehn, die Deutscheu ziehen eiu", das irgend Jemand einfiel, als in Petersburg eine Kunstreiterhalle in ein deutsches Theater verwandelt wnrde. Dieser Haß wurzelte in dein stillen Grimm über die langweiligen nnd pedantischen Lehrmeister, welche den Russen gerade zu dem nöthigten, was 152 ihm in der Seele zuwider ist. Während der Nüsse geneigt ist^ sich in Ideen wie im Champagner gleich zn berauschen, dann aber auf besten», Wege vom Werk nnd Vorsah abzuspringen, verlangten die deutschen Znchtmeistcr einförmiges Maßhalten, folgerichtiges Denken, uor allem Ansdauer bei der Arbeit. Neue Nahrung erhielt dieser Haß unter Baiser Nikolaus. Da hießen die Deutschen „die Mameluken des Zaren." Denn, allerdings geschah es hauptsächlich durch Deutsche, daß diü Fesseln seines eiseruen Willens nud seiner eigenen inneren Beschränktheit sich um sein ganzes Volk legten. Freilich, seine und seiner Vorgänger Rathgeber Minister nnd Generale thaten nur, was sie kounten und durften. Hatten sie ans den jungen Russen gleich Offiziere glänzend uon Keift und Anmuth, große Techniker, scharfsinnige Doktoren der Philosophie machen tonnen, gewiß, es wäre geschehen. Sie konnten und durften aber nichts weiter, als eine gefügige, militärisch nnd polizeilich geregelte Menge schaffen. Viele dieser deutscheu Civil- und Militär-beamten hatten, das ärgerte die Russen gauz besonders, kein Hehl, daß man aus ihnen uor der Hand nichts anderes machen könne, uud betrieben ihre Aufgabe pedantisch mit peinlicher Gründlichkeit. Der ächle Russe hätte lieber einen Nüthrich vom Schlag seiner alter Zaren gesehen, als diese entsetzliche, allgegenwärtige, nnanswcichlichc Zucht nnd Ordnung seiner deutschen Befehlshaber. 77. Heutzutnge. Der Haß crrcichle seine Höhe, als der letzte Türkenkrieg für schreckliche Opfer vcrhaltnißmäsiig kleinen Gewinn hatte. Da hieß auf einmal Deutschland „der fnlfchc Freund", nnd tief uud heiß kochte die Erbitterung gegen Diesen, dem man alles Unheil zuschob, statt ihm zu danken, daß er noch Aergeres verhütet hatte. In der überreizten Stimmung hieß es sogar: die Gränz« sperre gegen die Emschleppnng der Pest sei an der deutschen 153 Gränze nur deßhalb angeordnet, um das russische Papiergeld noch mehr herunterzudrücken, lind als nun die eisten Tchretten des Nihilismus sich über das ganze Land legren, wurde auch dies den Mächten des Berliner Vertrag Zchnld gegeben. Denn, so sagte Jedermann, hätte der elende Ansgang linseres großen und geheiligten Nationalkriegs nicht unser ganzes Volk mit Grimm und Verzweiflung, mit (5kel au allem bestehenden erfüllt, niemals wären die nihilistischen Verbrecher so kühn geworden, längst wären sie verstummt unter dem Widerstände der Nation. Diese Schlußfolgerung war richtig, allein die Patrioten hätten sie klugerweise schou vor dem Kriege ziehen sollen. Wie weit der Das? gegen die Deutschen noch vor ,^uru'n verbreitet war nnd zu welchen Seltsamkeiten er sich verslieg, davon nur zwei Veispiele. In dem Mädchen Institut einer Provinzialstadt sagte im vorigen ,v>erl)s! ein l^cueral^töchterlein zu eiuer deutschen Mitschülerin, mir welcher sie eiuen ^ank hatte: „Warte nur, wenn oer Thronfolger zur Negierung kommt, iverden alle Deutschni vertviebcn. »ud uiclN ein winziger soll uns mehr ärgeru," Die Deutscken in Nußlaud lachen über dergleichen, sie wissen wohl, das; es nicht so schlimm gemeint isl, Folgende Geschichte aber rief anch unter ilnie» (imponmg hervor. Wenn ich die unsläthigen Worte deo ^liussen nnttheile, muß ich zuvor um Entschuldigung bitten, die Tache hat iudcssen nebell anderem anch ihr psychologisches Interesse. Die russische „Ti. Petersburger Zeitung", die kein Wiukclblatt ist, brachte folgende Gemeinheit: „(55 ist bekannt, daß die deutschen Frauen unbediugt die lchtc Ttelle in der Familie der europäischen Frauen einnehmen, davon gar nicht zu reden, daß ein Vergleich zwischen ihnen und den Vertreterinnen, der beiden europäischen Fraueugattnngen voll (chlagelt. 78. Täuschung nach nnßcn und innen, Unter Kaiser Nikolaus lebten die Nüssen in der angenehmen Einbildung, daß der Zar die Geschicke Europas lenke, und Rußland groß nnd waffenmächtig sei vor allen Völkern. Der Krimkrieg brachte fürchterliche Enttäuschung, Sellckerkeuntniß, Reue. „Uns allen bebte das .Herz, und unsere Ttiiume war von unterdrückten Thränen erstickt'', sagte Eamariu. Nun aber sprangen mit Nikolaus Tod plötzlich alle Fesseln, und sofort ging ein Aufschwnng der Gemüther dnrch alle Kreise der Gesellschaft. Aller Unwille verstnmnttc. Jedermann legte .Hand ans Werk, Land und Volk rasch auf die Höhe der Kultur zu bringen. Es war eine schöne allgemeine Äegeister^ ung, — ein edles historisches Zeugniß für die besseren sittlichen Kräfte, die im russischen Volke vorhanden. Jedoch heiß uuo stürmisch trat alles Dcukeu und Begehren auf, in flammenden Worten ergoß es sich in der Tagespresse. Entschwunden war die Nuhe, in welcher nnter dem Schatten des Nikolaus Szepters köstliche Schöpfungen der Poesie gediehen. Und das Ergebniß all der Aufregung und hochgeschwellten Erwartungen? Es war sehr wenig, das konnte für den Anfang gar nicht anders sein, ^- für russische Ungeduld war es weniger, als nichts. Vei so tiefgreifenden Umwälzungen mnßten ja erst 15.s» die alten Schäden recht allfbrechnl, das gute Neue tonnte nur ganz allmählich aufkommen. Das Landvolk wußte mit der geschenkten Freiheit nichts Rechtes anzufangen, die Hälfte des Adels sah sich m ihrem Gütcrbestand entwurzelt, und, was das Aergste, bei den niederen Massen zeigte sich keine Werdelust, sie blieben bedürniis;lo<' und verharrten still, gutmüthig, und stnmpf. Mitten in diese Zeit wachsenden Mißmuths über so viel Täuschuug siel die Nachricht vom Einrücken der Deutschen in Frankreich. Schadenfroh lächelte man in Petersburg, tückisch in Moskau. Allein die Nachricht uom Einrücken wurde beinahe überholt durch die Kuude uou zwei, drei gewonnenen Schlachten. Man war unwillig erstaunt. Als nun der nnauf-haltsame Siegeszng der Deutschen in zehn Meilen Breite in Frankreich hinein ging, horchte Alles hoch auf und war, als die deutschen Siegesnachrichten immer gewaltiger lauteten, wie vor den Kopf geschlagen, Endlich wußten sich die Leutcheu vor Gift und Neid nicht zu lassen und stimmten sämmtlich darin übereilt, daß Nußlands nächster Krieg gegen die Dentschen gehe- Warum? Wir hatten uns gegen die Rnsscn nicht das Mindeste uorznwerfen, nnd hegten nur ein Gefühl der Verehrung uud Dankbarkeit für ihren Kaiser. Allein nur gar zu leicht macht man sich an der Newa wie an der Moskwa Einbildungen von der eigenen Macht nnd Einwirkung auf auderc Völker, uud gerälh nus:er ficl> vor Wuth uud Schmerz, weuu die Telbsttänschung zerbricht. Was war das früher eiu Gerede vou dem natürlichen allcrgicbigen Bündnis! zwischen Nüssen uud Nordamerikaueru! Und hat sich bei den Yankees im orientalischen Krieg für Rußland auch nur eine Hand gerührt? So hatte sich bei den Nusfen auch — uud zwar nicht ohne den Aulnß, welchen Preußeu zur Zeit des Kaisers Nikolaus gab -^ die Meinuugfestgesel'.t: man werde in Berlin uichts Großes ohue Nußlands Rath nnd Nichtung unternehmen. Daher der _____15^ fürchterliche Aerger, den man bci einigermaßen besserer Würdige ung der deutschen Volkskräfte sich hätte ersparen können. ?!