Markus Schmalzl1 (Germany) QUOD NON EST IN ACTIS... ABSTRACT For historical science and its related disciplines, the files produced by state agencies in the last two centuries and held in the state archives in Germany can be considered as the backbone of historical tradition for this period. There were high hopes that this could be seamlessly continued with digital files when digitalization in administration was introduced. But to this day, the existing ‘eAkte’ systems have not fulfilled these expectations in many respects. It remains doubtful whether legislation like ‘eGou- vernmentgesetze’, making digital data and document management compulsory, will change this. On the contrary, it is to be expected that data vital for the reproduction of administrative acts and especially for scientific research are held in ever more com- plex systems of data integration that even today already transcend territorial bound- aries and jurisdiction domains. So, it seems to become evident that before long, sci- entific research interests as well as other legitimate interests can hardly be served in the traditional way of appraisal and file archiving. It is therefore necessary to focus on essential data from specialized digital systems and databases although the same data may still be backed in documents and files. Key words: digital records, appraisal, archiving, archival records, Germany SINTESI Per la scienza storica e le relative discipline, i file prodotti dalle agenzie statali negli ultimi due secoli e tenuti negli archivi di stato in Germania possono essere considerati come la spina dorsale della tradizione storica per questo periodo. C‘erano grandi spe- ranze che ciò potesse venir continuato senza soluzione di continuità con i file digitali, quando è stata introdotta la digitalizzazione nell‘amministrazione. Ma fino ad oggi, i sistemi „eAkte“ esistenti non hanno soddisfatto queste aspettative sotto molti aspetti. Resta il dubbio che una legislazione come „eGouvernmentgesetze“, che rende obbliga- toria la gestione dei dati digitali e dei documenti, possa cambiare questa situazione. Al contrario, ci si può aspettare che i dati vitali per la riproduzione degli atti amministrativi e soprattutto per la ricerca scientifica siano tenuti in sistemi sempre più complessi di integrazione dei dati che ancora oggi trascendono i confini territoriali e quelli di giuri- sdizione. Sembra quindi evidente che in poco tempo gli interessi della ricerca scientifica e altri interessi legittimi difficilmente possono servire nel modo tradizionale di valuta- zione e archiviazione dei file. È quindi necessario concentrarsi sui dati essenziali pro- venienti da sistemi e banche dati digitali specializzati, anche se gli stessi dati possono ancora essere supportati in documenti e file. Parole chiave: documenti digitali, valutazione, archiviazione, documenti d‘archivio, Germania 1 Dr. Markus Schmalzl, Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, Archivoberrat, Schönfeldstr. 5, 80539 München, Deutschland, E-Mail: markus.schmalzl@gda.bayern.de 130 QUOD NON EST IN ACTIS... Markus Schmalzl IZVLEČEK Za zgodovinsko znanost in z njo povezane discipline lahko spise, ki so jih v zadnjih dveh stoletjih ustvarile državne agencije in se hranijo v državnih arhivih v Nemčiji, štejejo za hrbtenico zgodovinske tradicije v tem obdobju. Upali smo, da se bo to lahko nemoteno nadaljevalo z digitalnimi datotekami, potem ko je bila uvedena digitalizacija v admi- nistraciji. Toda obstoječi sistemi »eAkte« do danes v mnogih pogledih niso izpolnili teh pričakovanj. Še vedno pa je dvomljivo, ali bo zakonodaja, kot je »eGouvernmentgeset- ze«, kjer je upravljanje digitalnih podatkov in dokumentov obvezno, to spremenila. Nasprotno, pričakovati je, da so podatki, ki so ključni za reprodukcijo upravnih aktov in še posebej za znanstvene raziskave, v vedno bolj zapletenih sistemih integracije po- datkov, ki že danes presegajo ozemeljske meje in pristojnosti. Zdi se torej očitno, da znanstvenih raziskav in drugih legitimnih interesov kmalu ne bo mogoče postreči na tradicionalen način ocenjevanja in arhiviranja