Azelarabe Lahkim Bennani AGONISTISCHE DEMOKRATIE, LEBENSFORMEN UND WERTPLURALISMUS^ Einführung: 51 Die Gemüter sind gegenwärtig in manchen arabischen und islamischen Ländern zwischen Verfechtern des modernen Rechts und Anhängern des göttlichen Gesetzes zerrissen. Nach der Ansicht der Beteiligten ist dieser Bruch ein Zeichen einer profunden sozialen Krise. Ich glaube aber, dass ein solcher Bruch zwischen den Fronten ein Zeichen dafür ist, dass sich die Gesellschaft in Bewegung befindet. Die Beteiligten sind verschiedener Ansicht darüber, worin das gemeinsame „soziale Gute" (im moralisch-aristotelischen Sinne des „Guten") in der Gesellschaft besteht. Die politische Spaltung der Gesellschaft in rechte und linke Parteien, in laizistische und religiöse Bewegungen entscheidet über die demokratische Entwicklung der Gemeinschaft. Das „gemeinsame Gute" ist in zwei verschiedenen Weisen in Griff genommen: einerseits von den Traditionellenin einem gemeinsamen interkulturellen Ethos verortet und es wird andrerseits von anderen Parteien politisch erkämpft, oder durch andere politische Ideale ersetzt. Wir stehen damit vor einem offenen Dilemma: Entweder versucht der interkulturelle Diskurs die soziale Versöhnung durch die Vereinheitlichung des Wertpluralismus' und der Lebensformen zu erreichen, oder die Wertideale treten in einen offenen politischen Kampf gegenein- 52 ander. Die muslemischen Fundamentalisten glauben bspw., dass die Gottesgesetze an die Stelle des positiven Rechts treten sollen. Dagegen sind die laizistischen Bewegungen in der arabischen Welt der Ansicht, dass der Wertpluralismus von der Religion und politischen Theologie in die Grenzen der privaten Sphäre gedrängt werden sollte. Wenn wir moralisch nach gemeinsamen Werten suchen, können wir die Versöhnung mit dem Andersgesinnten womöglich erreichen. Dannwird in diesem Fall das Andersdenkende für mich das Andere meines Selbst werden. Politisch können die verschiedenen Wertideale in einen Kampf treten, der nach einer neuartigen Versöhnung strebt, d. h. nach einer Toleranz gegenüber dem Intoleranten selbst. Die erste moralische Versöhnung braucht ihrerseits eine politische Implementierung durch einen offenen bedingungslosen Dialog mit dem „ganz" Anderen. Interkulturelle Begegnung der Muslime mit den Christen Die Idee der Existenz einer gemeinsamen interkulturellen Grundlage für den Wertpluralismus ist nicht neu. Die verschiedenen Kulturen und Religionen der alten Welt sind durch gemeinsame Grundsätze aufeinander angewiesen. Der Wertpluralismus gründet sich heute bei Habermas und Rawls auf die Prinzipien der öffentlichen Vernunft und des rationalen Konsens'. In Gegensatz dazu wurde dieser Konsens in den positiven Religionen durch den Verweis auf gemeinsame moralische Werte bekräftigt.In der Reiseliteratur findet man Stellen, worin darüber berichtet wird, wie der Muslim das moralische Benehmen des Christen, wenn sie z. B. in kommerziellen Beziehungen aufeinandertrafen, mit Bewunderung betrachtete. So erzählt David Hume wie ein tunesischer Fürst von Sale das Verhalten eines holländischen Admirals sehr schätzte und die Redlichkeit des Christen bei der Preisverhandlung mit muslimischen Händlern ihn daher zu dem Ausspruch veranlasste: „Schade nur, dass er ein Christ ist."1 Hume führt ebenfalls ein Beispiel an, welches zeigt, dass der interkulturell angedeute- 1 David Hume: Die Naturgeschichte der Religion: Meiner, 2000, S. 46. te Begriff der Religion von den geläufigen gelehrten Begriffsbestimmungen in der okzidentalen Religionsphilosophie abweicht. Religion wird nicht durch den „Gott", das „religiöse Gefühl", bzw. durch jeweils