Alkohol und Irresein Von Z)r. I. "Wobiöa. v_ 20_ _ Londerabdruck aus der «Laibacher Zeitung». '-ocT" ' Laibach 1899. Bilchdruckerei von Ig. v. Kleinniayr L Fed. Bamberg. Selbstverlag des Verfassers. Unter den vielen Giften, die der Mensch zur Er¬ zeugung von Wohlbehagen als Genussmittel in An¬ wendung gezogen, kommt in unseren Ländern vor allem der Alkohol in Betracht. Die Angewöhnung an ein «Reiz¬ mittel-», wie es der Alkohol par sxosllsnes eines ist, liegt eben in der Wirkung des Stosses selbst, da ja in derselben gleichzeitig die Anreizung zu häufiger Wieder¬ holung des einmal herbeigeführten Zustandes liegt. Alkohol ist ein Gift wie jedes andere; seine Wirkung ist abhängig von der Menge, der Art und Zeit der Einverleibung, den Umständen derselben und endlich von der persönlichen Disposition des Individuums. Im allgemeinen gilt der Satz, dass alkoholhaltige Flüssig¬ keiten von verschiedener Concentration, in gleicher Menge und unter gleichen Verhältnissen genommen, ihre Wirkung entsprechend der Concentration entfalten. Be¬ treffs der individuellen Eignung zeigen jene Leute, die von Haus aus neuropathisch veranlagt sind, ferner Epileptiker und jene, die irgend einmal leichtere oder schwerere Kopfverletzungen, sei es durch Schlag, Stoß oder Sturz erlitten hatten, gegenüber dem Alkohol ein vermindertes Anpassungsvermögen. Alkohol wird in unverdünntem, reinem Zustande wenig genossen, einerseits weil dessen Jntoxications- wirkung eine zu jähe wäre, und anderseits weil er als solcher wenig Genuss und Wohlgefühl auf der Schleimhaut des Mundes, Rachens und Magens hervorbringt. In un¬ verdünnter Form erzeugt Alkohol Kälte, Brennen, Kratzen 4 und zusammenziehende Gefühle auf der Zunge, macht Eiweiß gerinnen und wirkt in hohem Grade fäulnis¬ widrig. Man nimmt also gewöhnlich Alkohol in Form von Bier, Kumys, Wein, Liqueur, Most, Schnaps u. s. w. Biere enthalten 1 bis 3 pCt., Porterbier bis 9pCt., Weine bis >2pCt. Alkohol; «Ausbrüche, Aus¬ lesen und Champagner» wohl noch höhere Grade. Liqueure steigen in der Regel nicht über 30 bis 40 pCt; doch gibt es Cognac, Rum, Arrac und Absinth von 50 bis 70 pCt Gewöhnlicher Schnaps enthält ungefähr 15 Volumprocente Alkohol. Bei allen diesen Getränken kommen noch unzählige andere mehr oder minder schädliche Stoffe in Frage, wie Färbemittel, Extractivstoffe, Essenzen, absichtliche -Verbesserungen und Verstärkungen», z. B. Schwefel¬ säure, Fuselöl rc. Jnwieferne diese zum Theil noch recht wenig studierten Beimengungen Giftwirkungen aus¬ zuüben imstande sind, ist theilweise noch unbekannt, theilweise verläuft es neben der gewöhnlichen Alkohol¬ wirkung. Dass sie ohneweiters nicht übersehen werden dürfen, lehren die klinisch sehr gut differenzierten Absinthvergiftungen in Frankreich, die doch unter dem Bilde eines gewöhnlichen chronischen Alkoholismus ver¬ laufen müssten, wenn Alkohol hiefür die einzige Giftquelle wäre. Den anthropologischen Forschungen zufolge gibt es kaum ein Volk, welches nicht seinen «Sorgenbrecher¬ kennen würde. In Europa ist es jedenfalls der Alkohol, der fast ausnahmslos diese Rolle einnimmt. Bezüglich des Alkoholträgers treffen jedoch ganze Völker und Länderstriche ihre Auswahl; wir wissen, dass der Engländer seinem Grog, der Russe der «Wutka» und dem Kumys, der Franzose dem Absinth, der Italiener seinem Schwerweine und der Südamerikaner dem Mata Vorzug gibt. In den Alpenländern nimmt in er¬ schreckender Weise der Schnapsgenuss zu; München 5 ist durch seine Bier-, Wien durch seine Theetrinker be¬ kannt, bei denen jedenfalls der im Thee genossene Rum (über ein Viertelliter täglich) seine deletären Wirkungen entfaltet. Es würde den Rahmen des vorliegenden Auf¬ satzes weit überschreiten, wenn wir nun alle Schädi¬ gungen, die der Alkohol bei acuter und unvergleichlich weit mehr bei habitueller Vergiftung in den einzelnen Organen setzt, nur annähernd schildern wollten. Es genüge zu sagen, dass es fast kein einziges Organ unseres Körpers gibt, welches infolge des Äbusus von Erkrankungen, und leider daher häufig von solchen mit tödlichem Endausgange verschont bliebe. Pathologisch¬ anatomisch dokumentieren sich die Alkohol-Erkrankungen hauptsächlich als chronische Entzündungen, denen zur Zeit die medicinische Wissenschaft therapeutisch so gut wie machtlos gegenübersteht. Dieselben und ähnliche Vorgänge kommen auch im Gehirne und dessen Häuten beim Alkoholiker zum Ausdrucke. Es ist u priori klar, dass so fein auf¬ gebaute Organe wie das menschliche Gehirn und das Nervensystem auch viel früher als irgend ein anderes auf das Gift reagieren, dass sich aber auch die Wirkungen und Folgen weit schlimmer gestalten, und wenn sie symptomatisch nicht immer eine äußerste Steigerung erfahren, der Grund nur darin zu suchen ist, dass die Erkrankung eines so lebenswichtigen Organes, wie es das Gehirn ist, weit früher zu einem letalen Abschlüsse führen muss, als z. B. die der Leber, der Nieren u. s. w. Diese Bemerkungen glaubten wir theils zur Ein¬ leitung, theils zum Verständnisse des Folgenden noth- wendig vorausschicken zu müssen. Und nun wenden wir uns dem zweiten Theile unserer Aufgabe, den psychischen Störungen, die durch den Alkohol verursacht werden, zu. 6 Aehnlich wie bei den übrigen bekannten «An- gewöhnungsmitteln» kennen wir auch beim Alkohol hinsichtlich der zeitlichen Einwirkung desselben auf den menschlichen Organismus eine acute und eine chronische Jntoxication, von denen wir erstere gemeinhin als «Rausch» hinreichend zu kennen Gelegenheit haben. Wissenschaftlich durchgeführte Versuche und ein¬ wandsfreie Beobachtungen haben ergeben, dass sich der Rausch psychisch durch vermindertes