UDK 821.112.2(494).09 Pedretti E. FIKTIONALISIERUNG DER EIGENEN BIOGRAPHIE DURCH SPRACHEXPERIMENTE Zu Erica Pedretti Vesna Kondric Horvat Keine Geschichten aus dem eigenen Leben machen Indem ich aus einer Unzahl Begebenheiten einige auslese, von vielen Personen nur wenige auftreten lasse, diese wiederum aus verschiedenen Personen zu einer zusammenziehe, Reales mit Träumen vermische, Elemente von Vorkommnissen und Träumen austausche und verändere, ist am Ende die Hauptfigur Anne nicht mehr ich, ihr Leben, so sehr es meinem eigenen ähnlich sehen mag, nicht meines. Das positivistische Haschen nach den Lebensdaten des Autors/der Autorin spielt bei der Interpretation eines Kunstwerks schon lange keine Rolle mehr und die Frage nach der Übereinstimmung des im Werk Dargestellten und den biographischen Fakten erübrigt sich. Trotzdem ist die Biographie eines Autors/einer Autorin bei der Entstehung eines Werkes insofern wichtig, als der Autor/die Autorin als soziohistorische Instanz beobachtet werden muss, da er/sie nicht im Vakuum schreibt, sondern durch die sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen seines/ihres Landes geprägt ist, und vor allem auch in einer literarischen Traditionsreihe steht. Der Erzähltext als eine sprachliche Äußerung in schriftlich fixierter Form verweist neben der sprachlichen Fixierung auch auf den Kommunikationsakt, das heißt, dass der Sprecher (Autor), der Hörer (Leser) und der Text in eine Kommunikationssituation und diese wiederum in eine Kommunikationsgesellschaft eingebettet sind.2 Die Prägung des Autors/der Autorin durch soziale, politische und kulturelle Faktoren geht indirekt in die Literatur ein. Denn auch Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind als Teile einer Diskursgesellschaft - bzw. des Sozialsystems, das zwar ein Teil des Gesellschaftssystems ist, aber nach eigenen Bedingungen verläuft - nichts anderes als 'Beobachter' und ein Beobachter muß nach der Theorie des Radikalen Konstruktivismus immer als eine konkrete soziohistorische Instanz gesehen 1 "Erica Pedretti", in: Gegenwartsliteratur. Mittel und Bedingungen ihrer Produktion, Bern:Francke, 1975, S. 173-174, hierS. 173. 2 Vgl. C. Kahrmann / G.Reiss/M. Schluchter, Erzähltextanalyse, Königstein/Ts.: Athenäum, 1986. 35 werden, die unter ganz konkreten empirischen Bedingungen operiert. Ein Wirklichkeitsmodell entsteht dabei im Zusammenhang von ganz konkreten empirischen Bedingungen: "In gewisser Weise kann die Geschichte der modernen Erkenntnistheorie geschrieben werden als die Geschichte des Beobachters. Diese Geschichte handelt von den Konsequenzen der Einsicht, daß, was immer gesagt wird, von einem Beobachter zu einem anderen Beobachter gesagt wird, und was immer wahrgenommen und erkannt wird, von einem Beobachter mit anderen Beobachtern wahrgenommen und erkannt wird."3 Auf der einen Seite ist Literatur "selbständig", sie ist ein Sozialsystem, das bestimmte Bedürfnisse erfüllt, und deswegen eine eigene Entwicklung hat, auf der anderen Seite kann aber ein Text nicht unabhängig von der Kommunikationssituation, in der der Autor/die Autorin Erfahrungen sammelt, betrachtet werden.4 Die Erfahrung, die Biographie eines Autors/einer Autorin, kann entweder als Stoff oder als Impuls für das literarische Schaffen dienen. Für Erica Pedretti ist die eigene Biographie zugleich Stoff und Impuls für ihre schriftstellerische Tätigkeit. Doch sie wehrt sich in jedem Werk von neuem, aus dem Erlebten eine Geschichte zu machen. Sie ist zwar zum einen eine eng an ihrer Autobiographie schreibende Autorin - "Was ich heute schreibe, ist bedingt durch das, was ich heute erfahre. Auch da, wo ich Vergangenes zu reproduzieren versuche, ist es die Bemühung, aufzuspüren, was mich geprägt, meine Art, die Gegenwart zu sehen und zu erleben beeinflusst hat"5 - zum anderen wäre es simplifizierend, ihr Schreiben einfach mit einer Autobiographie gleichzusetzen. Man fragt sich auch, wieviel an einer 'Geschichte' stimmen mag, wenn die Autorin/der Autor erst nach so langer Zeit zur Feder greift? Sie selbst zweifelt an den Geschichten und glaubt nicht, dass das Erlebte als "wahr wiederzugeben" ist.6 "Nur das Unausgesprochene bleibt genau das, was es mir bedeutet",7 und sie ist überzeugt, dass "alle Geschichten, die nicht erfunden sind, verschwiegen werden müssen".8 Trotzdem bedeutet für sie der Schreibprozess Bewusstwerdung und sie glaubte am Ende der Arbeit an ihrem Erstling viel mehr gewusst zu haben: "Und ich wusste tatsächlich am Ende des Buches sehr viel mehr, habe mich an sehr vieles erinnert, an das ich mich am 3 Siegfried J.Schmidt, "'System' und 'Beobachter': Zwei wichtige Konzepte in der künftigen literaturwissenschaftlichen Forschung", in: Jürgen Föhrmann/Harro Müller (Hg. Systemtheorie der Literatur), München: Fink, 1996, S. 106- 133, hier S. 120. 4 Erica Pedretti wurde am 25.2.1930 in Sternberg (Nordmähren) deutschsprachigen Eltern geboren. 1945 kam sie mit einem Rotkreuztransport in die Schweiz, wo sie von 1946-1950 die Kunstgewerbeschule in Zürich besuchte und sich zur Silberschmiedin ausbildete. Die Familie hatte nur ein Übergangsvisum und mußte 1950 die Schweiz verlassen. 