eine bestimmte Dogmatik charakterisiert. Häufig wurde eine solche Begriffsbestimmung nur indirekt durch den kommerziellen Kontakt manifestiert. Der Händler stellt sich keine theoretischen Fragen, sondern zieht instinktiv Schlussfolgerungen aus der vorliegenden Kommunikationssituation. Durch die überraschende Feststellung vieler gemeinsamer interkultureller Normen werden die Beteiligten womöglich zum Nachdenken über ihre eigenen kulturellen Werte angeregt. Die kommerzielle Begegnung des Muslims mit dem Christen rückte den moralischen Wert und nicht den dogmatischen Hintergrund in den Vordergrund. Dazu ein weiteres Beispiel von Hume: Ein Schiffskommandant namens Ruyter hatte in einem orientalischen Hafen angelegt, wo er ein Tuch aus England zum Kauf anbot, das dem Herrscher oder dem Sant der Stadt gefiel. Dieser fragte nach dem Preis, aber er bot dafür 53 eine Summe weit unter Wert. Ruyter wollte die Ware seines Herrn nicht unter ihrem Preis verkaufen, war aber bereit, es dem Herrscher zu schenken. Da erwiderte der Sant: „Du hast zwar die Vollmacht, die Ware deiner Herren umsonst wegzugeben, und darfst sie nicht zu dem Preis verkaufen, den ich dir dafür biete?"Und er fügte hinzu:„ Ist es nicht eine Schande, dass so ein Mann ein Christ ist?''^ Das ist ein Bericht von Gerard Brandt (1698) über ein Abenteuer, das Ruyter „unter den Barbaren" zu bestehen hatte. Es handelt sich in erster Linie dabei nicht um eine moralische Herabsetzung des Christentums, sondern um die Feststellung, dass Christen auch tugendhaft sein können, obwohl die Situation durchaus auch eine abweichende Interpretation zuließe. Die moralische Gesinnung des christlichen Händlers könnte seitens des Muslims nur aus seinem religiösen Kontext erklärt werden. Außerdem fällt in diesem Ausspruch die Bewunderung des Christen gegenüber dem Muslim auf, aber der gegenseitige Weg der Bewunderung ist von dem Erzähler verschwiegen. In den nachfolgenden Jahrzehnten nach Hume hat die arabische Reiseliteratur die Bewunderung des wirtschaftlichen und industriellen Fortschritt, z. B. in Deutschland, Frankreich und England in Reise- 2 David Hume: Die Naturgeschichte der Religion: Meiner, 2000, S. 116-117. berichten dokumentiert. Die Begegnung der Araber hat in Wirklichkeit nicht mit „säkularen" Gesellschaften, sondern in ihrem Verständnis vornehmlich mit fortschrittlichen „Christen" stattgefunden. Diese werfen ihnen allerdings - meist indirekt -die rückständige Lage ihrer Religion vor. Die religiösen Fragen des Islams kreisen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts um die Thematik des sozialen Fortschritts der Christen und des Rückstands der Muslime. Bis zum Aufkommen des Fundamentalismus in den letzten drei Jahr-zenten hat diese Problemstellung das intellektuelle Leben beherrscht. Der Fortschritt der ,Christen', im Kontrast zum Rückschritt der Muslime war im Sinne der Muslime ein contradictio in adjecto, das die Geisteskraft der Intellektuellen erschöpft hat. Dieses Paradoxon ist zu einer Denkfigur geworden, die sich ständig in neuen Redewendungen wiederfinden lässt. Der Christ benimmt sich nahezu wie ein Muslim, trotz der Tatsache, und das ist eine Randbemerkung, dass 54 er sich zum Islam in Wirklichkeit nicht bekennt. Wenn wir die Randbemerkung weglassen wird im Laufe der Zeit die Bezeichnung ,Christen' durch weniger religiös geprägten Substantive ersetzt, wie durch die Staatsangehörigkeit. Die Bewunderung ist auch vielfältig geworden und reicht von der Anerkennung der Wissenschaft und Rationalität bis hin zur Glorifizierung der okzidentalen mondänen Etikette. Ein berühmter Spruch des Ägypters Mohamed