>. Cvazierganss nach 5to»ftantinopel. Um so lauter erhoben jetzt die Moskauer Nationalen ihre Stinnue über den providentielleu Aeruf des großen heiligen Rußland. Früher hatte das Haupt der Partei, Konstantin Aksakow, einmal ssesagt: „In der russischen Geschichte giebt es keiu Rittcrthum mit seinen blutigeu Tugenden, keine uumensch-liche religiöse Propaganda, keine Krcuzzüge, ül,crha>lpt kein unaufhörliches dramatisches Gepränge von Leidenschaften. Aechte Demuth ist ohne Vergleich eine größere und edlere Geisteskraft, als jede stolze Heldenhaftigkeit. Von dieser Seite, von Seite der christlichen Demuth soll man das russische Volk und dessen Geschichte anffasscn." O diese sanften russischen Tauben-Seelen! Man muß fürchten, sie platzen noch vor lauter Demuth. Iwan Atsakow aber. an welchem der salbungsvollste Vi-schof verloren gegangen, faßte das neue Glanbeusl'cteuutuiß in die Worte zusammeu: „ssür alle slavischen Völker sind Freiheit, eigenartige Entwicklung und Entfaltung aller geistigen Fähigkeiten bloß uutcr der Bedingung möglich, daß sie in Liebe sich mit dem russischen Volke vereinigen." Jetzt wurde vollends der Panslavismus als Rußlands Heil und Hort vcr kündigt, mit heißer Iubruust wurde geschürt in Vulgarieu Serbien und nndereu Läuderu, aus allen Zcitungeu und Gesellschaften widerhallte der Nnf nach dem heiligen kriege Ruß-lauds. Offenbar wollte die Negiernug den Krieg nicht, sie war weder militärisch noch finanziell vorbereitet, steckte viel' mehr nach beiden Richtungen in Nmwaudlungsarbeiten, Allein das Schwert wurde ihr vou der Natiou iu dic Hand gedrückt, der Krieg wurde Religioussache für die große Masse, Nationalsache für die Gebildeteren, Ehrmfache für den kaiser ^ lichen Herrn. 158 AIs nun der große Glanbens- und Slaven-Krieg endlich in Zng kam, da glaubte jene Partei wirklich, jetzt werde Ruß« land hoch nud herrlich daherschreiten, die slavischen Völker mit sich fortreißen nud alle, alle an seiucn Siegeswagen fesseln zur „Vcreiuigung in Liebe," aber auch in Ehrfurcht nnd Gehorsam. Für das eigene Volk dagegen sollte der heilige Krieg die wohlthätige Erschütterung werden, daß es aufthaue uud anfgährend in eine welthistorische vielschaffende Arbeit hinein gerathe. Uns Anderen wird es aufzufassen schwer, wie verständige Männer sich so thörichten Hoffnungen hingeben konnten, Aei jenen tonangebenden Schwärmern aber bestanden d'.ese Er-wartuugeu thatsächlich, nnd sie glaubten an ihre Erfüllung wie an ein Evangelium vom Himmel. Nun tamen die neue» Täuschuugeu. Wehe, sie kamen gräßlich, gehäuft, die folgende stets bitterer, als die vorhergehende, Alis dem gcträumteu Tvnziergaug nach Konstantinopel wurde ein schwerer cwfervoller Feldzug. Die Heerma-schine, welche so uueudlich viel gekostet, versagte gar nicht selten, Aei allein Heldenmuth der Soldaten, bei dem Gelingen kühner Handstreiche lind raschen Erfassens glücklicher Umstände traten doch Unfähigkeit nnd Unredlichkeit hier uud dort offen zu Tage. Vor Plewna floß das russische Blut, als wäre es gemeines Wasser. In den Balkan-Pässen brachen hnndert brave Lentc zusammen, um eine Kanone nnr eine Stunde weit zu ziehen. An der einen Stelle verdarben massenhaft die Lebensmittel, wo man sie nicht brauchte: au der anderen verhungerten die braven Soldateil, Ueber alles Das war man in Rußlaud außer sick) vor Betrübniß, und immer zorniger wurden die Anklagen gegen das Regierungssystem. KO. Schmaler Gewinn. Die Gemüther hoben sich wieder, als der kühne Ucber-gang über den Balkan sich vollzog, die türkischen Streitkräfte 159 vor der völligen Vernichtung nach allen Winden flohen und das russische Heer den Sicgesmarsch nach Konstautiuopcl an« trat. Vor den Thoren aber blieb es plötzlich stehen. Warum, warum5 — so fragte man ängstlich in iedcm russischen Öaui'e. Enropa wollte es nicht, namentlich England gebot valt. Es war, rein vom weltgeschichtlichen Standpunkte betrachtet, vielleicht Schade, daß die Russen nicht in Konstautinovel ein-marschirtcn nnd der größten Schmach, die Enropa seit vier Jahrhunderten erlitten, ein Ende »lachten. Tann wäre es ja immer noch Zeit gewesen, sämmtliche Großmächte einzuladen, nm gemeinsam zu berathen und zn beschließen, wie jetzt die Valkanhalbinscl vertheilt und wie ihre Völker durch ciu neues polilisches Vand vereinigt werden sollten. Gewiß hätte auch dann Rußland nicht Konstantinopcl behalten dürfen. aber es hatte doch die Ehre der Eroberung gehabt. Daß man diese Ehre dem christlichen Volte der Nnssen, das doch allein den heldenhaften opfcruollen Krenzzug begonnen, nicht gönnte, daß der Grund dasselbe allgemeine nnd nnbesieglichc Mißtrauen war, welches seit einen: Menschenalter den elenden Türkcn-staat, bloß damit er Rußland gegenüber noch etwas Stärke behalte, gerettet nnd gestützt hatte, — nichts konnte schmerzlicher sein für den Nusscustolz, als solche Erfahrung. Nun wurde endlich der Frieden von Sau-Stefauo abge-schlössen, im tiefsten Geheimniß geschah es: bang erstmmen, so meinte man im Innern von Nußland, würde Europa vor dem entschlossenen Machtwillen Rußlands. Als aber der Inhalt des Friedens von San-Slefano bekannt wurde, da hallte sofort ein einziger Schrei der Entrüstung dnrch gan; Nußland. Wie? So wenig Gewinn nach so furchtbaren Opfern an Vlut und Geld nnd Begeisternng, nach fo viel Harren Angst nnd Leiden! Aber siehe da, es kam noch viel schlimmer. Der Ver- 160 liner Kongreß trnt zusammen, ließ vom Gewinn von San> Steiano wenig iibrig, nnd sprach Oesterreich Bosnien nnd die Herzegowina zu. Mau nnirde in Nnßland bleich vor Ent-setzen. „Unser Blut," rief Atsalow in seiner großen Nefte aui Vasilius-Tage, „erstarrt in den Adern! Nur deshalb sollst du, rechtgläubiges russisches Volt, der einzige unabhängige nnd mächtige Slavcnstannn sein, nnr deshalb sollst du dein kostbares Blut verspritzt nnd Hnnderttansende deiner Söhne unn Opfer gebracht haben .... — damit dn durch deine eigenen Siege in deiner Stellung als slavische Macht erniedrigt wirst, damit du die Macht deiner Feinde nnd der Feinde des Slaven-thum? erhöhst nud rechtglänbigc Slaven der Herrschaft protestantischer und katholischer Elemente unternnrfst! Vergeblich bist du zum Märtyrer geworden, dn zum Narren gehaltener Sieger! .... Auch der doswilligste Feind hätte nichts erdenken können, wao für unsere innere Ruhe nnd unseren Frieden hätte verderblicher sein können! 