datotek. Zato se je potrebno osredotočiti na bistvene podatke iz specializiranih digitalnih sistemov in podatkovnih baz, čeprav so lahko isti podatki še vedno hranijo v dokumentih in datotekah. Ključne besede: digitalno gradivo, ocenjevanje, arhiviranje, arhivsko gradivo, Nemčija ABSTRACT Für die letzten beiden Jahrhunderte gelten die Aktenbestände der staatlichen Archive in Deutschland als Rückgratüberlieferung für die Geschichtswissenschaft und ihre Teil- disziplinen. Mit der Digitalisierung der Verwaltung war die Hoffnung verbunden, diese Kontinuität mit der eAkte fortsetzen zu können. Bis heute kann die eAkte diese hohen Erwartungen allerdings in vielen Bereichen nicht erfüllen. Ob die eGovernmentgesetze und die damit verbundene Verpflichtung zur elektronischen Aktenführung hier zu einer Konsolidierung führen werden, scheint unwahrscheinlich. Vielmehr werden wesentli- che Informationen mit hoher Aussagekraft zur Nachvollziehbarkeit des Verwaltungs- handelns wie auch zur wissenschaftlichen Auswertung in immer komplexere Systeme der Datenhaltung und Datenintegration ausgelagert, die längst territoriale Grenzen und Zuständigkeitssprengel überschritten haben. Damit zeichnet sich immer deutlicher ab, dass künftige Forschungsinteressen wie auch andere berechtigte Belange von Nut- zerinnen und Nutzern künftig kaum durch die Aktenüberlieferung befriedigt werden können. Vielmehr ist es höchste Zeit bei der Bewertung den Primat auf archivwürdige Daten aus Fachverfahren und Fachdatenbanken zu legen, auch wenn Einzelinformatio- nen nach wie vor Aktenrückhalt besitzen. Schlüsselwörter: digitale Aufzeichnungen, Bewertung, Archivierung, Archivaufzeich- nungen, Deutschland 131QUOD NON EST IN ACTIS... Markus Schmalzl 1 INTRODUCTION: AKTEN UND IHRE BEDEUTUNG FÜR ARCHIVE UND GESCHICHTSWISSENSCHAFT Akten gelten nach wie vor als das zentrale Werkzeug für die Dokumentation nicht nur staatlichen Handelns und sind in ihrer sekundären Nutzungsform wichtige Grundlage his- torischer Forschung. Gerade für die letzten beiden Jahrhunderte gelten die Aktenbestän- de der staatlichen Archive in Deutschland als Rückgratüberlieferung für die Geschichts- wissenschaft und ihre Teildisziplinen. Noch immer werden finanziert von öffentlichen Geldern großangelegte Editionsprojekte zu prominenten Aktenüberlieferungen nicht nur des 19. und 20. Jahrhunderts vorangetrieben, wie etwa die Projekte zu den Akten zur bun- desdeutschen Außenpolitik, zu den Protokollen des Bayerischen Staatsrats 1799 bis 1817 oder des kaiserlichen Reichshofrats zeigen. Und die gegenwärtig unter dem Eindruck der Einführung der eAkte ausgesonderten papierenen Aktenmassen, die zumindest in Einzel- fällen noch bis in die unmittelbare Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs zurückreichen, werden, sofern archivwürdig und erschlossen, Ansatzpunkte für zahlreiche neue For- schungen und wissenschaftliche Auswertungen liefern. Schließlich wurden dort jeweils die wesentlichen Informationen zu einem Sachverhalt gebündelt und prozessbezogen abgelegt, auch wenn freilich die Qualität der Aktenführung stets abhängig von organisa- torischen Regelungen und deren Durchsetzung war. Lange gingen die Archivarinnen und Archivare in Deutschland davon aus, dass sich dies, trotz der sich bereits früh abzeichnen- den Probleme auch im digitalen Zeitalter mit der eAkte fortsetzen ließe und engagieren sich seit vielen Jahrzehnten mit entsprechender Energie bei der (Fort-)Entwicklung von Standards für die elektronische Aktenführung wie auch bei konkreten Einführungs- oder Nachbesserungsprojekten. Schließlich lassen auch die in den eGovernmentgesetzen for- mulierten geltenden rechtlichen Anforderungen eine Kontinuität der Aktenführung über den Medienwechsel hinweg erwarten. Folgerichtig setzen die Archive deshalb auch wei- terhin auf die Auswahlarchivierung von Akten anhand der in den letzten Jahrzehnten ent- lang vertikaler und horizontaler Kriterien erarbeiteten Bewertungsmodelle. 