Abduh (1849- 1905), Theologie, Reformator und Sozialkritiker, besagt, dass es keine totale Identifizierung mehr gibt zwischen dem normierten ,Islam' und den seinerzeit fälschlicherweise zu ihm bekennenden Muslimen. Nicht nur die Christen benehmen sich wie Muslime, auch wenn sie keine sind, auch die Muslime sind nur gebürtige Muslime. Man kann den Spieß nun umdrehen und dem „Moslem" wiederum seine Charakterisierung absprechen, da er die religiösen Erfordernisse, die zur Rationalität und Fortschritt ermahnen, nicht erfüllt. Im Gegensatz dazu sind die Europäer gegen allen Anschein die wahren Muslime, weil sie den Geboten des Islams für Wissenschaft, Rationalität und Demokratie folgen. Um die okzidentale Lebensform durchsetzen zu können, müsste der aufgeklärte Muslim den Islam mit den Werten der Moderne vereinbaren. Die zwielichtige Identifikation mit dem Anderen. Die oben genannte Denkfigur der „Schade-Geschichte", die in unzähligen Anekdoten vorkommt, legt die Vermutung nahe, dass Christen wie Muslime unabhängig von aller Dogmatik gemeinsame Normen der Tugend, Toleranz und Würde teilen. Diese Hume-Geschichte setzt zudem voraus, dass die auf beiden Seiten tief verwurzelten Stereotype durch die Erfahrung von missglückten Begegnungen schrittweise abgebaut werden können. Die Schade-Geschichteerkennt den fremden Menschen, d.h. den Christen, als einen anderen Menschen und glaubt gleichzeitig, dass er mit dem muslimischen Menschen fast identisch sei. Homi Bhabha würde in diesem Kontext von einer Ambivalenz des Diskurses sprechen, da Bhabha ausgehend vom okzidenta-len Kontext sagt, dass der ambivalente ethnographische Diskurs den einheimischen primitiven Menschen entwürdigt und gleichzeitig würdigt, indem er dem 55 Schwarzen eine ,weiße Maske' tragen lässt (Franz Fanon). Der Ausspruch: „der andere sieht ja fast genauso aus wie ich" wird auch von dem rassistisch Gesinnten behauptet, der auch glaubt, dass er die Würde des fremden Menschen nicht verletzt. Das Gesetz verbietet es, beleidigende Stereotype oder rassistische Meinungen explizit und öffentlich zu vertreten. Die explizit rassistische Einstellung wird nunmehr laut Bhabha durch eine ,widersprüchliche Überzeugung' ersetzt. Die positive Überzeugung gegenüber dem Fremden ist per Gesetz offiziell erlaubt, während die entgegengesetzte Haltung nur insgeheim beibehalten wird.3 Die angesprochene Schade-Geschichte drückt nicht nur Ambivalenz aus, sondern ein wiederkehrendes Erstaunen darüber: „warum die Muslime unterentwickelt oder rückständig sind, obwohl sie der „echten Religion" angehören, während die anderen Völker fortschrittlich sind. "Oft haben die aufgeklärten Araber Anfangs des 20. Jahrhunderts solche Variationen der Schade-Geschichte bewusst ausgenutzt, um die traditionellen muslimischen Gemüter zu mehr Toleranz und 3 Die Verhandlung verlangt von den Partnern die Erzeugung eines ,dritten Raums' (HomiB-habha) welcher die Einheit und Eindeutigkeit der Bedeutung und Symbole in Frage stellt. Mit jenem Begriff will Bhabha der Politik der Konfrontation abweichen, und uns ermöglichen, das Selbst als das Andere des eigenen Daseins zu erscheinen lassen. 