3a seht Ihr die wahren Nihilisten, dic Leute, siir welche es weder ein Ruß-laud noch eine russische Tradition, kein russisches Voltsthum und keine rechtgläubige Kirche giebt. , . . . Nein, — was immer anf dem Kongreß geschehen, wie immer die Ehre Nnß° lands gekreuzigt werden mag, -— noch lebt unser gekrönter Schutzherr, nnd er wird unser Rächer sein." Man konnte es sich gar nicht anders denken, als die Beschlüsse des Berliner Kongresses müßten revidirt werden, hartnäckig klammerte man sich an die eroberten Landstriche. Man hielt es für unmöglich, daß Oesterreich nur nichts dir nichts die lachenden Fluren Bosniens sich aneigne. Doch immer düsterer wurden die Aussichten, Rußland mnßtc dem geeinigten Willen Europas nachgeben- GZ mnßte seinen Frieden mit den Türken inachen, der für Entschädigung russischer Unterthanen nur 26 Millionen Fr. in Aussicht stellte und die übrigen 800 Millionen Kriegskosten bloß als Anweisung auf eine 161 entfernte Zukunft. Die russischen Heere mußten zurück, zwar drei Monate später, aber doch zurück über die Donau, während Oesterreich vorrückte bis Novibazar und eine Stellung einnahm, die Rußlands Ansprüche auf Oberherrschaft über die Balkan« Halbinsel lahm legte und sein Ansehen bei den Südslaven ver-dunkelte. Die russische Gesellschaft empfand das Alles als bitteren Hohn, als absichtliche Demüthigung und Verfolgung. v. Löhti, Rußland III 11 XXV. Deutschland und Oesterreich. kl. Russische Politik. Der Zwiespalt der Interessen nnd der Seele, der zwischen Deutschen und Russen einmal stattfindet, ist häufig sienng in der Politik an die Oberfläche getreten nnd zwar stets zum Nachtheil der Dentschcn. Die ganze Geschichte Preußens uon den Verhandlungen zu Tilsit bis zum Abschlüsse des letzten Pariser Friedens ist eine einzige Klette uon russischen Treulosigkeiten, bei denen Ehre und Vortheil des schwächeren Verbündeten bei dem stärkeren anch nicht eines Ständchens Gewicht hatte.') Je mehr sich uns das diplomatische Getriebe in der Zeit der Freiheitskriege nnd Wiener Kongresse entschleiert, desto dentlicher sehen wir russische Hände bei der Arbeit, aller Orten Fäden anzuknüpfen, die zu Hemmnissen wnrden für Deutschlands Erstarten. Nuzweifelhaft sind die Beweise, daß kurz vor der Iulirevoluticm die russische Politik sich mit der französischen in einem Einverständnis; befand, dessen feindliche Spitze auf Teutschland gerichtet war, Rnßlaud war es, welches nach 1848 Preußen das Haupt zu Boden drückte, und die vornehmste Ursache war, daß man Schleswig-Holstein den höhnenden Dänen ») Berlin und Et. Petersburg, Preusnschc VciträiN' zur Geschichte der russisch-deutschen Beziehungen. Leipzig 1,^0. 163 vor die Füße warf, und daß Deutschlands Aufschwung zunichte Mg. Es mußte so sein, das ist der einzige Trost, wenn man an all die Demüthiguugen deukt, die Preußen sich damals zu Warschall nnd bei dein Vesuch des Kaisers Nikolaus in Berlin mußte gefallen lassen. Während icdem Deutschen das Blut der Scham nnd inneren Empörung in's Gesicht schoß, klang durch die Petersburger Salons lantes Gelächter und Wohlbehagen über die Gemaßregelten im „Paschalik von Berlin". Alles das mußte so kommen, auch daß Nismarck selbst in Petersburg die ganze Schwere russischen Hochmuths kennen lernte, nnd daß noch im April 1856 auf dem Pariser Kongreß Preußen eine neue Demüthigung einstecken mußte, — alles das war nöthig, damit die Einsicht endlich durchdrang, man brauche die Russen nicht und könne anch ohne sie »lit Dänen und Franzosen fertig werdm. Wmn aber die Nüssen so sehr darauf pocheu, daß sie im letzten französischen Kriege sich nentral verhielten, so thaten das außer ihnen noch andere Völker, nnd es ist aller Welt bekannt, daß wir es nur zu danken hatten dem persönlichen Willen des Kaisers Alerauder nnd vielleicht anch einigen Schwächen in Rußlands Heer und Fmauzcn. Und hatte man nicht anch in Berlin eiu Necht auf russische Dankbarkeit erworben? Wie? Wcuu bei dem letzten polnischen Aufstaude sich Preußen nicht sofort dagegen erklärt hätte? Es brauchte nur still zu schweigeu, die Polen an seiner Gränze nnr Stützpunkte gewiunen zn lassen, so hatten sich zweifellos die europäischeu Mächte zu Gunsten des unglückseligen Volkes in'Z Mittel gelegt. Während des ganzen dänischen nnd französischen Kriegs aber schrie nnd log und tobte die russische Presse fast ohne Ausnahme und ohne Aufhören gegen die Deutschen. Sie förderte für sich allein mehr Grimm zn Tage, als, natürlich mit Frankreichs Ausnahme, die ganze übrige Welt. Oesterreich aber weiß außer den Erschwerungeu des Donau II » 164 Handels, und außer der aufgedrungenen Hülfe im Jahr 1849 und den übermüthigen an den Zar gerichteten Worten „Ungarn liegt zu Füßen Eurer Majestät" — von unaufhörlichen Hemmungen, die es in seiner Politik durch Rußlaud erfuhr, wie von gewissen geheimen Zotteleien unter seinen Völkern wahrlich genug zu erzählen. Die Magyaren kounten den Russen kein größeres Vergnügen bereiten, als durch den Ausrottungskrieg, welchen sie der deutschen Sprache erklärten, und mit herzlicher Freude werden in Petersburg wie in Moskau die großen und kleinen Ergebnisse der Minirarbeit verbucht, durch welche, wie es scheint, die Völker in Oesterreich sich loser zu einander stellen. Der deutsche Kitt, so denkt man drüben, hält Oesterreich-Ungarn zusammen: löst sich dieser Kitt nach nnd nach, so fällt ein Theil Rußland zu wie lockere und leckere Stücke. Kurzum, betrachtet mau näher die lange Reihe politischer Vorgänge seit dem Sturze des ersten Napoleon, so kann das Endergebniß nur lauten: die dentschen Mächte haben von dem russischen Verbündeten unaufhörlich jeden Nachtheil erfahren, welchen Dieser ihnen irgendwie mit guter Manier beibringen konnte. 82. Künstliche Vormachtstellung. Die Art von Hegemonie aber, welche Nußland so lange Zeit in Europa in Anspruch nahm, theilweise auch zugestanden erhielt, beruhete nicht auf eigener Kraft, sondern auf eiuer Unterlage, die außerhalb seiner Gränzen sich darbot. Der eine Stützpfeiler lag ill den oentschen Kleinstaaten, in denen viele Herren glaubten, sie müßten sich beständig nach einem Schirm und Wächter der Unabhängigkeit umschauen. Der andere Stützpfeiler war der ewige peinliche Gegensah zwischen Oesterreich und Preußen. Sobald diese Verhältnisse sich änderten, sank die russische Großmachtstellung zusammen, weil sie eine rein künstliche war. Den meisten Russen fällt es noch immer schwer. 165 dies einzusehen, und noch schwerer, sich an die gänzliche Hoff. nungslosigkeit, daß ihr Zar jene Stellung unter den deutschen Mächten und damit in Europa wieder einnehme, zu gewöhnen. Mögen sie aber nnr die naturgemäße Steigerung in den letzten fünfzehn Jahren sich vergegenwärtigen! Wie gern hätte Ruhland im letzten dänischen Kriege den deutschen Mächten -wieder etwas zwischen die Füße geworfen: es ging nur nicht, weil sie verbündet waren- Der folgende deutsche Krieg war beendigt, ehe man sich in Petersburg und Moskan die Augen recht ausgerirbeu. Nuu folgte das rasche furchtbare Nieder-werfcu Frankreichs, und die ucue deutsche Reichsmacht staud plötzlich da, gewaltig im ehernen Siegesglanz, ^ den Russen verhaßt und vermalcdcict, aber doch immer noch nicht gegen ihren laut erklärten Willen. Doch bald darauf zeigte sich, daß auch RußlaudZ eutschiedmster Wille ohnmächtig geworden: es mußte die Zweithcilung Bulgariens hinnehmen. Warum? Weil die beiden Deutscheu Mächte eiuig warcu- llud bei alle-dem standen sie lediglich auf dem, Standpunkte der Vertheidigung ihres eigenen Interesses. Was aber weiter folgte, wurde von den Russeu, wie sie einmal sind, nicht mehr bloß als peinliche Veleidiguug, sondern als offenbarer Uebergang zum Angriff aufgefaßt: dies war die österreichische Einuerlcibnng Bosniens. Aus dem Gebiete des Halbmonds, das sie von Rechtswegen an Nußland verfallen hielten, ist ein großes kostbares Stück herausgerissen, nm eine deutsche Macht zn vergrößern, uud der schon sicher gewähnte Besitz des Uebrigen sing zu gleicher Zeit an sich ins Dämmerhafte zu verliereu. Warum? Doch hauptsächlich deshalb, weil die beiden deutschen Mächte gleichen Willen hatten. 