2 INFORMATIONSVERLUSTE VON AKTEN ZUGUNSTEN VON FACHVERFAHREN Allerdings zeigt sich, dass trotz aller Bemühungen die eAkte häufig auch heute den aus Per- spektive der Überlieferungsbildung an sie gestellten Erwartungen nicht gerecht wird. Die eAkten enthalten häufig durchaus nicht mehr alle aktenrelevanten Informationen. Teils fungieren DMS lediglich als Container für abgeschlossen Dokumente und weisen keiner- lei oder nur mehr unvollständige prozessbezogene Geschäftsganginformationen mehr auf, wie etwa bei den Ermittlungs- und Kriminalakten der Polizeibehörden in Bayern, für die diese und weitere inhaltliche Metadaten im angeschlossenen Vorgangsbearbei- tungssystem IGVP gespeichert werden. Bei anderen Abgabestellen existieren lediglich File-Ablagen, die in möglicherweise nach Aktenplan strukturierten Ordnern Eingänge und Reinschriften ohne weitere prozessgenerierte Informationen vorhalten, während Vor- gängerversionen von Dokumenten und Metadaten zum Geschäftsgang wie auch zu den einzelnen Dokumenten selbst fehlen. Teils entfallenen üblicherweise in den Fallakten vorhandene Dokumente, wie etwa die Steuerbescheide in den Steuerakten, die nur mehr ad hoc aus angeschlossenen Fachverfahren heraus erzeugt werden. (Ernst, 2017: 74). Frei- lich wurden auch früher nicht und keineswegs bei sämtlichen aktenführenden Stellen alle Informationen zu den Akten genommen, die eine detaillierte Nachvollziehbarkeit des Verwaltungshandeln gewährleisten oder alle Wünsche späterer Forscher im Rahmen einer Sekundärnutzung befriedigen würden und dies ist auch kaum zu erwarten. Aber im Gegensatz zur analogen Aktenführung, bei der entsprechende Informationen häufig erst gar nicht verschriftlicht wurden, werden prozessbezogene Metadaten zur Erstellung und 132 QUOD NON EST IN ACTIS... Markus Schmalzl Löschung, zu Lese- und Schreibzugriffen sowie inhaltlich für den jeweiligen Sachverhalt relevante Informationen nun außerhalb der so bezeichneten eAkten in nie gekannter Fül- le in Fachverfahren und Vorgangsbearbeitungssystemen gespeichert. Dies liegt bereits darin begründet, mit welcher Intention elektronische Fachverfahren entwickelt und im- plementiert werden. Üblicherweise werden damit regelmäßig anfallende Verwaltungs- akte im Verhältnis Bürger und Behörde bzw. zwischen den Behörden teilautomatisiert und beschleunigt abgewickelt. Da Fachverfahren also grundsätzlich prozessbezogenen Cha- rakter haben, dürfte in der Regel davon auszugehen sein, dass dort auch aktenrelevanten Informationen gespeichert werden. Und diese werden häufig nicht mehr oder nicht mehr vollständig in Form von Dokumenten in angeschlossenen eAktesystemen abgelegt, son- dern nur mehr virtuell für den Sachbearbeiter über eine GUI angezeigt. Schon alleine um auch künftig, vollständige Akten in einem materiellen Sinne aus verteilten Systemen für die Nachwelt sichern zu können, sollten Archivarinnen und Archivare deshalb also ein Inte- resse daran haben, Daten aus Fachverfahren zu übernehmen. Schließlich nehmen Archive im Gegensatz zu anderen Gedächtnisinstitutionen bis heute in Anspruch, archivwürdige In- formation in ihrem prozessbezogenen Entstehungskontext authentisch aufzubewahren. Aber das ist freilich bei weitem nicht der einzige Grund, wieso klassische Archive sich stär- ker bei der Archivierung von Fachverfahrensdaten engagieren sollten. Denn in sogenannten Dateien und Wissensnetzen werden Einzelinformationen aus Ak- ten vertikal zu neuen Kontexten verbunden, verarbeitet und ausgewertet, ohne dass die auf diese Weise entstehenden Informationen zwangsläufig ihrerseits veraktet würden. Vielmehr werden diese neuerzeugten Kontextinformationen immer häufiger lediglich in Fachverfahren vorgehalten, unterliegen nicht den für Akten üblichen Re- gelungen der Integritäts- und Vollständigkeitssicherung und werden aus Datenschutz- gründen meist ohne Anbietung an das zuständige Archiv gelöscht. Durch die Übernah- me der Akten und des Verzichts auf angeschlossene Fachverfahren und vermeintlich redundanter Informationssammlungen in Dateien gehen diese häufig archivwürdigen Kontextinformationen für die Nachwelt verloren. 