56 Öffnung gegenüber dem Westen zu bewegen. Der erste Kontakt des Orients mit dem zivilisierten Okzident war von Bewunderung und Staunen geprägt. Postcultural Studies und Essentialismus Ich möchte vorerst zwei Ideen im Gedächtnis behalten: erstens die Idee, dass der Kontakt mit dem Okzident gemeinsame Werte aufgedeckt hat, was die Bewunderung durch die Einheimischen hervorgerufen hat. Zweitens sind diese Werte nicht unbedingt religiöser Natur, sondern sind Ergebnis der verschiedenen Formen des Austausches (wie des Handels oder der Einwanderung). Der Austausch zwischen Orient und Okzident wurde auch literarisch vermittelt. Edward Said (1935- 2003), Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft) hat eine Pionierarbeit über „Orientalismus" geleistet. Er hatte gezeigt, wie der Orient, als eine imaginäre kulturelle Gestaltung, von dem Okzident narrativ geschaffen wurde. In Wirklichkeit sind die verschiedenen kulturellen Gestaltungen interaktiv aufeinander angewiesen. Deswegen bekräftigen wir den Wunsch von Edward Said, insofern er vorschlägt, uns von allen Spielarten des Essentialismus wie von der Bezeichnung ,Orient'/,Okzident' zu entledigen.4 Gayatri Spi-vak5 sieht in den Unterschieden zwischen Orient und Okzident eine Spur der gewalttätigen Ausschließung der Unterlegenen wie der Kolonisierten aus dem Prozess der wechselseitigen Verständigung. Sie warnt immerfort vor der Gefahr des Essentialismus', vor der sozialen Diskriminierung und der internationalen Arbeitsteilung. Ich bin meinerseits allerdings skeptisch, ob man den Essentialis-mus loswerden kann, bevor man weiß, wie kann man die Vielfalt der Kulturen interkulturell nutzen kann und was die Werte sind, die eine Gesellschaft zusammenhalten und die diese mit anderen Gesellschaften teilt. 4 Edward W. Said : Orientalism., p. 331. Auch die ,Negritude' „reproduziert die rassistische Ideologie des Kolonialismus' in dessen Logik von Essentialismus" Taoufik Sakhkhane, Post-colonialism and the Allegations of Textuality: Gayatri Chakravorty Spivak as a Case in point. Thesis submitted in Fullfillment of the Requirements for the Degree of Doctorat. Faculty of Letters and Human Sciences Rabat, 2006, p. 31. 5 (geboren 1942), renomierte indische Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin des Meisterwerks Derridas „de la Grammatologie", Kulturelle Vielfalt und kulturelle Differenz Man kann mit den Cultural Studies einer Meinung sein, dass die Aufgabe kultureller Kritik darin besteht, Abstand von der kulturellen Geschlossenheit der Gemeinschaften zu gewinnen, jenseits der Spielarten des Kommunitarismus'. Ist aber die Behauptung, dass es keine reine und feste individuelle Identität gibt, ein Grund dafür, dass es auch keine soziale Identität der Gesellschaft mehr gibt? Es gibt zwar keine abgeschlossene gemeinschaftliche Identität, aber die verschiedenen Formen des kulturellen Gedächtnisses bilden anscheinend ein geheimes Band der gegenseitigen Anerkennung. Die interkulturelle Philosophie, bzw. Interkulturalität geht von der „banalen" Idee der Vielfalt der Kulturen aus, d.h. von der Tatsache, dass wir in einer multikulturellen Welt leben. Der Umgang mit dem Phänomen desMultikulti braucht aber nach dem Ende der großen Narrativen keine Meistertheorien und keine 57 transzendentalen Diskurse mehr.6 Deshalb laufen wir Gefahr, die ,Kultur' in einen holistischen Rahmen einzugliedern. Ist aber die kulturelle ,Differenz'^ bei Homi Bhabha, im Gegensatz zur kulturellen ,Vielfalf, ein Ausweg aus der holistischen Auffassung der Kultur? Die Kultur ist im Sinne der Vielfalt Gegenstand einer empirischen Erkenntnis und gehört in die vergleichende Ethik, erkennt vorgegebene kulturelle Inhalte an und mündet im Relativismus und Multikulturalismus. Für Bhabha ist die kulturelle ,Differenz' „ein Prozess der Äußerung (enunciation) der Kultur; die Differenz ist günstiger für die Konstruktion der Systeme der kulturellen Identifikation." Der Äußerungsprozess „führt zu einem Riss in der traditionalen kulturalistischen Anforderung eines Modells, einer Tradition, einer Gemeinschaft, einer stabilen Rahmenbedingung, und führt zur notwendigen Verneinung der Gewissheit in der Artikulierung neuer kultureller Forderungen."8 Die Postcolonial Studies wollen dagegen nichts Gemeinsames mit dem 6 Trinh T. Minh-Ha, « No Master Theorien », in The Postcolonial Studies Reader. Eds. Bill As-chcroft, G. Griffiths and H. Tiffin, London, Routledge, 1995, S. 215. In: T. Sakhkhane, S. 18. 