299 Anselm Heinrich ∗ UDK 792(4=112.2)''1918/1945'' Universität Glasgow DOI: 10.4312/linguistica.60.2.299-312 VON DER MINDERHEITENBÜHNE ZUR „EUROPÄISCHEN SENDUNG DES DEUTSCHEN THEATERS“ 1 1 EINFÜHRUNG Das Theater spielte eine herausragende Rolle in der nationalsozialistischen Kulturpoli- tik. Im Haushalt des Propagandaministeriums, das regelmäßig hohe Summen an einzel- ne Theater zahlte (die diese zusätzlich zu den städtischen Subventionen erhielten), wa- ren für das Theater weit höhere Summer vorgesehen, als beispielsweise für Radio oder Film (Drewniak 1983: 38–41). In den Augen der NS-Machthaber konnte das Theater seine Besucher direkt und dauerhaft beeinflussen. Diese Annahme maß einem nach be- stimmten Kriterien ausgewählten Spielplan eine besondere Bedeutung zu. Stücken, die den politischen Aufstieg der „Bewegung“ verherrlichten, die Weltkriegserfahrung po- sitiv bewerteten oder den Wert der „heimischen Scholle“ betonten, musste besondere Bedeutung zugemessen werden. Zu dieser Gruppe wurden im Vorfeld des Krieges auch Werke gerechnet, die von Schriftstellern verfasst worden waren, die nach der Neu- ordnung Europas 1918/19 nunmehr außerhalb der Reichsgrenzen lebten, dort aber auf Deutsch schrieben und publizierten. Diese Werke wurden nicht nur nach literarischen, sondern vor allem nach politischen Kriterien bewertet und interpretiert als Ausdruck einer deutschen Kultur, die wieder „heim ins Reich“ drängte. Eine vergleichbare Be- deutung hatten die zahlreichen deutschsprachigen Liebhaber- und Minderheitentheater, die die politischen Veränderungen nach 1918 in Ostmitteleuropa überlebt hatten und nun unter anderen Vorzeichen weiterarbeiteten. Viele von ihnen wurden aus Berlin unterstützt, manche nach 1933 sogar direkt subventioniert. Diese Kulturschaffenden, so die offizielle Lesart, waren Beleg dafür, dass weite Teile Ost-, Mittel- und Südeuropas trotz der Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg deutsch geblieben waren, obwohl das die derzeitigen politischen Grenzen nicht widerspiegelten. Das Ziel, diese Auto- ren und die Gebiete, in denen sie arbeiteten, wieder Deutschland einzugliedern, wurde ∗ Anselm.Heinrich@glasgow.ac.uk 1 Vgl. Kindermann (1944). Kindermann galt über Jahrzehnte als der bedeutendste Theaterwissen- schaftler im deutschsprachigen Raum. Linguistica_2020_2_FINAL.indd 299 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 299 24. 03. 2021 14:21:02 24. 03. 2021 14:21:02 300 beispielsweise in den Publikationen Heinz Kindermanns deutlich formuliert. 2 Das stei- gende Interesse an Literatur, Musik und Theater der deutschen Minderheiten muss da- her als Vorgriff auf die militärischen Expansionsbestrebungen des Zweiten Weltkriegs gesehen werden. Umso verwunderlicher mag es daher erscheinen, dass dieses offizielle Interesse nach der eigentlichen Besetzung weiterer Teile Ost-, Mittel- und Südeuropas kaum mehr eine Rolle spielte und die deutschen Minderheitentheater anstatt ausgebaut und gefördert, weitgehend verdrängt und durch Berufsensembles ersetzt wurden. Der vorliegende Artikel wird einige der Grundlinien dieser Entwicklung nachzeichnen, eine Entwicklung, die in der einschlägigen Literatur bisher kaum Beachtung gefunden hat. 2 THEATERLANDSCHAFT IN MITTEL-, OST- UND SÜDOSTEUROPA NACH 1918 Viele Städte in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, die bis 1918 zum Deutschen Reich oder Österreich- Ungarn gehört hatten, besaßen vollsubventionierte Stadttheater, die von deutschsprachigen Berufsensembles bespielt wurden. 3 Daneben waren in der gesamten Region deutschsprachige Laienensembles aktiv. Im polnischen Posen (poln. Poznań) blickte die deutsche Minderheit 1918 zurück auf eine mehr als 120-jährige Theaterge- schichte, die mit der Gründung des deutschen Theaters 1793 ihren Anfang genommen hatte (Rajch 2005: 11–24, Hinc 2012: 265–286). In Bromberg (poln. Bydgoszcz) war das deutschsprachige Theater ebenfalls seit längerem etabliert, als die professionelle Bühne 1920 geschlossen wurde (Nowikiewicz 2005: 25–66). In Thorn (poln. Toruń), wo seit dem 17. Jahrhundert Wandertruppen gastiert hatten und 1904 ein städtisches Theater erbaut wurde, war die Situation ähnlich (Podlasiak 2008: 10–20, 37–42), eben- so in Bielitz (poln. Bielsko-Biała) und Elbing (poln. Elbląg) (Drewniak 1999: 196). In der Industriestadt Lodsch (poln. Łódź) gab es eine lange Tradition deutschsprachiger Aufführungen sowohl von Wander- als auch von lokal ansässigen Truppen (Prykow- ska-Michalak 2007: 106–112). Mit der Gründung unabhängiger Staaten nach Ende des Ersten Weltkrieges än- derte sich die Situation grundlegend. Die meisten Theater wechselten ihre Träger- schaft, obwohl die