1950-52 arbeitete sie als Silberschmiedin in New York. 1952 kehrte sie in die Schweiz zurück und heiratete den Bildhauer und Maler Gian Pedretti. Von 1952-1974 lebte die Familie mit fünf Kindern in Celerina im Engadin, 1974 folgte die Übersiedlung nach La Neuveville, wo Erica und Gian Pedretti auch heute leben. Erica Pedretti ist nicht nur Schriftstellerin, sondern ist auch gestalterisch tätig. Sie macht Objekte aus Stoff, Papier, Leim, Draht und malt. Sie publizierte auch Kinderbücher und verfaßte in den 70er Jahren viele erfolgreiche Hörspiele. 5 "Erica Pedretti", a.a.O., S. 173. 6 Erica Pedretti, Harmloses, bitte, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1970, S. 8. 7 Erica Pedretti, Heiliger Sebastian, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1982, S. 93. 8 Erica Pedretti, Harmloses, bitte, a.a.O., S. 8. 36 Anfang nicht mehr erinnert hatte. Schreibenderweise ist mir sehr vieles wieder viel klarer geworden. Es war wieder da."9 Wenn man die Entstehung ihrer Werke verfolgt, geht man auf den Spuren verschiedener Abschnitte ihres Lebens, sieht Lebensstationen im unterschiedlichen geographischen Umfeld. Doch alle diese Erlebnisse werden hoch stilisiert, ihre Werke sind Reisen im Kopf. Es handelt sich um eine literarisch gelungene Bewältigung konkreter menschlicher Erfahrung. Obwohl alles sehr persönlich ist, bleibt nichts nur privat, sondern die subjektiven Erfahrungen werden als Möglichkeiten der Welterfahrung dargeboten. Autobiographisches Schreiben ist keine Autobiographie Das autobiographische Schreiben, insbesondere der autobiographische Roman, war vor allem in den 70er Jahren für die Autorinnen in der Schweiz eine geeignete Ausdrucksform. Sie bietet eine Möglichkeit, sich durch die Formulierung eigener, nicht von bürgerlich-patriarchalischen Moralvorstellungen normierter Intimität von der aufoktroyierten Rolle zu befreien. Die Autobiographie macht es möglich "die Authentizität einer subjektiv verbürgten Erfahrung kulturell zur Geltung zu bringen".10 Da das Genre sich "auch in seiner historischen Entwicklung mit Konzepten der 'Selbstfindung des Subjekts' verbindet, scheint es sich für emanzipatorische Zwecke von vornherein zu eignen. Als Modus einer literarischen und somit öffentlichen Rede soll die Autobiographie die weibliche Erfahrung dem stets residualen Bereich des 'Privaten' entreißen".11 Darüber, was die Autobiographie sei, herrscht noch immer keine definitorische Einigkeit.12 Trotzdem hat bereits Simone de Beauvoir in ihrem Buch Das andere Geschlecht (1949), das weibliche Schreiben schlicht als Dokumente 'erlebter Erfahrung' und somit nicht als Literatur, sondern als reine Autobiographie behandelt.13 Dabei ist es wesentlich, den Grundunterschied "zwischen der selbstbiographischen Substanz künstlerischer Schöpfungen und der Gestaltung des Autobiographischen in einem eigenständigen Werk zu beachten. Im ersten Fall gibt je und je ein Erlebnis den Impuls zu einer Dichtung, im zweiten wird das Leben eines Menschen als Ganzes zum Gegenstand eines Werkes gemacht".14 Diese Unterscheidung muss 9 Erica Pedretti, "Die Realität kann phantastischer sein als jede Fiktion", Interview von Vesna Kondriü Horvat, in: Vestnik, 33(1999) 1-2, S. 421-429, hier S. 421. 10 Jutta Kolkenbrock-Netz/Marianne Schuller, "Frau im Spiegel. Zum Verhältnis von autobiographischer Schreibweise und feministischer Praxis", in: Irmela von der Lühe (Hg.) Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Berlin, Hamburg: Argument, 1982, S. 154-174, hier S.154. 11 Ebenda. 12 Vgl. Neva Slibar, "Biographie, Autobiographie - Annäherungen, Abgrenzungen", in: Michaela Holdenried (Hg.), Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1995, S. 390-401, hier S. 396. 13 Vgl. Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1968, S. 660. Beauvoir verübelt den Frauen ihre Unfähigkeit Leben und Kunst zu trennen: "Sich selbst nicht vergessen zu können, ist ein Fehler, der schwerer auf ihnen lastet als bei jeder anderen Laufbahn. Wenn ihr wesentliches Ziel in einer abstrakten Behauptung ihrer selbst, in der formalen Befriedigung des Erfolgs besteht, überlassen sie sich nicht der Betrachtung der Welt: Sie sind unfähig diese neu zu schaffen". 14 Ingrid Aichinger, "Selbstbiographie", in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Berlin: de Gruyter, 1958, S. 801-819, hierS. 802. 37 beibehalten werden auch bei den Texten von Erica Pedretti, in denen das eigene Leben stilisiert wird. Als eine Autobiographie im traditionellen Sinn lassen sich die meisten ihrer Texte auch deswegen nicht definieren, weil es sich zumeist um autobiographische Romane oder Erzählungen handelt, in denen der Erzählgegenstand nicht "ein authentisches Identifikationsobjekt" ist, sondern ein "fiktionalisiertes Demonstrationsobjekt"15 und das was "in Form von Lebensgeschichten oder -erzählungen sprachlich rekapituliert wird, ist folglich keine Abbildung der Realität, sondern Interpretation".16 Der Verfasser/die Verfasserin und der Erzähler/die Erzählerin sind im Gegensatz zur "eigentlichen Autobiographie" nicht identisch. Außerdem ist ein literarisches Werk ein autonomes Gebilde und in einem autobiographischen Roman handelt es sich um eine "literarische [Hervorhebung V.K.H.] Versprachlichung von Erinnerungen",17 d.h. um die Organisation der Erfahrungen. Daraus geht hervor, dass jede Autobiographie Konstruktion ist, ein autobiographischer Roman