Review scientific paper Pregledni znanstveni članek DOI: 10.32022/PHI32.2023.126-127.1 UDC: 130.2:159.92 Die moderne Barbarei Damir Barbaric Institut za filozofiju, Ulica grada Vukovara 54, 10000 Zagreb, Republika Hrvatska barba@ifzg.hr The Modern Barbarianism Abstract In his work, Eugen Fink often confronted the profound problematicity of the contemporary epoch and attempted to illuminate its enigmatic traits in a productive, future-oriented manner. Despite a philosophical fascination with Nietzsche and Heidegger, he apparently did not want to share and radically appropriate for himself phainomena 32 | 126-127 | 2023 their views regarding "the European nihilism." With a reading of the writings collected in the book Zur Krisenlage des modernen Menschen (On the Crisis Situation of Modern Man), the paper seeks to demonstrate that Fink's contemplations upon the matter compellingly reveal the obscure sense and nonsense of the actual state of contemporaneity, although they predominantly devote attention solely to its phenomenality. To a certain degree, such an attempt needs to take into account also the philosopher's speculative thoughts concerning nothingness and death. Keywords: Eugen Fink, barbarianism, modernity, nihilism, freedom. Moderno barbarstvo Povzetek Eugen Fink se je pogosto spoprijemal z globoko vprašljivostjo sodobnega časa in je skušal na produktiven, prihodnostno naravnan način osvetliti njene zagonetne temeljne poteze. A zdi se, da kljub svoji fascinaciji nad Nietzschejem in Heideggrom 8 ni želel brezpogojno deliti ali si radikalno prisvojiti njunih radikalnih mnenj glede »evropskega nihilizma«. Ob spisih, zbranih v knjigi z naslovom Zur Krisenlage des modernen Menschen (O kriznem položaju modernega človeka), skuša pričujoči članek pokazati, da Finkova zadevna razglabljanja prepričljivo razgrinjajo skrita smisel in nesmisel aktualnega stanja sodobnosti, čeprav poglavitno pozornost posvečajo predvsem njegovi fenomenalni plati. Takšna interpretacija mora do določene mere upoštevati tudi filozofove spekulativne misli, ki se tičejo niča in smrti. Ključne besede: Eugen Fink, barbarstvo, modernost, nihilizem, svoboda. Damir Barbaric „Wir leben in einer Zeit des Übergangs, der vielen wie ein Untergang vorkommt." Eugen Fink „In allen Ländern der Erde weiß heute der Mensch nicht mehr um den Sinn seines Daseins, überall steigt das drohende Gespenst der Verzweiflung auf; der Mensch hat den Weg verloren, weil er kein Ziel mehr hat." (Fink 1989, 7.) Dieser Satz gibt den eindrucksvollen Auftakt zu dem Sammelband Zur Krisenlage des modernen Menschen, in dem Eugen Finks Versuche einer Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Lage der Menschheitsgeschichte versammelt sind. Hier zögert Fink nicht, unser gegenwärtiges Zeitalter als „Barbarei" zu bezeichnen. Mag sein, dass selbst in den entlegensten Wäldern kein Primitiver mehr lebt - trotzdem sind wir heute „alle Barbaren". Freilich nicht mehr „Barbaren primitiver Ursprünglichkeit", sondern „sehr moderne und aufgeklärte Barbaren, Barbaren des 20. Jahrhunderts" (ibid., 136). Darüber können die faszinierenden wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften, die unzählbare Menge bestens ausgestatteter Bibliotheken und Forschungsinstitute oder auch Kunstgalerien und Museen nicht hinwegtäuschen. Was ist diese merkwürdige moderne Barbarei? Worin besteht ihr Wesen? Die Antwort ergibt sich für Fink am besten durch den Vergleich mit der archaischen menschlichen Gemeinschaft, die er in einem bedingten Sinne für „vorgeschichtlich" hält. Denn sie ist „eine geschlossene Gesellschaft', geschlossen im Blutsstrom, geschlossen in Sprache, Sitte, Überlieferung, geschlossen im weltdeutenden Mythos, ein Lebensverband mit einer festen Rangordnung der Stände, eine Hierarchie, die im hieron, im Heiligen, die alles beherrschende Lebensmitte, das Zentrum des Daseins hat" (ibid., 121). Es wäre falsch und auch dumm, den primitiven Menschen dieser frühen Zeit und seine Lebensweise zu unterschätzen. Er „ist in seiner naturgeborgenen und naturdurchwalteten Lebensweise keineswegs eine unterlegene Weise von Menschentum; er hat eine Ursprünglichkeit, Tiefe, Kindlichkeit und Morgenfrische des Lebens" (ibid., 137). Er verfügt über das zuverlässige Wissen um seine Stellung im Ganzen der Welt und ist „ganz durchformt vom magischen Bewußtsein, das ihn zu allem, was lebt, in innigste Verbindung 9 phainomena 32 | 126-127 | 2023 setzt. Er hat ein Verhältnis zu den Dingen, den waltenden Mächten, zu Krankheit, Leid, Liebe, Geschlecht und Tod, zu Schuld und Sühne." (Ibid., 24.) Dieses Wissen und dieses Bewusstsein werden ihm zunächst durch die Religion vermittelt. Er fügt sich fraglos in die übermenschliche, göttliche Weisheit ein und empfängt von dort alle entscheidenden Weisungen darüber, was er tun soll. Für diese bedingungslose, sich völlig hingebende Zuversicht wird er durch das ungestörte Gefühl tiefster Geborgenheit belohnt und gleichsam entschädigt. Wenn er vom Geist und der ihn entspringen lassenden Freiheit für einen Augenblick angeblitzt wird, schreckt er sogleich zurück und kehrt zur sicheren Schutzstätte der Religion zurück. Den Geist empfindet er als eine bedrohliche, ihn überwältigende Macht, die er fürchtet und eher als etwas Dämonisches denn als Göttliches empfindet. Genau diese abweisende Ehrfurcht vor dem Geist ist das, worin das Wesen seiner Barbarei besteht: „Die Barbarei des Primitiven ist eine solche des Noch-nicht-Bestimmtseins durch den Geist." (Ibid., 137.) Die moderne Barbarei ist dagegen jene des „Nichtmehr". In unserem 10 wachsenden