Petr Kouba GRIECHISCHE TRAGÖDIE ALS MEDIUM DER ERFAHRUNG1 Wenn Bernhard Waldenfels in einem Aufsatz die Frage der Fremdheit untersucht, behauptet er neben anderen, dass die griechische Kultur seit 5. Jahrhundert v. Chr. das Etnozentrismus und die schwarzweiße Denkweise charakterisieren.2 Dass die Anderen als die unverständlich sprechende Barbaren betrachtet werden, soll angeblich mit dem griechischen Logozentrismus und mit der Monopolisierung des Vernunftes verbunden sein. Es scheint aber, dass solche Beschreibung der griechischen Beziehung zum Fremden die griechische Tragödie und die von ihr erschlossene Dimension der Erfahrung vernachlässigt. Das Bild des Fremden und des Anderen, das sich in der griechischen Tragödie bietet, ist nicht einfach etwa positiver als die andere Kultur geprägte Darstellungen der Fremdheit und des Anderssein. Es geht eher darum, dass die griechische Tragödie eine Dimension des Aussens erschliesst, die man in den Figuren von Frauen, Sklaven, Fremden, Barbaren, Verrückten und Aussenseitern im allgemeinen erkennen kann, und diese Sphäre des Aussens die ganze Topologie des griechi- 235 1 Diesel Beitrag wurde im Rahmen der folgenden Forschungsprojekte erarbeitet: 1) GAP401/10/1164 „Philosophische Untersuchungen der Leiblichkeit -- die transdisciplinäre Perspektiven" und 2) M300091203 „Philosophie im Experiment". 2 Bernhard Waldenfels, „Antwort auf das Fremde, Grundzüge einer responsiven Phänomenologie", in. Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, Bernhard Waldenfels und Iris Därman (Hrsg.), Fink, München, 1998, S. 38. schen Denkens verändert. Alles, was normalerweise im Hintergrund des griechischen Denken bleibt, bringt dieTragödie in den Vordergrund, um es in das Zentrum des Denkens zu setzen. Die griechische Selbsterfahrung ist also in der Tragödie völlig anders gestaltet als zum Beispiel in der Philosophie. Man könnte auch sagen, dass die Tragödie sich als eine Alternative zum philosophischen Denken präsentiert; eine Alternative, die nicht nur andere Mittel, sondern auch andere kulturelle Funktionen hat. Der topologische Unterschied zwischen Tragödie und Philosophie ist jedoch heutzutage schwer zu fassen, weil beide Formen des Denkens in ihrem urprünglichen griechischen Sinne uns schon fremd sind. Es scheint, dass wir ein unmittelbares Verständnis für die griechische Kultur, die zusammen mit der judeo-christlichen Kultur einen Grundpfeiler der europäischen Zivilisation repräsentiert, schon verloren haben. Während die judeo-christliche Kultur in un-236 serem Bewusstsein immer präsent ist, bleibt die griechische Kultur in unserem kulturellen Millieu nur als etwas Fremdes. Besonders deutlich zeigt es sich gerade auf dem Beispiel der Tragödie, die man heute auf den Theaterbühnen praktisch nicht spielt. Aber warum interessiert uns die griechische Tragödie nicht mehr? Ist es nicht darum, dass die griechische Tragödie der heutigen Gesellschaft und ihrer Kultur im gewissen Sinne widerspricht? Steht die griechische Tragödie mit ihrer Betonung der Macht des Schicksals nicht in einem krassen Gegensatz zum modernen Glaube an die Unbegrenztheit der menschlichen Möglichkeiten? Der heutige Mensch glaubt und ist ständig darin versichert, dass für ihn nichts unmöglich ist und dass er sein Schicksal in seinen Händen festhält. Der Hauptgedanke der griechischen Tragödie besteht dagegen darin, dass niemand die Macht über eigenem Schicksal hat. Ohne Erläuterung der Rolle des Schicksals im menschlichen Leben ist es also unmöglich, den Sinn der griechischen Tragödie zu begreifen. Wenn man sich nach der Rolle des Schicksals im griechischen Denken fragt, geht es nicht nur um den Einfluss der Götter auf die menschliche Existenz. Dass die Götter das Leben und die Handlung von Menschen beeinflussen, ist für die Griechen eine selbstverständliche Idee, die man noch bei Plutarch als ein naturelles Erklärungsprinzip finden kann. In der griechischen Tragödie zeigt sich aber das Schicksal mit einer viel radikaleren Abgründigkeit und Bodenlosigkeit, weil es mit der Dimension des Aussens wesentlich verbunden ist. Das Schicksal kommt jeweils von Aussen, das sich in der Gestalt von Frauen, Sklaven, Fremden, Barbaren, Verrückten und Aussenseitern eröffnet. Dieser Versuch, die griechische Tragödie in ihrem inneren Unterschied zum philosophischen Denken uns näher zu bringen, muss deswegen die wesentliche Beziehung zwischen dem Thema des Schicksals und der Dimension des Aussens berücksichtigen. Nur wenn wir die Beziehung zwischen dem Schicksal und der Dimension, aus der er kommt, erfassen, können wir der Erfahrung, die die Tragödie ermöglicht, näherkommen. Diese Erfahrung konfrontiert uns mit unseren Grenzen im doppelten Sinne: es sind die geschichtliche Grenzen des modernen Denkens, aber auch die Grenzen des Denkens als solchem. Wir können davon ausgehen, dass das Denken in der Tragödie und durch die Tragödie mit seiner eigenen Endlichkeit unmittelbar und wesent- 237 lich konfrontiert wird. Diese Idee betont auch Jacques Lacan, der sich in seinem Seminar über die Ethik der Psychoanalyse mit der Essenz der griechischen Tragödie