neuen Stadtverwaltungen in Polen, der Tschechoslowakei etc. nicht unbedingt an einer finanziellen Beteiligung interessiert waren. Einige Bühnen 2 Kindermann verfasste in den 30er Jahren eine ganze Reihe von Schriften, die die Bedeutung der kulturellen Produktion deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa herausstellte und dieser Produktion eine politische Bedeutung zuwies, den Auftrag nämlich, diese Gebiete „heim ins Reich“ zu holen. Seine wichtigsten Veröffentlichungen zum Thema waren: Max Halbe und der deutsche Osten (1941); Die Weltkriegsdichtung der Deutschen im Ausland (1940); Du stehst in großer Schar. Junge deutsche Dichtung aus dem Warthe- und Weichselland (1939); „Danzigs Dichter bezeugen Danzigs Deutschtum” (1939); Rufe über Grenzen. Antlitz und Lebensraum der Grenz- und Auslanddeutschen in ihrer Dichtung (1938); Heimkehr ins Reich. Großdeutsche Dichtung aus Ostmark und Sudetenland 1866–1938 (1938). 3 Deutschsprachige Theater- und Musikensembles kamen seit dem 17. Jahrhundert regelmäßig nach Nord- und Osteuropa, in einigen Regionen des Baltikums und des heutigen Polens und Tschechiens gab es seit dem 18. Jahrhundert stehende deutsche Theater. Ausführlich dazu Kitching (Hg.) (1997), Kampus (2007), sowie, bezogen auf Reval, Ulrich (2007). Linguistica_2020_2_FINAL.indd 300 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 300 24. 03. 2021 14:21:02 24. 03. 2021 14:21:02 301 wurden geschlossen, andere Liebhaberensembles übergeben, wobei deutschen Grup- pen manchmal begrenzten Zugang zu den Bühnen behielten, oftmals aber auch kom- plett ausgeschlossen wurden. Falls deutsche Gruppen spielen durften, übernahmen sie die finanzielle Verantwortung selbst, auf Subventionen durften sie nicht hoffen. Diese Situation war für viele Theatervereinigungen existenzbedrohend, zumal die Zahl der deutschen Bewohner in fast allen ehemals deutschen oder österreichischen Gebieten abnahm. Dennoch ist es bemerkenswert, an wie vielen Orten sich deutschsprachige Theatergemeinschaften und Ensembles hielten und regelmäßig spielten. Das baltische Reval (estn. Tallinn) beispielsweise behielt sein deutschsprachiges Berufstheater, und deutsche Liebhabertheater waren im gesamten Baltikum nach wie vor aktiv (Garleff in Pistohlkors 1994: 506). In ganz Polen waren deutsche Amateurensembles unterwegs, aber das oberschlesische Bielitz behielt als einzige Stadt im neuen Polen sein professio- nelles deutsches Stadttheater (Drewniak 1999: 182, 196–197). 4 Die Weimarer Regie- rung unterstützte diese Bühnen mit finanziellen Mitteln über die sogenannte Deutsche Stiftung. Viele der deutschsprachigen Amateurbühnen hätten ohne diese Unterstützung vermutlich nicht überlebt (Heidelck 1939: 585–587, Drewniak 1999: 185, 197). In Rumänien gab es bis 1918 sowohl in Hermannstadt (rumän. Sibiu) als auch in Czernowitz (ukr. Tscherniwzi) deutsche Berufstheater und zahlreiche Amateurensem- bles. Nach 1933 öffnete in Hermannstadt erneut eine stehende deutschsprachige Bühne, die unter dem Namen Deutsches Landestheater Stücke in ganz Rumänien aufführte und in NS- Deutschland große Aufmerksamkeit erfuhr (London 2000: 251, Fassel 2016). 5 Eine besonders intensive Aktivität entfalteten deutsche Ensembles in der Tschecho- slowakei, und das trotz einer beträchtlichen Abwanderung, dem Wegfall von Subven- tionen und internen Auseinandersetzungen nach 1918 (Schremmer 1992: 103–116). 6 In den 30er Jahren waren noch immer mehr als 100 deutschsprachige Ensembles in der Tschechoslowakei unterwegs, drei Viertel davon als Tourneetheater (Schneider 1979: 38). Das Prager Neue Deutsche Theater war die größte und bedeutendste deutsche Büh- ne außerhalb der Reichsgrenzen (Scherl 2007: 88–94). 7 Nach 1933 bot das Theater ei- nigen deutschen Exilanten eine neue Beschäftigung. Auch außerhalb Prags gab es eine rege Theateraktivität, die zumeist von bürgerlichen Theatervereinen getragen wurde. In Brünn war das 1882 erbaute Dreispartentheater zwar 1918 von der tschechischen Stadtverwaltung übernommen worden, diese überließ die Bühne aber dem deutschen Theaterverein an zwei Tagen pro Woche. Der Verein nutzte daneben das Kleine Schau- spielhaus auf dem Krautmarkt als zweite Bühne (Steiner 1964: 85). 4 Kindermann hob das Bromberger Theater als eine Bühne, die das Deutschtum in der Region lebendig halte, besonders hervor (vgl. Kindermann 1943: 56). 5 In diesem Zusammenhang ist besonders der Appendix zu Fassels Buch von Interesse („Das Deut - sche Landestheater Hermannstadt und seine Gastspiele in Bukarest (1933–1944)”, s. ebd. 123–144). 6 Für eine weiterführende Diskussion zur veränderten Situation des deutschsprachigen Minderheit- entheaters in der Tschechoslowakei nach 1918 vgl. Stamberg (2007). 