technischen Wissen, unserer immer schärferen Intelligenz, unserer unaufhaltsam sich verbreitenden Macht über alle Dinge bleibt immer Eines aus, nämlich der Geist als freie, ziel- und zweckgewährende Schöpfung von Lebenssinn. „[U]nser von einem schnellen, wirbligen Wandel aller menschlichen Verhältnisse bestimmtes Zeitalter" (ibid., 67) ist durch eine allgemeine Missachtung des Geistes, durch Abkehr vom Geist als einer lebensbestimmenden Macht und durch die gleichgültige Ehrfurchtlosigkeit ihm gegenüber bestimmt. An die Stelle der geistigen Schöpfung im Denken und Dichten ist die lebhafte Schätzung des praktisch verwertbaren Wissens in der Form der spezialisierten Erkenntnisse getreten (vgl. ibid., 138 f.). Seit Jahrhunderten geltende und durch den ständigen Wandel der Geschichte unerschüttert gebliebene Grundwerte gehen damit verloren, werden aber durch keine neuen ersetzt: Die ganze sittliche Welt ist aus den Fugen, der Bau der Gesellschaft erzittert im Sturm, der über den Planeten fegt; das Menschengeschlecht verliert immer mehr und immer schneller die unbewußten Lebensgründe des substanziellen Volkstums, das Dasein wird einem Rationalisierungsprozeß unterworfen, der Damir Barbaric als Wissenschaftskultur, als Technokratie, als Planwirtschaft alle Lebensbereiche durchdringt. (Ibid., 64.) Der moderne Mensch „spürt die Leere und Sinnlosigkeit seines Lebens; er hat keine Heimat mehr" (ibid., 183). Wir leben alle in einer immer fremderen Umwelt, mit dem „lähmenden Gefühl, nicht zu verstehen, was mit uns vorgeht" (ibid., 182). Um die verblüffende Eigentümlichkeit dieser modernen Barbarei hinreichend zu erfahren und dann auch ihr Wesen zu erkennen, tut es zunächst Not, nach ihrer Herkunft zu fragen. Fink findet sie in den Abgründen der menschlichen Freiheit. Ursprünglich wohnt der Mensch auf der Erde naturgeborgen. Er hält sich auf im fest geschlossenen, religiös bestimmten Umkreis der ihm vertrauten und mit ihm gleichsam magisch verwachsenen Dinge der nächsten Umwelt, ohne den freien Geist als seine tiefste und innigste Natur zu kennen. Erst mit dem „Erwachen der Freiheit im Menschen, mit seiner Entgegensetzung gegen die ihn bislang bergende Natur" (ibid., 138) beginnt die abendländische Geschichte im wahren und eigentlichen Sinne. Dieses entscheidende Ereignis macht das Wesen dessen aus, was als griechische 11 Philosophie bekannt ist, deren fast gleichzeitig auftretende Entartung als Sophistik bezeichnet wird. Zum Teil schon im Denken der frühen Ionier und dann ganz unverdeckt in der athenischen Sophistik zerbrach das archaische magische Bewusstsein, lösten sich die hütenden Bande der verpflichtenden Religion auf und der Mensch fand sich der Herausforderung ausgesetzt, „sich zum selbstherrlichen Schöpfer seines Lebenssinnes zu proklamieren, sich seiner Willkür zu überlassen" (ibid., 24). Diese verhängnisvolle Auflösung uralter Bande geschah in kürzester Zeit, beinahe blitzartig: [D]er aufgeklärte Zweifel, die Skepsis erfüllt die ganze Weite des öffentlichen Selbstbewußtseins; die Götter werden nur noch symbolisch genommen, sie sind keine Realität mehr, keine Macht, die aus menschenüberlegener Weisheit verpflichtende Ideale und Aufgaben für den Menschen vorgeben kann. Die Sittlichkeit verliert ihre Begründung in der Autorität der Götter. Der Mensch scheint frei geworden; er glaubt bestimmen zu können, willkürlich, nach Belieben, was gut und was schlecht ist. (Ibid., 24-25.) phainomena 32 | 126-127 | 2023 Diese Selbstbefreiung des Menschen zum unabhängigen Stehen inmitten des Seienden ist der entscheidende Zug der griechischen und überhaupt abendländischen Geschichte geblieben, die im Grundsätzlichen nie mehr zu der von fragloser göttlicher Autorität getragenen Sinnhaftigkeit des gesamten menschlichen Lebens zurückgefunden hat. Der Weg zurück zur nicht freien, aber daher geschützten und gesicherten Existenz in alter Naturgeborgenheit blieb dem Menschen versperrt. Auf die einmal erwachte Freiheit wollte er nicht mehr verzichten. Andererseits wehrte er sich zunächst davor, sich ganz und unbedingt der verlockenden Vermessenheit der völlig ausgelassenen Freiheit zu überlassen. Anfänglich empfand er die Freiheit als eine glücklich gewonnene Gabe und eignete sie sich besonnen und gemessen als endliche Freiheit eines Sterblichen an. Eben darin sieht Fink das Besondere und Eigentümliche der alten Griechen, allen voran Sokrates, aber auch der anderen sog. klassischen Denker. Sie widerstanden, jeder auf seine Weise, der Versuchung, das mit dem Erwachen des freien Geistes ausgebrochene Chaos der Bestandlosigkeit und 12 allgemeinen Fragwürdigkeit um jeden Preis wieder zu schließen und zur alten Gebundenheit zurückzukehren. Stattdessen wagten sie, in der „Fragwürdigkeit des Daseins standzuhalten und sie in eine Frage des Denkens zu verwandeln' (ibid., 11). Damit stellte sich der griechische Mensch „auf sich selbst. Nicht in stolzer Vermessenheit, sondern indem er sich aussetzt in den Zweifel der Unsicherheit, in die Angst der Verlorenheit, in die Tapferkeit eines Standhaltens im Fragwürdigen." (Ibid., 22-23.) Dank dieser Haltung war die griechische Welt „wesentlich Stiftung, reiner Anfang, war schöpferischer Entwurf einer neuen Möglichkeit des Menschseins, war die Gründung des Menschentums auf die im Aufstand gegen die Natur sich selber zeigende Freiheit" (ibid., 157). Immer wieder hebt Fink die Einmaligkeit und Unübertrefflichkeit der griechischen Zeit hervor: Das Griechentum stellt jene Weltstunde dar, da der Mensch sich loßreist vom Naturgrunde seines Daseins und aufsteht gegen das Ganze des Seienden