befasst. Er bemerkt dabei mit einem Hinweis auf Aristoteles, dass der Zweck der Tragödie in der Katharsis besteht.3 Die Katharsis heisst ursprünglich die Läuterung oder Reinigung, und sie hat die medizinische als auch die rituelle Konnotationen. Was Lacan interessiert, ist hauptsächlich die heilende Funktion der Tragödie. Die Tragödie ist für ihn eine Heilmethode, die uns wiederherstellt, wenn sie unsere Emotionen erregt und beruhigt. Ihre ästhetische Wirkung ist mit der Heilung verbunden, wobei die Heilung in der reinigenden Verkoppelung des Denkens und der Emotionalität besteht. Falls uns also die Tragödie irgendeine Erkenntnis vermittelt, ist es nicht nur die Erzählung über die Taten und Handlungen, sondern auch, und vor allem, die Erfahrung des Denkens, das von den Emotionen direkt und unmittelbar bestimmt wird. Als ein Medium der Erfahrung ermöglicht die Tragödie das Erlebnis des emotionellen Denkens, das auf seine eigene Grenzen stösst, wenn es mit den verschiedenen Formen des Todes konfrontiert wird. Die Endlichkeit des Denkens äussert sich besonders dort, wo 3 Jacques Lacan, Le Seminaire VII, Hethique de la psychanalyse, Seuil, Paris 1986, S. 287, 288. die leere Form des Todes das Leben anzieht, wie zum Beispiel in der Figur von Antigone, die Lacan gründlich untersucht. Das reine Sterben-Wollen, das Sophokles' Antigone darstellt, kann nähmlich nicht erklärt werden. Es kann nur wie ein faktum brutum gezeigt werden: c'est comme ga parce que c'est comme ga. Bei Lacan heisst es, dass sich Antigone wie eine absolute Individualität präsentiert, die als solche unbegreiflich bleibt und bleiben muss. Die Tragödie erlaubt uns aber trotzdem diese absolute Individualität miterleben, weil sie nicht nur rationale, sondern auch emotionale Mittel hat. Man soll jedoch nicht vergessen, dass die griechische Tragödie und ihr kulturelles Milieu uns heute schon fremd sind. Wie es Lacan konstatiert, sind wir von dem Christentum so beeinflusst, dass wir die griechische Tragödie in ihrem mythischen Kontext nicht direkt begreifen können. Es handelt sich aber nicht einfach um einen Unterschied zwischen dem Monotheismus und dem Polythe-238 ismus. Um zu illustrieren, in welchem Sinne wir vom mythischen Kontext der griechischen Tragödie entfernt sind, könnte man auf Aischylos' Gefesselten Prometheus hinweisen. Im Gefesselten Prometheus sieht man nicht eine Pluralität der Götter mit unterschiedlichen Interessen. Statt der göttlichen Pluralität herrscht hier eher eine Diktatur des einzigen Gottes - Zeus. Ausser ihm ist niemand wirklich frei. Er hat seine Gewalt durch einen Gewaltakt eingeführt, und mit den gewalttätigen Mitteln bewahrt er diese Herrschaft weiter. Nachdem er die Titanen schlug und sie ins Tartaros warf, hat er eine neue Ordnung gegruendet, in der alle nur das machen, was er will. Das betrifft nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter, die sich der Macht von Zeus unterwerfen müssen. Die Menschen als auch die Götter sind nichts anderes als die Sklaven von Zeus mit allen Konnotationen, die das Wort „Sklave" für die Griechen hatte. Sie sind nicht frei in dem Sinne, dass sie von ihrer Situation absolut bestimmt sind. Sie können keinen Abstand von ihrer eigenen Situation halten. Der einzige, der sich erlaubte, diese göttliche Ordnung zu brechen und aus dem Mitleid mit den Menschen ihnen zu geben, was ihnen fehlte, wird dann grausam bestraft. Prometheus muss schrecklich leiden, damit alle sehen, dass die Macht von Zeus unerschütterlich und unerbittlich ist. Obwohl aber Zeus allmächtig scheint, soll er nicht für immer herrschen. Einmal soll der Tag kommen, wenn er seine Macht verlieren wird. Einmal soll Zeus von einem anderen göttlichen Herrscher ersetzt werden, der stärker und wahrscheinlich noch schlimmer als er sein wird. Prometheus weiss das und es gibt ihm die Stärke, sein eigenes Schicksal zu akzeptieren. Einerseits glaubt er, dass er nicht ewig leiden soll, und anderseits ahnt er, dass niemand sein eigenes Schicksal ändern kann. Das gilt für die Menschen als auch für die Götter. In diesem Sinne sind auch die Götter endlich, obwohl sie unsterblich sind. Die Macht des Schicksals ist nähmlich stärker als die Macht von Zeus selbst. Das Schicksal mit seiner Notwendigkeit ist über den Göttern, und darin besteht die einzige Gerechtigkeit. Niemand kann sich dem eigenen Schicksal entziehen, ebenso wie niemand sich selbst verlassen kann. Die Individualität ist mit der Notwendigkeit des Schicksals untrennbar verbunden, was sich besonders deutlich zeigt, wenn das Individuum spontan und frei handelt. Prometheus ist sich bewusst, dass im Moment, wenn er sich entscheidet, frei zu handeln und das Verbot von Zeus zu brechen, sein eigenes Schicksal sich erfüllt. Ebenso wird Zeus seine Macht nicht 239 nur wegen jemandem anderen, sondern vor allem wegen seiner eigenen Leichtsinnigkeit und Unverantwortlichkeit verlieren. Es ist eine tief griechische Idee, dass man eine Rolle im Schicksal der anderen spielen kann, aber niemand fähig ist, sein eigenes Schicksal zu ändern. Auf der zeitlichen Ebene präsentiert sich diese Idee im Modus der Gewesenheit: es ist immer schon zu spät. Es ist zu spät, um das eigene Schicksal zu ändern und sich in jemanden anderen zu verwandeln. Wir können uns dabei an die Figuren von Prometheus und Zeus, oder Antigone und Kreon errinern, aber diese zeitliche Struktur finden wir praktisch in allen grössen Tragödien. Obwohl aber der Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit vor uns in der griechischen Tragödie so klar erscheint, ist er theoretisch schwer zu begreifen. Aus dem Arsenal der philosophischen Ideen könnten wir uns einiger Hilfsmittel bedienen. Falls wir uns nur auf die menschliche Existenz beschränken, könnten wir zum Beispiel Kants' Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft erwähnen, wo Kant über den angeborenen Charakter des Menschen spricht. Wenngleich dieser Charakter natürlich ist, heisst es nicht, dass der Mensch für ihn nicht verantwortlich ist, da sich in diesem Charakter die eigenste Freiheit des Menschen äussert. Die Notwendigkeit und die Freiheit sind hier untrennbar, und deswegen ist auch jeder für seinen Charakter verantwortlich. Der Charakter, sei er gut oder schlecht, ergibt sich nicht aus dem äusseren, oder objektiven Faktoren, wie die vorherigen Erfahrungen, die Herkunft, Familie und Ausbildung, sondern kommt vor all dem, was zur persönlichen Geschichte gehört. Deshalb lässt es sich auch zusammen mit Kant sagen, dass der Charakter als auch die Neigung für das Böse oder Gute, vor aller Zeit gegeben sind. Diessel-be Idee kann man auch in Schellings' Freiheitschrift finden, wo die Entscheidung für das Böse oder Gute vor dem menschlichen Leben situiert wird. Aber beide philosophische Konzeptionen entbehren das, was für die Tragödie so typisch ist - nämlich ihre Komplexität. Was sie im allgemeinen vermissen lassen, ist vor allem die Akzentuierung der Rolle, die der Andere in der Handlung und Selbst-Erkenntnis des Individuums spielt. Wenn wir nochmals auf Aischylos' Geffeselten Prometheus zurückkom-240 men, sehen wir, wie wichtig für Zeus sein Gegner ist. Zeus braucht Prometheus, um sein eigenes Schicksal zu erkennen. Ohne ihn kann er sein Schicksal nie entdecken, und deswegen schickt er seinen Boten Hermes zum gefesselten Prometheus. Aber Prometheus lehnt es ab, das Schicksal von Zeus aufzudecken, und so wird sein Schicksal nur im Laufe der Zeit, und mit allen Konsequenzen der zeitlichen Struktur des Schicksals, entdeckt. Diese Situation hat eine Ähnlichkeit mit der Beendigung von Kleists' Michael Koolhaas, aber vor allem dokumentiert sie die Unentbehrlichkeit des Anderen bei dem Sich-Erkennens des Individuums, weil die Individualität dasselbe wie ihr Schicksal ist. Ohne den Anderen bleibt das Individuum für sich selbst und für sein eigenes Schicksal hoffnugslos blind. Lacan formuliert es so, dass ^ dt^, die die Verblendung, die Blindheit, die Schuld, die Katastrophe, die Strafe, die Zerstörung, und der Schmerz heisst, sich aus dem Feld des Anderen heraus zeigt. Es ist allerdings fraglich, inwiefern es auch möglich ist, mithilfe des Anderen das eigene Schicksal zu ändern. Der Andere kann ja das Schicksal des Individuums nicht ändern, wenn es das Schicksal selbst nicht erlaubt. Zuerst müsste das Schicksal geändert werden, damit der Andere seine befriedende Rolle erfüllen könnte. Nur dem kann der Andere helfen, der sich schon entschieden hat, sich selbst zu ändern. Aber das kann man eben nicht, und so steckt man fest im Kreis des Schicksals. Das Einzige, was man also mit Gewissheit konstatieren kann, ist, dass, die Macht des Schicksals die Täter und die Opfer nicht nur trennt, sondern auch wieder verbindet. Das Schicksal garantiert es, dass die Täter trotz aller ihren Gewalt und Klugheit einmal auch Opfer werden. Dieses Bewusstsein versöhnt die Opfer mit den Tätern und führt sie zusammen. Nur mit diesem Bewusststein können sich Prometheus und Zeus bei Aeschylus einmal wieder befreunden, aber nicht früher, als die Zeit es erlaubt und die Gerechtigkeit durch die Strafe wieder hergestelltstellt wird. Diese zeitliche Distanz, diese auf später verschobene Versöhnung deutet daneben auch an, dass die griechische Mythologie in der Tragödie ein bisschen anders aussieht, als wir sie uns gewöhnlich vorstellen. Es geht nicht um die statische, einmal fuer immer gegebene Welt, die zweidimensional wie die griechischen Reliefs ist, sondern eher um eine dynamische Beziehungslehre, wo sich die Rollen und ihre komplexe Verhältnisse radikal verwandeln. Es ist eine Mythologie, die sich selbst die Dimension der Zukunft erschliesst, aus welcher die 241 erwartene Gerechtigkeit des Schicksals kommt, obwohl das Schicksal als solches sich aus der zeitlichen Dimension der Gewesenheit ergibt. In dieser Mythologie ist alles, einschliesslich dem menschlichen Leben, zwischen Zukunft und Gewesenheit gespannt. Die Gegenwart ist hier nichts anderes als ein Fluchtpunkt der Gewesenheit und der Zukunft. Was uns an diesem Weltbild verwundert, war aber für das griechische Publikum etwas Selbstverständliches. Mit unserer christlichen Mentalität erwarten wir immer, dass ein solcher Author wie Aischylos, der den höchsten Gott als einen rücksichtslosen