7 Für zeitgenössische Schilderungen vgl. Levinger (1929) in Schluderpacher (Hrsg) (1929). Dies war Schluderpachers zweites Prager Theaterbuch, das erste hatte er 1924 veröffentlicht. Besonders interessant sind zwei Publikationen aus dem Jahre 1938, die sich bewusst nationalistischer Äußerungen enthielten: Mordo/Schluderpacher (Hrsg.) (1938) sowie Rosenheim (1938). Linguistica_2020_2_FINAL.indd 301 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 301 24. 03. 2021 14:21:02 24. 03. 2021 14:21:02 302 All diese Aktivitäten stellten die NS-Propaganda vor Probleme. Auf der einen Seite konnte diese reiche Theatertradition nicht ignoriert werden, auf der anderen war sie an vielen Orten eng verbunden mit jüdischen Schauspielern, Musikern, Dirigenten und Regisseuren (oftmals Emigranten aus NS-Deutschland) sowie jüdischen Geschäftsleu- ten, die einige Theaterunternehmen großzügig förderten (Drewniak 1999: 197). Die andere Herausforderung dieser reichen und anerkannten Tradition für das NS- Regime war, dass sie der Propaganda vom unterentwickelten und barbarischen Osten, der drin- gend deutscher „Kultivierung“ bedurfte, diametral widersprach. Obwohl nicht das zen- trale Thema dieser Untersuchung, darf es doch nicht unerwähnt bleiben, dass nicht nur deutsche Theaterunternehmen in Osteuropa erfolgreich unterwegs waren, sondern natürlich auch polnische, tschechische, lettische usw. Die Beziehungen zwischen die- sen Theatern und Ensembles waren ebenso vielfältig als auch häufig von großem Re- spekt füreinander geprägt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs arbeitete zum Beispiel das deutsche Theater in Beuthen (poln. Bytom) mehr als 20 Jahre erfolgreich mit dem polnischen Theater in Kattowice (Kattowitz) und Królewska Huta (Königshütte) zu- sammen und etablierte einen regen Austausch an Inszenierungen (Daiber 1995: 282). Subventionen für diese Zusammenarbeit kamen dabei gleichermaßen aus Deutschland und Polen (Drewniak 1999: 188, 190). Anstatt die Erfolge dieser Arbeit anzuerkennen, etablierte die NS-Propaganda einen Diskurs, der die Jahre nach 1918 ausschließlich als Jahre des Elends, der Vertreibung und der Unterdrückung darstellte, als Jahre der Sehnsucht nach dem verlorenen Vater- land und dem Wunsch nach Wiedereingliederung in die alte Heimat. In Bezug auf das Posener Theater, das 1919 in polnische Trägerschaft übergegangen war, meinte der Theaterhistoriker Hans Knudsen beispielsweise feststellen zu können, dass das ehe- dem erfolgreiche deutsche Theater unter polnischer Herrschaft heruntergewirtschaftet worden war (Knudsen 1941/42: 27–55). Zuvor, unter preußischer Herrschaft, sei das Posener Theater ein Theater mit einer „künstlerischen Vision“ gewesen. Vor allem in den Jahren nach 1910 habe der Theaterdirektor Franz Gottscheid Wert auf Hochkultur gelegt. Er habe die große Oper und „alle Werke von Richard Wagner“, Mozart und Verdi inszeniert, und im Schauspiel nach denselben Kriterien die Klassik mit wichtigen Werken von Lessing, Goethe, Schiller, Hebbel und Shakespeare gepflegt (Knudsen 1941/42: 52–53). Es mag wenig überraschen, dass Knudsens Sicht der Dinge kaum mit der Realität übereinstimmte. Schon eine oberflächliche Untersuchung der Spielpläne zeigt, dass das Posener Theater zu keiner Zeit eine Bühne der Hochkultur gewesen ist (Abschiedsalmanach Posen 1919: 8–9). Das Theater präsentierte zwar einige lite- rarische Lesungen und Inszenierungen von Stücken von Björnson, Ibsen, Wedekind und Schnitzler, aber kaum klassische Dramen und Opern. Was die Zuschauer offenbar wollten und auch bekamen, waren Operetten, Komödien, Possen und Schwänke (Rajch 2007: 120–127). 8 Nichtsdestotrotz wurde Knudsens Behauptung, dass das Posener 8 Hildegard Hirschfelds Magisterarbeit zur Geschichte des Posener Theaters zwischen 1910 und 1919 zeigt die Diskrepanz zwischen den eigenen Ansprüchen einer führenden deutschen Bühne und der Realität eines typischen Geschäftstheaters deutlich auf (s. Herder Institut Marburg, G/34 VIII P103b). Linguistica_2020_2_FINAL.indd 302 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 302 24. 03. 2021 14:21:02 24. 03. 