MUZIKOLOŠKI ZBORNIK — MUSICOLOGICAL ANNUAL XI, LJUBLJANA 1975 UDK 784.3.087.61 Schubert ZUR GENESIS DER GATTUNG LIED WIE SIE FRANZ SCHUBERT DEFINIERT HAT Arnold Feil (Tübingen) Der 19. Oktober 1814 sei der Geburtstag des »Deutschen Liedes«: an diesem Tage habe Franz Schubert Gvetchen am Spinnrade (nach Goethe; D 118; als op. 2 veröffentlicht im Frühjahr 1821) komponiert, »das erste selbständige, bedeutende Lied, das er schrieb.«1 Solches hört man oft, liest man immer wieder — es sagt und schreibt sich leicht. Abgesehen davon, daß gar nicht ausgemacht ist, ob Schubert dieses Lied gerade an diesem Tage komponiert hat,2 läßt sich die Behauptung dieses Geburtstages so nicht im Ernst aufrecht erhalten — aber etwas Wahres ist doch daran. Alle Menschen singen, natürlich, und also haben auch unsere Vorfahren ihre Wiegenlieder, Kinderlieder, Jahreszeitenlieder, Arbeitslieder, Tanzlieder und, nicht zu vergessen, ihre Kirchenlieder gesungen und natürlich m der Muttersprache eh und je. Die Weisen lebten im Volk in mündlicher Überlieferung. Das heißt, man lernte sie nicht aus Liederbüchern, nicht nach Noten, sondern von der Mutter, vom Vater, im geselligen Kreise, bei der Arbeit, auf der Straße, auch in der Schule, jedenfalls durch Nachsingen und Mitsingen. Denn diese Weisen waren ja weder wie mehrstimmige, polyphone Musik komponiert und damit notwendig aufgeschrieben, noch wurden sie wie Komponiertes »aufgeführt«, sie gingen vielmehr von Mund zu Mund. Dementsprechend waren die Weisen einfach, jedoch vor allem in dem Sinne, daß sie stets einstimmig waren, selbst dann, wenn man sie zweistimmig sang, denn eine solche zweite Stimme stammte niemals von musikalischer Komposition, ahmte diese auch nicht nach, nein, jeder »konnte« sie einfach; um echte Zweistimmigkeit (im Sinne der Polyphonie) handelte es sich nicht, sondern um einfache Parallelführung derselben Stimme meist in Unterterzen oder Untersexten. i So schrieb Eusebius Mandyczewsky, der Herausgeber der Lieder-Serie in der alten Gesamtausgabe der Werke Schuberts, am 25. 8. 1894 an seinen Freund Johannes Brahms. 2 Das Manuskript von Schuberts Hand trägt zwar dieses Datum, es ist aber eine Abschrift, genauer: eine Reinschrift und nicht die Kompositionsniederschrift. 40 Die Musik, die solcher Art lebte und die wir heute als Volksmusik bezeichnen, war in der Tat die Musik des Volks, nämlich aller Menschen, die zu einem Volk gehören und diese verbindend wie der Dialekt der Sprache. Die Kunstmusik hingegen, das heißt die schriftlich ausgearbeitete und zur »Aufführung« bestimmte mehrstimmig-polyphone, die komponierte Musik, war nur den Wenigen zugänglich, die von Standes oder von Berufs wegen eine besondere musikalische Ausbildung erfahren hatten. Dem entsprechend gehörte — die Sache einmal statistisch betrachtet — die große Menge aller Musik zum Bereich »mündlicher Musik« und nur ein sehr kleiner Teil zu dem der »komponierten Musik«. (Was uns heute an Musik der Vergangenheit überliefert ist, gehört fast ausschließlich jenem, am Gesamt der Musik gemessen schmalen Bereich der komponierten Musik an.) Das Verhältnis der beiden Bereiche der Musik nun, auch ihr »Mengenverhältnis«, erfuhr erhebliche Störung und tiefgreifende Veränderung durch die im 18. Jahrhundert einsetzende grundlegende Wandlung unserer Gesellschaft und unserer Welt im heraufkommenden Industriezeitalter. Das »Volk« reagierte sofort und zuerst an seiner gleichsam empfindlichsten Stelle, dort nämlich, wo es sich in besonderer Weise auszudrücken, wo es am ehesten seiner Empfindung Ausdruck zu geben gewohnt war, im Bereich »seiner Musik«. Wir wissen von dieser Reaktion nur indirekt aber zweifelsfrei, und zwar aus den in jener Zeit anhebenden Klagen, daß das Volkslied untergehe, und aus dem damals einsetzenden Eifer zu sammeln, was verloren zu gehen begann — also vor allem von und durch Johann Gottfried Herder (1744—1803) — , nicht zuletzt aber aus seinerzeit neuen und eigenartigen Versuchen und Bemühungen von Musikern und Dichtern, die die Musikgeschichtsschreibung in den »Berliner Liederschulen« zusammenzufassen pflegt. Wenn deren Wortführer Karl Wilhelm Ramler (1725—1798), Christian Gottfried Krause (1719—1770), Johann Georg Sulzer (1720—1779) und, etwas später, die bedeutenden Musiker Johann Abraham Peter Schulz (1747—1800) und Johann Friedrich Reichardt (1752—1814) in Aufsätzen und in den Vorreden zu ihren Liedersammlungen mit dem größten Nachdruck immer wiederholten, es käme, kurz gesagt, nun darauf an, »Lieder im Volkston« zu schreiben, so deutet dies auf einen Wandel. »Wir Deutsche studieren jetzt die Musik überall; doch in manchen großen Städten will man nichts als Opern-Arien hören. In diesen Arien herrscht aber nicht der Gesang, der sich in ein leichtes Scherzlied schickt, das von jedem Munde ohne Mühe angestimmt und auch ohne Flügel und ohne Begleitung anderer Instrumente gesungen werden könnte. Wenn unsere Componisten singend ihre Lieder com-ponieren, ohne das Ciavier dabei zu gebrauchen und ohne daran zu denken, daß noch ein Baß hinzukommen soll: so wird der Geschmack am Singen unter unserer Nation bald allgemeiner werden und überall Lust und gesellige Fröhlichkeit einführen. Schon jetzt sieht man, daß unsere Landsleute nicht mehr trinken, um sich zu berauschen, und nicht mehr unmäßig essen. Wir fangen in unseren Hauptstädten an, artige Gesellschaften zu halten. Wir le- 41 ben gesellig. Und was ist bei diesen Gelegenheiten natürlicher, als daß man singt? Man will aber keine ernsthaften Lieder singen, denn man ist zusammengekommen, seinen Ernst zu unterbrechen. — Die Lieder sollen artig, fein, naiv sein, nicht so poetisch, daß sie die schöne Sängerin nicht verstehen kann, auch nicht so leicht und fließend, daß sie kein witziger Kopf lesen mag.