und somit einrückt in die erweckte Freiheit, ein Selbst zu sein. Nie geschah ein größerer Ruck als damals, als der Mensch die Geschichte anfing durch seine Entgegensetzung zur Natur. [...] Beiden Damir Barbaric Reichen, dem Reiche des naturhaften Seins und dem Reiche der Freiheit, scheint der Grieche zugehörig und so in einer Spannweite seines Wesens zu stehen wie kein anderer Mensch. (Ibid., 148-149.) Nur hier in der ganzen bisherigen Geschichte hielten sich für eine Weile die Grundgegensätze der Welt, die beiden tragenden Säulen der gesamten Weltgeschichte, nämlich das Schicksalhafte der Naturnotwendigkeit und das Freie des allüberwindenden Geistes, im gespannten Gleichgewicht des gegenwendigen Ausgleichs: „Das griechische Dasein steht in dem Bogen der ungeheuren Spannung zwischen Naturmacht und der in der Freiheit ursprünglich aufgehenden Macht des Geistes." (Ibid., 149.) Das Geheimnis der erstaunlich produktiven Spannung des griechischen Daseins besteht darin, „daß Naturmacht und Geistesmacht zugleich erfahren sind, daß beide Bereiche in diesem Weltaugenblick des Übergangs offenstehen in einer Ursprünglichkeit, die später nicht mehr wiederholbar ist" (ibid., 150). Um vor diesem Hintergrund die Herkunft der modernen Barbarei zu beleuchten, soll die höchst bedeutsame Tatsache berücksichtigt werden, dass 13 diese das Griechentum wesenhaft bestimmende ungeheure Spannung sich auf Dauer nicht halten konnte. Die endliche, sowohl auf die irdische Natur wie auf die Sphäre des Himmlischen bezogene schöpferische Freiheit im menschlichen Denken und Tun ließ bald nach und trat zurück. Dies geschah in vollem Umfang zuerst bei den Römern, und zwar zugunsten der unbedingten Verwirklichung pragmatischer menschlicher Zwecke, bei der die Natur lediglich als willkürlich und rücksichtslos zu bearbeitender Stoff empfunden und genommen wurde. Dieselbe Grundstellung wird übernommen und fortgesetzt von den in die europäische Geschichte zunächst wild eindringenden und in den folgenden Jahrhunderten allmählich beruhigten und christianisierten Barbaren. Diese Beruhigung und Festlegung erwarben sie sich durch den anfangs zögernden, schließlich dann vollständigen Verzicht auf ihre ursprünglich ordnungs- und rücksichtslose Freiheit und die unbedingte Hingabe an einen jenseitigen Gott und seine absolute Macht. Insofern wäre es nicht abwegig, die römische Zeit zu verstehen als die frühe Vorbereitung und Vorankündigung der Neuzeit, sowie das christliche Mittelalter umgekehrt als Rückkehr zur ehemaligen religiös verbürgten Geborgenheit, auch wenn hier der bergende Schutz nicht wie phainomena 32 | 126-127 | 2023 ehemals in der an sich göttlichen Natur gesucht und gefunden wird, sondern in der unbedingten Hingabe an einen allmächtigen Gott. Bei Fink finden sich zwar flüchtige und verstreute Andeutungen in der hier angezeigten Richtung, sie werden aber nicht weiter ausgeführt. Volle Beachtung erhält bei ihm erst die Neuzeit, deren Anfang er als den Ursprung der modernen Barbarei versteht. Er weist nach, dass die neuzeitliche metaphysische Grundhaltung in mancherlei Hinsicht als sich radikalisierende Wiederaufnahme wesentlicher Ansätze der griechischen Sophistik erklärt werden kann. Auch hier setzt ein neues Zeitalter an, und zwar wieder „in einer inneren Entscheidung des Menschen, der sich neu einstellt zum Ganzen aller Dinge" (ibid., 12). Auch hier löst sich der Mensch „aus einer religiösen Weltdeutung, indem er zwar noch die Sprache der Religion spricht, sich in ihren Begriffen bewegt, aber diese Begriffe mit einem verwandelten Sinn erfüllt, der aus einem veränderten, dem Diesseits zugewandten Lebensbewußtsein entspringt" (ibid., 9). Mit dem Aufkommen der Neuzeit versteht sich der Mensch immer ausschließlicher als alles auf sich beziehendes Subjekt, als das höchste Maß aller 14 Dinge. Seine Grundentscheidung, sich auf sich selbst zu stellen, erinnert zwar stark an die griechischen Sophisten und überhaupt an die Griechen. Jedoch könnte der Unterschied beider Grundstellungen trotz des vordergründigen Anscheins kaum größer und schwerwiegender sein. Denn der griechische Mensch stellt sich auf sich immer nur so, dass er sich gleichzeitig für die ihn zu überwältigen drohende Umwelt öffnet, sich ihr aussetzt und in sie eingeht, um das darin gähnende, nie völlig zu überwindende Chaos möglichst in Bild und Gestalt zu verwandeln (vgl. ibid., 151). Er stürzt sich, wie schon gesagt, „in den Zweifel der Unsicherheit, in die Angst der Verlorenheit, in die Tapferkeit eines Standhaltens im Fragwürdigen" (ibid., 22-23). Der in dieser Weise sich auf sich stellende griechische Mensch fühlte und wollte sich noch nicht als den höchsten Bezugspunkt der Dinge, als ihr höchstes Maß. Er war nicht „die fixe Größe, die in ihrem Zuschnitt maßgebend war für Staat und Kosmos". Eher war das Umgekehrte der Fall, dass nämlich die größte Leidenschaft alles Dichtens und Denkens der Griechen darin einging, „den Menschen dem Weltall gemäß zu machen, ihn hinauszureißen ins Ungeheure jenes Streites, den ihr Mythos als den Weltkampf der lichten Götter des Olymps gegen die dunklen titanischen Erdmächte der Tiefe deutete" (ibid., 180). Damir Barbaric Anders der neuzeitliche Mensch. Aus seiner natürlichen und göttlichen Umgebung herausgerissen und auf sich allein gestellt, an Gott gebunden nur mittels des subjektiven Glaubens im Rahmen einer Weltanschauung, löst er alle Bindungen mit den Dingen auf. Das gelingt ihm dadurch, dass er das kraftmäßige Wesen eines jeden Dinges als nicht erkennbar und grundsätzlich unberechenbar aus dem Kreis seiner Interessen