zudem noch den Regeln der ästhetischen Gestaltung folgt. Das bis zu den sechziger Jahren geltende Postulat der "Selbstbesinnung und Darstellung des menschlichen Bewußtseins",18 das an die Autobiographie gestellt wurde, können spätere Werke nicht mehr befolgen. Jutta Kolkenbrock-Netz und Marianne Schuller haben in ihrem Artikel Frau im Spiegel darauf verwiesen, dass die frühen, unreflektierten traditionellen Paradigmata autobiographischer Verschriftlichung von Frauen dem traditionellen Genremuster leicht folgen und sich die Frau darin als eine "machtgebietende Repräsentationsfigur, die sich selbst und ihre Leserinnen als weibliches Subjekt spiegelt, sozusagen spekuliert" entwirft.19 So können diese Texte zu einem "illusionär-ideologischen Totalitätskonzept" führen20 und gleichen damit den projektiven totalisierenden männlichen Selbstentwürfen, die sich als Realität ausgeben wollen.21 Denn wie Susanne Winett und Bernd Witte konstatieren und wie allseits bekannt ist, hat man den Dichter sehr lange als schöpferisches Individuum aufgefasst, "in dem sich exemplarisch Mensch-, das heißt bisher vor allem Mannwerdung vollzieht und durch das die Welt ihrer Vergänglichkeit enthoben wird", was "in der bisherigen Literatur zu einer Heiligsprechung des Schreibens geführt hat".22 Bei Erica Pedretti wird exemplarisch deutlich, was sich für die Literatur von Frauen im Allgemeinen behaupten lässt. Sie tritt "der Mythisierung des Schreibens entgegen. [...] So sieht sich die schreibende Frau auch 15 Michaela Holdenried, Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1991, S. 136. 16 Neva Slibar, "Biographie, Autobiographie - Annäherungen, Abgrenzungen", a.a.O., S. 398. 17 Michaela Holdenried, Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman, a.a.O., S. 162. 18 Neva Slibar, "Biographie, Autobiographie - Annäherungen, Abgrenzungen", a.a.O., S. 391. 19 Jutta Kolkenbrock-Netz/Marianne Schuller, "Frau im Spiegel. Zum Verhältnis von autobiographischer Schreibweise und feministischer Praxis", a.a.O., S. 166. 20 Ebenda, S. 163. 21 Das behaupten die beiden Autorinnen für Anja Meulenbelts Autobiographie Die Scham ist vorbei. 22 Susan Winett und Bernd Witte, "Ästhetische Innovationen", in: Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann, Frauen-Literatur-Geschichte: schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart: Metzler, 1985, S. 318-337, hier S. 330. 38 nicht mehr als Prophetin oder Heldin".23 Der Reiz ihrer Bücher liegt nicht darin, etwas 'Allgemeingültiges1, 'Allgemeinmenschliches' darstellen zu wollen, sondern sie verweist in die Gegenrichtung: Die allgemein angenommenen Wirklichkeitsm'uster sind fragwürdig und bestehen selbst nur aus Bruchstücken. Gerade diese Infragestellung ermöglicht den Bau des Neuen und spendet infolgedessen immer Hoffnung. Nun ist die Atomisierung und Partikularisierung als Folge der Entfremdung eine Konstante in der Literatur seit der Moderne. Im Gegensatz zu der von den Autoren verfassten Literatur dürfte in jener von Autorinnen geschriebenen gerade diese positive Auswirkung menschlicher Wandelbarkeit im Vordergrund stehen. Autobiographische Texte von Autorinnen verdienen daher eine differenzierte Rezeption, sie dürfen nicht pauschal als Bewältigungsliteratur abgetan werden, sondern müssen auf sprachlich-stilistischer und struktureller Ebene untersucht werden, als Texte, die auf das Fragmentarische, das Potentielle und Abänderbare, auf eine häufig nur punktuelle Erfassung des Ich hinweisen. Zu zeigen ist, dass das Ziel dieser autobiographisch gestimmten Prosa im Gegensatz zur Verständigungsliteratur öfter "auf der literarischen Durchformung" liegt, auf dem "Gewinn literarisch vermittelter Distanz", dass es sich nicht nur um "unmittelbare Bewältigung krisenhafter Ereignisse" handelt.24 Verdeutlicht werden kann das am Beispiel der Texte Erica Pedrettis, denn ihre Texte sind, obwohl die autobiographischen Züge darin offensichtlich sind und oft nicht verschleiert werden, "dem Gesetz der Sprache" unterworfen und bedeuten keine "unmittelbare Wahrheitsanstrengung in bezug auf die Subjektnatur".25 Vielmehr sind sie darauf orientiert, "Material (also eigenes Leben) und Formprinzip (die gattungskonstitutiven Merkmale) auf dem jeweils höchsten Stand nicht nur der gattungsspezifischen Verfahrensweise (i.e. Fiktionalisierung der Autobiographie), sondern auch unter Berücksichtigung der Ablösung und Innovation subjektorientierter Muster zu vermitteln".26 Bei ihrer bewussten Stilisierung der eigenen Biographie - d.h. "Lebensgeschichte wird transzendiert in ästhetische Erfahrung"27 - werden äußere Geschehnisse und innere Erfahrung aufeinanderbezogen ohne getreue Nachzeichnung äußerer Umstände. Diese sind oft nur implizit gegenwärtig. Wie Holdenried feststellt, wird die Stilisierung nicht primär aus selbstapologetischen Gründen, oder Gründen innerer Wahrheitsfindung und deren adäquate Darstellung eingesetzt, sondern als ein wichtiges Mittel der Fiktionalisierung. Das beweist auch die am Anfang zitierte Aussage Erica Pedrettis. Immer wieder erzählt sie von den Schädigungen ihrer Kindheit, von denen sie nicht loskommt. Erfahrung ist für sie der entscheidende Beweggrund des Schreibens, was sie in allen ihren Werken, bis zum 1995 erschienenen Roman Engste Heimat beweist; darin steigt die Ich-Erzählerin immer tiefer in die Erinnerung, "langsam, vorsichtig",28 denn "übrigens sitzt vieles fest in ihrem Hirn 23 Ebenda, S. 333. 