«3 In diesem Vorbericht zu der ersten Sammlung (Oden mit Melodien, Berlin 1753), die weite Verbreitung und großen Anklang gefunden hat, beschreiben die Herausgeber Ramler und Krause knapp ein neues städtisches Bürgertum, das auf neue Art gesellig lebt und Gesellschaft hält, und sie berichten, daß dieses Bürgertum zwar scheinbar nichts als Opernarien (gemeint sind die Opern-Schlager der jeweiligen Saison) hören will, in Wirklichkeit aber einer Musik bedarf, die es offenbar nicht oder nicht mehr hat, daß es Lieder braucht, einfach zu singen für jeden und doch nicht simpel. Wie diese Lieder beschaffen sein müssen, ist an anderer Stelle deutlicher gesagt, ja fast programmatisch formuliert, nämlich von Reichardt in der 11 Seiten langen Vorrede zu seinen (einstimmigen!) Frohen Liedern für Deutsche Männer (Berlin 1781), einem »Versuch in Liedern im Volkston, in frohen Gesellschaften ohne Begleitung zu singen«.4 »Liedermelodien, in die jeder, der nur Ohren und Kehle hat, gleich einstimmen soll, müssen für sich ohn' alle Begleitung bestehen können, müssen in der einfachsten Folge der Töne, in der bestimmtesten Bewegung, in der genauesten Übereinstimmung der Einschnitte und Abschnitte u. s. w. gerade die Weise — wie's Herder treffender nennt, als man sonst nur die Melodie des Liedes benannte, — die Weise des Liedes so treffen, daß man die Melodie, weiß man sie einmal, nicht ohne die Worte, die Worte nicht ohne die Melodie mehr denken kann; daß die Melodie für die Worte alles, nichts für sich allein sein will. Eine solche Melodie wird allemal — um es dem Künstler mit einem Worte zu sagen, den wahren Charakter des Einklangs (Unisono) haben, also keiner zusammenklingenden Harmonie bedürfen oder auch nur Zulaß gestatten. So sind alle die Lieder der Zeiten beschaffen, da unser deutsches Volk noch reich an Gesang war; da zusammenklingende Harmonie noch nicht eingeführt war, und lange nach ihrer Einführung noch auf die Kirche, ihren Ursprungsort, eingeschränkt blieb. Seitdem diese nun aber unser Ohr so verspannte, daß sie uns bei jeder Gelegenheit notwendig ward, seitdem gleiten unsere Melodien so oberflächlich hinweg, sind nur Gewand der Harmonie. Und seitdem wir für diese gar noch ein System haben, das sich so von Anfang bis zu Ende fein schicklich mit den Lehren der ökonomischen Baukunst vergleichen läßt, fragt der Theoretiker mit Recht nach dem Fundament jedes melodischen Schrittes ... 3 Zitiert nach Max Friedlaender: Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, Stuttgart und Berlin 1902 (Nachdruck: Hildesheim 1962), I, 1, S. 116. 4 Zitiert nach Friedlaender: a. a. O. I, 1, S. 196 f. 42 Schöne Zeiten, da das all anders war! jeder Glückliche, Unbefangene sich nicht hinstellte zu sehen oder gerade zu hören, woher und wohin? sondern es fühlte und sich seines frohen Gefühls erfreute. Nun stell sich einer hin und wart* aufs Gefühl, das ihm durch meisten unserer Gesänge werden soll! Man wird mir freilich hundert alte Volkslieder nennen können, deren Melodien jenen Charakter des Einklangs nicht haben, die vielmehr sehr leicht die zweite Stimme zulassen, wohl gar dazu einladen. Das sind aber nicht wahre ursprüngliche Volksmelodien, sondern Jägerhornstücke oder Landtänze, denen die Worte unterlegt werden. Und wenn hier der Künstler mit freiem Sinn gewahr wird, daß auch bei diesen zweistimmigen Stücken überall nie andere Intervalle vorkommen als abwechselnd Terzen, Quinten und Oktaven in ihrer natürlichen Gestalt, auch alle natürlich gefundene und noch zu findende blasende Instrumente keine andre Intervalle von selbst rein geben, und sich dann seines erlernten Systems erinnert, den ersten freudigen auf Schluß vollen Blick bei Wahrnehmung jener mitklingenden Intervalle im tiefen Grundton noch einmal genießt; und dann ihn der Gedanke ans glückliche Durcharbeiten durch all die verworrenen, willkürlich hinzugefügten Verhältnisse noch einmal durchschauert — wie dann hier für den Künstler mit freiem Sinn alles Aufschluß sein. Noch ein Wort von Volksliedern. Sie sind wahrlich das, worauf der wahre Künstler, der die Irrwege seiner Kunst zu ahnden anfängt, wie der Seemann auf den Polarstern, achtet, und woher er am meisten für seinen Gewinn beobachtet. Nur solche Melodien, wie das Schweizerlied »Es hätt' e' Buur e' Töchterli«, nur solche sind wahre ursprüngliche Volksmelodien, und die regen und rühren auch gleich die ganze fühlende Welt...