3 BEWERTUNG VON FACHVERFAHRENSDATEN DURCH DIE ARCHIVE Freilich sind bei weitem nicht alle Fachverfahrensdaten als archivwürdig einzustufen. Bei der überwiegenden Mehrzahl der eingesetzten Systeme, wie etwa Zeiterfassungs- oder Schlüsselverwaltungssysteme, werden lediglich Daten von geringer oder nur kurzfristiger Bedeutung gespeichert. Etwa 10-20% der Fachverfahren dagegen halten nach derzeitiger Einschätzung des Landesarchivs Hessen und der Staatlichen Archive Bayerns Daten, die per se und unabhängig von ihrer Aktenrelevanz von dauerndem Wert für Zwecke der Verwaltung, für berechtigte Belange betroffener oder Dritter sowie v.a. für die Wissenschaft und Forschung sind (Bischoff, 2014, S. 46f. sowie Miegel, 2018: S. 1).2 Als Grundgesamtheiten beispielweise bei Sozialhilfe- oder Personaldaten bieten sie ein Meer an Information, aus dem die zugehörigen und in Auswahl archivierten Ak- ten als Inseln hervortreten (Keitel, 2018: S. 114). Vor allem aber bieten sie im Gegen- satz zu Akten über Datenbankexporte unmittelbar zugängliche Rohdaten, die von Wis- senschaft und Wirtschaft massiv nachgefragt und nachgenutzt werden können. Sofern die Archivwürdigkeit sich also auch, wie in den Archivgesetzen in der Bundesrepublik Deutschland festgelegt, am dauernden Wert der Informationen für Wissenschaft und Forschung bemisst, stellt sich die Frage, ob die Bewertung dieser Daten nicht in deutlich mehr Fällen zugunsten der Archivwürdigkeit getroffen werden müsste. 2 Von den 208 Fachverfahren (keine Fachanwendungen), die bei den Regierungen in Bayern derzeit im Einsatz sind, wurden nur 38 als archivwürdig eingestuft. 133QUOD NON EST IN ACTIS... Markus Schmalzl 4 GESAMTGESELLSCHAFTLICHE BEWERTUNG VON FACHVERFAHRENSDATEN Zu Recht wurden Datenbanken nämlich schon vor einem Jahrzehnt als tragende Säu- len der Informationsgesellschaft bezeichnet (Rausch, 2012: 75). Und die Nachfrage nach diesen der öffentlichen Verwaltung entstammenden Daten wird in den kom- menden Jahren stark ansteigen. Die EU-Kommission ging bereits 2018 davon aus, dass der volkswirtschaftliche Wert der Informationen des öffentlichen Sektors im Gemein- schaftsraum mindestens 52 Milliarden Euro betragen dürfte und dieser potentielle monetäre Nutzen sich bis ins Jahr 2030 etwa vervierfachen wird (Europäische Kommis- sion 2018). Der gesamtgesellschaftliche Wert, der Daten wie etwa Geoinformationen beigemessen wird, ist also immens (Bundesministerium des Innern, 2017: 12). Um die hier bislang kaum genutzten Potentiale zu heben und diese Daten v.a. für die Zwecke der Wissenschaft dauerhaft zu sichern, interpretierbar und nachnutzbar zu halten, veröffentlichte die EU-Kommission 2018 eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der Zugänglichkeit und Weiterverwendbarkeit der Daten des öffentlichen Sektors sow- ie zur gemeinsamen Nutzung wissenschaftlicher Daten, die in den bereits begonnenen Aufbau einer European Science Cloud münden. Damit soll die Verknüpfung und der Aus- bau von Forschungsinfrastrukturen im gesamten Europäischen Forschungsraum zu ei- nem Ökosystem für Forschungsdaten realisiert und der grenzüberschreitende Zugang zu diesen erleichtert werden (ESFRI White Paper, 2020: 23-31). 5 POTENTIAL DER ARCHIVE FÜR NATIONALE UND INTERNATIONALE FORSCHUNGSDATENINFRASTRUKTUREN Auf nationaler Basis wurde in der Bundesrepublik Deutschland 2019 die Initiative zum Auf- bau einer Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) gestartet, um die Nachnutz- barkeit von Forschungsdaten zu sichern, indem die Datenbestände von Wissenschaft und Forschung systematisch erschlossen, nachhaltig gesichert, zugänglich gemacht und (inter-) national vernetzt werden sollen. Unter Forschungsdaten sind in diesem Zusammenhang keineswegs nur Zwischenstände und Ergebnisse wissenschaftlicher Analysen zu verstehen, sondern vielmehr auch nicht selbst gewonnene Daten, wie etwa amtliche Statistiken und Behördendaten, auf die die Wissenschaft zu Forschungszwecken zugreift, um sie für den konkreten Forschungsprozess zu nutzen. Dabei handelt es sich also um Daten wie sie übli- cherweise in klassischen Archiven vorgehalten werden (Rat für Informationsinfrastruktu- ren, 2019: B-3). D.h. die klassischen Archive verwahren in großem Umfang