und grausamen Diktator, der bald von einem anderen, und noch schlimmeren Gott ersetzt werde, bezeichnet, der Götteslästerung beschuldigt werden musste. Für die Griechen war es aber ganz in Ordnung, weil das, was Aischylos erzählte, mit der mythologischen Realität korrespondierte. Es war die Realität, in der der griechische Mensch lebte und mit der er klarkommen musste. Aischylos als ein frommer Mann, lässt darüber keinen Zweifel. Mit Rücksicht auf solche harte Realität kann man auch die Motivation der griechischen Philosophen besser verstehen. Wenn die Philosophen wie Empedokles oder Platon ihre Konzeptionen verfassten, suchten sie eigentlich einen Ausweg aus der unerträglichen Situation, in die sie die griechische Mythologie situierte. Die Kosmologie der Liebe und des Streites als auch die platonische Ideenlehre bedeuten Versuche, das erschütterte Denken aus der unerträglichen Situation hinausführen. Es ist kein Zufall, dass Empedokles und Platon ihre Konzeptionen als Heilmethoden verstanden haben. Ihre Auffasung des Heilungsprozesses besteht in der Beseitigung aller Faktoren, die das Denken stören und verwirren. Ihres Ziel ist die Ruhe der Seele, wobei das sogenannte philosophische Ethos diese Ruhe ermöglichen soll. Die grundsätzliche Voraussetzung der philosophischen Heilmethode ist aber das Verlassen der mythologischen Welt. Die Tragödie dagegen bietet eine andere Heilmethode an. Sie erlaubt dem Menschen nicht das mythologische Trauma zu vergessen, sondern gibt ihm eine Anregung zum Wiedererlebnis des Traumas. Diese Erfahrung verursacht eine Katharsis, dank deren der Mensch seine Stelle im mythologischen Kontext wiederfinden kann. Die Katharsis erlaubt dem Menschen, sich mit seinem eigenen Schicksal abzufin-242 den, in dem sich die Notwendigkeit mit der individuellen Freiheit verbindet. Sie hat auch eine wichtige soziale Funktion, da sie die Rolle des Anderen im Prozess des Selbst-Erkennens und Selbst-Akzeptierens betont Die Rolle des Anderen ist besonders deutlich zum Beispiel in Die Troerinnen von Euripides akzentuiert, die man als eine Fortsetzung von Homers' Ilias lesen kann. Falls aber Ilias, trotz aller ihren Objektivität, aus der Perspektive der Sieger und Männer erzählt wird, präsentieren Die Troerinnen die Perspektive der Besiegten und Frauen. Das Drama beginnt, wenn Troja schon zerstört wurde, alle ihre Männer tot sind, und die Frauen in die Sklaverei gehen. Doch gleich am Anfang verabreden sich Poseidon und Athena, die vorher auf verschiedenen Seiten des Konfliktes standen, dass die Griechen, die sich jetzt über ihren Sieg freuen, schon bald vernichtet werden sollen. Das Schicksal von Troja hat sich schon erfüllt, aber das Schicksal der Griechen wird sich auch bald erfüllen. Kas-sandra, die einzige, von allen Menschen, die die Macht des Schicksals kennt und voraussieht, was kommen soll, jubelt, obwohl sie dem König Agamemnon als Konkubine geschenkt wird und selbst bald sterben soll. Sie weiss nämlich, dass Agamemnon mit ihr sterben muss. Die anderen Frauen von Troja, und besonders die Königin Hekabe, sind aber tief erschüttert, wenn sie die Ruinen ihrer Stadt sehen und in die Sklaverei gehen. Hekabe begreift die Sklaverei unmissverständlich als die Reduktion auf den blossen Körper, als sie sich fragt, wem sie wie eine Gestalt des toten Körpers dienen soll. Die Sklaven sind, ihrer Meinung nach, eher tot als lebendig, da sie mit ihrer Freiheit auch ihre Seele verlieren. Sie sind nur die Werkzeuge in Händen der freien Menschen und was sie vermissen, ist nicht nur die Spontaneität, sondern auch die elementare Fähigkeit, einen Abstand von eigener Situation einzunehmen. Die Sklaven sind von ihrer Situation absolut determiniert, und darum haben sie keine Freiheit und keine Seele. Die Seele heisst nämlich nichts anderes als die elementare Fähigkeit, einen Abstand von eigener Situation zu halten. Hekabe ahnt sehr gut, was es heisst diese Fähigkeit zu verlieren. Das Schlimmste kommt aber, wenn die Griechen sich entscheiden, den kleinen Sohn von Hektor zu töten. In diesem Zusammenhang können wir uns an die berühmte Szene der Ilias errinnern, wo Hektor seine Frau Andromache mit seinem Söhnchen in den Armen trifft. Dort treffen sich eigentlich zwei Welten - die 243 Welt von Männern und die Welt von Frauen. In Die Troerinnen sind aber nur die Frauen geblieben, die den Siegern ausgeliefert sind. Wenn Andromache Kenntnis davon erhält, dass der kleine Astyanakt sterben muss, klagt sie verzweifelt weh: „Oh, Griechen, die Erfinder der barbarischen Folter" (H ßdpßap' 8^£UpÖT£^ "EWnvs^ KaKd).4 Solcher Ausdruck und die von ihm erschlossene Perspektive sind doch sehr beachtlich. Was wir hier nämlich sehen, ist ein Zeugniss der griechischen Fähigkeit, sich selbst von Aussen zu beobachten. Das griechische Denken ist hier nicht endo-zentrisch, sondern wird exozentrisch, und es ist wichtig sich der Sache bewusst werden, dass diese Verwandlung der Topologie des Denkens gerade in der griechischen Tragödie geschieht. Die Troerinnen gehen dabei noch weiter als Die Perser von Aischylos, die man natürlich auch erwähnen muss. In Die Perser