« Genauer lassen sich die Eigenschaften echter Volksmusik und ihr Gegensatz zur Kunstmusik, die im »System der zusammenklingenden Harmonie«, das ist: im System des mehrstimmig-polyphonen Satzes »verspannt« ist, kaum beschreiben, präziser die Eigenschaften mündlich überlieferter Musik kaum fassen — freilich in einer Art Anweisung für Komponisten, die das Komponieren an Kunstmusik gelernt haben und ausüben, also im anderen, um nicht zu sagen: entgegengesetzten Bereich der Musik. Der Widerspruch ist eklatant. Wie soll ein Komponist, ein Künstler, »mehr volksmäßig als kunstmäßig singen«, »auf alle Weise den Schein des Bekannten darein bringen«, ohne ins Triviale zu verfallen? Wie »erhält das Lied den Schein, von welchem hier die Rede ist, den Schein des Ungesuchten, des Kunstlosen, des Bekannten, mit einem Wort, den Volks- 5 Die zitierten Stellen entstammen dem Vorbericht, den Johann Abraham Peter Schulz der zweiten Auflage seiner berühmten Sammlung Lieder im Volkston, Berlin November 1784, vorausgeschickt hat. (Zitiert nach Friedlaender: a. a. O., I, 1, S. 256 f.) 43 ton«, wenn doch, der es schreibt, am System der Kunst geschult ist?5 Man kann nicht suchen, was ungesucht wirken muß; man kann nicht komponieren und dabei von der Komposition, das heißt vom musikalischen Satz, absehen, der geschichtlich geworden zur Verfügung steht; Einfachheit und der Schein des Bekannten sind als musikalische Komposition keineswegs einfacher zu realisieren als das Komplizierte und Neue, und wir wissen, daß nur in wenigen, man möchte sagen: glücklichen Fällen etwas wirklich Gutes und zugleich Einfaches, die Kunst kunstvoll verbergend, gelang, daß fast alles, was sich einfach gibt, an Simplizität krankt oder ins Triviale abgleitet. Lied und Liedkomposition befanden sich in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts also in dieser Situation: Es bestand ein neuer und großer Bedarf an einer Musik, die der rasch wachsenden Gesellschaft in den Großstädten Ersatz für das mit der mündlichen musikalischen Überlieferung Verlorengehende sein konnte. Dieser Bedarf wurde gedeckt durch eine geradezu unheimlich wachsende Produktion. Von den fast 900 Liedersammlungen des 18. Jahrhunderts sind 37 bis zum Jahre 1750, rund 200 bis 1775 erscheinen, der Rest, über 600 Sammlungen, in den verbleibenden Jahren. Die Produkte indessen, die komponierten Lieder, stimmten mit dem allgemeinen Stand der Musik nicht überein, weil mit ihnen einerseits etwas ursprünglich Echtes nur nachgeahmt war und also nicht sein konnte, was es sein sollte: echt; weil in ihnen andererseits die Komposition hinter dem geschichtlichen Stand des Komponierens zurückblieb.6 Ging die Tendenz auch bewußt auf das einfache, einstimmige, das heißt vor allem auf das unbegleitete Lied — durchgesetzt hat sich doch das Lied mit einer einfachen Begleitung des Klaviers oder der Gitarre, das heißt »die zusammenklingende Harmonie«: das »System« war nicht mehr zu unterdrücken. Daß damit jenes durch die Verhältnisse gestellte neue Problem der Musik nicht gelöst war, liegt auf der Hand. Es nimmt nicht wunder, daß die gesamte riesige Produktion jener Jahrzehnte bis auf einzelnes, etwa das wunderbare Der Mond ist aufgegangen von Johann Abraham Peter Schulz nach Matthias Claudius' Gedicht, vergessen ist, es nimmt wohl auch nicht wunder, daß gerade in dieser musikalischen Situation die Anfänge der Spaltung der komponierten Musik in leichte und ernste — in U- und E-Musik, wie wir sagen, — zu suchen sind.7 Aber in der geschilderten höchst eigenartigen Situation jener Zeit war zugleich die Möglichkeit angelegt, etwas zu tun, das zwar von der durch den Bedarf gestellten Aufgabe ablenkte, aber die Musik als Kunst weiterführen konnte, nämlich: jenes neue einfach begleitete Lied ganz der Kunstmusik zu gewinnen, der mit der neuen Tendenz eingerissenen »Tyrannei 6 Man bedenke: Reiehardts Sammlung Frohe Lieder für deutsche Männer, jener »Versuch in Liedern im Volkston, in frohen Gesellschaften ohne Begleitung zu singen«, deren Vorrede ich oben zitiert und besprochen habe, stammt aus demselben Jahre 1781, in dem Haydn seine Streichquartette op. 33 (»auf eine ganz neue Besondre art»!) veröffentlicht, in dem Mozart von Salzburg nach Wien übersiedelt und an seiner Entführung aus dem Serail arbeitet. 7 Vgl. A. Feil: Volksmusik und Trivialmusik. Bemerkungen eines Historikers zu ihrer Trennung, in: Die Musikforschung 26, 1973, S. 159—166. 44 der Volkstümlichkeit« in der Komposition ein Ende zu bereiten, und zwar durch konsequente Anwendung der Technik des mehrstimmigen musikalischen Satzes mit allen ihren Errungenschaften. Die Kunstmusik kannte ja schließlich die Gattung Lied, und nicht nur polyphon, sondern sehr wohl auch einstimmig mit einfacher Begleitung (doch nicht im »Volkston«!), aber diese Gattung stand immer am Rande, damit allerdings auch an der Grenze zum musikalisch Umgangsmäßigen. Es war Franz Schubert, der diese Möglichkeit erkannt und genutzt hat, der Komponist, der selbst aus dem neuen städtischen Bürgertum hervorgewachsen ist, der die Kraft besessen hat zu vereinen, was unvereinbar schien, nämlich abendländische Polyphonie und Lied, der das Neue in den Mittelpunkt musikalischen Denkens und Schaffens zu rücken vermochte, der Lyrik als musikalische Struktur8 verwirklicht hat. Schubert hat der europäischen Musik einen neuen Bereich gewonnen — und nun ist sicherlich zu verstehen, was die zu Beginn zitierte Behauptung meint, er habe das deutsche Lied geschaffen, obschon es deutsche Lieder natürlich immer gegeben hat. Schubert ist, als einziger der Wiener Klassiker, in Wien geboren (am 31. Januar 1797). Erst wenige Jahre zuvor waren seine Eltern vom Lande in die Stadt gezogen, wo sie sich kennenlernten und 1785 heirateten. Die Großeltern waren Bauern in Neudorf bei Mährisch-Schönberg und Handwerker in Zuckmantel im damals österreichischen Schlesien gewesen. Vater Franz Schubert sen. war Schullehrer in der Wiener Vorstadt Liech-tental und seit 1786 auf dem Himmelpfortgrund. In der Lehrersfamilie wurde, trotz äußerst beengter Lebens- und Wohnverhältnisse viel gesungen und musiziert, die Kinder erhielten von früher Jugend an Unterricht auf mehreren Instrumenten, aber davon, daß eines Berufsmusiker werden sollte, war keine Rede. Schubert war zunächst — man weiß es und vergißt es doch immer wieder — weder nach Ausbildung noch von Beruf Musiker, er war Volksschullehrer. Selbst nachdem er 1818 seinen Lehrerberuf endgültig aufgegeben hatte, war er nach der Art seiner Tätigkeit als Musiker und Komponist keinem seiner Berufskollegen vergleichbar. »Er hatte keinen Freund, der als Meister über ihm stand, der ihn bei solchen Arbeiten [bei größeren Werken] ratend, abmahnend, verbessernd hätte leiten können. Salieri gab ihm früher Unterricht; er war aber schon zu alt und gehörte einer ganz anderen Schule und Kunstperiode an. Salieri konnte nicht der Meister eines Jünglings sein, der von Beethovens Genie begeistert und durchdrungen war.