analog gebun- dene und elektronisch erzeugte Forschungsdaten in diesem Sinne und sollten sich nicht nur deshalb in breitem Maße an diesen nationalen und supranationalen Initiativen beteiligen. Vielmehr besitzen die Archive als etablierte Partner der Wissenschaft ein hohes Maß an in- stitutioneller Erfahrung bei der Begleitung von Forschungsvorhaben und der Nachnutzung von Informationen. Dies betrifft insbesondere die Beratung von Wissenschaftlern, deren Forschungsinteresse und Fragestellungen mit dem ursprünglichen Primärzweck der Infor- mationen scheinbar in keinem Zusammenhang stehen. Zudem haben klassische Archive in den letzten Jahren praktische Erfahrungen im Aufbau und Betrieb OAIS-konformer digitaler Langzeitarche aufgebaut und besitzen damit Kompetenzen bei der Sicherung prozessbezo- gener Kontextinformation, der Konzeption von Aussonderungsschnittstellen, der Format- migration in langzeitfähige Archivierungsformate und der Anreicherung von Primärdaten mit aussagekräftigen Metadaten für die Archivierung und Erschließung. Die bei der Um- setzung der geltenden Standards gewonnenen Erfahrungen sind auch bei der Realisierung einer Forschungsdateninfrastruktur wertvoll. Damit sind die Archive, als etablierte Ge- dächtnisinstitutionen und Forschungsinfrastruktureinrichtungen nicht nur für die historisch arbeitenden Wissenschaftler und die geschichtswissenschaftliche Forschungslandschaft 134 QUOD NON EST IN ACTIS... Markus Schmalzl unverzichtbare Akteure und sollten sich mit ihrer Beteiligung beim Aufbau entsprechender Forschungsdateninfrastrukturen auch nicht auf ihren klassischen Kundenbereich der Geis- tes- und Kulturwissenschaften beschränken. Gerade die staatlichen Archive sind zuständige Spezialbehörden für die Langzeitarchivierung von analogen und elektronischen Informatio- nen aus dem Umwelt-, Land- und Forstwirtschafts-, Gesundheits-, Vermessungs-, Statistik-, Kultur- und Sicherheitsbereich sowie den klassischen Sparten der öffentlichen Verwaltung und Daseinsvorsorge. Sie pflegen damit Informationen für ein weit gefächertes Spektrum an Fachrichtungen und Forschungsansätzen, das weit über die Geschichtswissenschaft und ihre Teildisziplinen hinausweist und etwa auch die Erdsystem- und Agrarwissenschaften oder die Biodiversitätsforschung umfasst. Die Archive sollten sich deshalb auch verstärkt für diese Wissenschaftsdisziplinen öffnen und sich aktiv an den verschiedenen Konsortien der Fachdisziplinen beteiligen (Maier, 2020: 18), wo häufig bislang lediglich Spezialisten für die Interoperabilität aber nicht für die Langzeitarchivierung elektronischer Daten agieren. Für diese Neuausrichtung bleibt allerdings nur mehr wenig Zeit. Der Aufbau der Forschungsda- teninfrastruktur ist bereits im Werden begriffen und in zahlreichen Wissenschaftsdiszipli- nen ist der Aufbau eigener Repositorien und digitaler Langzeitspeicher ohne institutionelle Anbindung an klassische Archive bereits weit fortgeschritten. Konkret bedeutet dies, dass Daten aus Fachverfahren und Fachdatenbanken nicht mehr bei klassischen Archiven lang- zeitarchiviert werden. Vielmehr übernehmen hier Museen, Forschungseinrichtungen und v.a. Bibliotheken klassische Aufgaben der Archive, häufig allerdings ohne im Einzelfall die Anforderungen für eine dauerhafte Erhaltung der Interpretierbarkeit der elektronischen Informationen gewährleisten zu können. 6 BEDEUTUNGSVERLUST VON ARCHIVEN FÜR DIE LANGZEITARCHIVIERUNG ELEKTRONISCHER INFORMATIONEN Währenddessen werden Universitätsarchive, auch jene mit langer Tradition, zu Teilabtei- lungen von Bibliotheken degradiert (Berwinkel, 2019: 140). Auch im staatlichen Bereich, wo entsprechende archivgesetzliche Regelungen die Zuständigkeit für die Übernahme, Er- schließung, dauerhafte Sicherung und Auswertung eindeutig den Archiven zuweisen, wird diese gerade in letzter Zeit häufiger in Frage gestellt. Teils wird diese Entwicklung auch durch Gesetzesnovellierungen weiterbefördert, wie etwa der Gesetzentwurf für die Neufassung des Geologiedatengesetzes des Bundes zeigt, der die Archivierung und Bereitstellung geo- logischer Fachdaten den für