überschreitet die griechische Kultur und Zivilisation ihre eigene Grenzen und beobachtet sich aus der Perspektive des Aussens, wobei die Ausdrücke „Barbar 4 Euripide: „Les Troyennes", in. Euripide Tome IV, Texte et traduction; Parmentier, Leon, Gregore, Henri, Les belles lettres, Paris, 1980, S. 60 (760). und barbarisch" laut Edith Hall zum ersten mal systematisch benutzt werden.5 Die Griechen sind hier aber immer nur als die Repräsentanten der Zivilisation und Demokratie gezeigt, während die Perser sich selbst als Barbaren bezeichnen. In Die Troerinnen werden dagegen die Griechen als Barbaren bezeichnet, wenn sie der barbarischen Grausamkeiten bezichtigt werden. Solche Relativisierung des Begriffes „Barbar" ist etwas extraordinäres, und erscheint in der europäischen Literatur erst wieder bei Montaigne, der den Begriff des Barbaren gegen seine eigene Kultur in den Essais benutzt. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass eine solche Relativierung der Barbarei in der griechischen Kultur geschieht, wenn die Perspektive der Frauen, der Sklaven, der Fremden und von Aussenseitern im allgemeinen, in den Vordergrund tritt. So etwas geschieht eben in der Tragödie, wo sich die ^emen des Schicksals, der Endlichkeit und der Körperlichkeit zusammen mit den ^emen der Unvernunft und des Wahnsinns verbinden, um 244 zusammen die Dimension des Aussens zu erschließen. Um zu dokumentieren, wie die Dimension des Aussens in der griechischen Tragödie gestaltet wird, könnten wir schlussendlich zwei Tragödien erwähnen. Die erste Tragödie, die man nicht übergehen sollte, war hier schon einmal erwähnt. Es ist die Antigone von Sophokles. Was in diesem Drama besonders interessant ist, ist die Weise, wie Antigone die Entscheidung trifft, Kreons' Verbot zu brechen und ihren Bruder Polyneikes zu begraben. Sie trifft nämlich keine Entscheidung. Wir sehen sie nicht zögern und schwanken, weil sie schon entschieden ist. Besser gesagt, alles ist schon im Voraus entschieden und Antigone akzeptiert nur ihr Schicksal, in dem sie ihre eigenste Individualität erkennt und erweist. Sie kann nichts anderes machen, als Polyneikes zu begraben und die schreckliche Konsequenzen ihres Verhaltens zu erwarten. Gerade das meint sie, wenn sie ihrer Schwester Ismene sagt, dass sie naösiv to Ssivov touto will.6 Das Wort to Ssivov heisst im Griechischen das Grausen, das Unglück, das Elend, aber auch das Gewaltige oder das Ungewöhnliche. Martin Heidegger stellt 5 Edith Hall, Inventing the Barbarian, Greek Self-Definition through Tragedy, OUP, 1989, S. 57-59. 6 Sophocles: Antigone, Griffith, Mark (Hrsg.), Cambridge University Press, Cambridge, 1999, S. 76 (95). dieses Wort ins Zentrum seiner Interpretation von Antigone.7 To Ssivov ist für ihm das Grundwort dieser Tragödie und der griechischen Tragödie überhaupt. Er übersetzt dieses Wort als „das Unheimliche", wobei er mit den Konnotationen von „heimlich" und „unheimlich", „heimisch" und „unheimisch" arbeitet. Das Unheimliche steht im Gegensatz zu allem Heimischen, Gewohntem und Geläufigen, und als solches wirft es einem in die Gefahr. Mit im Spiel ist dabei natürlich immer auch ein Verweis auf die Unheimlichkeit, die Heidegger in Sein und Zeit im Zusammenhang mit der Grundstimmung der Angst analysiert.8 Antigone verlässt also die Altäglichkeit und Gewöhnlichkeit des Existierens, um die Unheimlichkeit der Existenz auszustehen, wenn sie bereit ist: naösiv TO Ssivov TOUTO. Vielleicht hat eine solche Interpretation, die den Raum auch für die Individualität und Faktizität der Existenz lässt, den Anschein erweckt, dass wir das Ziel erreichten und die Erfahrung, die von Tragödie vermittelt wird, erfassten. Wir 245 sollten uns aber mit der heideggerianischen Interpretation von Antigone nicht begnügen. Antigone ist nämlich viel unheimlicher und unbegreiflicher, als Heidegger glaubt. Sie identifiziert sich mit der Leiche von Polyneikes so viel, dass sie selbst sterben will. Sie bringt sich selbst um, wenn sie in eine Grotte eingesperrt wird. Kreon will sie nicht töten, er will nicht ihr Blut auf seinen Händen haben, und deswegen übergibt er Antigone den göttlichen Mächten, damit diese selbst entscheiden, ob sie leben soll. Doch Antigone wartet nicht auf die Entscheidung der göttlichen Mächte und erhängt sich. Es geht aber nicht um eine persönliche Entscheidung, indem Antigone ihre äusserste und eigenste Möglichkeit verwirklichen würde. In Antigone gibts es etwas, was selbst sterben will. Ihr Wille zum-Tod ist nicht ihr eigener Wille; sie hört eher diesem Willen zu und identifiziert sich mit ihm. Wir sollten nicht vergessen, dass Antigone die Tochter von Oedipus ist. In der Art und Weise ihres Todes folgt sie ihrer eigenen Mutter Iokaste. 7 Martin Heidegger, Hölderlins Hymne »Der Ister«, Gesamtausgabe, Band 53. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Mein 1984, S. 74, 82. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Gesamtausgabe, Band 40, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Mein 1983, S. 158-160. 