UDK 003.62:82:71/75 DIE DARSTELLUNG DER SEPHIROTH IN GOETHES FAUST I UND BEI DUERER Tine Kurent Die zehn hebräischen Zahlen — die Sephiroth1 — die sowohl den Kosmos wie auch die Welt des Menschen darstellen, erscheinen in der europäischen Kunst als ein Motiv in den bildenen Künsten und in der Poesie. Ich denke hier an einige Reliefs auf den Grabdenkmälern der Bogumilen (»stecci«), an das Hexen-Einmai-Eins in Goethes Faust, und an den Schild von Dürers Pilger. Auf dem Relief des bogumilischen Grabdenkmales (»stecak«)2 aus Mokro, nahe Listica, kommt eine Form vor, die bisher unter »nicht klassifizierte Motive« eingereiht wurde.3 Erst vor kurzem wurde sie als Sephiroth identifiziert.4 Die einzelnen Knotenpunkte5 dieser Komposition stellen folgende Punkte dar: Sephira 1 = die Krone Sephiroth 2 und 3 = Das Verständniss, die Weisheit Sephiroth 3, 4 und 6 = Das Urteil, die Schönheit und die Gnade Sephiroth 7 und 8 = der Ruhm und der Sieg, die beide mit den Flügeln gekennzeichnet sind. Der Ruhm und der Sieg haben immer Flügel, nur Nike Apteros hat keine.6 1 Das hebräische Wort Sephiroth erscheint gewöhnlich in seiner Pluralform (also Sephiroth), die Singularform (Sephira) kommt selten vor. Ich finde dieses Wort weder in Grimms Wörterbuch, noch in irgendeinem grösseren modernen Wörterbuche der neuhochdeutschen Sprache. The Oxford English Dictionary (vol. IX, Oxford 1933) gibt die folgende Definition der Sephiroth: In the philosophy of the Cabbala, the ten hypostatized attributes or emanations, by means of which the Infinite (e n soph) enters into relation with the finite. 2 Die Bogumilen waren eine der mittelalterlichen Sekten, die sich aus dem Manichäismus entwickelte. Sie haben in Bosnien und Herzegowina, wie auch in den benachbarten Gebieten, zahlreiche Nekropolen aus dem XIII bis XVI Jahrhundert hinterlassen. Stecak (pl. stecci) ist ein bogumilisches Grabdenkmal, welches gewöhnlich mit Reliefs, die symbolische Motive darstellen, dekoriert, ist. 3 Vgl. Marian Wenzel: Ukrasni motivi na stečcima, Ornamental Motif s on Tombstones from Mediaeval Bosnia and Surrounding Regions. Verlag Veselin Masleša, Sarajevo 1965. Die Tafel CXIV gibt »unclassified motifs«, die eigentlich die Sephiroth-Schemen darstellen. 4 Tine Kurent: Sephirot ili drvo života (Die Sephiroth oder der Lebensbaum) Most (Mostar, Jugoslawien), 60, 1985. 5 Auf dem Bilde der gegenwärtigen Studie sind die Zahlen 4 und 5, wie auch 8 und 9, wie sie in der Zeitschrift Most abgebildet wurden, umgesetzt, um sie so in Einklang mit Goethes Text zu bringen. 6 Nike ist die griechische Personifizierung des Sieges. Der Tempel der Nike Apteros, der Göttin des Sieges ohne Flügel, befindet sich auf der Akropolis von Athen. 3 Sephira 9 Sephira 10 = der Grund = das Königreich In Goethes Faust I7 — in den enigmatischen Worten der Hexe in der Szene mit der Hexenküche — sind einzelne Zahlen entsprechend ihrer Stellen in der Komposition Sephiroth aufgezählt, die letzte Sephira fällt jedoch als Mond aus. Faust hört zu, wie die Hexe, die das Verjüngungselixir mischt, ihre Zahlen rezitiert: DU MUSST VERSTEHN! AUS EINS MACH' ZEHN UND ZWEI LASS GEHN UND DREI MÄCH' GLEICH SO BIST DU REICH VERLIER' DIE VIER AUS FÜNF UND SECHS SO SAGT DIE HEX' MACH' SIEBEN UND ACHT SO IST'S VOLLBRACHT UND NEUN IST EINS UND ZEHN IST KEINS DAS IST DAS HEXEN-EINMAL-EINS. : Die Worte der Hexe können nicht leicht verstanden werden : Die Komposition Sephiroth dehnt sich von 1 bis 10 : Die Sephira 2 fällt in die neue Kolonne ; Und ebenfalls die Sephira 3 : Vgl. das Sprichwort: Alle guten Dinge sind drei Die