83. Verbnrgerung der deutschen Mächte. Was ist nun natürlicher, was folgerichtiger, als daß die deutschen Mächte mg und innig sich zusammenschließen? AIs 166 Fürst Bismart im .herbst I>>7<,> nach Wien und die Kunde durch Deutschland ssing, es sei eine Allianz mit Oesterreich abgeschlossen, was war das für eine herzliche Fröhlichkeit aller Orten wo Deutsche wohnen! Man fühlte sich wie von einem Drucke befreiet, der in den Gemüthern gelegen, und es war, als hätten entzweiete Brüder sich wieder gefunden. Oesterreich nnd Deutschland sind ja in Wahrheit zwei Söhne von einer nnd derselben Mntter. Der eine Sohn lebt noch in der elterlichen Wohnung und hat, als sie zu versallen drohete, sie neu und stattlich hergerichtet. Der andere Sohn besitzt nur einen Theil davon, hat aber durch Glück und Verstand sein Anwesen weithin ausgedehnt über die Nachbarschaft. Deßhalb ziemt sich auch für die deutschen Mächte kein Bündnis;, wie es gewöhnlich zwei fremde Völker einigt, sondern, weil sie eines Stammes und eines Geistes sind, so muß ihre Zusaminenfüguug auch eigenthümlich sein- Weil ich dies nicht besser ausdrücken kann, als wie ich schon vor acht Jahren darüber schrieb/) so möge erlaubt sein, es herzusetzen. „Das jetzige deutsche Reich erstaud ohne, ja gegen, und doch für Oesterreich. Schon das politische Genie des Kaisers Friedrich Rothbart hatte der wichtigen Gräuzmark im Südosten eine große eigene Zuknuft, nnd damit eine freie Stellung neben Deutschland angewiesen. Ihr Oberhaupt sollte Schutz und Anhalt am Reiche, sein Land beständige Stärkung finden von Deutschland her. Die Bevölkerung aber sollte die Augen dorthin kehreu, wohin die Donan fließt, und in Kampf und Arbeit mitso vielen rohen Völkern unbehelligt sein von des Reiches Pflichten. Dies Verhältniß war so naturgemäß, daß es auch gefälschten Privilegien Ausehen verschaffte. Nach langer Periode der Zerrissenheit haben sich die Kräfte im alten Deutschland wieder l) Die MalNMM und andere Ungar», Leipzig 1^74, Fues' Verlag, -eite 127—426. 167 zusammengefaßt. Damit ist auch Oesterreich wieder in seine naturgemäße Stellung eingetreten, nud die politische Formel dafür zu finden, ist nur noch Sache der Zeit. In dieser seiner naturgemäßen Stellung ist Oesterreich jetzt unvergleichbar stärker, als es im Mittelalter war, aber auch um so viel größer uud herrlicher sein Veruf. Nicht au der Douau auf--wärts, sondern abwärts liegt er. Nach zwei Richtungen schant sein alter Reichsadler. Der eine Kopf blickt noch immer nach Westen: das kann aber jetzt nnr bekunden, daß Oesterreichs Verbindung mit Deutschland noch nicht zerrissen ist. Möge sie nur mit jedem Jahrzehnt wieder lebhafter werden, jedoch uur soweit, als sie auf Deutschland nicht lähmend zurückwirkt. Dazn gehört Dreierlei. Erstens: in allen geistige« Gutem herrsche zwischeu uns und den Oestcrreicheru ächte uud wahre Gemeinschaft, wie sie, eines Kulturvolks Glieder beleben muß. Diese geistige und sittliche Gemeinschaft wird gefördert durch Presse uud Literatur, durch freien Verkehr der Studeutcu und Universitäten, durch gelehrte, laudwirthschaftliche uud audere Wanderuereine, durch geinein-same Feste, durch frifche Zuwanderung hierhin, uud dorthin, für Oesterreich insbesondere auch durch bestäudige Zuführung deutscher Kräfte auf die höhereu Gebiete des Lebeus. Zwei-teus: in volkswirtschaftlichen Dingen, im Post- Telegraphen-und Eisenbahnwesen, in Münze und Gewicht, in Zöllen nnd Handelsverkehr herrsche Gemeinsamkeit so vollständig als nnr irgend möglich. Das Dritte aber ist die Hauptsache: das ist die gegeuseitige feste uud öffentliche Gcwährleistuug des vollen Landesgebiets beider Reiche. Möge im Uebrigen jeder Theil feine Freiheit nicht um ein Haar vermindert behalten, Freiheit zu politischeu Gestaltuugeu, Freiheit zu Gesetzen nnd Ver-sucheu aller Art, Freiheit auch zu Krieg uud Bündnissen, Nur das Eiue soll gauz Europa wissen, daß dasjeuige Gebiet, 168 welches die deutsche Nation als ihr altes Kulturgebiet besitzt, unter allen Umständen unverletzbar sei." Diesen Gedanken wiederholte ich ein paar Jahre später in einer öffentlichen Rede in der Akademie der Wissenschaften zu München, als die Weltstelluug Deutschlands darzulegen, meine Aufgabe war- ^) „Unsere Stellung zu Oesterreich ist unnatürlich, ist un-historisch, ist unhaltbar. Sic ist unnatürlich: denn die Straßen, welche die alten Römcrfestungen im Donauthal verketteten, welche die Nibelungen uud bayerischen Einwanderer hinunter zogen, folgen nur dem Lauf unserer Berge und Flüsse. Kein wesentlicher Unterschied des Landes uud des Volkes bis an den Rand der magyarischen Ebene. Unsere Stellung zu Oesterreich ist unhistorisch, weil sich ein gemeinsames mehr als tausendjähriges geschichtliches Lcbcu nicht plötzlich zerreißen läßt. Dauert sie fort, so wird sie die Rache der unsichtbaren Mächte nach sich ziehen, die von Volk zu Volk die Verhält« nisse regeln je nach dem inneren und äußeren Zusammenhang. Wer aber könnte sich im Ernst Oesterreichs Wiedereintritt in das deutsche Neich vorstellen? Das hieße ja nur das Eleud des alten Dllalisinns erneuern uud würde Oesterreich wie uns lahmen uud stören in jeder Newegnng. Wohl aber ist eine größere gesetzliche Annäherung in Handels' nnd Müuzverkehr, in Ordnung der Posten und Bahnen, im Rechtswesen, in Universitätsgememschaft, in gegenseitiger Freizügigkeit und An° siedlnng, und vielen anderen Dingen möglich, was Alles durch eine Art Zollvarlament seine Erörterung uud Bekräftigung von Volt zu Volk fände. Unabweislich ist dabei eine öffent-liche nnd bündige gegenseitige Gebietögarautie, die im Uebri» gen volle Freiheit der Bewegung ließe. y Ueber dic Wcltstellung Deutschlands. Rede in b« t. Ala> d«mie der Wissenschaften am 25. Juli 1374. 169 Sobald in dieser Weise sich Oesterreich und das deutsche Reich wieder zusammengefunden, werden sofort sich die Spannungen lösen, die den Welttheil jetzt in Athem halten. Dann erst wird europäischer Frieden wieder eine Wahrheit sein." — Seitdem hat jedes Jahr, wie mir scheint, die Richtigkeit dieser Anschauung der Sachlage bestätigt. Was sich der uollen Ausbildung der Verbürgenmg zwischen Deutschland nnd Oesterreich, wie Natur und Geschichte sie verlangen, entgegenstellt, sind hauptsächlich wirchschaftliche Interessen. Allein auch diese, so berechtigt sie sind, müssen sich fügen, wenn es sich handelt nm höhere Fragen uon weltgeschichtlichem Ocwichtc. Sind wirklich Opfer auf der einen wie der andern Seite zu bringen, so wird ebenso gewiß ihre Ausgleichung später durch um so größeren Gewinn sich einstellen. XXVI. Maß der Kräfte. 