Ausfassungsver¬ mögen, schwerere Verarbeitung äußerer Eindrücke, und eine beweglichere, freiere Auslösung von Willens¬ antrieben kundgibt. Die eigentliche Wirkung des Alkohols ist stets eine lähmende. Die scheinbare Erregung, abgesehen von jener, die nach minimalsten Dosen austritt, ist im Ausfälle von -Hemmungen» zu suchen. Man nimmt gegenwärtig nämlich ziemlich allgemein an, dass neben anderen Functionen die «Großhirn¬ rinde», das Organ unserer höheren psychischen Thätigkeit, insoferne es in seinen Ganglienzellen den Sitz der Er¬ innerungsbilder, und im weiteren Sinne der «Vor¬ stellungen» repräsentiert, auf Grundlage dieser durch das Associationsspiel gleichzeitig als Hemmungsorgan functioniert. Als Beispiel möge Folgendes dienen: Ein Corporal schleudert einem Infanteristen eine Beleidigung ins Gesicht; der letztere möchte mit einem Schlage antworten — Umsatz des bewussten Begehrens (—Wollen) in Bewegungsacte, ausgelöst durch das durch das Schmähen hervorgerufene Unlustgefühl — aber er thut es nicht, weil «Hemmungen» auftreten: Disciplinar- verletzung, Strafe rc. Dieser -Hemmungsausfall», der eben normaler¬ weise nicht vorhanden ist, repräsentiert jedoch nichts anderes, als eine Lähmung. Infolgedessen kommt es zum freieren Ablaufe sonst gehemmter Vorstellungen, die uncorrigiert und daher defect, minderwertig zum 7 Ausdrucke kommen. Auf denselben Vorgang ist auch die scheinbar erleichterte Auslösung von psychomotorischen * Leistungen zurückzuführen. Nimmt die Vergiftung zu, so werden jedoch auch diese Hirngebiete tiefer gelähmt; ein volltrunkener Mensch liegt röchelnd und unbeweglich, wie gelähmt am Boden. Alle guten Beobachter geben zu, dass verhältnis¬ mäßig geringe Gaben Alkohols die Fähigkeit tieferer geistiger Arbeit beeinträchtigen. Die Gedanken find schwer zu sammeln; verwickelteren Auseinandersetzungen zu folgen, ist einfach eine Unmöglichkeit. Bald stellt sich Schwere der Auffassung und Mangel an Kritik ein. Der Bezechte weiß nicht mehr recht, was man von ihm will, was man zu ihm sagt, wie man es meint, kann nicht dauernd zuhören und aufpassen, schweift von der gegebenen Gesprächsrichtung ab rc. Die mangelhafte Auffassung und Kritik bringt gewiss die bei Berauschten so häufigen Meinungsdifserenzen und deren Folgen mit sich ; ein Wort wird aus dem Zusammenhänge heraus¬ gerissen, falsch gedeutet, das Wesen des Gesagten ver¬ kannt. Das Urtheil über eigene und fremde Leistungen geht verloren, desgleichen der Ueberblick über Bedeutung und Tragweite der Rede und Handlung. Das ursprüng¬ lich schneller gehaltene Gespräch (Hemmungsausfall) wird bei fortschreitender Jntoxication läppisch, ver¬ langsamt, die Worterinnerungsbilder und der -passende Ausdruck- gehen verloren, die Sprache wird wegen Lähmung der sie versorgenden Nervengebiete lallend, zerfahren, unzusammenhängend. Andeutungen von Jdeen- slucht treten auf; anderseits kommt es zu zahllosen Wiederholungen des bereits Gesagten, zum Auftischen von Floskeln, Citaten und Redensarten, sprachlichen Reminiscenzen; dabei die -Freude an öden Reimereien-, an schlechten Wortwitzen; Aufsuchungen entfernter Aehn- Den -Angriffspunkten des Willens zugehörig». 8 lichkeiten — alles Erscheinungen, die häufig als »geist¬ reich» und genial gelten, die aber keine wirklichen höheren Leistungen vorstellen, sondern nur jene Jdeenreihen und Verbindungen oblaufen, die durch die notorischen Sub¬ strate unseres Sprachvermögens, wie Wortzusammen¬ setzungen, Reime, Klangbilder u. dgl. vermittelt werden, kurzum in der ausfassenden Ueberzahl durch sogenannte äußere Associationen gebildet werden.* Auf dem Gebiete der Psychomotilität der Aus¬ lösung von Bewegungsvorstellungen kommt es zum Wegfalle der feinen Hemmungen, welche im täglichen Leben unser Benehmen, den Anstand, unser Thun und Treiben aufs genaueste regeln. Wir werden sorgloser, lebhafter, freimüthiger, aber auch — rücksichtsloser (Hemmungsausfall). Nirgends zeigt sich klarer, wie gerade im Rausche und Affecte, wie viel auf Anlage bei einem Menschen zu setzen ist, wie weit Bildung und Cultur bei ihm eingedrungen. Ja man kann sagen, dass Alkohol ein feines Reagens auf den Menschen ist, und der alte Satz: «In vino voritas» ist ohne- weiters nicht von der Hand zu weisen! Obschon es eine wissenschaftliche Thatsache ist, dass Alkohol auf nur sehr kurze Zeit und sehr unbedeutend unsere Muskelkraft hebt, scheint uns wegen der er¬ leichterten Auslösungen der Bewegungen unsere Kraft und Leistungsfähigkeit gesteigert zu sein. Daher die unter Laien so häufig verbreitete Irrlehre, «guter Wein rc. stärke». Das Mienenspiel wird lebhafter, die Gesten ausfahrender; der Betrunkene fängt an, sich auf¬ fallend zu benehmen, laut zu sprechen (gesteigerter Hemmungsausfall), hält «raffiniert inhaltslose» Reden (Kritiklosigkeit), schreit und lärmt, schlägt auf den Tisch, * Z- B. Innere' Associationen zu Glocke: Ton, Kirch¬ thurm, Uhrschlag rc. Aeußere Associationen zu Glocke: Flocke, Großglockner rc. 9 wirft um sich herum. Die leisesten Reize, ein Blick, ein Wort, ein Einfall, sind imstande, Reactionen auszulösen, die in unsinnigen, triebartigen, ungestümen Hand¬ lungen ihren Ausdruck finden, bis endlich schwere Be¬ wegungsstörungen, taumelnder, schwankender Gang die eklige Scene beschließen. Was das Gemüthsleben anbelangt, so finden wir anfänglich ein ausgeprägtes Wohlbehagen, fröhliche, ungebundene Stimmung, Vergessen der Unannehmlich¬ keiten und Verdrießlichkeiten des Alltagslebens (Wegfall der Hemmungen; die Verhältnisse haben sich in Wirk¬ lichkeit doch nicht geändert!). Wir werden zugäng¬ licher, liebenswürdiger, -gemächlicher-. Gar bald schlägt jedoch dieser