die Bodenuntersuchung zuständigen Behörden zuweist. Damit werden de facto Behördenarchive geschaffen, denen nach §2 Abs. 5 des Gesetzentwurfs durch entsprechende landesrechtliche Regelung auch die Archivierung weiterer für die Erd- system- und Klimaforschung relevanter Daten zur Zusammensetzung der Luft, des Bodens und des Wassers sowie weitere Daten übertragen werden, die nicht zum Zwecke geologi- scher Untersuchungen gewonnen worden sind oder gewonnen werden (Geologiedatenge- setz, 2020: § 2). Im Extremfall werden künftig also Boden-, Umwelt- und Klimadaten in gro- ßem Umfang nicht mehr den bislang zuständigen staatlichen Archiven angeboten werden, sondern verbleiben dauerhaft bei der für die Untersuchung zuständigen Landesbehörde, die diese Daten auch für die Sekundärnutzung zur Verfügung zu stellen hat. In vielen Län- dern der BRD dürfte dies ohnehin dem Stand der Dinge entsprechen, da sich die Archive, mit ihren überwiegend historisch gebildetem Fachpersonal in den letzten Jahrzehnten häufig mit zu wenig Nachdruck für die Archivierung dieser Informationen interessierten und im Zweifel eher die Akten dieser ohnehin eher archivfernen naturwissenschaftlich geprägten Institutionen übernommen haben, ohne Messdaten und mitunter schwer nachvollziehba- re Untersuchungsergebnisse zu archivieren. Die Bedeutung der Archive als Gedächtnis- und Wissenschaftsinstitutionen schwindet damit. 135QUOD NON EST IN ACTIS... Markus Schmalzl 7 CONCLUSION Die Archivare treibt die Frage um, ob die Archivalien und die Archive mit Ihnen nicht stark an Relevanz für die Forschung verlieren, wie bei einer Tagung des Hessischen Lan- desarchivs zum Thema Geschichtswissenschaft und Archive im Februar 2020 festgestellt wurde (Tagungsbericht Geschichtswissenschaft und Archive: 2020). Zu Recht, könnte man angesichts der skizzierten Entwicklungen antworten. Und von hier aus weiterfra- gen, ob die Archive sich nicht stärker und aktiver in den Dialog mit der Wissenschaft und anderen Infrastruktureinrichtungen beim Aufbau von Forschungsdateninfrastrukturen für die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen einbringen sollten. Schließlich bieten sie Kompetenzen beim Management und der dauerhaften Sicherung der Interpretier- barkeit prozessbezogener Informationen sowie der offenen und interdisziplinären Nachnutzung dieser Informationen. Mittelfristig wird dabei freilich auch von Bedeutung sein, ob Fachverfahrensdaten nicht per se zu Gunsten einer vermeintlich vollständigen Aktenüberlieferung kassiert, sondern in größerem Umfang als bisher als archivwürdig eingestuft werden, v.a. dann, wenn sie sich als Anteile materieller Akten oder als neue Kontextinformationen erweisen. Aber auch dann, wenn sie in Form von Grundgesamt- heiten leicht zugängliche Informationen bieten, die miteinander in Verbindung gesetzt und ausgewertet werden können. Hierfür ist freilich auch eine grundlegende Verbes- serung der Zugangsmöglichkeiten erforderlich, die idealerweise ebenfalls im Rahmen oder doch in Abstimmung mit den neu entstehenden Forschungsdateninfrastrukturen erfolgen sollte. Schließlich ist nicht zuletzt die Verbesserung der Zugänge zu den Quel- len eine der wesentlichen Forderungen der Geschichtswissenschaft an die Archive (Kö- nig, 2020: 249-251). Dann könnten sich, wie bisher, auch künftig Synergieeffekte für die Forschenden ergeben, die aus Perspektive verschiedener Wissenschaftsdisziplinen aus- reichend dokumentierte und integre prozessgeborene und kontextualisierbare Daten für ihre Forschungszwecke in den Archiven nachnutzen möchten. 136 QUOD NON EST IN ACTIS... Markus Schmalzl BIBLIOGRAPHY Berwinkel H. (2019), Das Universitätsarchiv Göttingen. Neubeginn im Traditionshaus. Archiv-Nachrichten Niedersachsen, 23, 140-146. Bischoff F. (2014). Bewertung elektronischer Unterlagen und die Auswirkungen archi- varischer Eingriffe auf die Typologie zukünftiger Quellen. Archivar, 67, S. 40-52 Bundesministerium des Innern (2017). 