7 Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London and New York, 1995, S. 34. 8 Eben da, S. 35. Diskurs des Interkulturalismus haben. Denn es gibt keine mythische Zeit, welche traditionale Narrativefordert, sondern nur eine verschobene Zeit der artikulierten Politik der ,Verhandlung'. Das ist eine Verhandlung, welche nicht durch Austausch zwischen vorgegebenen konträren Lagern an die Oberfläche kommt, sondern sie tritt als ein Prozess hervor, in welchem sich die Sprechpartner erst in der Gegenwart der Äußerung konstituieren.9 Für Homi Bhabha verlangt die Verhandlung von den Partnern die Erzeugung eines ,third space', d.h. eines,dritten Raumes', welcher die Einheit und Eindeutigkeit der Bedeutung und Symbole in Frage stellt. Mit jenem Begriff will Bhabha von der Politik der Konfrontation abweichen und uns ermöglichen, das Selbst als das Andere des eigenen Daseins erscheinen zu lassen. Vielleicht brauchen wir einen solchen dritten Raum, aber ich ziehe es vor, die oben dargestellte Schade-Geschichte aus der Perspektive der Rechtsphiloso-58 phie zu deuten. In Anspielung an Kant werden der Islam wie das Judentum als Inbegriff „statutarischer Gesetze, auf welchen eine Staatsverfassung gegründet war"10, angesehen. Das hat diese Religionen aber nicht daran gehindert, je eine Gemeinschaft vordem gewohnheitsmäßigen und juridischen Hintergrund zu errichten, und zwar aus ihrem Verständnis des Gesetzes, wie es im Altgriechischen erklärt wurde. Das folgt jedoch einer anderen -alten - Bedeutung des Rechts und nicht der modernen Auffassung des positiven Rechts. Mein Vorschlag wäre demnach, dass das Recht juristisch gesprochen von der Moral unabhängig wird. Das ist keine Kritik am Recht, auch die Religion selbst von der Moral unabhängig ist.11 Die Autonomie des Rechts, im kanonischen Recht wie im positiven Recht, ist eine wichtige Stufe auf dem Weg zur Errichtung des Rechtsstaats. Das ist aber ungenügend. Die Autonomie des Rechts führt zur Abkoppelung von Moral und Politik. Die 9 In diesem Sinne rückt PS den ,Stereotyp' am Licht des Fetischismus: „Die Erkenntnis der sexualen Differenz -als Vorbedingung des Kreislaufes der Kette der Abwesenheit und Anwesenheit im Raum des Symbolischen- ist bei der Fixierung eines Objekts das die Differenz maskiert, verleugnet und die originale Anwesenheit wird restauriert." Eben da, S. 74. 10 Kant, I.: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Reclam 1974, S. 165. 11 „ moralische Zusätze.. sie sind schlechterdings nicht zum Judentum, als einem solchem gehörig.". Kant, I.: Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Reclam 1974, S. 165. vom Islam inspirierten Politiker sind inzwischen Hardliner geworden. Sie reduzieren nun den Islam auf das Gottesgesetz, und zerreißen die interkulturellen Fäden, welche die geistlichen Aufgeklärten seit Humes Tagen aufgebaut haben. Während die interkulturellen und moralischen Werte durch ähnliche Erlebnisse wie die der Schade-Geschichte entstanden sind, sorgt die Autonomie des Rechts für eine noch unabhängigere Politik von der Moral. Die Autonomie der rechtlichen islamischen Gewohnheiten versucht, den Schwerpunkt nach innen auf die gemeinschaftliche Identität zu legen, anstatt nach außen auf die supranationalen interkulturellenWerte. Aber eine ,islamische' Welt ist nur eine Abgrenzung gegen die weitere Welt im Allgemeinen, d.h. gegen die Weltgesellschaft. Die Idee, dass wir in einer gemeinsamen Welt leben, ist nicht unvereinbar mit der kulturellen Vielfalt. Der interkulturelle Diskurs gewinnt erst an Profil, wenn er dabei das Gemeinsame-Einheitliche des Menschen bindet und dem Vielfältigen der Kulturen Rechnung trägt. 