24 Michaela Holdenried, Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman, a.a.O., S. 128. 25 Ebenda, S. 138. 26 Ebenda, S. 109. 27 Ebenda, S. 141. 28 Erica Pedretti, Engste Heimat, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1995, 156. 39 OQ und ist durch Neues nicht wegzubringen". Die Aufgabe der Schriftstellerin sieht sie im Weiterdenken im Überdenken, wenn möglich auch Zuendedenken und Sagen oder wenn die Sprache nicht ausreicht, im Sonstwie-aussagen. Sprachexperimente Trotz der autobiographischen Treue zeichnen sich Erica Pedrettis Texte durch eine starke Stilisierung und Fiktionalisierung aus. Es handelt sich dabei nicht um solipsistische Werke, sondern Texte in denen die 'Wirklichkeit' als Ausgangspunkt der Fiktionen dient. Sie zeugen von der konstituierenden Kraft der Phantasie. Die Autorin bezieht ihre Stoffe aus eigenen Beobachtungen, Gedanken, Erfindungen, Erlebnissen, Träumen, der Phantasie, aus dem Gelesenen und verbindet alles zu einem Kunstwerk. Sie zeichnet die flüchtige Wirklichkeit auf und versucht sie mit verschiedenen künstlerischen Mitteln zu berühren, wobei ihre Phantasie deutlich vom visuellen, bildhaften Eindruck herkommt. Sie schreibt in Bildern, in denen Orte, Zeiten, Menschen und Geschichten, Gegenwart und Vergangenheit durcheinandergewirbelt werden. Dichte, ineinander verschlungene Bilder, skizzenhafte Andeutungen, sprunghafte Einfälle und fragmentarische Bruchstücke legen sich aufeinander und lassen vieles nur erahnen. Ihre Texte sind nicht großangelegt, es fehlt darin der lange epische Atem, was sie natürlich ganz bewusst tut. Sie zeigt Sensibilität für das Fragmentarische, für das Punktuelle, für das Imaginierte. Die Kurzform ist für ihre Werke strukturbestimmend. So ist z.B. ihr Erstling, das schmale Bändchen Harmloses, bitte (1970) - in dem sie zum ersten Mal das dunkle dort, die Kindheit in der Tschechoslowakei, mit dem hellen hier, der Gegenwart in der Schweiz konfrontiert - durch die Aneinanderreihung von kurzen Prosastücken zustande gekommen. Dazwischen gibt es viele weiße Flecken und Erica Pedretti versteht diese ähnlich wie Morgenstern als einen Gartenzaun mit Zwischenraum um hindurch zu schauen und "die Latten und der Zwischenraum gehören dazu".30 In einer solchen Reduktion, in dem Versuch 'ohne Anfang und ohne Ende' zu schreiben, steckt die Möglichkeit, die gängigen Denk- und Sprachmuster radikal infrage zu stellen. Sie zeigt, daß das Unsagbare sagbar ist, doch nicht mit den herkömmlichen Mustern. Sie will die Welt für sich entdecken. Die Infragestellung ist kein ichbezogener Prozess, keine militante Haltung, sondern der Versuch, der weiblichen Erfahrung entsprechende Ausdrucksmöglichkeiten zu finden. Es handelt sich um sprachlich gestaltete Reduktionen auf das Minimale, in denen kein Wort zu viel und kein Wort beliebig ist. Sie ist eine Meisterin der knappen Formel, der Kurzform. Sowohl in ihren Romanen als auch in den Erzählungen, in den diszipliniert komprimierten Texten, geschrieben in asketisch karger Sprache, in denen sie von der Bedingtheit der Gegenwart durch die Vergangenheit spricht, ist stets von den in der großen chaotischen Welt verlorenen Individuen die Rede. Es sind Figuren, die zu stark sind als dass sie sich mit besänftigenden Lebenslügen zufriedengäben, die sich in Harmloses zurückzögen. Im Mittelpunkt steht das Individuum, seine 29 Ebenda, S. 123. 30 Erica Pedretti im Gespräch mit der Verfasserin (Mai 1999). 40 Vereinsamung, seine Entfremdung, wie z.B. am eklatantesten in Valerie oder Das unerzogene Auge (1986). Darüber spricht Erica Pedretti bereits in ihrem ersten Roman Heiliger Sebastian (1973), wo man verschiedene Stationen in ihrem Emigrantenschicksal nachvollziehen kann. Der Roman ist dialogisch angelegt. Die Hauptfigur ist Anna im Gespräch mit Gregor, der ihr das Wühlen in der Vergangenheit zum Vorwurf macht. Die Autorin sagt, dass "auch die Stimme von Gregor sehr oft meine Stimme, weitgehend meine Stimme ist, oder zum Beispiel meiner Mutter, die sehr viel besser imstande war, alles zu verdrängen, als ich selber." Aber das, was Erica Pedretti fasziniert hat, ist die Tatsache, daß es "keine Gegenwart gibt ohne die Vergangenheit"31. Über ihre Erfahrungen wollte sie sprechen, stellte jedoch fest, dass sie in der Schweiz darüber mit niemandem reden konnte, außer mit einem Mitschüler mit ähnlichen Erfahrungen. Deswegen begann sie zu schreiben. Sie schrieb über Ängste, über die Unsicherheit, aber nie entstand daraus eine Geschichte, denn bereits im Versteck 1945 versprach sie sich, ihr Leiden nie als Geschichte zu erzählen. In ihrem ersten Roman steht: Wir liegen in einem engen Versteck, im Dunklen, wissen nicht, ob es Tag oder Nacht, und wieviel Zeit vergangen ist, Tage oder Wochen. Falls wir je lebend hier herauskommen, denke ich, wird das alles, Angst, Hunger, einmal weit weg sein, zu etwas verblasst, was man erzählen kann. Doch das stimmt nicht: es ist nie eine Geschichte^eworden, wie es wirklich war, werde ich niemandem sagen können. Auch in diesem Roman befolgt Erica Pedretti nicht die traditionellen Raum-und Zeiterzählstrukturen. Nur auf einer solchen