Zustand in das Gegentheil um; die Reiz¬ barkeit nimmt zu, es kommt zu Afsecten, die häufig von bedeutender Höhe und Latenzdauer beherrscht werden, zu Ueberschwenglichkeiten, Taktlosigkeiten, Beleidigungen, maßlosen Zorn- und Wuthausbrüchen mit leidenschaft¬ lichen heftigen Ausschreitungen. Erziehung, Ton, Sitte und Rücksicht geht verloren; der Betrunkene wird un¬ bändig, rechthaberisch, streitsüchtig, roh, gemein und schamlos. Die schwersten Folgen der acuten Alkohol-Jntoxication pflegen sich ziemlich rasch zu verlieren, und die Nach¬ wirkungen finden binnen 48 Stunden regelmäßig ihr Ende. Durch andauernde gewohnheitsmäßige Einführung des Mittels kommt es jedoch zu jenen psychischen Ver¬ änderungen des Menschen, welche in das Krankheits¬ bild des chronischen Alkoholismus hinüberführen. Klinisch verläuft der chronische Alkoholismus be¬ treffs der Psyche unter dem Bilde eines mehr oder weniger ausgeprägten Schwachsinnes, sei es auf dem Gebiete der Intelligenz, des Wissens, des Gemüthes, häufig genug auf allen zugleich, welcher Zustand sodann die sogenannte «sittliche Entartung- — «alkoholische 10 - Depravation» des Trinkers als folgenschwerste Er¬ scheinung ergibt.* Betrachten wir, so gut es geht, an einem Einzel¬ falle das Krankheitsbild des chronischen Alkoholikers. Der Mann ist Bürger, sagen wir Bäcker seines Zeichens. Er zeigt bereits somatische Zeichen seiner üblen Ge¬ wohnheit, seine Hände zittern, besonders am frühen Morgen; er klagt über Schwere in den Füßen, über Wadenkrämpfe und Kopfweh; Appetitlosigkeit, morgend¬ liches Erbrechen und pappigen Geschmack im Munde — Anzeichen von theils entzündlichen Vorgängen au den Nerven- und Hirnhäuten, theils von bestehendem chronischen Magenkatarrhe herrührend. Das Frühstück mundet ihm nicht, mürrisch weist er die Aufforderung seiner Gattin, doch etwas zu nehmen, von sich, er schreit und flucht über Lüderlich- keit im Hause, weil er, spät nachts heimkehrend, seine Hemdknöpse verlegt hatte und sie nunmehr nicht sofort zu finden vermag. Tiefe geistige Verstimmung, krank¬ hafter Missmuth bilden seine Stimmung; es lohnt sich nicht, das Leben weiter zu führen, ein Strick um den Hals wäre wohl das beste. (Uorosllas abriosa.) Es ist 8 Uhr früh; eben eine halbe Stunde, in der er Zeit hat, vom Geschäfte abzukommen. Er will nur mal in die Nachbarschaft schauen, irgend ein Morgen¬ blatt in die Hand nehmen. Die -Nachbarschaft» ist zwar etwas entfernt, es ist jedoch eine Trinkhalle, und ein Thee mit doppeltem Rumzusatze, ein guter Magen¬ bitter thun immer gut. Er wird bei seinem Eintritte von seinen Kumpanen freudigst begrüßt, es liegt darin viel Todtschweigen- machen des eigenen Gewissens. Der Selcher ist da * Eine klassische Zeichnung hat Zola in seinem «L' affomoire» geliefert. Desgleichen Dostojewski in seinem -Razkolnikom». Ver¬ gleiche ferner Turgenjews «Herr und Knecht». 11 und der Schuster ebenfalls, auch ein Canalräumer hat sich eingefunden. Mit letzterem trank er einstens Dutzbruderschaft — weswegen auch nicht, er ist doch Mensch wie jeder andere; dass es gleich zum ersten- male geschah, nachdem er ihn gesehen, das ist doch kein Grund, er war halt in solcher «Laune». Es ist ja richtig, einen kleinen Dusel hatte er sich damals angezecht gehabt und hat ihm, dem wildfremden, ungekämmten, ungewaschenen Gesellen in der defecten Kleidung, er, der als gutsituiert geltende Bäcker mit der schweren Goldkette an der Weste, die zärtlichsten Geheimnisse seiner Frau und seiner Tochter anvertraut. Es ist ihm einmal vorgekommen, er hätte sich doch Zügel auferlegen sollen — aber nun? Indes ist er nicht ein fescher, aufrichtiger Kneipbruder, der auf die paar Kreuzer, die er sich verdient, so gentlemanlike herabschaut wie ein geborener Edelmann und für seine Freunde den letzten Sou hergibt? Wie ist dagegen seine Frau, die Pantippe, die ewige Nörglerin! Sie hat ihm noch nie ein Glas vergönnt, und doch bedarf er dessen sicher, da er Tag und Nacht der Glühhitze des Ofens ausgesetzt ist. Ach ja, seine Frau ist eigentlich an allem schuld! Sie müsste ihn ganz anders behandeln, sie ist es, die ihn unglücklich macht. Sie ist knauserig bis zum Excess, steht um 4 Uhr früh auf, natürlich um Dienstboten zu quälen; das Geschäft geht ja so gut, dies alles hätte sie wohl nicht nothwendig. Inzwischen weiß unser Freund nichts vom be¬ zahlten Zins, von Kleider- und Nahrungssorgen, weiß nicht, dass sein ganzer Verdienst nur für seine Leiden¬ schaft aufgeht. Eine Zeitung wird in die Hand genommen; wenig wird gelesen, noch dieses flüchtig, wenig gemerkt, schlecht aufgepasst. «Was die blöden Leute schreiben!» Und um 9 Uhr früh blüht die Politik am Trinktische! 12 Das alte beliebte Geleise des ewigen Schimpfens über alle Einrichtungen, über Staat und Institutionen wird kritiklos fortgesetzt. Bald sind es einzelne Machthaber, die unverdienterweise in die Höhe kamen, bald ist es der Stand in toto, der unterdrückt wird. Das ganze Raisonnement ist der Ausdruck der sein Inneres beherrschenden Unlustgefühle. Dabei gebraucht er prahlerische Selbstüberhebungen, ist kritiklos genug, sein Thun und Handeln zu loben, seine Fähigkeiten als excellierend hinstellen zu lassen. Nun ist es Zeit, er muss mal ins Geschäft nachsehen. Doch wie kurze Zeit hält es ihn drüben! Die für chronische Alkoholisiert so charakteristische Unstetig¬ keit und Unruhe treibt ihn unter irgend einem nichtigen Vorwande wieder fort. Den Zusprüchen der Frau, die Rechnungen für den Mehllieferanten endlich fertig¬ zustellen, begegnet er gereizt und auffahrend, schreit und lärmt, schlägt auf das Pult, es habe damit Zeit, er könne doch nicht stets in den Ziffern