ausschließt, um sich weiterhin allein der experimentell gestützten und durchgeführten Messung der quantitativen Verhältnisse der Dinge zueinander zu widmen. Die bisherige spekulative Wissenschaft als contemplatio, und d. h. die theoretische Beobachtung der Dinge samt ihrer inneren Wesenskräfte und Qualitäten, tritt damit entschieden zurück zugunsten der neu hergestellten wissenschaftlichen Methode, die das Naturganze „aufgrund eines vorauslaufenden Entwurfes" zum messbaren Gefüge der mathematisch berechenbaren Verhältnisse bildet (vgl. ibid., 16 f.). Auf dieser Grundlage betreibt der neuzeitliche Mensch an der zum allumfassenden Bereich der reinen Quantitäten verwandelten Natur seine wissenschaftliche Forschung, die jetzt ebenso theoretisch wie praktisch ist. Auf dem Grund dieser Forschung darf er die stolze Zuversicht pflegen, 15 von sich aus alles machen, alles herstellen zu können. Mit der Zeit schränkt sich der Reichtum seines ehemals vielfältigen Verhaltens zu den Dingen auf das einförmige Verhältnis „eines restlosen Machens" ein (ibid., 15). Immer wieder weist Fink auf diese merkwürdige Verengung und Verarmung des menschlichen Verhaltens und erklärt sie sogar zum entscheidenden Merkmal der Neuzeit: „Überhaupt herrscht der Grundzug des Machens in der ganzen Neuzeit vor; der neuzeitliche Mensch ist der Macher, der Planer und Entwerfer seiner Welt; die ,Arbeit' wird aus dieser Einstellung heraus zum neuzeitlichen Lebensdrang." (Ibid., 16.) Die hier dargestellten Veränderungen, die am Beginn der Neuzeit zu einer „technischen Wissenschaft und wissenschaftlichen Technik" (ibid., 57) geführt haben, bestimmen noch die Gegenwart und die sie wesentlich kennzeichnende moderne Barbarei: „[U]nser von einem schnellen, wirbligen Wandel aller menschlichen Verhältnisse bestimmtes Zeitalter" (ibid., 67) wird in allen Lebensbezirken immer mehr von der Technik beherrscht. Fink behauptet sogar, dass „die mit rasanter Beschleunigung sich ausbreitende Technisierung der führende Zug der Zeit" sei (ibid., 101). Die moderne Gesellschaft sei „vor phainomena 32 | 126-127 | 2023 allem Wissenschaftsgesellschaft". Da aber die Wissenschaft, auf der das Ganze des modernen Lebens beruhe, selbst das Werk und die Tat „der entfesselten menschlichen Freiheit" sei, sei ganz folgerichtig zu schließen, „daß alle Menschen nur noch durch die Wissenschaft und die von ihr geschaffene Technik ihre physische Existenz auf der Erde erhalten können - allerdings auch durch sie einmal sie explosionsartig verlieren können" (ibid., 130). Daher sei es sinnlos, daran zu denken, dass es möglich wäre, diesen Prozess rückgängig zu machen. Ebenso irreführend ist wohl der Gedanke, es könnte uns einmal gelingen, aus diesem allumfassendem Betrieb auszusteigen: „Die Industrialisierung der Erde ist ein revolutionäres Ereignis von kaum zu überschätzender Bedeutung: das technische Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft setzt sich in der Wirklichkeit durch und richtet das Leben des Menschen ein, ehe er noch dieses Geschehnis begreift." (Ibid., 182.) Wir befinden uns vielmehr erst am Anfang des sich unbedingt durchsetzenden technologischen Zeitalters, das unser ganzes Leben von Grund auf bestimmt, auch wenn seine Grundzüge und sein wahrer Sinn für uns immer noch strittig 16 und rätselhaft bleiben: Das beginnende Technische Zeitalter macht den Prozeß der materiellen Produktion, die technisierte Industrie zum strittigen Thema, der Kampf um Macht und Herrschaft nimmt die Form des Wirtschaftskrieges und der ideologischen Interpretation der Ökonomie an, die Politik spricht die Sprache der Technik. (Ibid., 104.) Fink war nicht nur überzeugt, dass dieser fortschreitende Prozess nicht aufzuhalten oder rückgängig zu machen ist, sondern neigte gelegentlich sogar dazu, ihm einen positiven Sinn zuzuschreiben. Um ihm darin zu folgen, wäre es wohl erforderlich, die überlieferte metaphysische Art des Denkens und Verstehens hinter sich zu lassen, sich vorurteilslos dem rätselhaften Wesen der modernen Technik zu öffnen und nach einem neuen und anderen denkenden Zugang zu ihr zu suchen. Denn das, was in der Technik wirklich geschieht, sei „mit den Denkmitteln der Ideen-Metaphysik überhaupt nicht faßbar. Der technisch revolutionierte Arbeitsgang versagt sich einem Begriffssystem, das aus der arbeitsfernen Muße entsprungen ist." (Ibid., 59.) Die neuzeitliche Technik, Damir Barbaric in der die Arbeit „ein intellektuelles Gepräge" (ibid., 58) gewinnt, sieht Fink als die endlich gelungene Aufhebung der verhängnisvollen Trennung zwischen der leibhaftigen und werktätigen Arbeitswelt und der jahrhundertelang der vornehmen Muße vorbehaltenen ideellen Sinn-Produktion: Dieser Bruch im menschlichen Wissen beginnt sich zu schließen, indem in der wissenschaftlich begründeten neuzeitlichen Technik eine Woge von Wissen in die ehemals banausischen Provinzen der Arbeitswelt einströmt, die Arbeit intellektualisiert, die Arbeitslast vermindert und den Arbeitseffekt ungeheuer steigert. In zunehmendem Maße wird die Arbeit, als technische Produktivität verstanden, zum eigentlichen Reichtum, zur eigentlichen Waffe und zur eigentlichen Wissensbahn des Menschen. (Ibid., 60.) Es ist kaum zu überhören, wie sich in diesen Worten eine gewisse Begeisterung für die in der neuzeitlichen Technologie sich ankündigenden Machtperspektiven der künftigen menschlichen Geschichte meldet. Fink 17 war zutiefst beeindruckt von der Revolution, die durch die neuzeitliche wissenschaftlich-technische Verwandlung der Arbeit in die Geschichte kam: „In der Arbeitswelt des modernen Menschen geschieht