2021 14:21:02 303 Theater als deutsche Bühne bis 1918 erfolgreich gewesen, danach unter polnischer Herrschaft aber vernachlässigt worden war, nach 1933 als offizielle Lesart anerkannt (Hoffmann 1940). Diese Lesart konnte es gleichzeitig kaum anerkennen, dass deutsche Laientheater von der polnischen Verwaltung nicht nur anerkannt, sondern mitunter ak- tiv gefördert wurden. In Prag musste die nationalsozialistische Propaganda von einer dekadenten und dem Untergang geweihten Theaterkultur in Ostmitteleuropa, die dringend deutscher Aufbauhilfe bedurfte, auf besonderes Unverständnis stoßen. Obwohl die Situation der deutschen Minderheit nach 1918 tatsächlich schwieriger geworden war, war doch die deutsche Theatertradition in Prag insgesamt bedeutend, und die nationalsozialis- tischen Bemühungen sollten nach der Besetzung Prags 1939 ständig mit dieser rei- chen Geschichte verglichen werden (z. B. mit Angelo Neumanns Intendanz am Neuen Deutschen Theater). In der Zwischenkriegszeit war der deutsche Theaterverein in Prag hochanerkannt, großzügig unterstützt und viel gepriesen für das vielseitige Programm, das er auf die Bühne brachte. Die deutsche Bühne erhielt sogar Subventionen von der tschechischen Verwaltung auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. 9 Obwohl sich die Situation im Laufe der 30er Jahre verschlechterte, blieb der deutsche Theaterverein, dem das Neue Deutsche Theater gehörte und der die Kleine Bühne mietete, professio- nell organisiert und einflussreich mit Hunderten von Mitgliedern und reichen Wohl- tätern. Was die Prager Theateraktivitäten aber in den Augen der Nazis zweifelhaft machte, war genau der eben erwähnte vielseitige Spielplan, der ganz eindeutig nicht nationalsozialistisch gedeutet werden konnte, sondern – im Gegenteil – viele Stücke von Dramatikern inszenierte, die dem NS-Regime kritisch gegenüber standen, so wie Bertolt Brecht oder Karel Čapek und oft inszeniert von aus Deutschland emigrierten Regisseuren wie Julius Gellner und Arnold Marlé (Ludová 2011: 74–76). 10 Insgesamt war die Situation deutschsprachiger Bühnen in Ostmitteleuropa nach 1918 durchaus prekär und viele Theatervereine litten unter finanziellen Engpässen und rückläufigen Zuschauerzahlen. In der Tschechoslowakei mussten allein 1933 drei Theater schließen (Pilsen/Plzeň, Iglau/Jihlava, Bodenbach/Děčín). Dort wo noch ge- nügend Deutsche lebten, schlossen sie sich oft nationalsozialistischen Boykotten ein- zelner, von Juden geleiteten, Theatern an – was die Besucherzahlen zusätzlich negativ beeinflusste (Schneider 1979: 39–40). In Brünn traten viele Deutsche einem „völki- schen“ Theaterverein bei, woran die ursprüngliche Theatergemeinschaft letztendlich 9 In der Spielzeit 1933/34, zum Beispiel, erhielt das Neue Deutsche Theater 1,1 Millionen Kronen an staatlichen Subventionen und das Theater in Brünn bekam eine weitere Million. Obwohl das tschechische Nationaltheater in der gleichen Spielzeit 10 Millionen erhielt, sind dies doch nicht unbedeutende Summen (vgl. Brief von Dr. Eger an Leopold Kopka in Brünn vom 20. September 1935 (Archiv hlavního města Prahy, Deutscher Theaterverein, Praha NDT 7). Weitere 1,4 Millionen Kronen kamen von regionalen Behörden (vgl. Notiz von Dr. Eger vom 6. März 1936. Archiv hlavního mesta Prahy, Deutscher Theaterverein, Praha NDT 7), und auch das Schulministerium steuerte 300.000 Kronen bei (vgl. ebd.). 10 Dies wurde auch in zeitgenössischen Artikeln als besonderes Merkmal hervorgehoben, so in Paul Egers Beitrag zur Spielplangestaltung im Prager Tagblatt am 10. Februar 1938 (S. 6). Linguistica_2020_2_FINAL.indd 303 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 303 24. 03. 2021 14:21:02 24. 03. 2021 14:21:02 304 zerbrach. 11 All diese Probleme spielten in die Hände der NS-Propaganda und konnten eingeordnet werden in das Bild vom chaotischen Kulturleben im Osten und Südosten der deutschen Reichsgrenzen, das dringend deutscher „Hilfe“ bedurfte. 3 LAIENENSEMBLES VS. BERUFSTHEATER Angesichts der NS-Forderungen nach dringend benötigter Hilfe für die deutsche Kultur jenseits der Reichsgrenzen und das deutschsprachige Theater im Besonderen, verwun- dert es, dass eben gerade diese Hilfe nach 1939 ausblieb und das Regime statt dessen auf professionelle und zumeist ortsfremde Ensembles setzte, die die Liebhaber- und Laiengruppen vor Ort endgültig verdrängten. Der Hintergrund dieser Politik mag in ei- ner grundsätzlichen Angst davor begründet gewesen zu sein, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Wer wie die Nazis die Kultur der Weimarer Republik derart fundamental kritisierte und radikal abgelehnt hatte, musste nun unter besonderer Beob- achtung stehen. Und wenn schon die ästhetischen Ansätze nicht überzeugen konnten, sollte doch zumindest kein Kritiker die handwerkliche Qualität deutscher Theaterarbeit nach der Machübernahme in Frage stellen können. 12 Deutschlands Rolle und interna- tionales Ansehen als Kulturnation durfte unter keinen Umständen gefährdet werden. Als Joseph Goebbels beispielsweise 1938 die Gründung einer Reichstheaterakademie ankündigte, nannte er als einen der Hauptgründe dafür die weitere Professionalisierung der Schauspielkunst: Damit entrücken wir die Ausbildung unseres Theaternachwuchses den vielfach noch festzustellenden dilettantischen und schmierenhaften Bemühungen und stellen sie auf eine feste, sichere Grundlage. 