stecken, er arbeite ohnedies genug. Nun, jetzt hat ihn die Frau wieder aufgebracht, sie ist schuld an allem. Leider be¬ straft er diese Schuld an sich selbst — und fünf Minuten später finden wir ihn am bekannten Stamm¬ tische beim Frühschoppen! Nun wird weiter gezecht. Würde man ihn zur Rede stellen, er würde indigniert antworten: er trinke nie zuviel, sei jahrelang nie betrunken gewesen, ihm sei es ein Leichtes, dem Alkohol zu entsagen, er könne es ganz lassen. Man muss der Wahrheit gemäß hervor- heben, dass der Mann sogar unaufgefordert schon ernst¬ liche Vorsätze, seiner Leidenschaft zu entsagen, mit dem Schwure gefasst hat, nie mehr zu trinken, im höchsten moralischen Katzenjammer: «dem Alkohol-Elend», vor seiner Frau zu Boden gesunken und, ihre Knie um¬ schlingend, sie um Verzeihung gebeten, die heiligsten Versprechungen und Eide geschworen hat — aller- 13 dings nur bis zur ersten Trinkgelegenheit, wo er rück¬ fällig geworden und mit albernen Ausflüchten: .der Wein war auf dem Tische, andere haben ihn bezahlt,» seinen schmählichen Wortbruch zu rechtfertigen ver¬ suchte. So geht es Tag auf Tag; der Niedergang des Geschäftes wird auf tausend andere Ursachen, nur nicht auf die wirkliche bezogen. Es ist einleuchtend, dass solche Situationen wenig geeignet sind, sogar nüchterne Menschen aufzurichten; der Trinker aber greift zum Glase und nippt nunmehr «doppelt berechtigt» am Becher des «Trostes». Es kommt der Abend. Genau um die festgesetzte Stunde entfernt sich unser Bekannter, nimmt am selben Tische denselben Platz ein, wie an jedem anderen Tage. Die Gesellschaft ist versammelt. Der Baumeister ist da, der ewig gegen die nichtswissenden Theoretiker, vulgo Ingenieure, wettert; der Bezirksarzt, der der beste Mediciner der ganzen Welt ist, indessen jede dies¬ bezügliche Frage mit Allgemeinplätzen, wie: «Das weiß man nicht ganz genau», «Es ist sehr verschieden» rc. beantwortet; der Adjunct, die rühmlich anerkannte juridische Autorität, dessen Urtheile insgesammt von der höheren Instanz verworfen werden; der Professor der Geschichte, der erschreckend vieles publicieren wird, ohne indessen noch je eine Silbe veröffentlicht zu haben; der Selchermeister von der Frühstückstube, der io puimto Politik alle Diplomaten übertrifft, aber über die simpelsten Tagesfragen nicht gehörig instruiert ist; der stets heisere Redacteur, der wunderbare Sänger, der feine Stimme jeden Abend rühmt, aber feit zehn Jahren keinen reinen Ton aus seiner Kehle hervor¬ gebracht; der «freisinnige» Steueramtscontrolor, der, «liberal- wie niemand, dem Jnspector bei jedem feiner Besuche mit allen möglichen Bücklingen begegnet, und endlich der Stationschef, der Pantoffelheld, der täglich 14 in Gesellschaft seiner Gemahlin das Local aufsucht, zu allem lacht und um 9 Uhr schlafen gehen «muss-. Als ob das ein Mann wäre! Er ist auch der am wenigsten angesehene in der ganzen Gesellschaft. Nachdem die obligate Maßzahl geleert, wird in ein Cafe gegangen. «Wenn man arbeitet, darf man sich auch was gönnen», sagte mir einstens ein solcher Kranker. In gegenseitigen halbangedeuteten und auch deutlich ausgesprochenen Lobeserhebungen verliert sich endlich am frühen Morgen die «feucht-fröhliche» Bruderschaft, wankenden, unsicheren Schrittes die je¬ weilige Wohnung aufsuchend. Ganz eigenthümlich für den chronischen Alkoholiker ist sein Auftreten in Gesellschaft und zuhause. Während er im Zechgelage als der größte Phlegmatiker, der stets «Gemüthliche» gilt, ändert sich sofort die Situation, sobald er in den Kreis feiner Angehörigen tritt. Es ärgert ihn bereits das Abwischstroh vor der Eingangsthür, ein Stuhl, der ihm zufälligerweise im Wege steht. Die vielleicht mit thränenerstickter Stimme schluchzende Gattin wird roh, brutal und gemein an¬ gefahren, die schlafenden Kinder durch wüstes Gelärme geweckt, Gläser und Stühle zerschlagen, die Frau misshandelt, am Leben bedroht. Bezeichnend für den Alkoholiker ist seine Feigheit, wenn er sich unter¬ geordnet, seine maßlose Brutalität, wenn er sich als der Beherrschende fühlt. So geht es Jahr aus Jahr ein. Zahlungs¬ stockungen treten ein, die Arbeitsunfähigkeit nimmt zu, der Erwerb wird von Tag zu Tag geringer; stupid und unbekümmert sieht der Trinker dem Elende seiner Familie, der Verwahrlosung seiner Kinder zu und schwankt zwischen «würdelosem Galgenhumor und un¬ männlicher Weinerlichkeit». Er kümmert sich nicht mehr um das Wohl und Wehe seiner Angehörigen, «lässt die Verachtung seiner Standesgenossen gleich- 15 giltig über sich ergehen-, blickt mit elender Resignation in seine düstere Zukunft. Unflätige Schimpfereien, Schamlosigkeiten, Gewaltthaten, Quälereien und Miss¬ handlungen seiner Familienmitglieder und andere Acte der Roheit sind die einzigen Abwechslungen in diesem düstern Bilde. Wie häufig weiß noch immer der Laie nichts davon, da die «Dulderin» schweigt, der «Held» aber bei allen Anlässen sich selbst im günstigsten Lichte hinzustellen weiß. So geht es bergab mit ihm. Der drohende gesell¬ schaftliche Ruin bringt es mit sich, dass Elend ins Haus einzieht; das letzte Stück Kleid wird verkauft, der Ehering versetzt und dann der Erlös vertrunken. Aber so noble Passionen wie Wein und Bier kann sich der Mann nicht mehr leisten; er bevorzugt mehr und mehr die Getränke, welche ihn schnellstens und billigstens in den ersehnten Zustand bringen, verbringt Tage und Nächte in den schäbigsten Spelunken und in der verkommensten Gesellschaft. Geht das Geld und der Credit aus, ist Hab und Gut lange hinweg, so schließt die weitere Laufbahn mit Schwindel, Betrug, Diebstahl und anderen Verbrechen. Dabei nehmen körperliche Beschwerden überhand: Veränderungen in den Nerven bringen Schmerzen und Parästhesien (Empfindungen, wie Ameisenlaufen, Taubsein der Füße, Jucken rc.) mit sich, die, wie wir später sehen werden, so häufig zu Halluci- nationen verwertet werden und sich als «beißendes Ungeziefer» im Delir präsentieren. Der Schlaf wird immer schlechter; der Säufer schläft wenig, wird von ängstlichen Träumen gequält, liegt sehr häufig nur im Halbschlafe, nicht zu vergessen im fortgeschritteneren Krankheitszustande der großen Disposition zu Sinnes¬ täuschungen, speciell auf dem Gebiete des Gehörsinnes. Sondern wir nun in diesem soweit wie möglich allgemein geschilderten Vergiftungszustande das Wesent- 16 liche vom Unwesentlichen, behandeln wir also die empirisch gewonnenen Erfahrungen «wissenschaftlich., so ergibt sich, dass der Grundcharakter der psychischen Störungen klinisch, wie bereits erwähnt, in einem fort¬ schreitenden Mangel der intellektuellen und ethischen Leistungen als auch in krankhaften Veränderungen des Gemüthslebens sich documentiert. Dehnbarere An¬ schauungen über Anstand und Ehre, Gleichgiltigkeit gegen sittliche Conflicte, Brutalität und Cynismus, Gemüthsreizbarkeit und Zornausbrüche mit dem Charakter pathologischer Affecte, Verstimmungen und Selbstmord¬ gedanken, eine speciell in der Erfüllung der Berufs¬ pflichten auffallende Willensschwäche, die sich am deut¬ lichsten in der Unmöglichkeit, dem Laster entsagen zu können, documentiert, die Abnahme intellektueller Leistungsfähigkeit, der Auffassung, Störungen des Ge¬ dächtnisses, Erschwerung und Zerfahrenheit des Ge¬ dankenganges und Kritiklosigkeit — das sind die haupt¬ sächlichsten Anzeichen der durch chronischen Alkoholismus hervorgerufenen Depravation. Aus dem Geschilderten ist zur Genüge ersichtlich, dass diese Störung nirgends mehr als gerade auf dem Gebiete der Ethik ins Auge fällt, so dass man kurzum beim Alkoholisten von einer «Degeneration des Charak¬ ters- sprechen kann. Der soweit fortgeschrittene Trinker ist eine entschieden pathologische Erscheinung, er ist ein in jeder Richtung Geisteskranker, der seine Selbstbestimmungsfähigkeit und seinen -Willen- durch sein Laster vollkommen eingebüßt hat. Doch damit ist das Gebiet noch lange nicht erschöpft. Auf Grund des chronischen Alkoholismus entwickeln sich vom ge¬ schilderten Krankheitsbilde präcise getrennte, gut ge¬ sonderte und klinisch begrenzte Zustände mit dem Charakter einer ausgesprochenen Psychose, die wir nunmehr im Folgenden besprechen wollen. Wir meinen vor allem den auch den Laien zur genüge 17 bekannten sogenannten 'Säuferwahnsinn», das «äslirlum trsmsns». Die Übersetzung des lateinischen Namens äolirium tromsns als «Zitter-Delir» weist uns auf die beiden hauptsächlichsten Symptome hin: auf das hochgradige Zittern des ganzen Körpers und die acut auftretende Verwirrtheit mit Sinnestäuschungen. Das äölirirrm trsmsQ8 ist nie der Ausstuss eines noch so starken einmaligen Rausches; die Erkran¬ kung entwickelt sich nur bei Gewohnheits-Trinkern, tritt nie ohne Vorboten ein und dürfte in ungefähr 12 pCt. der Fälle mit dem Tode des Erkrankten enden. Ein an Säuferwahnsinn Leidender wird in Halbwegs vorgeschrittenem Stadium der Erkrankung auch vom Laien als «irrsinnig» kaum verkannt werden können. Wegen der häufig unangenehmen, die Persönlichkeit be¬ drohenden Illusionen und Hallucinationen auf dem Sinnesgebiete des Gehörs und des Gesichtes werden diese Kranken gar oft gemeingefährlich, haben Häuser in Brand gesteckt, ihre Kinder verletzt, die Frau todt- geschlagen. Ihre Internierung in einer Deliranten¬ zelle oder in einem Gitterbette ist ohneweiters einsichtlich. Was die eigentliche Gelegenheitsursache des Säufer¬ wahnsinns ist, wissen wir nicht. Im allgemeinen rufen schwächende Einflüsse, Blutungen, Verletzungen, Knochen¬ brüche, Lungenentzündung, gehäufte Alkoholexcesse sowie starke Gemüthsbewegungen das Leiden hervor. Indes befinden wir uns über das Wesen des Entstehens noch völlig im unklaren. Zur Illustration der angeführten Thatsachen möge folgende Krankengeschichte dienen: Einem sonst soliden und in gutem Rufe stehenden Schlossergehilfen, der jahrelang hindurch täglich am Abende */. Liter Rum in Thee zu trinken Pflegte, starb sein Bruder. Der Manu, der am Verstorbenen un¬ gemein Hieng, grämte sich ob des Todes, klagte eine 18 Woche nach dem Ableben jenes über Wüstsein und Ein¬ genommenheit des Kopfes, Stirndruck, Zittern der Hände und Füße. Er schlief in der Folge drei Nächte schlecht, stand aber in der Früh dessenungeachtet auf und gieng an die Arbeit. Am Wege hörte er, wie man ihn beim Namen rief, blickte sich um, gewahrte jedoch niemanden (Gehörhallucination). Das traf mehreremale am selben Vormittage zu, so dass der Patient beim Mittagstische seiner Frau darüber Mittheilung machte. Abends von der Arbeit heimgekehrt, fühlte er sich müde und matt, wie zerschlagen, gieng bald zu Bette und schlief sofort ein. Nach einer Stunde jedoch wachte er wieder auf, richtete an seine noch wachende Frau die Frage, ob die älteste Tochter schon heimgekommen wäre, es sei ihm so, als müsse er sie aufsuchen, etwas sei ihr zugestoßen (Angstaffect). Die Gattin, mit der übrigens der Patient in glücklichster Ehe lebte, suchte ihn zu beruhigen, doch war alles Zureden vergebens, er sprang auf, lief im Nachtgewande die Treppe hin¬ unter, meinte, drei Männer lauern auf ihn, wollen ihn einfangen, man könne wegen des Getöses gar nicht schlafen, das Bett sei voller Läuse (Parästhesien, zur Illusion verwertet) und Wanzen, ganze Rudel von Ratten und Ottern laufen herum, wollen nach ihm beißen. Dabei wischte sich der Kranke das vermeint¬ liche Ungeziefer fortwährend