eine Umbildung der menschlichen Dinge, die ohne Beispiel ist." (Ibid., 49.) Die uralte Kluft zwischen der seit jeher ebenso verachteten wie unterschätzten körperlichen Arbeit und der erhabenen geistigen Schöpfung scheint sich damit endlich zu schließen. Jetzt kommt es „entscheidend darauf an, auch der Arbeit eine Produktivkraft: in bezug auf den Lebenssinn zuzugestehen" (ibid., 59). Es gilt nun, „das Seinsverständnis selber zu entfalten, das in der modernen Produktion am Werke ist, - es gilt die Fremdheit abzubauen, die jahrtausendlang zwischen der Arbeitswelt und der Sinn-Produktion bestand" (ibid., 58-59). Damit kehrt die sinnstiftende Produktion des Menschen aus einer langen Entfremdung heim und vereinigt sich wieder mit der materiellen Produktion, wodurch der menschliche Geist endlich irdisch wird. Wenn sich auf diesem Weg die denkerische Freiheit des Menschen nicht nur mit der werktätigen Freiheit vereinigt, sondern darüber hinaus in alle Grundphänomene unseres endlichen phainomena 32 | 126-127 | 2023 Daseins, in unsere Sterblichkeit, unsere Liebe, unseren Kampf um Macht und unser Spiel wieder einkehrt, dann ist das Großartige zu erwarten, dass nämlich das menschliche Seinsverständnis vollständig und endgültig weltlich wird. Aus dieser weitreichenden Sicht erscheint die technische Weltrevolution, samt dem ihr zugehörigen Abbau der metaphysischen Vorstellung einer übersinnlichen Hinterwelt, als ein Vorspiel, ein „vorläufiger Weg zur Herstellung der vollen Weltlichkeit des Menschentums" (ibid., 60). Fink ließ sich anscheinend nur vorübergehend von der Idee mitreißen, dass sich auf diesem vorläufigen Weg dem Menschen neue und vielversprechende Perspektiven seiner Geschichte eröffnen. Es schien ihm, als würden am Horizont der Zukunft die Konturen einer Gesellschaftsform auftauchen, „welche das wissenschaftliche Wissen zum entscheidenden Führungsinstrument des menschlichen Lebenskampfes macht" (ibid., 93-94). In der Tatsache, dass die Wissenschaft Maschinen ermöglicht und Maschinen wieder den neuen Wissenschaftsfortschritt, sah er die Ankündigung einer „Wechselwirkung noch unabsehbarer Art [...] zwischen Erkenntnis und Arbeit, zwischen 18 Menschentechnik und einer mit Erkenntnisapparaturen ausgerüsteten Wissenschaft" (ibid., 102). In diesem Zusammenhang wagte er sogar die fragwürdige Vermutung, „daß die zukünftige kosmopolitische Gesellschaft durch extreme Experimente der Menschenfreiheit in Unruhe gehalten sein wird" (ibid., 204). Es ist Fink freilich nicht entgangen, wie fragwürdig diese die Technik unkritisch bejahende und sie beinahe feiernde Betrachtungsweise ist, und zwar aus mehreren Gründen. Zum Ersten ist fraglich - auch wenn Fink darüber wenig gesagt und vielleicht genauso wenig gedacht hat -, ob die in der „szientistisch-technischen Revolution" (ibid., 46) wesentlich veränderte Arbeit überhaupt als eines unter anderen Grundphänomenen des menschlichen Daseins anzusehen ist, in denen sich die wesenhafte menschliche Endlichkeit meldet (vgl. ibid.). Denn Fink hat selbst nachgewiesen und überzeugend dafür argumentiert, dass die moderne, wesentlich vergeistigte, intellektualisierte und verwissenschaftlichte Arbeit Grundphänomene wie den Krieg und mindestens zum Teil das Spiel in sich aufgenommen hat. Nur Liebe und Tod scheinen diesem allumfassenden Bereich der technischen Arbeit noch zu entgehen und in ihrer ursprünglichen Eigenart bewahrt zu sein. Finks Überzeugung, dass sie Damir Barbaric heute noch „Geheimnisse" (ibid.) sind, bleibt indessen hinsichtlich des totalen Anspruchs der modernen, endgültig und restlos wissenschaftlich-technisch gewordenen Arbeit eine hinreichende Rechtfertigung schuldig. Die Fragwürdigkeit verschärft sich, wenn mit Fink das andere wichtige Merkmal des gegenwärtigen technologisch geprägten und gesteuerten Zeitalters, nämlich seine wesentliche Grenzen- und Endlosigkeit, in Betracht gezogen wird. Der modernen technischen Organisation des Lebens ist eine widerspruchsvolle, echt paradoxe Grundhaltung eigen: Sie „zerstört gerade die Zwecke, um deren willen sie unternommen wird" (ibid., 136). Dieses merkwürdige, zutiefst beunruhigende Phänomen wird von Fink als „Inflation" bezeichnet. Man spricht von einer Inflation der Arbeitsmittel und -projekte, wenn größere technische Mittel wieder größere Projekte auf den Plan rufen, so dass es dabei eher um eine Bedarfserzeugung als um die Deckung und Befriedigung eines vorhandenen Bedarfs geht (vgl. ibid., 58). Hier kommt also ein echter Teufelskreis zum Vorschein, wo die technische Beseitigung von Notzuständen wieder neue Notzustände schafft, wobei die ganze Apparatur ins Gigantische wächst und letztlich selbst zu einer lebensbedrohlichen Macht 19 wird (vgl. ibid., 137). Das Bedrohliche am modernen wissenschaftlich-technischen Betrieb besteht demnach in erster Linie darin, dass er von sich selbst her gar keine Grenzen hat und haben kann. Der dem Menschen eigentümliche Grundzug, nach dem er „das unzufriedenste Geschöpf im Weltall" und daher das wesenhaft unruhige Wesen ist, ein solches nämlich, „das nicht bleibt, wie die Natur es schuf, sondern sich immerfort wandelt und umbildet, immer mehr Dinge umschafft, ihnen den Stempel seiner gestalterischen Macht aufprägt" (ibid., 53), erreicht gerade in der modernen Technologie seine vollkommenste Ausprägung. Die Zwecke, die man zu verwirklichen strebt, wie auch die Ziele, die man sich vorsetzt, haben weder inneren Bestand noch dauernden Wert. Sie werden lediglich dazu gesetzt, um aus sich wieder neue und andere Zwecke und Ziele hervorgehen zu lassen: In Wissenschaft, Technik