13 Goebbels’ Sorge um die fehlende professionelle Aufstellung des deutschen Theaterwe- sens hatte im besetzten Ostmitteleuropa nach 1939 direkte Auswirkungen. Selbst an Or- ten, wo deutsche Laienensembles (oft aufgrund finanzieller Unterstützung aus dem Alt - reich) anerkannte Leistungen gezeigt hatten, wurden sie nun abgewickelt. Die deutsche Bühne in Thorn, beispielsweise, war bei der deutschen Minderheit äußerst beliebt, hatte gute Arbeit gezeigt und einen vollen Spielplan auf die Beine gestellt. Kurz nach der deut- schen Besetzung 1939 war damit Schluss und auch die deutsche Theatergemeinde wurde 11 Vgl. Archiv hlavního města Prahy, Deutscher Theaterverein, Praha NDT 12. Diese Archivalie ent- hält zahlreiche Belege (zumeist Briefe) für die versuchte Einflussnahme von Seiten der Sudeten - deutschen Partei in Brünn. Für ein früheres Beispiel vgl. Teweles, Heinrich (1924) „Zur Geschichte des Theaters 1885 – 1918.” In: Schluderpacher, Prager Theaterbuch, 11). Zum Ende der Theater- gemeinschaft vgl. Steiner (1964: 95) sowie Epilog von Karl Norbert Mrasek. 12 Es gelang dem NS-Regime bis Kriegsende nicht, eigene Dramaturgien zu entwickeln, obwohl die theoretischen Diskussionen und praktischen Versuche breiten Raum einnahmen (vgl. Ketelsen 1968: 244–251). Heinrich (2012: 244–251). 13 So Goebbels in der Eröffnungsrede zur Reichstheaterfestwoche in Wien 1938 (vgl. Deutsches Nachrichtenbüro, 13. Juni 1938, Nr. 963 (BArch R43/II 1252, S. 80, http://zefys.staatsbibliothek- berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbiblio- thek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27058621-19380613-9-0-0-0.xml). Linguistica_2020_2_FINAL.indd 304 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 304 24. 03. 2021 14:21:02 24. 03. 2021 14:21:02 305 aufgelöst (Podlasiak 2008: 112–3). Das neue professionelle Ensemble, zusammengestellt aus Schauspielern, die zu Thorn und zu den Thorner Deutschen keine besondere Bindung verspürten, öffnete 1942. In Bromberg hatte es eine deutsche Laienbühne gegeben, die Förderung aus Berlin erhalten hatte, aber 1939 wurde sie aufgelöst und durch das En - semble des deutschen Theaters Riga ersetzt. Das Deutsche Landestheater in Rumänien wurde nach Jahren der Förderung aus Deutschland, und nach einer erfolgreichen Tournee durchs Altreich 1940, im weiteren Verlauf des Krieges zum besseren Fronttheater degra- diert (Drewniak 1983: 129, Fassel 2016: 135–7, 141). Der Einfluss des Prager deutschen Theatervereins wurde erheblich beschnitten und 1943 wurde er schließlich ganz aufgelöst (Ludová 2011: 82–4). 14 Im polnischen Lodsch interessierten sich die deutschen Besatzer nicht für die deutsche Bühne, die auf eine lange Tradition zurückblicken konnte, und beorderten statt dessen das deutsche Berufstheater aus Reval ins besetzte Polen. Anfang 1940 wurde das Theater feierlich eröffnet, von der bisherigen deutschen Theatertradition war nichts mehr übrig – das Revaler Ensemble hatte sogar Kostüme und Ausstattung aus dem Baltikum mitgebracht. Zu leiden hatten selbstverständlich nicht nur deutschsprachige Ensembles. Nationa- le, regionale und lokale Theatertraditionen in Polen, dem Baltikum, der Ukraine, der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und Rumänien, die oft selbst von den deutschspra- chigen Minderheiten geschätzt worden waren, wurden als minderwertig abgetan und statt dessen die Etablierung repräsentativer, mit entsprechenden Mitteln ausgestatteter deutschsprachiger Stadttheater vorangetrieben. Diese Maßnahmen waren eingebettet in eine Politik der „Germanisierung“ Osteuropas (Heinrich 2017: 157–170), der Be- setzung ehemals deutscher oder zur Eindeutschung vorgesehener Gebiete, die durch ein radikales Umsiedlungsprogramm auf der einen und aufwendige Anstrengungen auf dem kulturellen Gebiet andererseits deutsch werden sollten. So wurde aus Łódź Lodsch und schließlich ab 1940 Litzmannstadt. Die Stadt erhielt ein eigenes professionelles Sinfonieorchester, für dessen Konzerte internationale Solisten wie Wilhelm Kempff und Wolfgang Schneiderhan verpflichtet wurden. 15 Man gründete eine städtische Mu- sikschule sowie eine Tanzschule, und es gab zahlreiche Pläne für den weiteren kulturel- len Ausbau, inklusive neuer Museen für Naturwissenschaften, Völkerkunde, Wissen- schaft und Kultur. 