59 Die Tragweite der transkulturellen Normen wird trotzdem stark eingeschränkt, wenn wir uns auf das Feld der Politik begeben. Die Schade-Geschichte wird nun verdrängt, da die gefühlte Bewunderung für die aufgeklärten Werte der Moderne durch ein starkes politisches und religiöses Selbstbewusstsein ersetzt wird. Fundamentalismus und Extremismus werden zu politischen Waffen gegen die multikulturelle Lebensform. Wertpluralismus und Toleranz Der Extremismus entsteht am Rande der moderaten Parteien. Obwohl Extremismus in seinen Spielarten eine marginale Erscheinung in den großen Demokratien ist, stößt er auf große Resonanz in den armen Bevölkerungsschichten. ,Extremismus' ist aber nicht gleichbedeutend mit ,Terrorismus'. Extremistische Parteien können legale Parteien sein, welche den gesellschaftlich erzielten Konsens über Religion, Sexualität und politisches Regime ablehnen. In der Politikwissenschaft plädieren viele Theoretiker für eine bessere Rücksicht auf die von der politischen Hegemonie marginalisierten sozialen ^emen. Unter diesen Wissenschaftlern hat Chantal Mouffe (geboren 1943, 60 und postmarxistische Politikwissenschaftlerin) in diesem Zusammenhang eine plurale Demokratie vorgeschlagen, um die politischen Werte im Plural zu bewahren. Obwohl die Erlebnisse der Schade- Geschichte somit ins Schwanken geraten, könnten die islamistischen Islamisten von der pluralen Demokratie lernen, dass „der Wunsch, ein letztes Ziel erreichen zu wollen, nur zur Auslöschung des Politischen und zur Zerstörung von Demokratie führen kann. In einem demokratischen Gemeinwesen sind Konflikt und Konfrontationen kein Zeichen mangelnder Perfektion, sondern deuten darauf hin, dass Demokratie am Leben ist und von Pluralismus erfüllt."12 Nach dem 11. September 2001 sind in vielen arabischen Ländern Gesetze verabschiedet worden, um die akute Gefahr des Terrorismus abzuwenden. Die Gefahr lauert da, wo wir radikale, bzw. Plurale Demokratie und Terrorismus verwechseln. Die Linksradikalen teilen das Grundprinzip der Menschenrechte mit den muslimischen Rechtsradikalen. Beide geben sich das Recht, die soziale Ordnung im Namen des Wertpluralismus abzulehnen. Dies könnte allerdings den sozialen Konsens zwischen den moderaten Parteien vor eine neue Herausforderung stellen.13Die Existenz eines Wertpluralismus' im Herzen der Politik selbst ist in den arabischen Ländern durch eine vielfarbige Skala der politischen Richtungen sichtbar. Wo es Konsens gibt, lauert jedoch auch die Gefahr von Einheitsparteien, wie wir sie bspw. aus der Geschichte Osteuropas kennen. Im Gegensatz dazu wird eine wirkliche politische Vielfalt meistens außerhalb der großen Koalitionen sichtbar. „Konsens ist in einer liberal-demokratischen Gesellschaft Ausdruck einer Hegemonie und der Kristallisation von Machtverhältnissen- und wird es immer sein. Die Grenze zwischen dem, was legitim ist, und dem, was es nicht ist, ist eine politische Grenze, und aus diesem Grunde sollte sie herausgefordert werden können."14Wenn wir Terroristen und sogenannte Extremisten 12 Chantal Mouffe : Das Demokratische Paradox. Aus dem Englischen von Oliver Marchard, Turia+Kant, S. 48. 