und ideologisch-politischem Kampf entwerfen wir Ziele - oder besser, in einer Wissenschaft, die ein technisch-kriegerisches Gepräge hat, und in einer materiellen phainomena 32 | 126-127 | 2023 Produktion, die wissenschaftlich und militant ist, und in einer Politik, welche materiell-technische und ideelle Produktivkräfte mobilisiert, stellt die menschliche Gesellschaft oder ihr feindliche Gruppen immer wieder neue Einzelziele auf - Ziele, bei denen man nicht ankommt, um zu bleiben, die immer wieder weiterweisen in die endlosen, unabsehbaren Wege der Menschenfreiheit. (Ibid., 105.) Aus dieser Sicht erscheint die neuzeitliche und moderne Geschichte als unaufhaltsam fortschreitende „Auflösung der Dauerstrukturen der bisherigen Menschenwelt, die Verflüssigung, die Liquidation aller Verhältnisse" (ibid., 108). Obwohl Fink auffällig zögert, diese harte Einschätzung als die letzte und endgültige anzunehmen, und gelegentlich danach strebt, sie durch den Hinweis darauf zu mildern und zu verharmlosen, dass in der Lebenswirklichkeit die statischen und dynamischen Lebensformen durcheinanderwirbeln (vgl. ibid.), wird er, gleichsam von der Sache selbst getrieben, zu der maßgeblichen Einsicht gebracht, dass „sich in unserem gegenwärtigen Zeitalter die Liquidierung aller 20 statischen Verhältnisse, die Negation der Dauerformen und die Forderung nach endlosen Bewegungen" (ibid., 124) vollzieht. Die endlose Bewegtheit des wissenschaftlich-technisch gesteuerten Lebens, dieser fortschreitende Prozess, in dem jeder Zweck und jedes Ziel seinen anscheinenden Bestand nur als ein über sich hinausweisender und vorübergehender Anhaltspunkt hat, erweist sich für Fink letztlich als „die Wirrnis". Damit ist allerdings kein Zustand bloßer Regellosigkeit und Ungeordnetheit gemeint. Die hier gemeinte Wirrnis ist vielmehr „eine Ordnung, die nicht mehr übersehen wird, - die irgendwie für unsere Fassungskraft zu groß, zu riesig, zu gigantisch ist" (ibid., 185-186). Die maßgeblichen Handlungen und Tätigkeiten des heutigen Menschen wie etwa Forschung, Arbeit und Kampf, aber nicht weniger alle anderen, sind in dieser Wirrnis „gewissermaßen zu Zwecken geworden, die nicht mehr überhöht werden vom höchsten Daseinssinn" (ibid., 105). Der allumfassende und endlose technologische Betrieb ist in seinem wirbelhaften Kreisen fest in sich geschlossen, er lässt nichts außerhalb von sich sein, kein anderes, kein Geheimnis. Der darin eingelassene moderne Mensch ist deshalb „geheimnislos geworden, entzaubert, ehrfurchtlos, - ihn durchschauert nicht Damir Barbaric mehr die Ahnung dessen, was um uns, über uns und unter uns ist". Und eben daher spürt er „die Leere und Sinnlosigkeit seines Lebens; er hat keine Heimat mehr. [...] Aus diesem Gefühl heraus sucht man Zerstreuung, Betrieb, Vergnügen; unsere Arbeit- und Erholungsstunden bekommen eine hektische Betriebsamkeit." (Ibid., 183.) Die klaffende Leere der Sinn- und Heimatslosigkeit ist also die Wahrheit, die sich hinter der anscheinend zaubergleichen Allmacht der technischen Beherrschung der Natur, auch der menschlichen, verbirgt. Der Mensch spürt sie zwar, kann aber nicht verstehen, worum es eigentlich geht und was mit ihm geschieht, welches dunkle Schicksal ihn gefangen hält. Die Freiheit, die ihn in ihrem ersten Erwachen durch den verlockenden Vorgeschmack grenzenloser Allmacht bezaubert hat, wird, wenn sie ungehemmt und vollständig entfesselt ist und so auf keinen Widerstand mehr trifft, von selbst immer schwächer, bricht allmählich in sich zusammen und endet schließlich gelähmt und tot: „Die Freiheit lebt so lange nur ursprünglich, als sie sich selbst aufrichtet gegen eine Übermacht, gegen einen Zwang. Der Lebensatem der Freiheit ist die Befreiung." (Ibid., 170.) Wenn sie jeden Zwang überwunden hat, wenn 21 es nichts mehr gibt, weder die Übermacht der Natur und der bedrohlichen Umwelt noch die Allmacht des unbedingt gebietenden Gottes, wovon sie sich befreien soll, wenn sie also nur noch dazu lebt, um sich selbst unendlich zu genießen, dann widerfährt ihr etwas Unerwartetes: „Statt einen ungeheuren Aufschwung zu nehmen, wird sich die Freiheit ihrer selbst überdrüssig." (Ibid.) In diesem merkwürdigen „Phänomen der verfallenden Freiheit" (ibid.) kommt nach Fink das Wesen unseres Zeitalters am besten zum Vorschein: „Die Modernität ist die Freiheit, die nichts mehr anzufangen weiß, der es langweilig wird in einer entgötterten Welt." (Ibid., 169.) In seiner unaufhörlich wachsenden, aller Grenzen spottenden technischen Herrschaft über die Natur wird der Mensch auch selbst von dem unaufhaltsamen Drang nach Macht und Übermacht beherrscht und wird, ohne eigentlich zu verstehen, was mit ihm geschieht, zu ihrem Sklaven, zum modernen Barbaren erniedrigt. Wie schon gesagt, zögert Fink nicht festzustellen, dass wir „heute alle Barbaren" sind (ibid., 136). Ganz auffällig wird dies am Phänomen der Vermassung, dem vielleicht „unheimlichste[n] Phänomen der menschlichen Geistesgeschichte" (ibid., 138). Unter „Masse" ist in diesem Zusammenhang phainomena 32 | 126-127 | 2023 in erster Linie nicht die Menge vieler Einzelner zu verstehen. Der Ausdruck bezeichnet vielmehr „die wirkliche Zustandsform des modernen Menschen" (ibid., 139). Das Entscheidende am Massenmenschen ist seine dumpfe, unüberwindliche Trägheit, das Unvermögen, sich von sich selbst her zu bewegen und einem nicht selbst gesetzten Sinn und Ziel zu folgen (vgl. ibid.). Der Massenmensch, diese „neue schreckliche Form des Menschen", gehört weder dem Reich der Naturhaftigkeit noch jenem der Freiheit an: „Er ist der Einzelne, der nicht mehr