Folie gibt es nämlich genügend Raum für "Erinnertes, Gesehenes, Erzähltes, Geträumtes"33, für die verschiedenen Lebensstationen: New York, London, Paris, Griechenland, Engadin, die aus kleinen Details in eine Ganzheit zusammenfließen. Die Ganzheit bedeutet eine aus Gegensätzen und Paradoxen zusammengesetzte Welt. Der Roman besteht aus Gedankensprüngen, aus verschiedenen Bildern, Reflexionen, vor allem aber aus den Dialogen zwischen Anna und Gregor. Ein achtjähriges Mädchen in diesem Roman liebt die Steinfigur des heiligen Sebastian auf dem Marktplatz von Sternberg, obwohl die Pfeilspitzen beim Hinaufklettern verletzen und es "glattere, bessere zum Umarmen" gäbe.34 Auch für Erica Pedretti wäre es zu einfach, sich im Bequemen, in den gängigen Wahrnehmungsmustern in den gewohnten Denk- und Verhaltensmustern in den gewohnten Denkgeleisen zu bewegen. In ihren Werken spürt man, dass sie offen für das Neue, offen für das Fremde und offen für die Differenz ist, denn nach ihren eigenen Worten ist die Funktion der Kunst "eine Bereicherung aufzuzeigen, verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen, ,..".35 Verschiedene Möglichkeiten sind 31 Erica Pedretti, "Die Realität kann phantastischer sein als jede Fiktion", a.a.O., S. 422. 32 Erica Pedretti, Heiliger Sebastian, a.a.O., 169. 33 Erica Pedretti, Harmloses, bitte, a.a.O., S. 8. 34 Erica Pedretti, Heiliger Sebastian, a.a.O., S. 134. 41 auch verschiedene Individuen und das Individuum wird bei Erica Pedretti immer großgeschrieben - auch der kleine, sonst wenig beachtete Mensch wird stets in den Vordergrund gerückt. In ihrem Oszillieren zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hinterfragt und befragt sie schon seit ihrem ersten Buch 'die Wirklichkeit' und ist bemüht zu zeigen, dass das Leben nicht nur harmlos, nicht nur schwarz oder nur weiss, nicht nur "hell" oder "dunkel" sein kann. Ihre Individuen bewegen sich ständig an den Grenzen, an den Bruchstellen und sie lässt ihnen Raum für "Veränderung", denn nicht Erstarrung, sondern gerade Wandlung scheint sie zu interessieren. Dieser sind demzufolge auch ihre Bücher unterworfen. Nur das erste ist monologisch angelegt, alle anderen haben eine dialogische Grundstruktur und zeigen, zu welchen Versäumnissen und Missverständnissen eine missratene Kommunikation führen kann. Infragestellung von gängigen Denk- und Sprachmustern und die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeit ist nicht nur ein Strukturmerkmal der Texte von Erica Pedretti, sondern wird auch oft thematisiert, so auch im Roman Veränderung oder Die Zertrümmerung von dem Kind Karl und anderen Personen (1977). Wie immer bei Erica Pedretti, verzahnen sich auch hier die stark präsenten autobiographischen Züge mit sozialen Problemfeldern und politischen Fragen. Das verwundert nicht, denn sie selbst meinte einst "Kunst könne geläufige Gedankengänge evolutionieren und sei daher durch ihre Impulse, die Realität neu zu interpretieren, politisch wirksam".36 Im Mittelpunkt des Romans steht die Veränderung, die die Familie erlebte, als sie aus dem Engadin in die französische Schweiz zog in ein baufälliges Haus und die Veränderung während des Schreibprozesses. Die Erzählerin, die Schriftstellerin ist, trifft dort auf Frau Gerster, eine Boots Vermieterin, die die Erzählerin zwingt, ihre Geschichte aufzuschreiben. Erica Pedretti hatte zunächst nur diese Geschichte vor, aber dann stellte sie dieser Geschichte alternierend auch die Geschichte der eigenen Kindheit im Nordmähren gegenüber und schob auch Reflexionen über ihre schriftstellerische Arbeit hinein. Dadurch kamen der Erzählerin ihre ursprünglich geplante Erzählung und ihre Figur abhanden und sie merkte, dass sie in den Sätzen von Frau Gerster zu denken begann. In diese Frau Gerster hat sie nach eigenen Worten "einige Figuren hineinverwurstet", die ihr "im Leben Mühe gemacht haben, durch sehr große Energie, Autorität - Autorität im negativen Sinne, autoritäres Gebaren..." Aber dann merkte sie auch, welche Rolle Frau Gerster in ihrem Schreibprozess spielte: "Aber ich brauche diese Erzählart, diese Frau, die auch flüssig und wie sich's gehört, erzählen kann, weil sie nichts in Frage stellt. Sie stellt ihre Wahrnehmungen und ihre Gedanken nicht infrage, ihre Philosophie schon gar nicht und auch ihre Religion nicht, und so sicher und selbstsicher kann sie auch erzählen. Im Gegensatz zu mir, die eben das, was sie sagen will, so nicht sagen kann. Und ich war damals, ich beschreibe es ja, in eine düstere Umgebung übersiedelt, in ein düsteres Haus, und ich brauchte diese Person auch wie eine Lokomotive. Sie sagt einen Satz, sagt: 'Ach ja!' und dann wiederhole ich diesen Satz und hänge meine Geschichte dran. Ich möchte auch keine Vouyerin sein und schiebe darum mein Leben quasi in ihres hinein: mal redet sie, mal rede ich. Ich brauche immer einen Satz von ihr um wieder in meine eigene Geschichte 35 Edith Kronawitter-Rintelen, "Schreiben, um sich zu verteidigen", a.a.O. 36 Ebenda. 