Sephira 4 befindet sich nicht auf dem erwarteten Platze, sie ist verloren gegangen In den Kolonnen unter der Sephiroth 5 und 6 befinden sich die Sephiroth 7 und 8 Auf diese Weise sind die äusseren Kolonnen zu Ende Die Sephira 9 steht in der Kolonne unter der Sephira 1 Die Sephira 10 symbolisiert den Mond. Die Hexe jedoch arbeitet nur während der Nächte ohne Mondschein Die Sephiroth werden auch als Lebensbaum dargestellt: in diesem Sinne wurden sie auf den Grabdenkmälern der Bogumilen; aufgefasst, und Goethe benutzt sie natürlich bei der Transformation von Fausts Leben. Die Komposition Sephiroth wurde auch von Albrecht Dürer als eine bildliche Darstellung des Weltalls auf dem Schild, getragen von seinem Pilger, benutzt. Die ersten drei Sephiroths, wie sie von Geothes Hexe numeriert werden, also die Planeten Neptun, Uran und Saturn, wurden von Dürer als drei sechszackige Sterne im oberen Teile des Schildes abgebildet. Die Flügel stellen 7 Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, Szene: die Hexenküche, Verse 2540—2552. 8 Soviel mir bekannt ist, haben die Goethe-Forscher bisher nicht festgestellt, dass die Verse des Hexen-Einmal-Eins eigentlich die Sephiroth umschreiben. Man hat statt dessen angenommen, dass die Hexe mit ihren Versen das magische Quadrat wiedergibt: In diesem Quadrat gibt es tatsächlich keine Zahl 10, das ist jedoch auch der einzige Punkt wo Goethes Verse und das magische Quadrat übereinstimmen. Vgl.: »Anhang. Das Hexen-Einmaleins in Goethes Faust, I. Theil (Hexenküchenszene)« im Werke: Die geistigen Grundlagen der Zahlen, Verlag Freies Geistleben, Stuttgart 1977. jedoch offenbar die Zahlen 7 und 8 dar, das sind der Ruhm und der Sieg des Mikrokosmos, oder Venera und Merkur des Makrokosmos. Die Zahlen 5 und 6, Jupiter und Mars, sind auf diese Weise die Sterne am unteren Raiiide des Schildes. Offenbar hat Dürer die Plätze der Zahlen 5 und 6 mit den Plätzen der Zahlen 7 und 8 umgetauscht. Die Zahlen 4, 9 und 10 symbolisieren endlich in der mittleren Kolonne die Sonne, die Erde und den Mond.9 Die Sephiroth erscheinen demzufolge auf den steinernen Reliefs des mittelalterlichen Bosniens,10 auf Dürers Holzschnitt und in Goethes Faust. DAS GERICHT DIE GNADE Bild 1: Ein Vergleich der Komposition Sephirot, die die Elemente aus der Welt des Menschern darstellen, mit der analogen Komposition im Relief auf dem bogumilischen Gradbenkmal (stecak) aus Mokro, nahe Listica in Herzegowina. 9 Der Holzschnitt Gerson der Pilger von Albrecht Dürer, Grösse 23,3 cm x 14,9 cm, stammt aus dem Jahre 1494. Er ist im Deutschen Nationalmuseum unter No. H 7486 aufbewahrt. 10 Vgl. Tine Kurent: Simboli vasione na steccima (Die Symbole des Kosmos auf den bogumilischen Grabdenkmälern), Most (Mostar, Jugoslawien), 60 (1985), 5 Du mußt versteh« 1 Aus Eins mach1 Zehn, Und Zwei laß gehn, Und Drei mach' gleich, So bist du reich. Verlier1 die Vier, Aus Fünf und Sechs, So sagt die Hex1, Mach' Sieben und Acht, So ist's vollbracht; Und Neun ist Eins, Und Zehn ist keins. Das ist das Hexen-Einmal-Eins Bild 2: Goethes Hexen-Einmal-Eins umschreibt die Komposition der zehn Zahlen der Sephiroth. Bild 3: Die Uebereinkunft einzelner Sephiroths mit den Himmelskörpern auf dem Schild von Dürers Pilger. 6 Bild 4: Dürers Pilger trägt in sanier Hand den Schild in welchem der Kosmos symbolisch mit der Sephiroth dargestellt ist. 7 Bild 5: Die »nicht klassifizierten« Motive auf der Tafel CXIV, im Buch von Mariane Wenzel, die das Ganze oder Teile des Symbols Sephiroths (die inneren Planete) darstellen. Alle Abbildungen sind auf den Kopf gestellt.