« Wenn Leopold von Sonnleithner, ein naher Freund, Schuberts musikalische Ausbildung so beschreibt,9 dann ist sicherlich unterschätzt, was Antonio Salieri (1750—1825) dem jungen Komponisten beibringen konnte und beigebracht hat, nämlich die handwerklichen Fertigkeiten des Komponierens und besonders die italienische Gesangskomposition.10 Nur war diese nicht eben Schuberts Hauptinteresse, 8 So die Formulierung bei Thr. G. Georgiades: Schubert. Musik und Lyrik, Göttingen 1967, S. 17. 9 Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, gesammelt und herausgegeben von Otto Erich Deutsch, Leipzig 21966, S. 94. 10 Freilich berichtet auch Schuberts Freund, der Dichter Johann Mayrhofer (Erinnerungen S. 18): »Ohne tiefere Kenntnis des Satzes und Generalbasses, ist 45 und somit ist der Hinweis auf Beethoven sicherlich von größerem Gewicht. Aber auch noch etwas anderes unterschied Schubert von anderen Musikern: er komponierte gleichsam nicht für andere, jedenfalls zunächst nicht und später in einem anderen Sinne als seine Kollegen, weil die Gattung, auf der der Schwerpunkt seines Interesses lag, das Lied, kein Gegenstand öffentlicher Musikpflege war, weil es für Lieder keine Kompositionsaufträge gab, weil man in öffentlichen Konzerten zwar Werke der verschiedensten Gattugen aufführte und mischte, gewöhnlich aber keine Lieder vortrug. Im privaten Kreise nur sang man sie, vielleicht auch in Konzerten mehr privaten Charakters, in sogenannten Abendunterhal-tugen; bei großen Konzerten hingegen wurden sofort Bedenken laut. Ein Rezensent der musikalischen Akademie im Großen Universitätssaale am 6. Mai 1827 berichtet: »Nr. 3. Im Freien, Gedicht von Seidl, komponiert und am Klavier begleitet von Hrn. Schubert, gesungen von Hrn. Tietze. So schön die Komposition und der Vortrag waren, muß Ref. doch bemerken, daß das Lokal seiner Meinung nach für ein Lied, bei dem auch die feinsten Schattierungen nicht verloren gehen dürfen, zu groß sei. Im Zimmer müßte es sich viel besser ausnehmen.«11 Schuberts Freund Spaun hat dies in seinen Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert (1858)12 so ausgedrückt: »Seine Lieder passen auch nicht für den Konzertsaal, für die Produktionen. Der Zuhörer muß auch Sinn für das Gedicht haben und mit ihm vereint das schöne Lied genießen, mit einem Wort: das Publikum muß ein ganz anderes sein als dasjenige, das die Theater und Konzertsäle füllt.« Schuberts Publikum war nicht das des großen Konzerts und der Gattungen öffentlicher Musikpflege, es war ein Kreis von Freunden und die Schicht des Bürgertums, der diese entstammten. Diese Gesellschaft war musikalisch nicht mehr »Volk« (im oben besprochenen Sinne) und keiner mündlichen musikalischen Tradition mehr mächtig oder sicher, sie gehörte auch nicht zum höheren Adel und zum Hof, wo bis zu jener Zeitenwende nahezu ausschließlich die Kunst und Musik gepflegt worden waren, sie hatte sich einen eigenen Bereich geschaffen, in dem sie musikalisch »Gesellschaft hielt«, in dem man sang und vor allem Gesellschaftsspiele und Theater spielte, in dem man Hausmusik machte, für den man schrieb und komponierte. Wenn Schubert dem Liede als Gattung auch den Rang jener anderen Gattungen der Musik erobert hat, und wenn auch viele seiner Lieder den Weg in den Konzertsaal gefunden haben, der Ausgangspunkt war im Hause — freilich nicht in einer Hausmusik, wie sie Reichardt und Zelter vorgeschwebt haben mag. Die musikalische Gesellschaft, in der Schubert lebte, für die er komponierte, hatte sich eben er eigentlich Naturalist geblieben. Wenige Monate vor seinem Tode hat er bei Sechter Unterricht zu nehmen angefangen; daher scheint der berühmte Salieri jene strenge Schule mit ihm nicht durchgemacht zu haben, wenn er auch Schuberts frühere Versuche durchsah, lobte oder verbesserte.« ii Schubert. Die Dokumente seines Lebens, gesammelt und erläutert von Otto Erich Deutsch (Neue Schubert-Ausgabe, Serie VIII, Band 5), Kassel etc. 1964, S. 430. 12 Erinnerungen, S. 163. 46 angeschickt, das Erbe der Kunst vom höheren Adel zu übernehmen, und also war sie alles andere denn anspruchslos, hier geschah vielmehr in der Tat das, was man später »Pflege der Künste« nennen sollte. Es waren keine Bohémiens, die sich zu den Leseabenden, Musikabenden, zu Schubertladen — wie sie's nannten — , im Theater und oft danach noch im Kaffeehaus trafen, es waren Künstler, teils von Beruf, teils als Dilettanten im höchsten Sinne, und Schubert, der Maler Moritz von Schwind (1804—1871) und der Dichter Franz Grillparzer (1791—1872) waren darunter keineswegs allein die schöpferisch Tätigen. Sie arbeiteten nahezu gemeinsam, so wie ihnen die Vorbilder gemeinsam waren, die Heroen ihrer Bewunderung: in der Musik allen voran Beethoven. Die Rede am Grabe Beethovens, die Franz Grillparzer, Schuberts Freund, verlaßt hatte, schließt mit den Worten13: »Und wenn euch je im Leben, wie der kommende Sturm, die Gewalt seiner Schöpfungen übermannt, wenn euer Entzücken dahinströmt in der Mitte eines jetzt noch ungeborenen Geschlechts, so erinnert euch dieser Stunde und denkt: wir waren dabei, als sie ihn begruben, und als er starb, haben wir geweint!