84. Stenerkraft. Noch immer giebt es nicht Wenige, die sich von der russischen Macht eine sehr übertriebene Vorstellung machen. Da ein großer europäischer Krieg, in welchem die Rnssen auf der Seite unserer Feinde kämpfen, in's Bereich der Möglichkeiten getreten, ist man unwillkürlich versucht, sich näher zu unterrichten. Die erste Bedingung für eiuen langen schweren Krieg, und ein solcher würde es wohl werden, ist entweder des Herrschers Macht und Genie oder eine ergiebige Sienerkraft des Volkes. Die Finanzen aber waren von jeher Rußlands schwächste Seite, es hing ihnen immer noch etwas orientalisches Wesen au, dem gegenüber der Staatshanshalt z. V, der oeutscheu Mittelstaateu als ein kleines finanzielles Paradies erschien. Seit deu napoleonischen Kriegen hatte Nnßlaud unanfhörlich mit schweren Defizits uud mit Ueberschwemmung uou Papiergeld -zu tämvfeu. Jede kriegerische Rüstung ließ die Einnahmen tiefer unter die Ausgaben sinken. Im Jahre 186^ wnrden znm erstenmal die Ziffern des Staatshaushalts veröffentlicht, entschlossen wnrden die Wege der Sparsamkeit nnd Orduung betreten. Der polnische Aufstand warf Rußlaud wieder zurück, aber nachdem auch das überwunden, besserten sich die Finanzen zusehends, bis 171 man 1870 bereits einen kleinen Ueberschnß hatte. Das gute Verhältniß danerte fort bis znm türkischen Kriege, der Rußland bis aufs Tiefste erschöpfte. Doch auch diese Verlnste werden, da Handel nnd Gewerbe im Wachsen, sich wieder ausgleichen lassen. Erschreckend aber ist das Verhältniß, welches die Staats» schuld mit ihrer Verzinsung und die Wehrkosten zu den übrigen Ausgaben einnehmen. Die rnssische Finanzaufstellung führte vor vier Iahreu eiue Gefammteiunahme von 570 Mill. Rubel auf. Dauon verschlangen das Finanzministerium 66, die Zinsen der Staatsschulden 10«'^, der Aufwand für Heer uud Flotte und Gestüte ^ Mill. — das sind also, die theneren Eisenbahnen ungerechnet, bereits 386V2 Mill, anf nur 570 der ganzen Einnahme. Also nahe V2 bloß für Heer und Flotte uud Schuldziusen! Das war bereits vor vier Jahren so. Was der letzte Krieg gekostet, was die neuen Rüstungen losten, entzieht sich noch jeder Berechnung. Um aber die Steucrtraft selbst zn würdigen, diene ein Vergleich mit Frankreich. Vor etwa zwanzig Jahren, als beide Länder sich noch einigermaßen in naturgemäßen Verhältnissen befanden, belief sich in Frankreich das Staatseiulommcu in runder Summe anf 1800 Mill. Fr., in, doppelt so vottreichcu Rußland ans etwa 800. Seit jener Zeit haben sich in beiden Bändern die Steuern außerordeutlich vermehrt, in Frankreich betrug das Eiukmnmeu des Staates uor vier Inhreu 3575 Mill. Fr., in Rußland 1400 Mill. Frankreich aber hat in den letzten zwanzig Jahren den theuren Ruhm des zweiten Kaiserreichs uud die furchtbaren Verluste des großen Kriegs bezahlen müssen: Rußlaud hatte im selben Zeitraume bis vor vier Jahren bloß seine Nahnbauten nud inneren Reformen als be-soudere Ausgaben zu bestreiten. Während ferner in Frankreich Gewerbe uud Industrie außcrordeutlich aufblühte, war das in Rußland auch nicht in annäherndem Grade der Fall. 172 Ein schlimmeres Zeichen ist folgendes. Die Kopf^ und Verzehrungssteuern wuchsen reißend, öfter von Jahr zu Jahr um 25 Prozent. Gleichwohl mehrten sich nicht im selben Verhältniß die Staatseinkünfte. Also die Steuerkraft ließ nach, der Ausfall bestand ebm in Steuer-Rückständen. Die Steuern selbst aber trägt zu zwei Drittheilen das arme Bauernvolk, und sie können nicht unglücklicher vertheilt sein. Seit zwanzig Jahren arbeitete eine Kommission uuaus-geseht daran, eine gerechtere Verthciluug der Steuerlast und eine unverminderte Ablieferung herbeizuführen: die Aufgabe scheint aber riesig schwer zu sein. Durch Branutweiuvertilgeu müsscu die Russen ihrem Staate aufhelfen. Noch vor eilf Jahren erschrack mau bei dem bloßen Gedanken, die Salzsteuer zu mindern; deuu ihr Erträgnis;, nur etwa 13 Mill. Rubel, war doch etwas Sicheres, wenngleich nur '.» Mill, wirklich in die Staatskassen flössen. Und doch w«ßte Jedermann, wie schwer die hohe Salzsteuer auf Landwirthfchaft und Gewerbe drückte, und die Aerzte sagteu: weil das Landvolk und sein Vieh zu wenig Salz verzehre, deßhalb griffen die ansteckenden Krankheiten unter Beiden so leicht um sich. Jetzt endlich sind die Salzsteuer im Lande uud der Salzzoll an der Gränze aufgehoben. Damit ist der erste Schritt gethan, um eine Steuereinrichtung zu bessern, welche mit den Hauptlasten gerade auf die niederen Klassen drückte. Sofort aber war man genöthigt, für den Ausfall der Salzsteuer Ersaj; durch Zollerhöhuug zu suchen. Darüber aber ist alle Welt einverstanden, daß es rein unmöglich ist, jetzt aus den Bauern noch mehr Steuern heraus zu pressen. Ein Rubel Steuer auf jeden Kopf nn Hause ist für den gemeinen Mann, der so wenig erwerben kann, eine furchtbare Last. Es soll nun eine allgemeine Einkommensteuer eintreten; für die mittleren und höhereu Klassen ist sie gewiß nur gerecht, sie müßte sicher auch ergiebig werden, wenn nur die eigenartigen russischen Beamtenverhältnisse nicht wären. Wie sich Dies 173 und insbesondere wie sich die Einkommensteuer für die große Masse gestaltet, das kann erst der Erfolg lehren. 85. Heeresstärke. Was wird nun für die so unverhältmßmäßig großen Kosten, die ein so armes Land ans seine Streitkräfte verwendet, geleistet? Ist die russische Kriegsmacht wirklich so furchtbar? Auf dem Papier gewiß. Die Gesammtstärke soll 2,617,000 Mann betragen, also bei einer Bevölkerung von 88V2 Mill, ziemlich genau 3 Prozent. Allein diese Anzahl muß ans ausgedehntem Gebiete herangezogen werden, und dieses Gebiet ist verhältnißmähig bahnlos, auf deutscher Seite aber von Bahnen umsponnen. Die Russen stehen vor einem ärgerlichen Entweder — Oder. Entweder bauen sie erst Eisenbahnen, dann haben sie kein Geld zum großen Krieg, ^ oder sie führen erst den Krieg, dann haben sie nirgends Truppen genug. Ohne daß Eisenbahnen durch's ganze Reich besteh» und die Gränzen umlaufen, können die Truppen in genügender Zahl erst nach einer Reihe von Monaten auf der Stelle sein, wo sie nöthig: bis dahin wird aber der Kriegsinacht, die Rußland sofort in's Feld führen kann, vielleicht übel mitgespielt. Sollen aber erst die Eisenbahnen fertig werden, so geht noch eine Anzahl Jahre darüber hm, uuv hat der Staat dafür Anlagegelder hergegeben, so blüht ihm die Aussicht, sie zu bedeutenden Summen selbst zu verzinsen^ weil außer Militärs und Veamten gar wenig Leute die Vahncn in die entlegenen Reichstheile benutzen werden- Wir wollen uns hier keineswegs auch auf Abrechnung der ansehnlichen Truppenzahl einlassen, die in dem ungeheuren Reiche vertheilt stehen bleiben muß und niemals über die europäische Gränze kommt; — wir wollen auch nicht genaner die großen Kosten untersuchen, mit welchen Militärmassen jetzt aus dem Inneren des Reiches herbeizuschaffen sind; -- nur 174 sich gleichbleibeudc geschichtliche Thatsachen sollen einen Maßstab bilden. Wie hoch belief sich die Kriegsmacht, mit welcher Nuß-land in diesem Jahrhundert in den uapoleonischen Kriegen, im ersten Türkenkrieg, in der ersten polnischen Ncuolntion, im Krimkrieg, im lchten