13 Terrorismusgesetze haben die Lage der Menschenrechte in der arabischen Welt verschlechtert, da den sogenannten ,Terroristen' das Recht auf einen fairen Prozess verwehrtist. nicht verwechseln, dürfen wir letztere als gleiche Gesprächspartner behandeln. Mouffe beruft sich auf Wittgensteins Lebensformen, um ihre „plurale Demokratie" zu verteidigen.15Die Stärke der Demokratie wird daran geprüft, inwieweit sie bereit ist, die Extremisten als Gesprächpartner zu akzeptieren, auch wenn sie „Pluralismus" und „interkulturale Werte" anders verstehen als die liberalen Demokratien und die arabischen Aufgeklärten. Das oben erwähnte Bild der Bewunderung für den Okzident hat bei den muslimischen Politiker jetzt zu einer Ernüchterung geführt. Die traumatischen Erlebnisse des Kolonialismus, der Weltkriege und des Imperialismus haben den Blickpunkt vom bewunderten wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zur Perspektive der eigenen Werte des Fortschritts und Entwicklung verlagert. Die aufgeklärten Intellektuellen haben bisher die politische Öffentlichkeit mit den Fragen des Wettbewerbs, im Namen des Pluralismus, in den Bereichen der Wirtschaft, Industrie und derindividu-ellen Freiheiten besetzt. Nun legen die Islamisten den Schwerpunkt darauf, die 61 Spanne des genannten Pluralismus noch mehr zu erweitern, damit die religiösen Werte nicht nur privat, sondern auch öffentlich diskutiert werden können. Damit laufen wir Gefahr, dass jeder erzielte Konsens zu neuen Konflikten führt, da Gesinnungsfragen selbst Teil der öffentlichen Diskussion werden können. Die Erweiterung der Diskussion belegt aber, dass der Dissens nicht weniger wichtig ist als der Konsens. Die tief verwurzelten Prinzipien der Unterschiede des Privaten und des Öffentlichen, des rationalen Arguments und der affektiven Sympathie geraten ins Schwanken, wenn die vernünftige Diskussion strategische Rahmenbedingungen einhalten soll. Wo die Teilnehmer es „bislang gewohnt waren, sich vor allem unter Rückgriff auf gemeinsam geteilte Werte, Normen und Sitten miteinander zu verständigen, können sie nun in immer stärkerem Maße wechselseitig eine strategische Einstellung einnehmen, um ihre gefährdeten Interessen rechtlich gegenüber den Interaktionspartnern durchzusetzen."16 Deshalb gibt es alternative Vorschläge: Jason Springs stützt sichbspw. auf 14 Chantal Mouffe : ibid. S. 60. 15 Ludwig Nagl& Chantal Mouffe : The Legacy of Wittgenstein, Verso, 2001. 16 Axel Honneth, Das Recht der Freiheit, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 162. Chantal Mouffe, um zu belegen, dass agonistic Democracy^'7 ein möglicher Ausweg aus den traditionellen Schwierigkeiten mit den prozeduralen und parlamentarischen Demokratien sei. Sie lehnt es ab, die „Politik von den Effekten des Wertpluralismus abzuschirmen, diesmal durch das Bemühen, ein für allemal die Bedeutung und Hierarchie der Zentralen liberal-demokratischen Werte zu fixieren. Die Demokratietheorie sollte solche Formen des Eskapismus zurückweisen und die Herausforderung annehmen, die die Anerkennung des Wertpluralismus bedeutet."18 Dem Weltpluralismus sollten indes Grenzen gesetzt werden: „Das bedeutet keine Akzeptanz eines totalen Pluralismus. Einige Grenzen müssen der Art von Konfrontation, die in der Öffentlichkeit als legitim angesehen wird, gesetzt werden, Aber statt diese als Erfordernisse der Moral oder Rationalität darzustellen, sollte die politische Natur dieser Grenzen anerkannt werden."19 Der Vorschlag von Chantal Mouffe istnachJason Springs' jedoch ungenügend. 