« Schubert war unter den Fackelträgern, die den Sarg zu beiden Seiten begleiteten. Wenn sich auch nicht mehr feststellen läßt, ob Schubert mit Beethoven jemals ein Wort gesprochen hat — daß »der Jüngling, der von Beethovens Genie begeistert und durchdrungen war«, die Arbeit seines Vorbildes lernend beobachtet, daß er Glück und Gelegenheit dabei zu sein, bewußt genutzt hat, ist sicher. 1822 hat Schubert sein opus 10 (8 Variationen über ein französischen Lied für Klavier zu vier Händen e-moll aus dem Jahre 1818, D 624) Beethoven gewidmet. Wir dürfen wohl annehmen, daß er zuvor mit dem Meister in Verbindung getreten war, bekannt ist darüber aber nichts mehr. Am 31. März 1824 schreibt Schubert seinem Freunde Leopold Kupelwieser einen langen, im ersten Teil von großer Niedergeschlagenheit zeugenden Brief und berichtet darin:14 »In Liedern habe ich wenig Neues gemacht, dagegen versuchte mich in mehreren Instrumental-Sachen, denn ich componierte 2 Quartetten für Violinen, Viola und Violoncelle [a-moll, D 804; d-moll, D 810] und ein Octett [F-dur, D 803], und will noch ein Quartetto schreiben [nicht ausgeführt], überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen. Das Neueste in Wien ist, daß Beethoven [am 7. Mai 1824] ein Concert gibt, in welchem er seine neue Sinfonie [Nr. 9, d-moll, op. 125], 3 Stücke aus der neuen Messe [Kyrie, Credo und Agnus Dei aus der Missa solemnis, op. 123], und eine neue Ouvertüre [C-dur, Die Weihe des Hauses, op. 124] producieren läßt. Wenn Gott will, so bin auch ich gesonnen, künftiges Jahr ein ähnliches Concert zu geben.« Wohl erst kurz vor der Aufführung der 9. Sinfonie in dem erwähnten Konzert hat Beethoven für den zweiten und den vierten Satz die Partien 13 zitiert nach: Beethoven. Sein Leben und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und Texten, hrsg. v. H. C. Robbins Landon, Wien 1970, S. 395. 14 Dokumente, S. 235. 47 der Posaunen verändert. Die neuen Stimmen von Beethovens Handschrift fanden sich später in Schuberts Besitz; er hatte sie offenbar zum Geschenk erhalten oder als Andenken an sich genommen. Wichtiger aber als solche persönlichen Zeugnisse ist dies: Um sich den Weg zu bahnen »zur großen Sinfonie« (womit kaum eine bestimmte Sinfonie gemeint sein dürfte, sondern die Gattung), schreibt Schubert Streichquartette und ein größeres Kammermusikwerk für Streicher und Bläser, nimmt er sich Beethoven zum Vorbild, doch wählt er als Modell für sein Oktett keines von dessen späten Werken, deren Entstehung und Veröffentlichung er miterlebt, sondern das Septett op. 20 aus den Jahren 1799/1800. Sicherlich hat ihn dazu auch die Tatsache bewogen, daß Beethoven mit dem Septett einen neuen Typ innerhalb der Gattung Kammermusik für Streicher und Bläser geschaffen und damit überaus großen Erfolg gehabt hat, vor allem aber dies dürfte ihn bestimmt haben: die Einsichtigkeit des musikalischen Verfahrens. Hier nämlich, am frühen Beispiel, scheint Beethovens Technik des Satzbaus noch ganz durchschaubar zu sein; hier wohl glaubte Schubert im Verfahren des Nachkomponierens am ehesten lernen zu können, was ihm satztechnisch wichtig gewesen ist. Wie intensiv Schubert bei dieser Arbeit war, schildert Moritz von Schwind in einem Brief an Franz von Schober, einen der anderen Freunde Schuberts, vom 6. März 1824:15 »Schubert ist unmenschlich fleißig. Ein neues Quartett wird Sonntags bei Schuphanzig aufgeführt, der ganz begeistert ist und besonders fleißig einstudiert haben soll. Jetzt schreibt er schon lang an einem Oktett mit dem größten Eifer. Wenn man unter Tags zu ihm kommt, sagt er grüß dich Gott, wie geht's?, 'gut', und schreibt weiter, worauf man sich entfernt... Ich bin fast alle Abend bei ihm.« Die Aufgabe, bei der wir Schubert hier gleichsam unter den Augen Beethovens beobachten, ist, die Erfahrung und die Technik der polyphonen abendländischen Komposition einzubringen und für sein Schaffen nutzbar zu machen. Das Lied der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte, da der konsequente Versuch mit reiner unbegleiteter Einstimmigkeit aus den erörterten Gründen fehlschlagen mußte,16 eine Art von Homophonie ausgebildet, in der die Melodie dominiert und jegliche Begleitung, völlig untergeordnet, nur stützt oder füllt. Der mehrstimmig-musikalische Satz war in diesen Liedern gleichsam reduziert auf eine Oberstimme, weil für die anderen Stimmen die Selbständigkeit aufgegeben war; die Folge der Harmonien in Stützakkorden ergab, selbst wenn sie für den Instrumentalisten in Begleitfigurationen aufgelöst erschien, keine mehrstimmig-musikalischen Satz im engeren Sinne mehr. Wo nun nur das 15 Dokumente, S. 229. Vgl. auch das Vorwort, S. IX, zu Serie VI, Band 1 der Neuen Schubert-Ausgabe: Oktette und Nonett, hrsg. v. A. Feil, Kassel 1969. 16 Reichardts schon genannte Sammlung einstimmiger Lieder von 1781 sollte die einzige ihrer Art bleiben, und nur das Vorwort, bezeichnender Weise, hat Reichardt in seinem Musikalischen Magazin in erweiterter Form später noch einmal abgedruckt. 