8 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Gesamtausgabe Band 2, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Mein 1977, § 40. Es handelt sich also nicht nur um ihren eigenen Tod, sondern um den Untergang ihrer ganzen Familie - mit der einzigen Ausnahmen von Ismene, die vernünftig und lebendig bleibt. Das Aussen, das Antigone darstellt, ist deswegen noch unheimlicher als die Unheimlichkeit der Existenz, die Heidegger beschreibt. Die heideggersche Unheimlichkeit gehört immer noch zum inneren Bezirk des menschlichen Lebens, aber Antigone gehört schon zum Reich des Todes, das für den menschlichen Verstand unzugänglich bleibt. Antigone repräsentiert etwas Unverständliches, was das Denken in die Verzweiflung wirft. Falls wir dieser Dimension des Aussens näherkommen wollen, könnten wir uns an Blanchots Auffasung des orfischen Raumes erinnern.9 Der orfische Raum ist Raum des Todes, aber der Tod, den man in diesem Raum triffi, heisst nicht die eigenste Möglichkeit der Existenz, in der sich die menschliche Existenz individualisiert, sondern eher ein unpersönliches Geschehen, in dem sich die indi-246 viduelle Existenz verliert. Statt des Seins -zum -Tode geht es hier um ein anonymes Sterben, in dem die individuelle Existenz auseinanderfällt. Die menschliche Existenz kann sich dieses Sterben als ihre eigene Möglichkeit nie zueignen; sie wird eher von diesem Sterben völlig expropriiert. Solches Sterben hat auch seine Zeitlichkeit, aber es ist die leere Zeitlichkeit, die Zeitlichkeit ohne die Gegenwart. Die Zeit des Todes bringt die Gewesenheit und die Zukunft zusammen, um in der Abwesenheit der Gegenwart eine Dimension des Aussens zu erschließen.10 Es ist ein nichtmetaphysisches Aussen, wo sich die menschliche Existenz mit ihrer Absenz triffi, in der sie selbst und ihre Welt radikal transformiert werden. Das Innen der Existenz und ihrer Welt sind hier dem Aussen ausgesetzt, in dem sie zerfallen und sich neu gestalten. Wenn Antigone von solchem Aussen expropriiert wird, ist sie also die Andere par excellence, die für ihre Verwandten und Mitbürger notwendig fremd bleibt. Sie ist ausser-ordentlich, sie steht ausserhalb der Ordnung der Polis und als solche gefährdet sie die bestehende Ordnung. Sie kommt vom Aussen und bringt damit Verwirrung in die Ordnung ihrer Gemeindschaft. Wenn sie stirbt, muss 9 Maurice Blanchot, L'espace litteraire, Gallimard, Paris, 1955, S. 203 10 Ibid. S. 143. auch ihr Verlobter, der Sohn von Kreon, sterben und gleich nach ihm bringt sich die Ehefrau von Kreon um. Das ganze Leben von Kreon, seine Familie und seine königliche Macht, sind zerstört. Wegen Antigone, die ihr Schicksal erfüllt, gehen auch die Schicksale ihrer Verwandte und Mitbürger in Erfüllung, weil sie miteinander verbunden sind. Für Antigone ist es schon zu spät, um ihre „Entscheidung" zu ändern, und zugleich zu früh, um sich mit Kreon zu versöhnen. In diesem Sinne kommt ihr Schicksal als ein Ereignis, in dem sich die Gewesenheit und die Zukunft verbinden. Zu spät und zu früh ist es auch für Kreon und seine Familie, die im schicksalhaften Ereignis untergeht. Mit solcher Behauptung sind wir offensichtlich von Lacans's Lektüre von Antigone schon entfernt. Lacan glaubt nämlich, dass es in der Tragödie im allgemeinen kein Ereignis gibt.11 Statt des zeitlichen Abgrund des Ereignisses, in dem die Gegenwart verschwindet, damit eine neue Gegenwart aus der Spannung zwischen der Gewesenheit und Zukunft auftauchen könnte, sieht er in der Tragödie 247 nur das Verfallen oder die Senkung verschiedener Schichten der Anwesenheit der tragischen Helden und Heldinen in der Zeit. Wir wollen dagegen zeigen, in welchem Sinne man über das Ereignis in der Tragödie sprechen könnte. Wir glauben, dass es möglich ist, das Schicksal als das Ereignis zu interpretieren, das die alte Welt zerbricht und eine neue schafft. Lacan und viele Anderen begreifen das Schicksal als etwas, was zum Regime der Wahrheit, und nicht zum Geschehen des Ereignises gehört. Was sich daraus ergibt, ist eine statische Vision der griechischen Welt und seiner Mythologie. Auf Grund der Lektüre von Aischylos' Gefesselten Prometheus läßt sich demgegenüber die griechische Kultur und ihre Mythologie als eine Vielheit der Ereignisse zeigen, die die alte Welt zerstören und eine neue gestalten. Ein Schlüssel dazu stellt gerade die Interpretation des Schicksals als einer grundlegenden Sorte des Ereignisses dar. Das Schicksal ist ein Ereignis in dem Sinne, dass es die Einzelperson, sei es ein Mensch, oder ein Gott, betrifft und bestimmt, ohne dass es die Einzelperson selbst ändern kann. Das Schicksal steht außer Kontrolle und Macht der Person auch in Momenten, wenn die Person frei handelt und sich durch ihren Akte individualisiert. In die- 11 Jacques Lacan, Le Seminaire VII, S. 308. sem Sinne ist das Schicksal mit der Dimension des Aussens wesentlich verbunden. Das Schicksal kommt immer vom Aussen, und als solches erschliesst es das Innen, wobei sich der Innenraum des Lebens radikal verändert und ein neuen Sinn erhält. Als eine Ilustration kann man noch Die Bakchen von Euripides anführen. In dieser Tragödie geht es um die Ankunft des Gottes Dionysos in Theben. Es ist eigentlich nicht nur eine Ankunft, sondern