16 Das deutschsprachige Theater hatte zwei Spielstätten mit einem eigenen Schauspiel- und Ballettensemble, rasant steigenden Subventionen, einem ehr- geizigen Intendanten (Hans Hesse) und entsprechenden Erwartungen an den Spielplan. Für ein Amateurtheater schien in diesem Klima kein Platz mehr zu sein. 14 Vgl. dazu auch Brief von Rainer Schlösser vom 11. November 1939 (Národní archiv, Urad risskeho protektora, Abteilung IV kulturelle Angelegenheiten, T [Theater] 5342, o. S. 15 Vgl. Archiwum Państwowe w Łodzi, Zbiór Teatraliów Łódzkich, 21/55. Afisze programowe kon - certów z okresu okupacji niemieckiej/Litzmannstadt 1942–44. Bl. 1f., 12. Vgl. auch Litzmannstädter Zeitung, 3. Mai 1943. 16 Vgl. Archiwum Państwowe w Łodzi, Akta Miasta Łodzi 28595, Bl. 166. Die Tatsache, dass Lodsch nie wirklich eine deutsche Stadt gewesen war, schien dabei kaum zu stören, und das Regime wurde nicht müde, das Gegenteil zu behaupten (vgl. z. B. Kargel/Kneifel 1942). Das gleiche wurde auch für andere Regionen versucht (so z. B. Reiser 1941). Linguistica_2020_2_FINAL.indd 305 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 305 24. 03. 2021 14:21:02 24. 03. 2021 14:21:02 306 Und dennoch versuchten einige Bühnen, ihre Existenz auch unter der neuen deut- schen Herrschaft zu sichern. Der Intendant der deutschsprachigen Liebhaberbühne im lettischen Libau (lett. Liepāja) beispielsweise schrieb 1941 ans Propagandaministerium und legte dar, dass seine Bühne Werke aus allen Genres (Musiktheater, Schauspiel und Tanz) aufführe und kontinuierlich für Wehrmacht, ethnische deutsche und lettische Be- sucher spiele. In 327 Aufführungen habe man mehr als 120.000 Besucher gezählt. Das einzige, was zur weiteren Entwicklung fehle, sei die administrative Unabhängigkeit vom Nationaltheater in Riga, eine Unabhängigkeit, die jeder noch so kleinen Bühne im Altreich selbstverständlich zugestanden würde. 17 Das hätte jedoch Libaus Ama- teurtheater zur quasi professionellen Bühne aufgewertet, und zu einem solchen Schritt konnte sich das Regime nicht durchringen. 18 Diese Wendung gegen Laientheaterensembles ist nicht nur verwunderlich, weil die- se Gruppen in den Zwischenkriegsjahren deutsche Minderheiten moralisch unterstützt hatten (ein willkommenes Unterfangen in den Augen des NS-Regimes), sondern auch, weil sie fast durchweg Stücke produziert hatten, die den Nazis genehm waren. Das deutsche Ensemble in Hermannstadt führte 1936 in Bukarest Komödien der dem Re- gime nahestehenden Dramatiker Heinrich Zerkaulen und Heinz Steguweit auf (Fassel 2016: 131). Die deutschsprachigen Amateurensembles in Polen produzierten fast aus- schließlich Werke deutscher Dramatiker und nach 1934 findet man kaum ein Stück, das nicht in NS-Deutschland offizielle Unterstützung genoss (Drewniak 1999: 186, Podla- siak 2008: 110–3, 115). Ein im Altreich erschienener Zeitungsartikel pries 1938 diese Ensembles in besonderer Weise; sie seien erfolgreich in die Fußstapfen der 1918 ge- schlossenen deutschen Berufstheater in Ostmitteleuropa getreten. Die Wahl der Stücke wurde dabei besonders hervorgehoben. So hätten sich die Bühnen in Graudenz (poln. Grudziądz), Bromberg und Posen zusammengetan, um Friedrich Bethges Marsch der Veteranen auf die Bühne zu bringen. Das Bromberger Ensemble habe ebenso erfolg- reich Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung inszeniert, und eine Ausstellung in Graudenz lege Zeugnis ab von der beeindruckenden Qualität dieser Arbeit. Bis 1939 hatte das Regime nicht nur rhetorische und moralische, sondern auch fi- nanzielle Hilfe geleistet. Deutschsprachige Ensembles in Westpreußen (in Posen und Pommerellen) beispielsweise hatten regelmäßige Zahlungen erhalten. Die Nazis nah- men auch Einfluss auf die Spielplan- und Personalpolitik. In Oberschlesien infiltrier- ten rechtsnationale Gruppen verschiedene Theaterensembles, in Kattowitz wurde das Führungspersonal nach 1934 nur noch mit NS-genehmen Personen besetzt (Drewniak 1999: 192–193) und in Bielitz zwang die nationalsozialistische Jungdeutsche Partei 1938 den jüdischen Theaterleiter Rudolf Loewe zum Rücktritt. Der neue Leiter An- ton Kohl stellte nur noch Nazis ein und entließ alle jüdischen Ensemblemitglieder. Das Propagandaministerium belohnte das Theater umgehend mit einem Zuschuss von 5.000 RM (Drewniak 1999: 202). Im Sudetenland war die Entwicklung ganz ähnlich. 17 BArch, R55/20533, 431. Brief vom Mai 1942. 18 Libau warb allerdings auch in den folgenden Jahren weiter unbeirrt um die Gunst des Propaganda - ministeriums und schickte eifrig Tätigkeitsberichte nach Berlin. Sogar Lohengrin und Figaro habe man erfolgreich aufgeführt (vgl. BArch, R55/20533, 449–451). Linguistica_2020_2_FINAL.indd 306 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 306 24. 03. 2021 14:21:02 24. 03. 