48 übrig geblieben ist, was sich »der einsichtige Tonsetzer oder auch schon das geübte Ohr beim einstimmigen Singen hinzu denkt«, wo Mehrstimmigkeit zur simplen Homophonie geschrumpft ist, kann man von musikalischem Satz, von dem also, was die abendländische Kunst als Musik hervorgebracht hat, kaum mehr sprechen. Die Aufgabe lautete deshalb: Musikalischer Satz in der Tradition der Polyphonie als Lied, also ein Satz für die Verbindung von liedhafter Singstimme mit einem Instrumentalpart. Freilich hatten auch Mozart und Beethoven dieses Problem gekannt, aber sie hatten mit nur wenigen Liedern wenig zu seiner Lösung beigetragen und die Tradition der Gattung aus dem 18, Jahrhundert nicht wirksam verändern können. Sicherlich mit Recht klagt Reichardt 1796 (in der Vorrede zu seiner Sammlung Lieder geselliger Freude), daß er von Haydn und Mozart keine Kompositionen aufzunehmen fand; es bleibe ihm unbegreiflich, »wie diese vortrefflichen Männer einerseits unsere besten Dichter so weneig benutzt, andererseits das Lied so gar nicht nach seiner eigentlichen Natur bearbeitet haben.«17 Sowohl in Haydns und Mozarts als in Beethovens Werk steht die Gattung am Rande, obschon Beethovens Werkkatalog immerhin rund 70 Lieder verzeichnet. Die Tatsache aber, daß kaum eine Hand voll davon bekannt ist, spricht für sich — und Beethoven selbst hat keins Hehl daraus gemacht: »Ich schreibe nur nicht gern Lieder!«18 Liedkomposition also kann Schubert bei Mozart und Beethoven kaum bewundert haben, hier gab es für ihn nichts zu lernen. Er mußte sich zur Erprobung dessen, was er an instrumentaler Technik in vielen Jahren den Klassikern abgeschaut und sich angeeignet hatte, er mußte für Versuche einer neuen Kompositionstechnik im besonderen Hinblick auf das Lied ohne Vorbilder seiner Heroen bleiben, oder aber sich andere Muster suchen, Muster anhand deren er arbeiten, die er »bearbeiten«, die er verwandeln konnte. Solche fand und bewunderte der junge Schubert in den Balladen des Stuttgarter Hof kapellmeisters Johann Rudolf Zumsteeg (1760— 1802), die bald nach 1800 weitere Verbreitung gefunden hatten, obwohl — oder gerade weil sie dem herrschenden Ideal des Strophenliedes, des Einfachen und des Volkstümlichen widersprachen.19 Es waren Balladen, mit Texten reich an Handlung, von Zumsteeg durchkomponiert. Und dies gerade fesselte den jungen Komponisten. Seine Gesänge — man zögert, den alten Begriff Lied für seine frühen Arbeiten zu gebrauchen — zeigen den weiten Bogen seiner Bemühungen um Szene und Ballade, daß heißt weniger tun Melodien, die »jeder, der Stimme hat, leicht nachsingen kann,« die »von Mund zu Mund« wandern können. Ihn interessierte vielmehr »die Teilnahme am einzelnen« des Textes, diese suchte er zu fordern, zu erre- 17 Zitiert nach Friedlaender: a. a. O. I, 1, S. 203. is Diese Äußerung überliefert Friedrich Roehlitz, der Beethoven im Sommer 1822 in Wien besucht hat. iCJ Schuberts Lieder von 1810 bis 1813 (und die Vorbilder Zumsteegs) sind jetzt zusammengefaßt im Band 6 der Lieder-Serie der Neuen Schubert-Ausgabe: Franz Schubert, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie IV, Lieder, Band 6, hrsg. v. Walther Dürr, Kassel etc. (Bärenreiter) 1969. Das Folgende im Anschluß an Dürrs Vorwort zu diesem Band. 4 Muzikološki zbornik 49 gen, entgegen der herrschenden Ästhetik von der Kunst des Liedes, deren bedeutendster Anhänger, von Schubert aufs Höchste verehrt, Goethe gewesen ist. Liest man das folgende, dann wundert man sich nicht mehr, daß Goethe etwa an Schuberts Erlkönig keinen Gefallen gefunden hat. In seinen Tag- und Jahresheften vermerkt Goethe im Februar 1801: »Brauchbar und angenehm in manchen Rollen war Ehlers als Schauspieler und Sänger, besonders in dieser letzten Eigenschaft geselliger Unterhaltung höchst willkommen, indem er Balladen und andere Lieder der Art zur Guitarre mit genauester Präzision der Textworte ganz unvergleichlich vortrug. Er war unermüdet im Studieren des eigentlichsten Ausdrucks, der darin besteht, daß der Sänger nach einer Melodie die verschiedenste Bedeutung der einzelnen Strophen hervorzuheben, und so die Pflicht des Lyrikers und Epikers, zugleich zu erfüllen weiß. Hiervon durchdrungen, ließ er sich's gern gefallen, wenn ich ihm zumutete, mehrere Abendstunden, ja bis tief in die Nacht hinein dasselbe Lied mit allen Schattierungen aufs pünktlichste zu wiederholen; denn bei der gelungenen Praxis überzeugte er sich, wie verwerflich alles sogenannte Durch-Komponieren der Lieder sei, wodurch der allgemeine lyrische Charakter ganz aufgehoben und eine falsche Teilnahme am einzelnen gefordert und erregt wird.« Schubert komponierte zunächst in enger Anlehnung an seine durchkomponierten Vorbilder von Zumsteeg, sei es in unmittelbarer Nachkomposition, Abschnitt für Abschnitt einer Vorlage folgend (wie etwa in einem der ersten Lieder, in Hagars Klage, 1811, D 5), sei es in freier Nachahmung des von Zumsteeg geprägten Typus (wie in der Leichenfantasie, 1811, D 7); er eignete sich Zumsteegs Kompositionsweise dann ganz an und verwendete sie souverän im Taucher, der Ballade Schillers, an deren erster Fassung Schubert vom 17. September 1813 bis zum 5. April 1814 gearbeitet hat, deren zweite Fassung im August 1814 abgeschlossen war und doch im Frühjahr 1815 noch einmal einige grundlegende Änderungen erfahren sollte. Schubert hat, wie das Beispiel — eines von vielen — zeigt, oft am einzelnen Lied und damit an seiner Kompositionstechnik