zurück kann ins Primitive und nicht mehr vorwärts will." (Ibid., 138.) Insofern ist er „ein Verfallsprodukt der Stufe der Freiheit" (ibid.). Das schreckliche Elend dieses Massenmenschen, der wohlbemerkt „in uns allen steckt" (ibid.., 139), seine tiefe Zerrissenheit besteht darin, dass er zu der alten, durch den Verzicht auf die Freiheit gleichsam erkauften Geborgenheit weder zurück kann noch will, und dass ihm andererseits die Freiheit, da sie ihn zu Entscheidungen zwingt und mit Risiken verbunden ist, zur unerträglichen Last geworden ist. Die Vermassung als Grundzug der modernen Barbarei entspringt also der 22 „Selbstabdankung der menschlichen Freiheit" (ibid., 140). Trotz ständiger Aufregung durch das ihn umgebende ungeheure Angebot an Wunschobjekten, das ihn wie gebannt und gefangen hält, ist der Massenmensch überhaupt nicht imstande, wirklich frei zu sein, und d. h. von sich selbst her zu wollen: „Der Massenmensch will von sich selbst aus nichts mehr; er hat selber keine wesentlichen Zwecke mehr, keine inneren Lebensziele und Entwürfe. Er will eben nur, was alle Welt will, jedermann, sein bißchen Vergnügen und Behagen, seinen Vorteil im Kleinen." (Ibid., 139.) Bei alldem darf die durchgängige Vermassung des Lebens keineswegs als bloßes Verdummen, als Rückfall in die ehemalige Einfältigkeit des Primitiven beschrieben werden. Denn genau das Gegenteil ist der Fall: Der Massenmensch ist vielfach sogar hochintelligent, von großer geistiger Beweglichkeit, - aber er hat keine ,mythische Substanz' mehr, keinen magischen Boden, er ist der ,restlos' aufgeklärte Mensch; seine Wurzeln liegen aufgegraben am Tage und verdorren; er hat deswegen auch nicht mehr ein eigenes Schicksal und einen eigenen Tod, er ist eingeebnet in das Millionenschicksal, er lebt und stirbt in Massen. (Ibid., 186-187.) Damir Barbaric Es ist gewiss nicht bloß eine verzweifelte Antwort auf die konkrete geschichtliche Situation nach den beiden schrecklichen Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, sondern die letzte und unvermeidliche Konsequenz seiner eindringlichen Begriffsanalysen, wenn Fink sich durch diese Überlegung zu dem Schluss gebracht findet, dass „[d]ie Herrschaft des Menschen über die Natur [...] zu einer entsetzlichen Kraft der Vernichtung, zum wissenschaftlichen Tod geworden" ist (ibid., 8). Es ist wohl kaum möglich, seine eingangs erwähnte verzweifelte und beinahe hoffnungslose Diagnose, nach der die ganze sittliche Welt aus den Fugen ist, in Verdacht zu bringen. Fink hat nicht gezögert, diese und andere sinnverwandte Einsichten zu der allgemeinen Feststellung zu steigern, dass die moderne Barbarei unserer Gegenwart nichts anderes sei als die Erscheinungsweise „des modernen Nihilismus", den er als „das überwältigende Gefühl der allgemeinen und totalen Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens" bestimmt (ibid., 169). Zustimmend zitiert er einmal Nietzsches leidenschaftliche Mahnung: Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit 23 einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen. (Ibid., 123.) Gleichwohl wehrt sich Fink ausdrücklich dagegen, die letzten Einsichten seiner Überlegungen in dieser Weise zuzuspitzen. Er war überzeugt, dass die alarmierenden Warnungen, nach denen die Heraufkunft des Nihilismus zwangsläufigist und ■wir bereits am Ende sind, ihre mitreißende Überzeugungskraft aus den pathetischen Untergangsstimmungen schöpfen, die freilich „eine gefährliche Verlockung" darstellen (ibid., 171). Die insbesondere im Europa der Nachkriegszeit weit verbreitete „Ansicht, die in der Vermassung einen Absturz unseres geschichtlichen Daseins sieht, aus dem keine Rückkehr mehr möglich ist", sowie die ihr zugrundeliegende „Untergangstimmung, die verzweifelt und die Verzweiflung heroisch bejaht", weist er als „verhängnisvollste Irrmeinung" ab (ibid., 141-142). Er ist zwar bereit anzunehmen, dass kulturkritische Diagnosen wie etwa jene, dass der moderne Mensch von unersättlichen Begierden getrieben phainomena 32 | 126-127 | 2023 sei oder die tantalische Qual den geheimen Untergrund der modernen Existenz bilde, in der Tat „Züge der Zeit treffen". Jedoch distanziert er sich von solchen Urteilen durch den Hinweis, dass sie unsere gegenwärtige Lage immer noch „am Maßstab eines Menschenbildes [messen], das in einem umfangenden Gesamtsinn von Welt und Dasein eingeschlossen war", woraus ersichtlich wird, dass sie schlicht „von rückwärts her beurteilen" (ibid., 105). Er selbst entscheidet sich lieber für die mehr zurückhaltende Haltung, welche sich Aussichten auf eine neue und wesentlich andere Zukunft offenhält: „[G]ewiss sind wir in der Gefahr des Nihilismus und in der Barbarei des Massenmenschentums, aber immer noch ist ein Anfang möglich." (Ibid., 171.) Seine eindringliche und vor keiner sachlichen Schwierigkeit zurückschreckende Analyse der gegenwärtigen Krisenlage des Menschen lässt Fink in einem denkwürdigen Satz gipfeln, der illusionslos, nüchtern und gleichzeitig aussichtvoll klingt: „Wir leben in einer Zeit des Übergangs, der vielen wie ein Untergang vorkommt." (Ibid., 145.) Die entscheidende Frage, „ob die Sinnentwürfe des modernen Menschentums noch eine Rückbindung 24 haben oder Produktionen einer un-eingeschränkten, entfesselten Freiheit sind", soll also in Übereinstimmung mit dem übergängigen Grundcharakter unserer Zeit dahingestellt bleiben. Die daran anknüpfende, noch allgemeinere Frage, ob es überhaupt einen uns vorgegebenen Daseinssinn gibt, ist nach Finks innigstem Gefühl genau jene, „in der die ganze Existenz des heutigen Menschen schwingt" (ibid., 118). Die