Türkenkrieg ans de,n Kampfplatz erschien? War es denn wirklich in der ersten Hälfte des Jahrhunderts jemals ein volles Zehntel, in der zweiten Hälfte ein volles Viertel der oben angegebenen Kriegsstärke? Lehrreich sind insbesondere die nntrüglichen Angaben, welche die russische Denkschrift enthält, die gegen die Angriffe in der il«v»« nonveN« erschien, welche man dem Großfürsten NikolanZ zuschrieb. Sie ging zweifellos nahe von der Seite des Kaisers ans/) Im November 1875, wurden znm Angriff an der Donau IW,000 Mann, znm Seitenangriff in Kleinasien gegen 5^,000 aufgestellt. Im April darauf zählte die gesammte Armee an der Donau Z40,000 Mann, dazn gerechnet aber sämmtliche Hnlfsuölker, die Serben, die 40,909 braven Rumänen, und die 0000 Mann Bulgarenmiliz, während das Angriffsheer in Kleinasien auf 7<>,0<»0 Mann erhöhet wurde. Als man endlich nut ganzer Macht auftreten mußte, wurde das russische Kriegsheer an der Donau, Hülfsvölt« eingerechnet, auf 554,000, im Kaukasus auf N2M0 Mann gebracht, und „außerdem", heißt es, ,,blieben noch 7.;,4l! Mann znm Kampfe gernstet an den Nfern des Schwarzen Meeres zurück". Das war also die höchste Machteutfaltuug Rußlands. Die Deutschen hatten 1871 im Februar 1,^50,000 Mann auf französischem Boden, und die Bier- und Weinhänscr in Dentsch-land waren Abends noch keineswegs leer von jnngen Männern. Wie aber war die Wirkung der russischen Heermaschine beschaffen? Bei der leichten Fnsfnngskraft, bei der Willigkeit nnd Ausdauer, bei der nnglanblichen Ontbehrungsfähigkeit, bei ') Allgein, Zntung Nro, Ueere stecken sollen, etwas besser kennen zn lernen. Woher aber der Nnf zn solch einem netten Waffen gang ans Probe? Die Ruhe der Welt bcrnht eben zu nicht geringem Theile bloß darauf, daß Alles sich vor dem Funken fürchtet, dessen Sprühen so leicht einen fnrchtbaren Brand entzündet. So aber, wie jetzt die Parteien in Frankreich wid« einander stehen, ist dort jede Entwicklung, der Dinge noch ungewiß und wird es wahrscheinlich noch länger bleiben, und so lange werden sich unsere östlichen Nachbaren wohl bedenken, ehe sie rnfen „Franzosen heraus!" Bleiben aber Deutschland und Oesterreich innig verbündet, so wird dieser Rnf wohl so bald nicht erschallen. Viel eher wird sich in der Mitte nnseres Welttheils sür seinen Frieden eine feste Bürgschaft bilden, der auch andere Machte sich wieder anschließen werden. Der Plan der Kriegölnstigen in Rnßland scheint nun zu sein, unaufhörlich von der deutschen lirobernngssncht zu sprecheu. Kein Mensch in Deutschland ocukt daran, Nnßland anzn-greifen, wohl aber läßt sich m Petersburg wie in Mostan die Mein nng hören: die Ostsee Provinzen seien aust? Aenßerste bedroht. Würde mm mit großen Kosten alles längere Zeit auf Kriegs 179 fuß erhalten, so könnten sich, denken Jene, Wille und Anlaß zum Krieg znletzt wohl ergeben, und würde noch so große deutsche Friedensliebe und Zurückhaltung ebensowenig helfen, als jüngst dem napoleonischen Frankreich gegenüber. So liegen die Dinge in Rußland, ^ für uus selbst ernst genug, daß wir über Ursachen und mögliche Wendungen uns klar zn werden und beide Angeu offen zu halten haben. Das Wahrscheinliche ist jedenfalls, daß bessere Einsicht die Oberhand behält. Mit einiger Energie und Klugheit kann leicht verhütet werdeu, daß die Feindseligkeit zum Ausbruche kommt, Denn noch ist die Lage keineswegs so beschaffen, daß nur die Wahl bliebe zwischen konstituircuder Nationalversammlung oder einein Kriege, der die gesammten Kräfte nach außen wendet. Die Regierung hat nnr mit einem uerhältnißmäßig geringen Vruchtheil der Nation zu schaffen, welcher von den konstitutionellen Forderungen nun einmal nimmer abläßt, jedoch am Ende Vernunft annimmt- Wie es scheint, werden die Gegensähe noch lange mit einander ringen- Doch wer mochte das „lange" verbürgen? Wer sich alles recht vergegenwärtigt, wird sich immer wieder sagen müssen: die nächste Zukunft Rußlands ist unberechenbar. 87. Deutschlands Aussichten. Feinde ringsum! Diese Gewißheit wird uns so bald nicht frei lassen, Die Deutschen wohnen gar zn sehr in des Welttheils Mitte, wo sie die andern Völker fast alle berühren, und diese mittlere Masse ist zu gewaltig, als daß jede ihrer Bewegungen sich nicht allwärts hin fühlbar macht. Seien wir daher nnr auf Zeiten gefaßt, wo die gesammtc Volks kraft muß aufgeboten werden, wo jeder Nerv und jede Faser sich aufs Aenßerste summen mnß, wo auch in Niederlagen wir nicht eine Stnnde bangen und verzweifeln dürfen, damit Deutschland nicht gräßlich seinen Rnhm und Platz bezahle. Wir 12« 180 wissen genau, wornm eZ sich handeln wird. Dentschland ist zn groß geworden, als daß die Feinde sich mit seiner bloßen Demüthigung zufrieden gäben: sie könnten und winden nicht ruhen, als bis es wieder ohnmächtig, das heißt zerrissen und gebunden wäre. Unsere Stärke ist nnser gutes Gewissen. Die ganze Welt weiß, daß Deutschland redlich den Frieden will. Der Krieg müßte vom Zaune gebrochen werden, wie vor eilf Jahren, nnd da« durch käme der Fricdbrccher in unuorthcilhafte Lage. Unsere Diplomaten werden aber schon aufpassen, daß sich keine trügerischen Ränke anspinnen, nm die Wahrheit zu trüben, sondern Sorge tragen, daß Jedermann stets begreife, wer der Unheil bringer sei. Da ist es nur gut, daß Deutschland jetzt weiß, wie es mit Nußland daran ist, und Oesterreich ihm nicht über den Weg mehr tränet. Weil wir aber ehrlich Frieden halten wollen, so werden unsere Widersacher sich wohl noch eine Zeitlaug damit trösten müssen, die fressenden Uebel im Innern des deutschen Volks würden es lahm legen. Die Einen hosfcn diesen Dienst vom Kulturkampf, die Andern von den sozialistischen Wühlereien, während die Tritten hoffen, vor der bloßen Kcldnoth werde uns das Haus über dem Kopfe zusammenbrechen. Mögen sie darauf warten! Unterdessen werden wir auch nicht müßig sitzen, sondern beständig unsere Waffen schärfen nnd Lage nnd Rüstung der Gegner studireu. Einstweilen dürfen wir wohl ruhig darauf vertrauen, daß dasjenige Volk, in welchem Geistes- und Herzeusbildung, wie nirgend anderswo, bis in die weitesten Kreise verbreitet ist, auch an Heereskraft und Schlagfertigkeit das stärkste ist. Ve-rechnen wir einfach nur zwölf Jahrgänge der l 50,000 Mann, die bisher Jahr für Jahr in die Linie und aus dieser in die Landwehr und ans dieser in den Landsturm traten, so ergiebt 181 das — den gewöhnlichen Abgang von 15 nnd 30 Prozent ab, und die Soldaten bei der Fahne hinzu gerechnet — für einen großen Nothfall immer schon eine Macht von etwa 2Vs Millionen gedienter Soldaten. Anderthalb Millionen könnten über die Gränze marschiren, und bliebe noch eine Million im Lande, nm seine festen Plätze zu vertheidigen und dem Feinde, wenn er eindränge,' heiß zu schaffen zn machen. Diese Heeresmacht aber wird geführt von Offizieren, die an militärischer Kenntniß und Gewandtheit unübertroffen, nnd von Feldherren, welche die größten der Gegenwart sind. Gerade daß hentzntage im Kriege Reichthum an Bildung und Feinheit des Geistes ein großes Wort nütsprechen, fällt, im Ganzen genommen, zn Gunsten der Teutscheu in die Wag-schale. Wir werden ja sehen, ob nusere Offiziere eher Russisch oder die französischen fnihcr Deutsch gelernt habeu. An rascher Kühnheit der Entschlüsse werden es die Nüssen nicht fehlen lassen. Gewiß aber würde in einem dampfe mit ihnen in allen deutschen Gauen noch eine ganz andere Gewalt des Grimms nnd Heldenmuths nnd größere Opferwilligkcit erwachen, als wir sie gegen Frankreich auflodern sahen. 