lange, hart, hartnäckig gearbeitet. Von hier aus betrachtet rücken die Kennzei-chung »genialer Wurf« für Gretchen am Spinnrade und die Beschreibung: »das erste selbständige, bedeutende Lied, das er schrieb« — ich zitierte den Satz gleich zu Beginn — in ein anderes Licht. Mit diesem Lied hat Schuberts jahrelanges fleißiges Bemühen um eine — wie man vielleicht zusammenfassend sagen könnte — neue Definition der Gattung Lied durch eine neue musikalische Technik zum ersten Mal Erfolg in einem vollendeten Werk gefunden. Damit ist eine neue Vorstellung von Musik durchgebrochen und hat Gültigkeit erlangt, eine Vorstellung von Musik, deren Bedeutung für das 19. Jahrhundert gar nicht überschätzt werden kann. Manche verbreitete Meinung über Schubert und seine »Liedkunst« erscheint, von hier aus gesehen, wenig zutreffened. »Schubert oder die Melodie« (womit völlig irreführend suggeriert ist, was an Schuberts Musik fesellt, sei schöne Melodie und sonst nichts) kann man ja ebenso lesen 50 wie die nur scheinbar fachmännische, in Wirklichkeit unzureichende Kennzeichnung seines musikalischen Satzes als homophon, oder auch den Wissen nur vortäuschenden oft wiederholten Tadel, Schubert habe seinen Kontrapunkt nicht beherrscht. Gewiß ist Der Lindenbaum zum Volkslied geworden; daß Schuberts Vertonung aber im Mittelteil die Passage enthält »Der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht«, und daß »diese unmelodiöse Stelle« nicht ins Volkslied zu übernehmen war, wird kaum irgendwo erwähnt. Sollte man nicht vielmehr fragen, was von Schubert eigentlich sonst noch zum Volkslied geworden ist? Jedenfalls nicht »Das Wandern ist des Müllers Lust«. Wer wollte auch Schuberts Lied ohne Begleitung des Klaviers singen und seine Freude daran haben? Da taugt die allbekannte »Volksweise« von Carl Friedrich Zöllner (1800— 1860) besser! Mir scheint, den viel gelobten Melodiker Schubert charakterisiere eher anderes: In einem im April 1930 im Wiener Rundfunk gesendeten Dialog zwischen Alban Berg und einem Gegner der Atonalen beruft sich Berg zur Verteidigung seiner »reichlich verkrausten und verzackten Melodik« unter anderem auf — Schubert, »diesen Melodiker par excellence« (so Alban Berg) und zieht Letzte Hoffnung, Wasserflut und Der stürmische Morgen aus der Winterreise heran. Mögen die zitierten Beispiele extrem scheinen, die Tatsache, daß Alban Berg sich überhaupt auf Schubert und auf späte Werke berufen konnte, sollte zu denken geben. Übrigens auch dies, wie mir scheint: Anfang November 1828, also wenige Tage vor seinem Tode (am 19. November 1828) vereinbarten Schubert und ein Freund, Wolfgang Josef Lanz, mit dem seinerzeit in Wien bekannten Theorielehrer Simon Sechter (1788—1867; dem nachmaligen Lehrer Anton Brückners) Unterricht im Kontrapunkt (und zwar nach Friedrich Wilhelm Marpurgs Abhandlung von der Fuge, Berlin 1753/54), also in einer Grunddisziplin musikalischer Komposition. Diesen Entschluß Schuberts hat man im Grunde nie recht verstanden. Was wollte er, das Genie, »der Schöpfer unsterblicher Melodien« jetzt noch bei dem trockenen Sechter lernen? Handwerk, einfach Handwerk! Richtiger: eine Seite des musikalischen Handwerks, die bei der Art, in der er es bisher betrieben hatte, ohne besondere Bedeutung geblieben war, genauer: bleiben konnte. Denn sieht man die Stellen an, die üblicher Weise zitiert werden, wenn es gilt, Schubert als Kontrapunktiker zu verteidigen (etwa den zweiten Satz jenes, im Zusammenhang mit Beethoven schon erwähnten Oktetts für Streicher und Bläser aus dem Jahre 1824, und dort die Ges-dur-Epi-sode Takt 25 ff.2(0, gerade dann drängt sich vor jede andere Kennzeichnung von Schuberts Setzart diejenige, mit der Beethoven seine eigene gekennzeichnet hat: obligates Accompagnement. Am 15. Dezember 1800, als Beethoven dem Verleger Hofmeister in Leipzig sein Septett (op. 20) anbot, gab er dazu folgenden Kommenitar: »ein Septett per il violino, viola, violoncello, contra basso, clarinett, corno, fagotto, — tutti obligati (ich kann gar nichts unobligates schreiben, weil ich schon mit einem obligaten Accompagnement auf die weit gekommen bin)«. Also gerade 20 Vgl. z. B. Maurice J. E. Brown: Schubert. Eine kritische Biographie, Wiesbaden 1969, S. 16 f. 51 für jenes Werk, das Schubert 24 Jahre später heranziehen sollte, um sich mit seiner Hilfe in der Komposition den Weg weiter zu größeren Werken zu bahnen,21 beschrieb Beethoven seine Setzweise mit diesem Terminus obligates Accompagnement. Wie ist er zu verstehen? Die Stimmen im Satz sind weder kontrapunktisch im herkömmlichen Sinne geführt (also nicht: eine jede möglichst selbständig), noch sind sie (von besonderen Satzteilen einmal abgesehen, etwa dem 2. Thema in einer Sonaten-Hauptsatz-Anlage) jeweils der die Melodie führenden Stimme begleitend untergeordnet, also unselbständig; die Stimmen haben vielmehr alle teil an einer neuen »musikalischen Arbeit im Satz«, vor allem an der motivischen Arbeit, an der Verarbeitung des musikalischen Materials, das heißt: am Aufbau der Satzstruktur; insofern sind die Stimmen trotz einer gewissen melodischen Dominanz der Oberstimme im Accompagnement, das heißt im Satzganzen, obligat geführt. Diese Satzart — vor allem der Instrumentalmusik der Wiener Klassiker — hat Schubert auf das Lied angewendet, sie dabei und dazu selbverständlich der Gattung angepaßt und entsprechend verändert. Schubert hat damit die Gattung Lied neu definiert: Lied — oder Klavierlied, wie man der neuen