42 -3*7 hineinzukommen." Aus der bruchstückhaft erfahrenen Wirklichkeit ergibt sich die fortwährende Problematisierung der Erzählposition und des Erzählens überhaupt. Um das Verhältnis des Künstlers zu seinem 'Objekt' handelt es sich im Roman Valerie oder Das unerzogene Auge (1986). Das Buch entstand nach einer von Erica Pedretti besuchten Ausstellung "Der Maler vor Liebe und Tod" Ferdinand Hodlers, er Bildnisse seiner sterbenden Geliebten Valentine gezeigt wurden. Sie, die damals selbst todkrank war, beschäftigte die Frage, warum er den Wunsch spürte, seine Geliebte zu malen und sich nicht einfach hinsetzte und sie bei der Hand hielt. Als sie über das Modell als ausschließliches Objekt künstlerischer Betrachtung, bei der der Mensch verschwindet, mit Max Frisch sprach, schlug er ihr vor, darüber ein Buch zu schreiben. Es entstand ein subtiler Text über einen männlichen Autor namens Franz, der damit zufrieden ist, Maler zu sein und über eine weibliche Figur namens Valerie, die nicht nur Modell sein will: "- Nur du und ich und ich seh sowieso schon alles so wie du es siehst, wir sehen •2Q längst alles, als wären wir eins, als wären wir nur noch einer: du", während Franz meint: "Und ich male ja auch für dich, [...] du hast das Kind, könntest dich mehr um mich kümmern, da und dort helfen". 9 Franz - der Mann - wird zum Maßstab, er möchte die Frau in sich aufgehen lassen. Ganz im traditionellen Sinne betrachtet er die Frau als das Andere, das nicht autonom ist, sondern nur seiner Ergänzung dient. Sie könne sich doch durch ihn definieren: "Es genügt, wenn einer in der Familie alles kennt, alles weiß" und die Erzählerin fragt sich: "Was ist das für ein Mensch, der alles darstellen, sichtbar machen will, der lebt, nur um dieses Leben zu notieren? Als ginge alles, was ihm nicht aufzuzeichnen gelingt, für immer verloren. Und lebt nur wirklich, wenn er malt, lebt in seinen Bildern, und alles, wirklich alles wird ihm zum Stoff, wird schönes oder interessantes Material, alles, woran mir liegt, was für mich lebendig ist, das, was ich um nichts in der Welt verlieren möchte. Wie ich ihn um nichts in der Welt verlieren will".40 Dadurch drückt sich m. E. Angst vor dem Leben aus, dieselbe Unfähigkeit zum Leben wie bei Walter Faber in Max Frischs Homo faber. Wie dort der Film - Faber hatte ständig eine Kamera bei sich - so stellt sich hier die Bildfläche zwischen Franz und die Welt. Er malt anstatt mit Bewusstsein zu schauen. Malen ist für ihn ein Mechanismus der Lebensabwehr. Durch das Malen werden die Eindrücke, die ihn emotional betreffen könnten, maltechnisch absorbiert und psychisch unschädlich gemacht. Zwischen Franz und der Welt steht auch Hodler. Franz bewundert ihn und zitiert ihn oft. Valerie stellt seinem erzogenen Auge ihren unerzogenen Blick entgegen. In der Beziehung Hodler Valentine spiegelt sich auch das Verhältnis Franz Valerie. Auf der zweiten Ebene wird das Verhältnis der kranken Valerie zu ihrem Arzt dargestellt und auf der dritten Ebene wird über das Schreiben 37 Erica Pedretti, "Die Realität kann phantastischer sein als jede Fiktion", a.a.O., S. 422-423. 38 Erica Pedretti, Valerie oder Das unerzogene Auge, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988, S. 14. 39 Ebenda, S. 22 40 Ebenda, S. 15. Im Vergleich zu diesem selbstbewussten und selbstverständlich scheinenden Verschlingen des Lebendigen, tastet sich Gertrud Wilker in Nachleben nur scheu an die Biographie ihrer Tante heran: "Es macht mir Angst, sobald ich versuche, Emmys Person in einen Schreibgegenstand zu verwandeln. Das Geheimnis ihres Lebens, sagte ich zu Jutzi, müsse ihr Geheimnis bleiben, sie habe wie jeder von uns ein Anrecht darauf" (Gertrud Wilker, Nachleben, Frauenfeld: Huber 1980, S. 13). 43 reflektiert. Mit diesem Werk hat Erica Pedretti einen bedeutenden Beitrag zum Wiederlesen der Werke aus der weiblichen Perspektive geleistet. Sie beschreibt darin "Muster, die weit über diesen Einzelfall hinaus gültig sind. Während sich der Künstler durch seine Techniken und Produktionen das Leben vom Leibe hält -sinnbildlich dargestellt in der zwischen Maler und Modell plazierten Dürer-Scheibe - verlischt das Leben des Modells in dem Maße, wie das Werk entsteht, durch das sich der Malende als Künstler konstituiert. Mit der Bild-Werdung der Frau unter der Herrschaft des männlichen Blicks thematisiert Pedretti eines der zentralen Motive einer Re-Lektüre der Kulturgeschichte aus weiblicher Perspektive,..."41 Auch der 1995 erschienene Roman Engste Heimat, in dem die Erzählerin nach dreißig Jahren, neun Monaten und acht Tagen wieder in die alte Heimat zurückkehrt und dort vor allem die Bilder des verstorbenen Onkels sucht, basiert auf autobiographischen Daten. Erica Pedretti ist wirklich nach sehr langer Zeit wieder in die Heimat zurückgekehrt und das Modell für Onkel Gregor war ein wirklicher Onkel, "der tatsächlich Maler gewesen und nach Paris gegangen ist, der wirklich in die tschechische Legion eingetreten ist, um etwas gegen die Nazis zu unternehmen, obwohl er von den Deutschen als Sudetendeutscher betrachtet wurde. Und dann am Ende des Krieges, nachdem er mit knapper Not zweimal fast erwischt wurde und auf diese Art für die Tschechoslowakei sein Leben gegen Deutsche riskiert hatte, haben die Tschechen 1945 gesagt, du bist Deutscher, er durfte nie mehr zurück. Und seine Eltern, die zitternd auf ihn gewartet hatten, ob er lebendig nach Hause kommt, wurden vertrieben, wie alle anderen auch. Anhand dieses einen Menschen konnte ich ein bißchen vom Irrsinn der mitteleuropäischen Geschichte aufzeigen, was da