88. Angriffsftuntte. Bei den Rnssen ist noch immer die Meinnng sehr verbreitet, ein Krieg mit ihnen lade den Deutschen alle Nachtheile eines leicht erreichbaren und an Gnt nnd Volk reichen Landes anf, während Rußland die Vortheile eines weitgedehnten, schwach bevölkerten, au Nahrung für das eindringende Heer armen Landes besitze. Ihre Hccresmacht, denken sie, sei für den Angriff in Polen weit gegen uns vorgeschoben, und für die Vertheidigung brauche sie bloß, nackte Einöden hinter sich lassend, sich immer weiter znrück zu ziehen, dann müsse der Feind zn Grunde gehn, wie einst Napoleons „grohe Armee". Ihres Landes Weiträmnigkeit und große Armuth seieu Verbündete, die unbesiegbar. 182 Schon der Krimkrieg sollte eines Andern belehrt haben. Es genügt, die Rnssen an einem bedentenden Platze in ihren Gränzlanden anzugreifen, dann müssen N^ ihre Ttreitkräfte ans weit entlegenen Landstrichen ans diesen Pnnkt zusammen pichen, während der Feind demselben stets nahe bleibt. Wäre es denn für die heutige .Kriegskunst so schiuev, in das Reich der Nüssen soweit vorzudringen, daß man ihnen ans die polnischen Kräfte Beschlag legte nnd daß man sie von ihrer Kornkammer, dem Schwarzerolanoe, abschlösse? Von Galizien ist nicht viel weiter nach Kiew, als von Posen nach Warschan, während die Flotte sich andere Angriffspunkte an der weitgcstreckten Linie der Ostsee oder des Schwarzen Meeres anssuchcn würde- Sollte es aber nicht anch möglich sein, eine Bahnlinie bis in's Innere uon Rnßland zn besetzen nnd nach beiden Seiten wie eine Festungslinic zn vertheidigen? Daß ans den russischen Eisenbahnen die Schienen weiter uon einander liegen, als auf den westenropäischen, könnte ja kein Hinderniß sein, das unüberwindlich, Ein Tchienenstrang läßt sich lösen und dem andern näher legen, nnd Wagen mit verstellbaren Rädern lassen sich zum voraus bauen. Schlimmsten Falls, wenn die Eisenbahn zerstört wäre, ist der Ban einer ncncn in einem ganz ebenen Lande, welches anch nicht nnter Wasser zn setzen mög lich ist, keine Herkulesarbeit mehr. Die Russen wissen recht gut, welch ungeheuren Nachtheil es ihnen im Kriege brächte, wenn sie uon ihren besten Vorraths-ländern, 5tleinrußland nnd Polen, abgeschnitten würden, nnd sie sind ganz in der Stille längst bemüht, ihre Vertheidignngs-linien, znerst am Diyestr nnd an der Weichsel, sodann längs der Düna nnd dein Dnjeur, ;n sichern durch feste Plätze in Verbindung mit den Hindernissen, welche Sümpfe dem eindringenden Feinde entgegen stellen,') Anf preußischer nnd österreichi- ') Rivista militare itallana 1677, drittes Heft 183 scher Seite scheint die Gränze viel offener zn liegen. Ob Vreslan in einen Hauptwaffenplatz zn verwandeln, darüber wird noch gestritten. Doch was in diesem Kapitel alles zn sagen wäre, ist die Sache militärischer Sachverständiger. Hier sollte nur ange-dentet werden, daß kein Staat in Enropa unbezwingbar ist. Freilich etwas Gnnst des Himmels gehört immer zum Siege. Im Jahre 1811 beglückte sie die Russen^ könnten sie denn so gewiß darauf rechnen, wenn sie Deutschland, daß sie weder bedrohet noch angreifen will, rechtlos zum Kriege nöthigten? XXVII. Entweder — Oder. 89. Kriegspartei. Lieblich läuten jetzt die Friedcnsglocken über unsern Welttheil hin und ihr eherner Klang tönt glückverheißend auch durch Nußlands weite Ebenen. Trügt nicht alles, so brechen sich dort, gleichwie nach dein Krimkriege, weiter und weiter Bahn Selbsterkenntniß und der Entschluß, alle Kraft an die Arbeit in: Innern des Volkes nnd Landes zu setzen und des Kaisers wohlthätige Gesetze zur vollen Wahrheit Zu machen. Denn Rußland ist auf langer schwerer Leiter hinuuter gekommen bis auf den Boden seiner Täuschungen- Entweder verzichtet es in richtiger Würdigung seiner Lage auf slavische Hegemonie-Ideen nnd auf jede .Kriegsunternehmung in Europa, und weudet alle seine Kräfte theils seinem unermeßlichen Knltnr-Veruf in Asien zu, theils der langsam, aber unaufhörlich fortschreitenden Weiterbildung nnd Nutzbarmachuug seiner Reformen, vor allem der Förder-uug des Wohlstandes und der Vilduug der uiedern Volksmassen. Dann werden deutsche Kräfte und unsere altgewohnte Theilnahme sich nach wie vor gern nnd förderlich dabei be» theiligen. Oder die eroberungslnstige Partei ist noch nicht gebrochen, ihre unselige Verblendung noch nicht gefallen, dann kann sie immer wieder obenanf kommen nnd dann stürzt sie Rnßland in einen großen Krieg. 185 Freilich, woher die Mittel zu dem verzweifelten Unternehmen kommen sollen, wie es möglich werde, daß das Reich aus tausend Wuuden blutcud eiucu furchtbaren und lange dauern« deu Krieg sieghaft bestehe, davon hat noch keiner der beredten Herolde, denen der größte Theil der russischen Gesellschaft lauscht, ein klares Wort verlauten lassen- Das ist eben das Unglück, daß diese Männer von dem Glauben nicht abzubringen sind: wenn ganz Rußland in Vewcgung gerathe, werde es eine Sturmfluth geben, die alle Nachbarstaaten überwältige. Genugsam bekannt ist der starre Fanatismus der Raskoluiks, der russische« Altgläubigen: deren Sinnesart steckt auch in den Altnationalen. Ibre Glaubenssätze haben für sie eine religiöse Weihe. Ganz deutlich steht uor ihren Augen ein russischer Massenaufstand, der uus überstürzen, besiegen, niederwerfen, ihr Volk aber aus den Fesseln seines tausendjährigen geistigen, politischeu und sozialen Bannes sicher und siegreich erlösen soll. Ist erst dieser Bann gebrochen und der große Eisgang eingetreten, dann, so glauben sie, dann kann es nicht anders sein, als daß sich alle Stauen verbrüdern nnd den seligen Morgen eines ucueu Weltalters heraufführen. Mit dieser Partei, wcun sie die nationalen Instinkte anf-regt, geht dann gar leicht Alles, was patriotisch fühlt uud nicht gewohnt ist, ruhig nachzudenken. Noch alle mächtigen Antriebe sind in den letzten zwanzig Jahren aus jenen Kreisen hervorgegangen. Der Partei der Nihilisten aber, wenn diese kleine Partei in auswärtigen Fragen überhaupt in Anschlag zu bringen, wäre ciu großer Krieg gerade recht. Sie denkt, er werde am ehesten die Voltskräfte ins Feuer führeu und -- einerlei ob in Sieg oder Niederlage — diefe befähigen, das jetzige Regiment abzuschütteln. 