höchste Aufgabe seiner philosophischen Bemühung sah er darin, den Menschen über die nie vollständig zu erlöschende Freiheit, in der sein Wesen besteht, aufzuklären und demgemäß die letzte Entscheidung über die Zukunft seiner freien Wahl zu überlassen: „In der Wahl des Menschen steht es, sich selbst zu prägen zu einer geistigen Gestalt, - oder träge im Chaos der Dumpfheit zu verweilen." (Ibid., 135.) Auch wenn sich Fink hinsichtlich der beunruhigenden Fragen über den künftigen Gang der Geschichte nicht endgültig festlegen wollte, ließ er doch keinen Zweifel daran, dass die moderne Barbarei um jeden Preis überwunden werden müsse, wobei er sich auf eine Hoffnung verlässt, die allein auf den möglichen Ausweg hinzuweisen scheint. Es bleibe nämlich zu hoffen, dass unter den Menschen wieder der Sinn für die wahre menschliche Größe, für das echte menschliche Schöpfertum erwache. Dieses Schöpfertum sei aber Damir Barbaric von allem und jedem Machen, Arbeiten, Herrschen und Beherrschen, wo es immer um irgendeine Art von Übermächtigung gehe, weltweit entfernt: „Alles Schöpfertum ist ein Erleiden, ein Erleiden einer Gewalt von innen, und ist ganz und gar nie ein bloßes beherrschbares Machen, dessen der Machende jederzeit Herr ist." (Ibid., 173.) Den Menschen, der den ungezügelten Drang nach der alles beherrschenden und sich unterwerfenden Macht hinter sich gelassen und gleichsam in sich verwunden hat, bezeichnet Fink als „musischen Menschen", als jemanden, der „das Sprachrohr einer menschenüberlegenen Geistgewalt, der von den Musen ergriffene Mensch" ist (ibid.). Dieser musische Mensch - der „allein die Hoffnung unserer Zeit" (ibid., 174) sei - „übersteigt sich in seinem Schöpfertum, sofern er teilnimmt an einer übermenschlichen Macht, die ihn ergreift und die ihn durchweht" (ibid.). Es gebe nur einen Weg, um hinreichend zu begreifen, was das Schöpfertum in seinem Wesen ist, nämlich den, sich mit der Existenz der alten Griechen vertraut zu machen. Denn „[d]as Schöpfertum des Menschen war vielleicht noch nie und nie mehr in einer solchen ursprünglichen Macht auf Erden 25 wirklich wie in Griechenland" (ibid., 146). Die einmalige, mit nichts zu vergleichende Stellung der alten Griechen in der Menschheitsgeschichte besteht darin, dass sie durch das Erwachen der Freiheit die bisherige Naturgebundenheit verlassen und trotzdem dem freien Geist nicht die volle und ausschließliche Herrschaft über sich und über die Weltdinge gegeben habe: „Das macht die einzigartige Spannung des griechischen Daseins aus, daß Naturmacht und Geistesmacht zugleich erfahren sind, daß beide Bereiche in diesem Weltaugenblick des Übergangs offenstehen in einer Ursprünglichkeit, die später nicht mehr wiederholbar ist." (Ibid., 150.) Die Freiheit war bei den Griechen lebendig und tätig, aber zugleich endlich und leidend, auf die höheren, übermenschlichen Mächte hörig und ihnen unterworfen: „Allem zuvor war das Griechentum eine künstlerisch-denkerische Weise, da zu sein, oder in eins zusammengefaßt: musische Existenz." (Ibid., 152.) Das heilig Chaotische, das „Maßlos-Ungeheure" der mitten in der Natur und in allen Weltdingen verborgen anwesenden Götter und Musen verwandelte sich durch dieses „musische Volk [...] in das mythische Bild und zeigt sich in Umriß und Gestalt" (ibid., 154). phainomena 32 | 126-127 | 2023 Damit scheint Fink andeuten zu wollen, dass einem jeden, der sich wie er durch den verlockenden Schein der technischen Allmacht bis zum listig sich verschleiernden Unsinn der modernen Barbarei vorgearbeitet hat, als der einzige Wegweiser zu einem vielleicht möglichen Ausweg - und zwar nur in schöpferischer Wiederholung, abseits von jedem schwächlich nachahmenden Zurückwollen - das immerwährende, lebendige Bild des alten Griechentums übrigbleibt: „Der antike Anfang ist vielleicht nur wiederholbar und nie überholbar; und die Gefahr des Sichverlierens an ihn ist so groß, weil er das Größte ist in der Geschichte der Menschheit." (Ibid., 162.) Bibliography | Bibliografija Fink, Eugen. 1989. Zur Krisenlage des modernen Menschen. Hrsg. von F.-A. Schwarz. Würzburg: Königshausen & Neumann. 26 phainomena REVIJA ZA FENOMENOLOGIJO IN HERMENEVTIKO JOURNAL OF PHENOMENOLOGY AND HERMENEUTICS Phainomena 32 | 124-125 | June 2023 Passages | Prehodi Alfredo Rocha de la Torre | Miklos Nyirô | Dario Vuger | Ming-Hon Chu | Maxim D. Miroshnichenko | Jaroslava Vydrova | Malwina Rolka | René Dentz | Igor W. Kirsberg | Izak Hudnik Zajec | Primož Turk | Adriano Fabris Phainomena 31 | 122-123 | November 2022 Cathrin Nielsen - Hans Rainer Sepp - Dean Komel (Hrsg. | Eds. I Dirs.) Eugen Fink Annäherungen | Approaches | Rapprochements Cathrin Nielsen | Hans Rainer Sepp | Alexander Schnell | Giovanni Jan Giubilato | Lutz Niemann | Karel Novotny | Artur R. Boelderl | Jakub Capek | Marcia Sa Cavalcante Schuback | Dominique F. Epple | Anna Luiza Coli | Annika Schlitte | Istvan Fazakas Phainomena | 31 | 120-121 | June 2022 Andrzej Wiercinski & Andrej Božič (Eds.) Hermeneutics and Literature Andrzej Wiercinski | John T. Hamilton | Holger Zaborowski | Alfred Denker | Jafe Arnold | Mateja Kurir Borovčic | Kanchana Mahadevan | Alenka Koželj | William Franke | Monika Brzostowicz-Klajn | Julio Jensen | Malgorzata Holda | Ramsey Eric Ramsey | Beata Przymuszala | Michele Olzi | Simeon Theojaya | Sazan Kryeziu | Nysret Krasniqi | Patryk Szaj | Monika Jaworska-Witkowska | Constantinos V. Proimos | Kamila Drapalo | Andrej Božič | Aleš Košar | Babette Babich INSTITUTE NOVA REVIJA FOR THE HUMANITIES INR 0 phainomena PHENOMENOLOGICAL SOCIE1Y OF LJUBLJANA 977131833620412627