2021 14:21:02 307 Schon lange vor dem Anschluss ans Deutsche Reich im Zuge der Münchner Konferenz 1938 waren die dortigen Theater unter den Einfluss Berlins geraten. Im Mai 1938 stell- te ein interner Bericht des Propagandaministeriums fest: Undenkbar wäre es heute, daß an einem Theater in Reichenberg, in Aussig, Ga- blonz, Troppau oder Eger ein Stück gespielt werden oder ein Darsteller auftreten könnte, der nicht das Plazet der Reichskulturkammer besäße (zit. nach Drewniak 1983: 79). Nach der Besetzung Ostmitteleuropas ab 1939 allerdings wurde keinem dieser Ensem- bles die weitere Beschäftigung angeboten, sie wurden alle abgewickelt. 19 Die theaterlose Provinz wurde statt mit regional bekannten Wandertruppen mit Tourneen der deutscher Großstadttheater und mit Auftritten der Berliner und Wiener Staatsopern und führenden Orchester versorgt. Dieses Modell schien den deutschen Machthabern weit besser geeignet, das Theater zur Kriegführung zu nutzen. Den Men- schen im besetzten Europa sollte Deutschlands Führungsrolle vor Augen geführt wer- den – nicht nur im militärischen und wirtschaftlichen Bereich, sondern auch in der Kultur. Mit aufwendigen Inszenierungen und den weltweit führenden Schauspielern, Dirigenten und Solisten wollte das Regime nicht nur zeigen, dass die besten Theater und Orchester der Welt nach wie vor aus Deutschland kamen, sondern auch, dass man eben nur mit höchster Qualität den gewünschten Effekt erzielen konnte. Norwegische Opernbesucher zeigten sich notwendigerweise beeindruckt vom Besuch der Hambur- ger Staatsoper 1940, ungarische und rumänische Besucher wurden 1941 mit Wagner- Opern der Berliner Staatsoper auf die bevorstehende Russlandoffensive vorbereitet, und Zweifel am Kriegsausgang in Kroatien wurden erfolgreich zerstreut, nachdem Ende 1943 die Wiener Staatsoper unter Karl Böhm mit Mozarts Hochzeit des Figaro dort gastiert hatte. 20 Zufrieden berichtete die deutsche Botschaft in Zagreb nach Berlin, dass sich die einheimische Bevölkerung von dieser Leistung beeindruckt zeigte. Wenn die Deutschen in der Lage waren, ein solch großes Gastspiel „mit hundert Solisten und eigenen Kulissen“ durchzuführen, konnte es mit der Kriegssituation in Nordafrika und an der Ostfront nicht so schlecht bestellt sein (zit. nach Drewniak 1983: 131). Dieser Führungsnation konnte man sich ruhigen Gewissens anvertrauen. 4 SCHLUSS Anstatt sich über die Liebhaberbühnen Zugang zu deutschen Minderheiten vor Ort zu verschaffen, setzte das Regime nach 1939 auf Berufstheaterensembles, die – oft von weit - her angereist – diesen fremd blieben. Nach dem Krieg erinnerte sich Leo Müller, dass das neue Theater zu Litzmannstadt zwar handwerklich sehr gut gewesen sei, aber dass dessen 19 Vgl. Artikel „Deutsches Theaterleben in Polen” vom 13. Dezember 1938 (Deutsches Auslands- institut, BArch, R57/6609, Akte o. S.). 20 Vgl. Goebbels’ Bemerkungen in Bezug auf Oslo, wo er seine Anstrengungen „intensivieren“ wollte (Goebbels, Tagebücher, Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, Band 8, Eintrag vom 15. November 1940, 420; Band 9, Eintrag 22. Dezember 1940, 65). Linguistica_2020_2_FINAL.indd 307 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 307 24. 03. 2021 14:21:03 24. 03. 2021 14:21:03 308 Mitglieder eben keine „Repräsentanten der Lodscher Deutschen“ mehr waren (Müller 1968: 38). Drewniaks Interpretation, dass die Besatzer die Tätigkeit des deutschen Laien- ensembles in Lodsch positiv herausstellten, muss daher hinterfragt werden (Drewniak 1983: 96). Statt dessen wurde überall im besetzten Europa, wo diese Art von Liebhaber - theater die Zwischenkriegszeit überlebt hatten, diesen Aktivitäten ein Ende bereitet. Die führende Rolle, die der deutschen Kultur im Zweiten Weltkrieg zugewiesen wur- de, konnte nach Auffassung führender NS-Politiker offenbar nur mit höchster Qualität garantiert werden. In der „großen deutschen Ostbewegung“, wie Dagobert Frey die jahr- hundertelangen deutschen Expansionsbestrebungen 1944 verklärte, habe „die überlegene deutsche Kunst und Kultur den ostmitteleuropäischen Raum über die völkischen und territorialen Grenzen hinweg zu einer Kultureinheit“ gestaltet (Barthel 1944: 7–8). Die radikale Neuordnung Europas nach 1939 war also nichts anderes als die logische Ein- lösung der „Vorsprechen“ vorhergegangener Generationen, die durch ihre künstlerischen Höchstleistungen den Boden für die militärische Expansion bereitet hatten. Für Liebha- berbühnen und lokal gewachsene Amateurtheater war in dieser Vision kein Platz. Primärliteratur und Archivquellen Abschiedsalmanach vom Stadttheater Posen 1919, Herder Institut Marburg, G/34 XV K3. Spielpläne Stadttheater Posen. Herder Institut Marburg, G/34 VIII P120 Z25. Archiv hlavního města Prahy, Deutscher Theaterverein, Praha NDT 7, 12. Archiwum Państwowe w Łodzi, Zbiór Teatraliów Łódzkich, 21/55. 