Satzart wegen jetzt sagt —,« das ist von nun an etwas anderes als nur Melodie mit mehr oder weniger differenzierter »Begleitung«, Lied ist (sieht man von der Oper ab) von nun an für das 19. und das 1. Drittel des 20. Jahrhunderts die Gattung im vokalen Bereich der Kunstmusik abendländischer polyphoner Tradition. Diese Gattung ist so von Schubert und seinen Nachfolgern in Deutschland geprägt, daß sie in andere Länder hinüberschlägt und mitsamt dem deutschen Gattungsnamen Lied in die aufblühenden nationalen »Musikstile« übernommen wird. Hier ist indessen eines noch einmal zu bedenken. Wir nennen in der beschriebenen Gattung nicht nur das einzelne Stück Lied, Lieder sind uns ebenso (jetzt muß man eigentlich sagen: nach wie- vor) unsere Volksund Kirchenlieder, und wir sprechen — woran man in solchem Zusammenhang meist nicht denkt — nach wie vor von den Liedern Goethes und Schillers (Das Lied von der Glocke), Wilhelm Müllers und Heinrich Heines (Buch der Lieder), und Bert Brecht hat nicht zufällig viele seiner Gedichte mit Lied überschrieben. Was gemeint ist, ist klar: die Texte sollen gesungen werden, oder sie sind verfaßt nach dem Vorbild von Texten, die man nicht anders als gesungen kennt oder früher nicht anders als gesungen kannte. Hier scheint »der Schein des Bekannten« noch einmal durch, jener Schein, der ehedem an das musikalische Erklingen solcher Texte gebunden war und etwa in Bert Brechts Songs auch noch gebunden ist. Nur gesungen wirken ja viele dieser Lieder, und sei ihr Text noch so wichtig, gar »die Hauptsache«. Die literarische und die musikalische Gattung Lied sind verbunden in dem Element, in dem der Text erklingt oder erklingen soll, ehedem erklungen ist oder heute vorzustellen ist, im musikalischen Element der Melodie. Hierin nun liegt der Grund, daß trotz aller Bindung an eine Begleitung, trotz der Einschmelzimg in einen musikalischen Satz durch Schubert in der Liedkomposition nach wie vor jene Stimme domi- 21 Vgl. den oben zitierten Brief Schuberts vom 31. 3. 1824. 52 niert, die den Text vorträgt. Wir nennen sie eigens und anders als die anderen Stimmen in musikalischen Satz, wir nennen sie einfach »die Melodie«, selbst dort, wo sie nicht mehr, wie im Klavierlied, aus dem Satzganzen zu lösen ist, wo sich das rein Melodische nicht mehr durchzusetzen, die Melodie den Text gleichsam nicht mehr alleine vorzutragen vermag. Geschichte und Tradition wirken nach: »Weise« hieß die Art und Weise, nach der man eh und je einen Text zum Singen, ein Lied, vortrug. Alt genug ist solche »Weise«, daß sie, in polyphonen Satz, in musikalische Komposition eingeschmolzen, dieser doch den Rücken zukehren kann (wie Georgiades gesagt hat22). »Melodie« und »Begleitung«, die man bezeichnender Weise getrennt zu nennen pflegt, sind seit Schubert nicht mehr zu trennen — und bleiben doch wie eh und je unvermischt, ein jedes eigenständig nach seiner Herkunft.23 POVZETEK V drugi polovici 18. stoletja se je pojavila v Nemèiji potreba po preprosti pesmi, ki bi ustrezala širokim slojem mešèanskega prebivalstva in bi bila nadomestilo za ljudsko pesem, ki se je zaèela sprièo množitve mest in razvoja industrije izgubljati. Tako je nastalo veliko število pesmi za glas in enostavno spremljavo klavirja ali kitare, namenjenih za petje in zabavo v mešèanskih domovih. Da so te z izjemo ene same — »Der Mond ist aufgegangen« Jon. A. P. Schulza — prišle v pozabo, je razumljivo, ker zelo zaostajajo za tedanjo umetno glasbeno ustvarjalnostjo in tudi ne predstavljajo niè pristnega. Vendar je obsttajala v takšni glasbeni situaciji možnost, da se spremljano pesem reši vladajoèega »ti-ranstva popularnosti« in pridobi za umetniški razvoj. To možnost je spoznal in znal izrabiti Franz Schubert, skladatelj, ki je izšel iz mešèanstva in združil tisto, kar se je zdelo nezdružljivo, namreè zahodnoevropsko polifonijo in pesem. Èeprav je Schubert osvojil pesmi položaj, ki je enakovreden z drugimi glasbenimi zvrstmi, in èeravno so mnoge njegove pesmi našle pot v koncertno dvorano, je njihov nastanek tesno povezan z družabnimi prireditvami v domovih njegovih prijateljev, pripadnikov nepremožnega mešèanskega razreda. Problema samospeva druge polovice 18. stoletja, ki je bil v popolni podrejenosti spremljave melodiji, so se sicer zavedali glavni predstavniki dunajske klasike Haydn, Mozart in Beethoven, vendar so k njegovemu reševanju prispevali sorazmerno malo. Zato se Schubert kot skladatelj samospeva pri teh mojstrih ni mogel vzorovati. Paè pa je bil na tem podroèju zanj sprva važen skladatelj J. R. Zumsteeg, ki je s svojimi prekomponiranimi baladami razloèno vplival na mladega Schuberta. Prvo samostojno in pomembno pesem je Schubert ustvaril po zaèetnih poskusih leta 1814, ko je uglasbil Goethejevo »Marjetico za vretenom«. Tedaj je doživelo veèletno Schubertovo prizadevanje za, novo definicijo te zvrsti z novo kompozicijsko tehniko prviè uspeh v dovršeni umetnini. V tej kot v poznejših pesmih je Schubert uporabil takoimenovani obligatni accompagnement, ki pa ga je prikrojil ustrezno omenjeni zvrsti. Gre za metodo, ki jo je mladi skladatelj spoznal predvsem v instrumentalnih delih dunajskih klasikov: glasovi niso v kompoziciji niti kontrapunktski niti niso podrejeni melodiji kot zgolj spremljava, ampak so kljub dominantnosti melodije stalno udeleženi v motiviènem izpeljevanju. 22 Vgl. Georgiades: a. a. O. S. 104. 23 Vgl. Arnold Feil: Schubert. Die schöne Müllerin, Winterreise, Stuttgart 1975. 53