62 Danach bliebe Wertpluralismus als Pluralismusunverständlich, wenn er im Namen der Grenzen „politischer Natur"eingeschränkt wird. In der arabischen Welt wird eine solche Begrenzung nur als Deckmantel benutzt, um die öffentlichen Freiheiten zu begrenzen. Der Vorschlag von Jason Springs ist daher umso wichtiger, als ihm zufolge das Recht auf Menschenrechte das Recht auf Achtung für den Extremisten einschließt. Die Menschenrechte sind der alleinige Schutz gegen Gewalt, die psychisch, bzw. physisch ausgeübt werden kann. Ansonsten bleibt dem Extremisten sein Recht erhalten, seine Ideen zu verteidigen. Springs plädiert für eine liberale Toleranz und für Kriterien gemeinsamer Rationalität, die von den Teilnehmern zur politischen und öffentlichen Diskussion gestellt werden, in einergerechten, stabilen und freienGesellschaft. Erwehrt sich gegen die Idee von „intolerance of intolerance". Und ich gebe ihm dabei Recht,denn mit der Zunahme des Extremismus' nach dem Arabischen Frühling brauchen wir nicht nur gerechte Institutionen, sondern auch den „ganz" Anderen, selbst wenn er als Extremist eingestuft wird, ganz nach dem Prinzip einer gleichen Behandlung des Gleichen. 17 Vgl. Ch. Mouffe, The Democratic Paradox, London: Verso 2000. 18 Chantal Mouffe : The Democratic Paradox, London: Verso 2000; Chantal Mouffe: Das demokratische Paradox. Aus dem Englischen von Oliver Marchart, Turia+Kant, 2013, S.96. 19 Ibid. S. 96. Es ist eine Tatsache, dass der Dialog mit dem Extremisten eine Herausforderung an die Menschenrechte und vor allem an die politische ^eorie darstellt. Hat ein solcher Dialog Aussichten auf Erfolg? Inwieweit wird der „Extremist", entgegen dem tradierten politischen Dogma, „Keine Demokratie für die Feinde der Demokratie", ein ebenbürtiger Gesprächspartner sein? Der Wertpluralismus wird auf dem Prüfstand gestellt, insoweit das Private selbst Gegenstand der öffentlichen politischen Konflikte wird. Das ist ein unhaltbarerTatbestand, der die Spielarten der prozeduralen Demokratie ablehnt, und diepolitische Öffentlichkeit mit einer „Substanz" für politische Konfrontationversieht. Schluss Der vorliegende Beitrag konzentrierte sich zunächst aufdie erste Begegnung der Muslime mit den Christen, die durch verschiedene Arten der „Bewunderung" geprägt war. Der Bezug aufdie Religion in der arabisch-islamischen Kulturdabei ist zentral. Allerdings habe ich den Begriff ,Religion' nicht durch die Geologie, Dogmatik und Religionswissenschaft zu bestimmen versucht, sondern durch die Formen der Rezeption der kulturellen Werte im konkreten Kontext des Austausches. Trotz aller religiösen Differenzen blieb die Bewunderung für den Okzident erhalten. Es gibt viele ^eorien, wie diese Konflikte beizulegen sind (wie bspw. die Annahme eines „dritten Raumes" von Homi Bhabba). Im zweiten Teil habe ich nun versucht zu zeigen, dass die aktuelle Ernüchterung der Islamisten gegenüber den arabischen Aufgeklärten zum Umdenken in der politischen Theorie ermahnt. Da der Extremismus das Hauptmerkmal der politischen Bewegungen am Rande der moderaten prozeduralen Demokratie in der arabischen Welt ist, sollte eine neue philosophische Grundlage für die Diskussion mit Extremisten geschaffen werden. Die Vorstellungen von „Wertpluralismus" und „Toleranz" gehen damit Hand in Hand. Demokratie soll dabei auch nicht auf Prozeduren reduziert werden, sondern die Chance erhalten, alle Tabus, Gott, Sex und Selbstregierung, in der öffentlichen Sphäre zur Diskussion zu stellen. 63 i Der Artikel ist eine Überarbeitete Fassung des Vortrags, den ich im Rahmen einer Rings-vorleung beim Prof. Dr. G. Stenger (Institut für Philosophie, Uni. Wien) am 10. 1pril 2013 gehalten habe. Ich bedanke mich bei Prof. Stenger für seine freundliche Einladung. Ich danke herzlich Frau Dr. Anika Bethan für ihren Beistand bei der Überarbeitung. 64