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Diese Kulturschaffenden, so die offizielle Lesart, waren Beleg dafür, dass weite Tei - le Ost-, Mittel- und Südeuropas trotz der Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg deutsch geblieben waren, obwohl das die derzeitigen politischen Grenzen nicht wider- spiegelten. Das Ziel, diese Autoren und die Gebiete, in denen sie arbeiteten, wieder Deutschland einzugliedern, wurde beispielsweise in den Publikationen Heinz Kinder- manns deutlich formuliert. Das steigende Interesse an Literatur, Musik und Theater der deutschen Minderheiten muss daher als Vorgriff auf die militärischen Expansions- bestrebungen des Zweiten Weltkriegs gesehen werden. Umso verwunderlicher mag es daher erscheinen, dass dieses offizielle Interesse nach der eigentlichen Besetzung wei- ter Teile Ost-, Mittel- und Südeuropas kaum mehr eine Rolle spielte und die deutschen Minderheitentheater anstatt ausgebaut und gefördert, weitgehend verdrängt und durch Berufsensembles ersetzt wurden. Der vorliegende Artikel zeichnet einige der Grund- linien dieser Entwicklung nach, eine Entwicklung, die in der einschlägigen Literatur bisher kaum Beachtung gefunden hat. Schlüsselwörter: deutsche Minderheiten, östliches Europa, Minderheitentheater, 1918, Nationalsozialismus Abstract GERMAN LANGUAGE THEATRES IN EUROPE 1918–1945. FROM MINORITY PLA YHOUSES TO “THE EUROPEAN CALL OF GERMAN THEATRE” Theatre played a pivotal role in Nazi propaganda and cultural politics. The German lan - guage minority theatres, which continued to exist east and south of the new borders of post 1919 Germany, attracted a particular interest from the Nazi regime as they were seen as outposts of German culture in areas which were no longer officially German. After 1933 these theatre companies were supported and sometimes directly subsidized by the Nazi regime and were regarded as islands of German influence which could prove useful in a renewed military conflict aimed at extending German frontiers into these “lost” terri - tories once again. Given this attitude and commitment, it is surprising, then, that after the outbreak of war in 1939 the German government lost interest in these amateur companies which had been seen as providing a valuable service to the German cause previously. Linguistica_2020_2_FINAL.indd 311 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 311 24. 03. 2021 14:21:03 24. 03. 2021 14:21:03 Instead, the German authorities recruited professional companies from elsewhere with all amateur activity being sidelined. These new imported companies offered shows of improved quality but had no roots in local communities and remained alien to them. The present article charts some of the main threads in this development – a topic which has not met with any significant interest in the literature so far. Keywords: German minorities, Eastern Europe, minority theatre, 1918, Nazi regime Povzetek OD MANJŠINSKIH ODROV DO „EVROPSKEGA POSLANSTV A NEMŠKEGA GLEDALIŠČA“ Gledališče je imelo v kulturni politiki nacionalsocialistov izjemno vlogo. Posebno pozornost so posvečali številnim nemško govorečim ljubiteljskim in manjšinskim gledališčem vzhodne in srednje Evrope, ki so po političnih spremembah 1918/19 de- lovali zunaj meja nemškega rajha. Mnoge od njih so v Berlinu podpirali, nekatere med njimi pa po letu 1933 celo neposredno subvencionirali. Ta gledališča so bila, kot je bilo uradno rečeno, dokaz, da so daljnje regije vzhodne, srednje in južne Evrope kljub spremembam ostale nemške, čeprav politične meje takrat tega niso odražale. Cilj, da bi avtorje in področja, v katerih so delovali, ponovno vključili v Nemčijo, je jasno izražen denimo v publikacijah Heinza Kindermanna. Naraščajoče zanimanje za književnost, glasbo in gledališče nemških manjšin je tako že vnaprej nakazovalo vojaško ekspan- zijo 2. svetovne vojne. Zato se zdi toliko bolj nenavadno, da po zasedbi ostalih delov vzhodne, srednje in južne Evrope ta uradni interes dejansko ni bil več pomemben, kajti nemških manjšinskih gledališč niso več dograjevali in podpirali, temveč so jih večinoma razpuščali in nadomeščali s poklicnimi ansambli. Pričujoči članek predstav- lja nekatere glavne smeri tega razvoja, saj je bil doslej razvoj manjšinskih gledališč le poredko predmet znanstvenih razprav. Ključne besede: nemške manjšine, vzhodna Evropa, manjšinsko gledališče, 1918, na- cionalsocializem 312 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 312 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 312 24. 03. 2021 14:21:03 24. 03. 2021 14:21:03