vom Leibe. In der Folge wurde er ruhiger, schlief jedoch die ganze Nacht über fast nichts, gieng früh an die Arbeit. Plötzlich hörte er aus der Wand heraus, wo er arbeitete, Stimmen, die ihn beschimpften, ihn einen Gauner, einen Taugenichts, einen Narren nannten, die Rettungsgesellschaft werde ihn noch einfangen. Nun ließ der Kranke die Arbeit (theilweises Krankheits¬ bewusstsein) gehen, gieng zu seinem Meister und erbat sich zwei Kameraden zu seiner Begleitung nach Hause, damit ihm die Rettungsgesellschaft nicht auf der Straße 19 auflauere und ihn wegbringe. Ruhig zuhause an¬ gekommen, zeigt er seinen Freunden etliche Photo¬ graphien, spricht ganz geordnet, fängt aber auf einmal an zu schimpfen, es brenne im Hause, er merke es deutlich am Brandgerüche (Geruchshallucination), man will ihn (Verwertung derselben) lebendig verbrennen lassen. Die aufgetischte Suppe weigert er sich zu essen, sie ist vergiftet, er merkt es am Geschmacke (Halluci- nation im Geschmacksinne); lässt sich bestimmen, den Krankencassenarzt aufzusuchen. Daselbst vorgelasfen, greift er sich in den Mund, weist dem Arzte die nassen Finger hin und meint, er halte darin ein Büschel Haare sest (Parästhesien; Illusion?); diese konnten doch wohl nur durch die Suppe in seinen Mund hineingelangt sein; es sei doch klar, man wolle ihn daran ersticken lassen (Verwertung). Bei seiner Aufnahme auf der Klinik ist der Pa¬ tient örtlich und zeitlich vollkommen desorien¬ tiert, wähnt sich in seiner Werkstätte (Beschäftigungs¬ delir), hört aus der Wand heraus Stimmen, die nach ihm rufen, antwortet: «Ja, ja, ich komme sofort,- verkennt den Arzt, feilt mit der Hand an einem illu¬ sorischen Eisenstücke, kratzt sich fortwährend, schimpft über Ungeziefer. Nachts schlaflos. Am nächsten Morgen beschwert sich der Patient, man steche mit Messern, Gabeln und Säbeln nach ihm, bewerfe ihn vom Fenster aus mit «Vitriol», daher brenne ihn der Rücken so sehr (Parästhesien). Man möge ihn doch auslassen, er könne in dieser Mördergrube nicht weiterleben, allerlei Gesindel, Räuber und Mörder behelligen ihn, drohen ihm mit dem Erschlagen. Seine Kinder habe man in den Ofen gesperrt und sie verbrennen lassen, heute komme seine Frau und er an die Reihe. Dabei heftige Abwehrbewegungen (Angstzustände und Reaction dar¬ auf). Da man ihm den leeren Ofen zeigt, meint er, er wisse nicht, wie es ihm sei, man täusche ihn fort- 20 während, treibe Schabernak mit ihm (Verwirrtheit). In der nächstfolgenden Nacht wieder massenhafte Thier- hallucinationen, in den Rücken habe man ihm einen Schlauch gebohrt, pumpe Gift in ihn hinein. Vor dem Fenster stehe ein Blutgerüst, 30 Männer seien heute nachts daselbst hingeschlachtet worden. In der Folge Zustände größter Zerfahrenheit, Unruhe, Angst, Zerstörungsdranges, Beschäftigungsdelir, große Jdeenflucht — bis am achten Tage früh ergiebiger, 18 Stunden währender Schlaf auftritt. Der Patient erwacht bei klarem Bewusstsein, wundert sich, wie er hiehergekommen, er sei schwach und erschöpft, lacht über seine Trugbilder, erinnert sich einzelner davon und genest vollkommen in den nächsten Tagen. Wichtiger, als diese Jrrsinnsform ist wegen ihres forensischen Interesses eine ihr äußerst ähnliche Er¬ krankung, die sich gleich dieser bei Säufern findet, aber vom Delir durch die schnelle Entwickelung, die kurze Dauer und häufig durch ein jähes Einsetzen, welches sofort die Höhe des Krankheitsbildes zu erreichen pflegt unterscheidet, nämlich die sogenannte «trunkfällige Sinnestäuschung». Das bezeichnende Merkmal dieser Psychose ist das schnelle, vorübergehende, ja episodische Ablaufen derselben. Gehörs- und Gesichtshallucinationen gewöhnlich schreckhaften, beängstigenden Charakters, sind ihre Grundlage. Das Bewusstsein dieser Kranken ist traumhaft verzerrt, sie leben einen Dämmerungszustand mit nachheriger lückenhafter oder vollkommen fehlen¬ der Erinnerung durch. Infolge der bedrohlichen Sinnes¬ täuschungen führte die Erkrankung schon häufig zu schweren Gewaltthaten; die Patienten sind im hohen Grade gemeingefährlich. Da diese Erkrankungsform ziemlich selten ist und derselben von einigen Autoren die Berechtigung zur Aufstellung einer eigenen Er¬ krankungsform sogar abgesprochen wird, so wollen wir uns damit hier nicht näher beschäftige». 21 Verschieden durch das meist sehr wenig getrübte Bewusstsein von den beiden bisher geschilderten Erkrankungsformen ist der sogenannte «hallucinatorische Wahnsinn der Trinker». Diese Krankheit verläuft in der Regel subacut oder chronisch und ist in den meisten Fällen mit etwas vorgeschrittenem Schwachsinn gepaart. Nachdem zuweilen Schlaflosigkeit, Reizbarkeit und Verstimmung eine Zeitlang vorausgegangen waren, hört der Kranke gewöhnlich nachts unbestimmte Geräusche von Schießen, Brausen, Läuten, Donnern, Rollen u. dergl.; später vernimmt er einzelne Worte und Sätze, dann auch ganze Gespräche, die sich mit ihm beschäftigen. In der Regel wird der Kranke wenig direct in die Situation mit- und hineinbezogen, man spricht nur in der dritten Person von ihm, er ist gewöhnlich nur Zuhörer. Der Inhalt des Gehörten ist wenig angenehm für den Kranken: man schimpft über ihn, er sei ein Verbrecher, ein Dieb, möchte Gott die Sterne vom Himmel stehlen, wenn er es könnte; führe einen unsittlichen Lebenswandel rc. Ein anderes- mal wähnt er sich verurtheilt, hört den Staatsanwalt, wie er ihn in einer Anklage verleumdet, die Richter, wie sie sein Todesurtheil sprechen. Seine Freunde sprechen über ihn, ob man ihn nicht lieber doch aufhängen oder besser erschießen möge, er sei keinen Schuss Pulver wert. Zuweilen kommt es auch zu Gesichtshallueinationen: Fratzen heben