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Making Science Happen: A new ambition for Research Infrastructures in the Euro- pean Research Area. https://www.esfri.eu/sites/default/files/White_paper_ES- FRI-final.pdf Gesetz zur staatlichen geologischen Landesaufnahme sowie zur Übermittlung, Siche- rung und öffentlichen Bereitstellung geologischer Daten und zur Zurverfügung- stellung geologischer Daten zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben (Geologiedaten- gesetz–GeolDG) vom 19. Juni 2020. Bundesgesetzblatt (2020) I. pp. 1387-1402. Hessisches Landesarchiv (2020). Bericht zur Tagung Geschichtswissenschaft und Archive. 19.02.2020, Darmstadt. https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungs- berichte-8727 Keitel C. (2018). Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archiv- wissenschaft. Stuttgart. König M. (2020). Geschichtsforschung und Archive im digitalen Zeitalter. Chancen, Risi- ken und Nebenwirkungen. Archivar, 73 H. 4, 245-251. Maier G. (2019). Die Zukunft der Archive in der Informationsgesellschaft. 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Markus Schmalzl SUMMARY: Files formerly produced by government agencies and held by state archives are still considered as highly important sources for historical science and related disciplines. Following the growing importance of digital files and eGovernment systems, archivists strive to integrate these new formats by developing special standards for digital files and data management systems, especially with respect to long-term archiving. But it has increasingly become clear that digital files (eAkte) quite often do not provide com- prehensive data, lacking especially operative or process-related information (essential to file management and archiving.) These specific process-related metadata may be re- tained by affiliated, automatised specialised data systems, connecting file content and metadata. From an archival perspective, it is therefore very important to archive these process-related metadata as well, considering that providing step-by-step transparen- cy of administrative and government decisions through the files is one of the state ar- chive’s key assets. Another reason for archives to focus on specialised data management systems (Fachverfahren) is the increasing tendency of interconnections between these systems, forming information and knowledge networks transcending the given context and so creating new complex data sets that are not mirrored in files as such. Although no more than 10-20% of data sets created by these specialized data management systems might be qualified for archiving, these data then are extremely valuable from different perspectives, not least as directly accessible raw data for various scientific disciplines and approaches. Precisely these ever-increasing data sets and data bases have recently been acknowledged as a major future basis of scientific research for a variety of disci- plines. Demand for these data is expected to be growing, as is their economic value. Consequently, the European Union as well as the FRG have implemented programs to further the development and open-access scientific use of these data sets, e.g. for geo sciences. The German NFDI initiative here ties in with other national and supranational efforts to link data sets in the interest of science and ultimately society. This is where state archives have a hitherto but little acknowledged potential, as they retain mass- es of analogue and digital data, often as raw data, from mainly state and government sources but pertaining to a variety of areas, e.g. life sciences, environmental issues and the like. These data transcend the traditional focus on historical science and point to- wards new potentials and challenges for state archives in their search for a new position in today’s information society. Given their expertise in data management, collaboration with scientists and long term archiving, the archives are well prepared for this, given a close cooperation with state and scientific agencies producing and processing these data. Archives should use this opportunity to maintain their role as partner of science. Typology: 1.02 Review Article 138 QUOD NON EST IN ACTIS... Markus Schmalzl