passiert ist, und was jetzt weiter passiert. Dieser Hass der verschiedenen Ethnien, auch wenn Einzelne gar nicht so eingestellt waren, nicht so gedacht haben. Für einen deutschsprechenden Tschechoslowaken hat es nicht genügt, in der tschechischen Legion gekämpft zu haben. Er war am Ende trotzdem, weil deutschsprachig, ethnisch deutsch."42 Mit der Wahl des Malers als Hauptfigur, wählte Erica Pedretti wiederum die Kunst und künstlerische Gestaltung als Thema des Romans. Im Roman Engste Heimat fragt sich die Erzählerin: "Wie läßt sich ein bestimmtes, ein längst festgelegtes Vorhaben auf Papier bringen?"43 Aus vielen Aussagen Erica Pedrettis geht hervor, was für sie von Bedeutung ist: man müsse den Text entstehen lassen, man dürfe ihn nicht von Anfang an festlegen. Die Sprache diene nicht nur der einfachen Reproduktion, sondern dem Bau einer neuen Wirklichkeit. Die Sprache müsse das Denken animieren. Auf diese Weise wurde auch das Projekt im Roman Engste Heimat verwirklicht? Die Erzählerin schickt ihre Protagonistin Anna nach dreißig Jahren, neun Monaten und acht Tagen zurück in ihre Heimat. Der Zweck dieser Reise ist die Suche nach den Spuren Onkel Gregors. Dieser Onkel warnte sie ständig, sie sollen um Gottes Willen keine 41 Regula Venske und Sigrid Weigel, "'Frauenliteratur' - Literatur von Frauen", in: Klaus Briegelb und Sigrid Weigel (Hg.), Gegenwartsliteratur seit 1968. München, Wien: Carl Hanser, 1992, S. 245-276, hier S.264/265. 42 Erica Pedretti, "Die Realität kann phantastischer sein als jede Fiktion", a.a.O., S. 423/424. 43 Erica Pedretti, Engste Heimat, a.a.O., S. 24. 44 Künstler werden, doch Anna wusste schon damals, dass sie, wenn sie groß ist, Malerin sein wird, denn: "Sowas kann man nicht werden, nur sein".44 Der Roman beginnt scheinbar idyllisch. Die äußerst sensible junge Erzählerin begleitet uns in einen Sommergarten, wo die neunjährige Anna mit ihren strickenden und häkelnden Tanten und der Englischlehrerin sitzt. Doch sie spürt die ganze Zeit, daß man etwas vor ihr versteckt. Und der Leser/die Leserin wird durch einen Satz auf den realen Boden gestellt: "Paris est occupé."45 Wir befinden uns in dem Krieg, über den man vor Kindern nicht sprach und daher fragt sich auch Anna ob die Tanten wissen, wo ihr Onkel Gregor ist. Aber solche und ähnliche Fragen bleiben in der Luft hängen und behalten ihre magische Kraft, da Anna sie, auch noch nach vielen Jahren, klären möchte. In ihrer ehemaligen Heimat geht sie den Spuren des Onkels nach und sucht seine Bilder. Zugleich besucht sie auch die Orte ihrer Kindheit. Sie erinnert sich an das Kind, das ganz aus der Nähe von einem Flugzeug beschossen wurde, sie erinnert sich an die Flucht vor den Russen, sie erinnert sich an die Schreie der vergewaltigten Frauen, sie erinnert sich an die stillen Kollaboratuere und auch an die weißen Bänder mir einem fetten N, die die Menschen aus den Zügen geworfen haben, als sie das Land verließen, aus dem sie gerade deswegen verwiesen wurden, weil sie Deutsche waren. Anna wandert also durch die Gegenwart und zeigt uns Wege in die Vergangenheit. Die Städte, die sie besucht und Menschen, die sie trifft, lösen Assoziationen aus, Bilder und Szenen aus der Vergangenheit steigen in ihr auf, aber auch Reflexionen über die Vergangenheit, denn Erica Pedretti glaubt, dass man ohne Erinnern nicht vergessen kann. Sie vertraut der Geschichte nicht. Es handelt sich um eine unendliche Geschichte der verfolgten und der Verfolger, wo ein grausames System ein anderes grausames System ersetzt. So überlagern sich im Roman mehrere Schichten der Vergangenheit: Die Flucht vor den Russen im Jahre 1945, die Reise in die Heimat im Jahre 1976, nach dreißig Jahren, neun Monaten und acht Tagen und Besuch nach der Wende im Jahre 1990. Orte, Handlungen, Zeiten und Figuren wechseln im schnellen Tempo und verkünden die Gleichzeitigkeit des Seins. Sie stellen, teils analog, teils antinomisch, die Vergangenheit der Gegenwart gegenüber und die Kriegsschrecken den schönen Künsten. Bereits auf den ersten Seiten wird die Ambivalenz des Daseins angedeutet, die Anna anhand der bittersten Realität erlebt und daher wird sie aufnahmefähig für alles, was um sie herum geschieht und zugleich lernt sie auch sich selbst besser kennen. Als Kompositionsprinzip wählte Erica Pedretti auch Kontrastierung. Die Taste ESCAPE ermöglicht der Erzählerin, dass sie sich sofort wieder in die Gegenwart versetzen kann, dass sie ihre Eindrücke aufschreiben kann, wenn sie aus ihrem Wohnwagen am Rande des Campingplatzes, wo sie den Roman schreibt, blickt. Erica Pedretti sagte einmal selbst, dass fast alles, was sie heute erlebt, durch die Vergangenheit beeinflusst ist:"An alles, was ich erfahre, hängen sich Partikel von Vergangenem."45 Weil sie darüber nicht sprechen konnte, schrieb sie es auf, aber es ging ihr nach eigenen Worten dabei nicht um die Erlebnisse, sondern um die Atmosphäre, also "diese ständige Erwartungsangst, in der man durch den Krieg oder am Ende des Krieges gelebt hat". 6 Ihr 44 Ebenda, S. 14. 45 "Erica Pedretti", a.a.O., S. 173. 