eher eine Heimkehr, weil Dionysos in Theben als Sohn von Zeus und der königlichen Tochter Semele geboren wurde. Jetzt kommt er aber aus dem Ausland, aus den barbarischen Ländern, um in Theben seinen eigenen Kult einzuführen und sich als Gott zu beweisen. Während im Ausland ist er als Gott schon geehrt, in Theben und im ganzen Griechland hat er keine Anerkennung. Aber das soll sich bald ändern. Am Anfang seiner Epiphanie kommt Dionysos verkleidet, in der Gestalt 248 eines Jünglings, der sehr feminin aussieht. Mit seinen langen Haaren und parfümierter Haut provoziert er die patriarchale Gesellschaft und stört ihre Ordnung, wenn er alle Frauen anregt, die Stadt mit seiner patrialchalen Struktur zu verlassen und in den Bergen zu feiern. Dionysos ist der Gott der Alterität und des Andersseins nicht nur, weil er selbst immer der Andere ist, sondern auch und vor allem, weil er mit sich die Veränderung bringt. Überall, wo er kommt, verursacht er Veränderungen. Nichts bleibt gleich, wenn er erscheint. Seine Erscheinung ist allerdings nicht ohne Ambiguität. Wenn er, gleich am Anfang der Tragödie, sagt: „Hier bin ich, ich bin gekommen", ist er ja noch nicht da, weil er die Maske des Menschen trägt. Deswegen spricht Jean-Pierre Vernant in seinem Artikel „Le Dionysos masque des Bacchantes d'Euripide" über die „Anwesenheit des Abwesenden".12 Es ist eine beunruhigende Gegenwart ohne Inhalt. Statt als solche leere Gegenwart könnte man aber die Ankunft des Gottes auch als ein Ereignis begreifen, in dem sich das Schicksal des Herrschers von Theben, des Königs Pentheus, und des ganzen Griechlands manifestiert. Obwohl Dionysos 12 Jean-Pierre Vernant, „Le Dionysos masque des Bacchantes d'Euripide", in. Jean-Pierre Ver-nant, Pierre Vidal-Naquet, Mythe et tragedie en Grece ancienne, Tome II, La Decouverte, Paris, 1986, S. 239, 248, 253. vom Aussen kommt, ist er nicht ein Gott von ausländischer Herkunft; er ist der Sohn von Zeus, der ihn in seinem eigenen Leib versteckte, bevor Dionysus zur Welt kam. Aus der Perspektive der göttlichen Filiation könnte man auch sagen, dass sich Zeus selbst teilte, um in der doppelten Maske des Menschen und des Gottes des Andersseins nach Theben und Griechland kommen können. Solcher Akt sollte die griechische Welt belehren, dass es nicht reicht, nur auf die eigene Kultur sich zu orientieren und sie zu behüten, sondern dass es auch nötig ist, von Aussen sich inspirieren und verwandeln lassen. Das Innen geht hier von sich aus, um sich im Aussen zu erkennen. Das Innen geht über seine eigene Grenzen hinaus, damit es sich selbst verlassen und wieder im Aussen finden könnte. Es muss sich von sich selbs befreien, um neue Lebensmöglichkeiten zu entdecken. Das Wichtigste dabei ist, dass Alles, was in Der Bakchen geschieht, von Zeus im Voraus geplant wurde. Alles wird schon im Voraus entschieden, und was kommt, ist Nichts anderes als die Manifestation von dem, was schon im Voraus angeordnet 249 wurde. Die Gewesenheit und die Zukunft schaffen hier zusammen ein Ereignis, in dem sich die Gegenwart radikal ändert. Dionysos selbst lässt dabei keinen Zweifel, dass nicht er, sondern Zeus selbst das ganze Ereignis dirigiert. Wer es also versucht, diesem Ereignis zu wiederstehen, kann in dem Ereignis nur sein eigenes Schicksal finden, wie es dem König Pentheus geschah, der verrückt wurde, als eine Frau verkleidet aus Theben von Dionysus hinausgeführt wurde, und schiesslich von seiner eigenen Mutter und anderen irrsinnigen Frauen ermor-dert wurde. Was Schlimmeres könnte den stolzen griechischen König treffen? Pentheus mit aller seiner Rationalität hat keine Chance, wenn er die dionysische Verrücktheit aufhalten will. Seine Vernunft, auf der er seine Identität aufbaut, scheitert im Angesicht der wilden Ekstase. Was können wir aber aus dieser tragischen Erfahrung lernen? Es handelt sich nicht einfach um eine Verherrlichung der blinden Irrationalität. Es geht eher um die Suche nach einer Rationalität, die von der Verrücktheit und Ekstase profitieren kann. Wie es Dionysus selbst in seiner Polemik mit Pentheus erklärt: die Barbaren, die die dionysische Macht akzeptieren, sind nicht weniger, sondern mehr vernünftig als die Griechen. Sie wissen, dass es eine hoffnungslose Naivität ist, die Rationalität zu verabsolutieren und sich nur auf die eigene Macht zu ver- lassen. Die echte Weisheit verlangt es eher, ab und zu auf das eigene Selbst und die eigene Vernunft zu verzichten, um sie von dem dionysischen Element erneut wieder zu finden. Wenn Dionysos die menschliche Existenz über ihre eigene Grenze hinausführt, erschliesst er sie nicht nur für das Göttliche, sondern auch für das Animalische. Wie es Vernant formuliert, Dionysos löscht alle Grenzen: die Grenzen zwischen Menschen und Göttern, Menschen und Tieren, Männern und Frauen, Griechen und Barbaren, Vernünftigen und Wahnsinnigen.13 Deswegen ermöglicht er eine Erneuerung der menschlichen Existenz, aber nur, wenn sich diese Existenz leistet, sich selbst und ihre eigene Rationalität aufs Spiel zu setzen und ins Spiel zu werfen. Dionysos bringt die menschliche Existenz zur Verrücktheit/zum Ver-rücken, in