sich aus der Wand heraus, zeigen ihm die Zunge, spucken ihn an, Fledermäuse umschwirren ihn. Auf Grund solcher mehr oder weniger erasser Sinnestäuschungen, au die selbstverständlich der Kranke fest glaubt, entwickelt sich die Ueberzeugung, er sei Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit, man beobachte unausgesetzt sein Thun und Lassen, interessiere sich für sein Vorleben, seine Familiengeheimnisse, umgebe ihn mit Detectiven. Doch auch dies genügt ihm nicht; die Um¬ gebung habe ganz andere Mittel ihn auszukundschaften: Löcher, Spalten und Ritzen werden verborgen im Zimmer angebracht, wodurch man ihn beobachte, mit Spiegeln und Telegraphenleitungen gebe man sich Sig¬ nale, berichte über ihn. Die Bekanntschaft ist falsch, listig, hinter dem Rücken betrügen sie ihn alle; aber die «Stimmen», die er hört, klären ihn über alles auf. Auf diese Weise baut er sich, wenn der Process länger dauert, ein systematisiertes Wohngebäude auf; ein aus¬ gesprochener Beachtungs-, Bestehnngs- und Beeinträch- ligungswahn greift platz. Man kennt alle seine Ge¬ spräche, ist sogar über seine Gedanken genau infor¬ miert ; in Kaffeehäusern spricht man über ihn, in Zeitungen finden sich Andeutungen, die auf ihn Hin¬ stelen. Ein Bekannter ist gestorben, man hat ihn heim¬ lich und irrthümlich umgebracht; auf den Patienten hat man den Anschlag ausführen wollen. Die Stimmung ist anfänglich bei diesen Kranken gedrückt, ängstlich; bei längerer Dauer der Erkrankung kommt es jedoch zu eigenthümlichen Mischformen von Angst, Galgenhumor und Gleichmuth, die eben diese Kranken so charakterisiert. Zuweilen begehen sie ihren Visionen und Acusmen entsprechende Handlungen, verkriechen sich unter das Bett, schützen sich mit einer über den Kopf gezogenen Decke gegen die vermeint¬ lichen Gegner. Dabei sind sie höchstens nur leicht be¬ nommen, klar und orientiert, geben geordnete Auskunft über ihre Erkrankung, sind jedoch manchmal miss¬ trauisch und zurückhaltend. Selbstmorde und Gewalt- thaten kommen zu Anfang, auf der Höhe der Er¬ krankung und bei Wiederholungen vor. Indes sind leichtere Formen in einigen Wochen, andere in Monaten curabel, einige jedoch überhaupt unheilbar. Im all¬ gemeinen bestimmt die Menge der Sinnestäuschungen und ihre Ausbreitung auf verschiedene Sinnesgebiete die Schwere des Falles. Häufig bleibt, auch wenn längst alle typischen Symptome geschwunden, ein gewisser Grad von 23 Urtheillosigkeit, Mangel an Einsicht, Moraldesecte rc. zurück. Interessant ist nun eine dieser sehr nahestehende Jrrsinnsform der Trinker, die klinisch unter dem Bilde chronischer Verrücktheit verläuft und als «Wahn ehelicher Untreue» oder «Eifersuchtswahn der Trinker» gesondert besprochen zu werden verdient. Die Kenntnis dieses Krankheitsbildes ist schon deswegen auch für deu Nichtpsychlater von Interesse, weil gerade bei diesen Kranken ihre große Gemeingefährlichkeit in Laienkreisen so leicht übersehen wird, da der Verstand des Kranken bei oberflächlicher Betrachtung und gewöhnlicher -bürgerlicher Menschenkenntnis» zu oft intact erscheint und die producierten Wahnideen fast stets im Gebiete des Alltäglichen und Möglichen sich bewegen. Der Nachweis dieser Störung fällt zuweilen sogar dem Be¬ rufsarzt so schwer, dass nur die sehr genaue Kenntnis der wirklichen Verhältnisse eine unanfechtbare Diagnose zu sichern vermag, zumal gerade der Alkoholismus sehr häufig zu wirklicher Entfremdung der Ehegatten und deren weiteren Folgen thatsächlich führt. Anderseits ist aber dieser Wahn, wenn einmal erwiesen, wieder so bezeichnend für Trinker, dass man, seltene Fälle (Altersschwachsinn!) ausgenommen, aus diesem allein ohneweiters die Diagnose des chronischen Alkoholismus mit größter Sicherheit wird stellen können. Die Gemeingefährlichkeit dieser Leute für die Frau und die vermeintlichen «Nebenbuhler» ist ein¬ leuchtend, zumal der Kranke häufig wenig von seinen Ideen äußert, um plötzlich einmal, gewöhnlich nach einem größeren Alkoholexcess, gewaltthätig zu werden. Dieser Wahn entsteht auf combinatorische Weise und findet in der oben beschriebenen Neigung, Gesehenes, Gehörtes und Erlebtes verfälscht und unrichtig auf sich zu beziehen, manchmal auch durch entsprechende 24 Hallncinationen und Illusionen, bei mangelnder Kritik seine Bestätigung. Es ist doch verständlich, dass es zu Zerwürfnissen, zum Niedergange im Haushalte, zu Schuldenmachen und Elend, zu Streit und Hader, zu Auftritten unerquicklichster Art in der Familie des Säufers kommen muss. Aber den Grund hiefür sucht der Trinker nicht in sich selbst, und wenn er es thut, so nicht auf die Dauer; er hat lange Zeit allerlei Ausreden und Sophismen zur Beschönigung seines Lasters bereit. Dies alles, im Zusammenhänge mit den Vorwürsen der darbenden, sich abplagenden Gattin, ihre Abneigung gegen den rohen, egoistischen, alles vergeudenden, Willensschwächen Trinker lassen in ihm Verdachtsmomente entstehen. Es kommt im Hause zu Seenen, der betrunkene Gatte schlägt seine Frau, wirft sie zu Boden, schleift sie an den Haaren, tritt sie mit Füßen, schmäht sie mit den gemeinsten Schimpfworten — endlich findet sich vielleicht in der Nachbarschaft ein Mann, der dem Treiben des wüsten Gesellen ein Ende zu setzen sucht. Warum? — Das ist für den Trinker doch evident genug — er ist der Liebhaber, er schützt sie, vertheidigt sie. Wie er nur so blind sein konnte . . . Jahre hindurch; er hatte die beiden vor einiger Zeit doch schon einmal auf der Treppe mit einander sprechen sehen, sie lachte dabei über ihn, den Gatten! Ein andermal hatte jener Hausbewohner ein Papier in der Hand — wie er den Patienten erblickte, steckte er es sofort in die