45 kompliziertes, verzweigtes Erzählen vermittelt daher keine Geschichte, sondern die Atmosphäre, das Gefühl der Angst, der Wut, der Verzweiflung, das heißt Gefühle, die wir alle gut kennen. Es geht um Eindrücke, um Gedanken, an welchen man vielleicht nie zweifelt und über die man nie nachdenkt. Mit ihrem Roman, mit dem ästhetischen Schaffen widersetzt sich Erica Pedretti, ähnlich wie Morgenstern, den der Großvater oft zitiert und den sie auch selbst zitiert, dem geistigen Verfall der Epoche. Erica Pedretti behielt in ihrem Erzählen noch viel von dem ursprünglichen Wundern über die Dinge, die man sonst so schnell verlernt. Sie scheint hier ähnlich zu verfahren, wie ihre Protagonistin Anna: "Kurz bevor sie aufhörte, ein Kind zu sein, hat Anna sich geschworen, das, was sie jetzt fühlte und dachte, wie ein Kind fühlt und denkt, nie zu vergessen, so wie Erwachsene eben normalerweise vergessen, nein, sie wollte diesem Kind, sich treu bleiben".47 Die Erzählerin akzeptiert Annas Sicht der Dinge, verbessert sie nicht und erklärt sie nicht. Neben Annas Rückkehr in die 'engste Heimat' und Suche nach den Spuren des Onkels thematisiert der Roman auch das künstlerische Schaffen. Anna denkt viel darüber nach. Wie bereits erwähnt, basieren alle Werke Erica Pedrettis auf eigenen Erfahrungen und so wundert es nicht, dass sie sich ständig fragt, wie man das, was man erlebt, aufs Papier bringen kann. Die Reflexionen über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des künstlerischen Schaffens findet man in allen Werken Erica Pedrettis, so auch in ihrem bisher letzten Roman Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte (1998). Im Mittelpunkt des Werkes steht die Frage: "Was lässt sich erzählen?" Die Erzählerin ist eine alte Frau im Altersheim, die man als Gregors Schwester am Ende des vorigen Romans findet. Sophie denkt darüber nach, was sie alles hätte erzählen müssen, es aber versäumt hat. Jetzt glaubt sie, dass man alles erzählen kann, wenn man nur beginnt, Wort für Wort, kommt aber bald zur Erkenntnis, dass es nicht geht. Sie erzählt über ihre ruhige Kindheit, über ihren Bruder, der Künstler wurde, darüber, wie sie selbst Zahnärztin werden wollte und sie erinnert sich auch an ihre kinderlose Ehe und den Mann, der sich einen Sohn wünschte. Aber Sophie hatte vier Pflegetöchter. Die letzte, Trade, die niemand mochte, sollte ursprünglich nur drei Monate bei ihr bleiben, ist aber inzwischen bereits 60 geworden. Es ist Trade gelungen, alle anderen Lieben zu verscheuchen und deswegen musste Sophie ins Heim und nun wird sie von ihr bemitleidet. Es geht um die Geschichte zweier Frauen: Sophie und Trade, die Sophie mit ihrer egoistischen und eifersüchtigen Liebe lähmt, was sie die ganze Zeit bei ihr tat. Es gelingt ihr immer wieder die alte Frau zu erniedrigen, damit sie sie später mit ihrer Liebe zuschütten kann. Sie quält sie mit ihren Vorschriften, aber Sophie stellt fest, dass im Heim niemand so streng mit ihr ist, wie Trade. Trotz dieses unmöglichen Kuckuckskindes hängt Sophie von Trade ab und will gerade dieser ihre Geschichte erzählen. Obwohl sie weiß, dass es ihr ohne Trade viel besser ginge, vermisst sie sie immer wieder. Der Roman beginnt mit den Worten: "Wo bleibt sie denn, sie sollte längst hier sein, läßt mich wieder warten?"48 Und wenn 46 Erica Pedretti im Gespräch mit der Verfasserin (Mai 1999). 47 Erica Pedretti, Engste Heimat, a.a.O., S. 15. 48 46 Trade kommt, ist sie enttäuscht: "Hörst du zu? Hörst du überhaupt, was ich dir erzähle? Du hörst wieder nicht zu?"49 Die Schriftstellerin hat Trade die Rolle der Zuhörerin zugeteilt und diese Rolle wird von der Leserin/dem Leser übernommen. Kuckuckskind ist eine unsentimentale Erzählung über das Altern. Sophie legt vor uns die ganze Kompliziertheit der Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus, was sich als ein roter Faden durch alle Werke Erica Pedrettis zieht, die dabei immer auch die Sprache thematisiert. Erica Pedrettis Texte muß man als ästhetisch wertvolle Kunstwerke betrachten, in denen der Kunstwille die primäre Rolle spielt. Wie weit lässt sich Erica Pedrettis Schreiben als autobiographisch einstufen ist aus ihrer Antwort auf die Frage, wie sie die Beziehung zwischen der Wirklichkeit und der Fiktion sehe, ersichtlich: Ich denke, das ist zum Teil ein Problem der Wahrnehmung: Was nimmt man wahr, von dem was ist, was geschieht. Wieviel Phantasie wird investiert in diese Wahrnehmung, ob man vielleicht auch die Bedeutung dessen, was passiert, realisiert. So kann die Wahrnehmung manchmal fiktiv werden, oder die Realität kann phantastischer sein als jede Fiktion. Ich glaube, daß die Realität nicht 1:1 wiederzugeben ist, sondern nur durch Umsetzung wird sie wieder zu etwas Vergleichbarem. Auch wenn ich 'ich' sage und 'ich' schreibe, dann bin das nicht ich, sondern durch die notwendigen Auslassungen, oder Gewichtungen - dem legt man Wert bei, das andere verschweigt man, oder macht es kleiner - Fiktion. Alles, was auf das Papier kommt, ist individuelle Auswahl, ist Erfindung, und sei es noch so authentisch. Auch selbst Erlebtes wird, wenn man es aufschreibt, Fiktion, denn so wie es auf dem Papier steht^ hat es ein anderer nicht erlebt, und man selber eigentlich auch nicht. Universität Maribor Erica Pedretti, Kuckuckskind oder Was ich ihr unbedingt noch sagen wollte, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 7. 49 Ebenda, S. 22. 50 Erica Pedretti, "Die Realität kann phantastischer sein als jede Fiktion", a.a.O., S. 425. 47