18ft Ntt. Neformpartei. Und jene andere große Partei, welche alle Verständigen, insbesondere die aufrichtigen Reform-Freunde nmfaßt? Diese wissen sehr wohl, wie viel es kosten wird, den hartnäckigen Kampf mit Dentschland und Oesterreich anzunehmen, selbst wenn man Frankreichs, ja selbst Italiens Hülse sicher wäre. Sie mochten zur Zeit sich begnügen, vollständig abznwerfen „das moralische Joch der deutschen Mächte", wie Gräfin Vludow die Sache nannte, als sie im Eifer des Abscheues das rechte Wort traf. Allein auch durch die Erörterungen dieser Kreise von größerer Einsicht nnd Besonnenheit zittert es voll Pein und Noth nnd Aufregung. Das Selbstgefühl krümmt sich wie von Oeißelhieben unter den herben Lehren der letzten Jahre. Wurde doch jüngst noch vor unseren Augen ein Schauspiel aufgeführt, wie die ticfuerletzte Eitelkeit des alten russischen Ncichokauzlers dein rnhigen Mannesstolze des dcntschcn eine Tzene nach der anderen machte. Hohe Weisheit und ernster Wille, wie sie bei der rnssischen Regierung jetzt offenbar vorhanden, können das Staatsschiff durch die erregte Zeit glücklich hindnrchführen, bis in neuen freiheitlichen und volkswirthschaftlichen Einrichtungen die Nation sich festgesetzt hat nnd darin ein ruhiges Behagen fühlt. Das steht uicht bloß zu wüuschen, soudern, wie gesagt, auch zu hoffe». Denn uoch besitzt die Negieruug in Rußland eine nnachcnre Macht, noch beugt sich alles ehrfürchtig und nnterwürfig, wo des Zaren geheiligte Gewalt unter das gemeine Volk tritt. Allein wie trotzdeut einmal die Dinge sich entwickelt haben, bleibt es immer doch möglich, daß bei irgend einer Fügung plötzlich ans der Mitte der Nation eiue dunkle heiße Flnth aufbrodelt, die alle Dämme zerbricht und die Regierung mit sich fortreißt zu Kampf u»d Krieg. 18? »1. Der Möglichkeiten Schluß. Es soll auch iu der Reform-Partei nicht Weuige gebeu, die der Ansicht sind: ein Krieg müsse, wenn nichts Anderes helfe, alle konstitutionellen Güter zur Folge haben. Die so denken, haben Diese sich auch schon recht klar ssemacht, recht nach beiden Seiten überlegt, wie es kommen konnte? Gewiß würde zn Ende des Kriegs für die Entwicklung des russischen Volks ein entscheidender Wendepunkt eintreten. Aber nach welcher Seite hin? Das wäre eben die Frage; denn auch der sieggläubigste Russe wird sich doch nicht ganz gegen die Möglichkeit verhärten, daß sein Glaube ihn auch täuschen könne. Ein rascher Krieg, ein leichter Sieg — das wäre das Glücklichste, was den Russen begegnen könnte- Es würde ihre Volkskräfte in freudigere Regung versetzen, die slavischen Völker ihnen zuwenden, fruchtbare Allianzen für dieZnkunft eröffnen. Sie würden aber schwerlich ihrer Regierung Zeit lassen, die gnten Folgen des Kriegs gehörig auszunutzen, sondern sich alsbald iu Erobcrungökricne stürzen. Ein schwerer langer Krieg würde Land nnd Volk bis auf den Grund erschöpfen, Szenen des Jammers nnd der Ver-zweisiuug hervorrufen nnd Nußland in seinem Fortschreiten weithin zurückwerfe». Allein wenn ein solcher Krieg schlösse mit Sieg und Gewinn, selbst nur mit idealem Gewiuu, so würde er sicher die konstitutiouellen Güter bringen uud Nußland zur vorherrschenden Macht in Enrova machen. Eben deshalb aber wäre das Unternehmen nur der Anfang einer furchtbaren Kriegsevochc, für welche sobald kein Ende abzusehen. Denn die slavische Frage wäre dann in Fluß gerathen nnd niüßte nothwendig ausgekämpft werden bis zum Grunde, uud die Kriege könnten nicht eher abschließen, als bis die österreichische Macht zerstört nud Deutschland nm ein Viertel kleiner wäre. Eben weil wir das wissen, winde wahrlich schon nnser erster Znsammenstoß mit den Rnssen -^ darüber sind 188 bei uns alle Parteien einig — so etwas wie ein gründlicher Krieg werden. Denken wir uns nnn einmal den andern Fall. Wenn die russischen Heersäulen sieglos uud zerrüttet und gebrochen sich ins Innere des Reiches zurückzögen, was würde dann wohl im russischen Volke vor sich gehen? Dieses Volk nahm von seinen Beherrschern, selbst wenn sie von Blut und Freveln trieften, mit einer Art religiösen Dnldersinnes jede Gewaltthat hin- es sah darin einfach eine Schickung Gottes. Ganz in demselben religiösen Sinne würde bei Bauern Soldaten Kleinbürgern und den meisten Kaufleuten nach einein großen Nationalunglück der Glaube entstehen, von des Zaren Händen fließe Verderben auf das Volk nieder, Gottes Segen sei nicht niit ihm. Oft genug ist ja ein ähnlicher religiöser Glaube bei Völkern anf niederer Kulturstufe in fürchterlicher Gestalt aufgetreten. Dann aber könnten in Nußland Aufstände in den Hauptstädten und Provinzen, ja vielleicht Thronstreite ausbrechen. Es würde sich zeigen, daß all die Niete und Klammern des modernen StaatswesenZ nicht fest und tief genug greifen, um. das Neich, fobald das religiöse Nationalgefühl Schiffbruch litte, in Ordnung zusammen zu halten. Alle Mächte der Zwietracht würden Gewalt bekommen, und die Folge würde sein, daß Rnßland, wenn alsdann die ächten und hochgebildeten Patrioten nicht viel stärker und zahlreicher wären, als zur Zeit der Fall ist, unrettbar dem Zerfallen in Großfürsten-thümer zutriebe, wie die Nihilisten es längst gewollt und verkündet habeu. Wiederum würde sich sodann an Nnßland das Schicksal wiederholen, das östliche Völker so oft getroffen hat, — nach raschem weitgewaltigem Aufblühen reißender Niedergang. Man denke nur an den Fall des großmährischen Reichs, und an die Schlachten anf dein Marchfeldc, an der Kalcha, auf dem Amselfeld, nnd bei Mohäcs. Sobald aber das großrussische Reich I «9 zerginge, würde ill seinem Innern die Widerstandskraft des nationalen Wesens gebrochen sein, die europäische Kultur würde aller Orten siegreichen Einzug halteil, mit ihr die An-siedlung von Fremden. Was das Ende dieser Entwicklung sein würde? Wer möchte es wagen, dem weitverbreiteten Volke der Rnsscn den Zukunftscharakter von Völkerdüngcr anzuweisen ? Jedenfalls zeigten sie sich, wenn auch voll härterem Stoff, doch als nicht so gelehrige Schüler, wie die ungemischten Slaven, nnd auch ärmer an schöpferischen Kräften. Zur seibell Zeit aber, wo Nußland eine schwere Niederlage durch die Deutschen erlitte, würde die ganze slamsche Frage sich voll selbst umwenden unv ihren Spieß gegen Rußland kehren. Der fürchterliche Krieg uud seine großeil Opfer würden uus das Gesetz aufzwingen, daß wir die Waffen nicht eher wieder aus der Hand legten, als bis wir zwischen den russischen nnd deutschen Volkskörpcr etwas wie Puffer gebracht hätten, welche Stöße lind Pressungen von außen dämpfen nnd abhalten, Das könnte aber nur sein im Nordosten ein selbst-ständigcs Reich der Polen, im Südosten der Nuthenen oder Kleinrnsscn. Bei ernstlichem Zuthun von Nerlin lind Wien aus würde sich alsdann die Ablösung dieser beiden rein slavischen Völker vom Moskowiterreiche wohl vollziehen. Die polnischen und rnthenischcn Bruchthcilc, die ciumal in Preußens und Oesterreichs Kulturberuf verstrickt sind, könnten zu Jenen die natürliche Verbindung abgeben. Diese neuen Staatsbildungcn könnten nnr nnvollkommen ausfallen, allein ^ besser etwas, als gar nichts. Dann aber wäreil auch die Suannnngen bei den übrigen Slavenuölkem gelöst. Sie stehen ja nach ihrer Bildnng wie nach ihrer ganzeil geistig-sittlichen Art uns näher, als den Großrussen, voll deren Natur die harte turauischc Beimischung sie abscheidet, und es ließe sich unser Verhältniß zu ihnen, von Druck uud Drohuug uud Anziehungskraft des gefallenen Niesen befreit, wohl auf einein Fuße einrichten, der sie nnd uns zufrieden stellen würde. r O^ ^ ^f" Kgl, Hof- und University V!!chd!'!ick>'N'i vm, I»,- ft", W^!> .^ ",i!>„.