der sie ausser sich ist, aber in diesem Ereignis gibt er ihr auch die Chance, ihr einzigartiges Schicksal zu entdecken. Dionysos kommt als ein Ereignis, in dem sich das eigenste Schicksal des Menschen, seine 250 eigenste Bestimmung, erschliesst. In diesem Sinne lässt er uns uns selbst erkennen, wobei wir immer wieder festellen, dass wir andere sind, als wir früher gedacht haben. Und gerade diese Erfahrung vermittelt uns die griechische Tragödie. Welche ist dann die Beziehung der Philosophie zur Tragödie? Bis jetzt haben wir gesehen, dass die Tragödie die aussen Limits der Philosophie abgrenzt, da sie eine andere Denkweise und eine andere Topologie der Erfahrung darstellt. Die Tragödie ist das Aussen der Philosophie, das Philosophie seit den Zeiten von Aristoteles versucht, mit ihren eigenen Mitteln zu beschreiben und zu definieren. Philosophie kann sich eventuell bemühen, die tragische Erfahrung philosophisch zu erfassen und sie sich anzueignen, d.h. sie als eigenes heuristisches Mittel zu benutzen, wie wir es in Hegels Interpretation von Sophokles Antigone sehen. Es gibt aber auch die dritte Möglichkeit, die in der Inversion der Beziehung zwischen Philosophie und Tragödie besteht: anstatt, dass Philosophie sich bemüht hätte, Tragödie durch ihre eigenen Mittel sich zu bemächtigen, lässt sie sich von Tragödie entzücken und verwandeln. Eher als über Tragödie zu theo-retisieren, denkt solche Philosophie durch die Tragödie und findet ihren Ort im 13 Ibid., S. 255-256. Herzens der Tragödie. Dann handelt es sich um die tragische Philosophie, wie sie Nietszche mit Rücksicht auf den Gegensatz von dionysischem und apollinischen Element formulierte. Es geht nicht nur um die Anerkennung des dionysischen Elementes in seiner Auseinandersetzung mit dem apolinischem Element, sondern auch um die asubjektive Konzeption der Kraft, die von ihrer eigenen Äusserung untrennbar ist. Jede Kraft braucht dabei immer eine andere Kraft, ohne die sie nicht wirken kann. Es gibt keine isolierte Kraft bei Nietzsche. In der gegenseitigen Wirkung von Kräften spielt sich dann das Schicksal ab, das keine partikulare Kraft in den Händen hat. Das Schicksal ist im Verhältnis zu den partikularen Kräften immer Aussen, obwohl es ihre gegenseitigen Beziehungen bestimmt. Das Schicksal ist im Aussen situiert und von diesem Aussen verwandelt es das Innen jeder Situation. Das Schicksal ist nicht eine Projektion der inneren Möglichkeiten dieser oder jener Kraft; es drückt vielmehr das Aussen dieser Möglichkeiten aus, wo sich die gegebenen Möglichkeiten in unvorsehba- 251 rer Weise transformieren. Das ist die tragische Weltanschauung, in welcher der Mensch seinen Ort findet. Mit Rücksicht auf Nietzsches Philosophie schildert es Henri Maldiney ganz deutlich: „l'homme n'a de destin que transpossible, au de la de toute possibilite prealable".14 Es gibt uns nur Rätsel auf, warum Nietzsche den Autor von Der Bakchen für einen Verräter der Tragödie hielt, warum er nicht seine dichterische Schilderung der Macht von Dionysos wie einen mildernen Umstand zugestand. Egal welche Gründe Nietzsche im Geburt der Tragödie zur Verurteilung von Euripides führten, ist es jedenfalls klar, dass er Gründer einer neuen Weise des Philosophierens wurde, der Weise, die man mit Recht tragische nennen kann, weil Philosophie sich hier mehr oder weniger explizit zur Tragödie kehrt, um sich selbst in ihr als im eigenen Aussen zu erkennen und sich selbst von ihr verwandeln lassen. Es ist die Philosophie, die in der Tragödie ihr eigenes Schicksal findet. Auf den Weg dieser Philosophie machten sich nach Nietzsche Blanchot mit seiner Auffasung des orfischen Raumes, Fink mit seiner Phänomenologie des Spieles, oder Maldiney mit seinem Begriff des Ereignisses, das aus dem Gebiet der Transpossibilität und Transpassibilität kommt. Alle diese 14 Henri Maldiney, Art et existence, Klincksieck, Paris, 1985, S. 136. Denker haben Philosophie dazu bewegt, dass sie auf sich selbst verzichtete und sich selbst im Medium der tragischen Erfahrung wieder fand. Dank ihnen vermochte Philosophie, nicht nur sich mit der Endlichkeit des Denkens abzufinden, sondern in der Endlichkeit des Denkens ihre tragische Bestimmung zu finden. Literaturverzeichnis: Aischylos, Tragödien, Bernhard Zimmermann (Hrsg.), Oscar Werner (Übers.), 6. Aufl. Artemis -Winkler, Zürich/Düsseldorf, 2005. Aristoteles: Poetik (Griechisch/Deutsch), Manfred Fuhrmann (Hrsg. und Übers.), 252 Reclam, 1994. Maurice Blanchot, L'espace litteraire, Gallimard, Paris, 1955. Judith Butler, Antigone's Claim. Kinship between Life and Death, Columbia University Press, New York, 2000. Euripide: „Les Troyennes", in. Euripide Tome IV, Texte et traduction; Leon Par-mentier, Henri Gregore, Les belles lettres, Paris, 1980. Euripides: Tragödien, 2. Bände, Bernhard Zimmermann (Hrsg.), Dietrich Ebener (Übers.), Oldenbourg Akademieverlag, 2010 Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Neuauflage, hrsg. von Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp. (Enthält auch Oase des Glücks.) Alber, Freiburg / München, 2009. 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