Tasche. Es ist klar, dass es ein Brief feiner Frau gewesen sein musste! Und wie der «Liebhaber» gut aussieht — natürlich, da ihm die Frau alles Mögliche aus Kosten ihres Gatten zuträgt, da muss die Wirtschaft ja zugrunde gehen. Aber der Nebenbuhler revanchiert sich; die Frau hat ein neues Kleid, vielleicht das einzige im Jahre! — Woher sollte sie das Geld dazu genommen haben, wenn sie es nicht vom Liebhaber hätte! Schöne Kleider braucht sie ja, 25 um Männern zu gefallen! Wie lange ihn nur schon die beiden betrügen mögen? . . . Und die Kinder! Sind die ihm etwa ähnlich? Das jüngste kann das «r» noch nicht deutlich aussprechen, das kann doch sicherlich nicht sein Kind sein — er selbst hat ja keinen Sprachfehler! Und so gehen die Combinationen weiter, werden durch die falschen Beobachtungen und krankhaften Verwertungen des wirklich Wahrgenommenen, durch Verwechslung der Ursache und Wirkung ins Unendliche gesponnen, ohne wegen der vorhandenen Einsichtslosigkeit nur einmal eine Correctur zu erfahren. Die Aussicht auf Heilung des -Eifersuchtswahnes» ist eine ziemlich triste; nur selten bildet sich der Wahn zurück. In der Anstalt dissimulieren zuweilen die Kranken, um ihre Freiheit zu gewinnen und draußen im alten Geleise ihren Gedanken nachzuhäugen, bis sie eine gefährliche Drohung oder gar Todtschlag und Mord neuerdings der Anstalt zuführen. Noch eine klinische Form erübrigt uns zu bespre¬ chen, wir meinen die Alkohol-Paralyse (Ussackopara- I^sis aloollolioa), ein Leiden, welches quasi die Com¬ bination des chronischen Alkoholismus mit der den Laien unter dem Namen der «Gehirnerweichung», dem «Größenwahn», bekannten Krankheit der Paralyse vor¬ stellt. Neben den für letztere Erkrankung charakteristischen körperlichen Anzeichen, dem starken Zittern, den licht¬ starren Pupillen und einigen anderen, auf die wir hierorts nicht näher eingehen können, geht der Kranke mit allerlei für Alkoholiker bekannten Hallucinationen, mit Resten eines Eifersuchlswahnes in fortschreitendem Blödsinne zugrunde. Nur selten erfolgt ein Stillstand des Processes, kaum je Heilung; der gewöhnliche Aus¬ gang ist Lähmung und Tod. Uebrigens ist die Diagnose dieser Krankheit kaum je einwandsfrei zu stellen, die Er¬ krankungsform selten und daher noch mangelhaft studiert. 26 Zu erwähnen wäre noch, dass gerade hier schlag¬ flussähnliche und epileptische Anfälle, die auch sonst bei etwa 10 pCt. aller chronischen Alkoholiker im späteren Verlaufe sich einstellen, sehr häufig einzutreten pflegen und dass die Patienten gar nicht selten einem solchen Insulte erliegen. Begünstigend für die Entstehung einer Alkohol- epilepste find jedenfalls Anlage und Schädelverletzung, speeiell solche mit stumpfen Gerüchen. Die Epilepsie der Trinker unterscheidet sich von anderen Formen der Fallsucht symptomatisch iu nichts. Es kommen hier wie dort leichte und schwere Fälle vor. Häufig schlie¬ ßen sich die Anfälle größeren Ausschweifungen an und treten sodann gehäuft und nacheinander auf. Die Kranken verlieren während des Krampfanfalles ihr Bewusstsein, haben hernach keine Erinnerung dafür, sind häufig schwer benommen, verwirrt, toben und zer¬ stören alles, was ihnen in die Hände kommt und wer¬ den dadurch äußerst gefährlich. Mit Eintritt der Epi¬ lepsie, die andere, gleichzeitig sich entwickelnde Alkoho- lismusformen,z.B.ein äsliriuin troinsns, durchaus nicht ausschließt, geht's mit dem Kranken stark bergab: er siecht von Tag zu Tag körperlich und geistig mehr dahin. Neben den geschilderten, streng differenzierten Krankheitsbildern gibt es zahllose Uebergänge; dem¬ entsprechend gibt es auch Autoren, die noch etliche weniger präcise Formen aufstellen, ob und mit welcher Berechtigung, ist hier nicht der Ort zu erörtern oder auch uur in Frage zu ziehen. Bevor wir diesen Aufsatz schließen, möchten wir mit einigen Worten noch ein Thema berühren, über welches viel geschrieben und gestritten wurde, ohne dass beim gegenwärtigen Staude der Wissenschaft Klar¬ heit und Licht in die Angelegenheit hätte gebracht wer¬ den können: wir meinen den Alkoholismus als erblich belastendes Moment. 27 Thatsache ist, dass wir zur Zeit wenig Positives darüber wissen, wie wir uns der ganzen -hereditären Belastung, gegenüber als sehr skeptisch überhaupt zeigen müssen. Dass die Kinder von Säufern Idioten, Hydrocephale, epileptisch, hysterisch sind, ist sicher; doch sehen wir ohne erwähnte Belastung eine ebenfalls ziemliche Zahl der Kinder von Nichttrinkern an den¬ selben Krankheiten leiden und zugrunde gehen. Marc«', Ruar, Flemming, Taguet und andere haben einige in der Hinsicht zweifellose Fälle zusammengestellt; jedenfalls ist die ganze Angelegenheit heute vom kritischen Stand¬ punkte aus noch nicht als spruchreif zu betrachten. Wir sind zu Ende! Düstere Bilder nur konnten wir vor dem Leser entrollen; es wäre an der Zeit, dass sie der Geschichte angehören möchten. Jeder dem Volke und der Menschheit freundlich gesinnte Mensch wird dies zugeben. Wenn endlich in die großen Massen Bildung zur Genüge dringt, dass der Feind erkannt und als solcher überall auch benannt und gekennzeichnet wird, dann wird es gewiss besser werden und so manches Elend und Leid, das zu gutem Theil auf Alkohol zu setzen ist, wird verschwinden. Dies aber zu fördern und zu thun, sind in erster Linie die Aerzte, die Schulen und die Regierung berufen. Aufklärung ist Völkerglück, Cultur ist Staats¬ macht. Am Wohl und Wehe der Bürger hat nie¬ mand ein größeres Interesse als der Staat selbst. An gewissenhaften Mitarbeitern soll es nicht fehlen. Doch wie dies zu erreichen wäre, ist nicht Thema vor¬ liegender Arbeit — davon vielleicht ein andermal. - '4