Original scientific paper Izvirni znanstveni članek DOI: 10.32022/PHI31.2022.122-123.3 UDC: 130.3 „Torweg Augenblick" Zu Finks Nietzsche-Deutung Cathrin Nielsen Eugen-Fink-Zentrum Wuppertal, Bergische Universität Wuppertal, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal, Deutschland nielsen@uni-wuppertal.de "Gateway, This Moment." On Fink's Interpretation of Nietzsche Abstract Nietzsche interests Fink as a thinker in whom a new "experience of the world" emerges through the historical trajectories, the narrative, and the language of metaphysics—in its question horizon and yet at the same time beyond it. This, however, does not simply replace the metaphysical worldview, but is fought out in the playing Phainomena 31 | 122-123 | 2022 field of that difference which, according to Fink, is the "metaphor of all metaphysics": the ontological comparative. On the one hand, Nietzsche takes this playing field into account by absolutizing it in the thought of the "will to power" as the movement of all being in time; on the other hand, he undermines it in the thought of the "eternal return of the same" as time as such and thus leads it to its limit. This is narrowly brought about in the image of the "gateway, This Moment" from Zarathustra, which Fink interprets as a "bumping into each other's heads" of ontology (being) and cosmology (time) or as a breakthrough of the post-metaphysical thought of the "world wholeness" in the sense of the "all-encompassing, all-bringing, and all-erasing play-time of the world" into the historical world. In this antagonistic in-between, this "self-reflection," Nietzsche's confrontation with metaphysics takes place—and equally Fink's interpretation of this confrontation. Keywords: Nietzsche, Fink, moment, world, metaphysics. »Vrata trenutka«. O Finkovi interpretaciji Nietzscheja 38 Povzetek Nietzsche Finka zanima kot mislec, pri katerem se novo »izkustvo sveta« pojavi na podlagi historičnih gibanj, narativa in govorice metafizike: v horizontu njene vprašljivosti in hkrati tudi onkraj nje same. Vendar to ne nadomesti preprosto metafizičnega svetovnega nazora, temveč se boj odvija na igrišču tiste diference, ki po Finku predstavlja »metaforo sleherne metafizike«: ontološkega komparativa. Na eni strani Nietzsche to igrišče upošteva tako, da ga absolutizira z mislijo o »volji do moči« kot gibanju vsega bivajočega v času; na drugi strani ga spodkoplje z mislijo o »večnem vračanju enakega« kot času samem in ga potemtakem pripelje do njegove meje. To nadrobneje ponazarja podoba »vrat trenutka« iz Zaratustre, ki jih Fink interpretira kot »medsebojno udarjanje med glavami« ontologije (biti) in kozmologije (časa) oziroma kot preboj post-metafizične misli »celote sveta« v smislu »vse-obsegajoče, vse-prinašajoče in vse-izbrisujoče časo-igre sveta« znotraj historičnega sveta. V takšnem antagonističnem vmesju, v tovrstni »refleksiji« se godi tako Nietzschejev spoprijem z metafiziko kot Finkova interpretacije tega spoprijema. Ključne besede: Nietzsche, Fink, trenutek, svet, metafizika. Cathrin Nielsen 1. Versucht man, Finks Nietzsche-Deutung (wobei zu überlegen sein wird, ob und inwiefern Fink Nietzsche tatsächlich „deutet" bzw. was „Deutung" in diesem Zusammenhang heißen kann) im Kontext der gegenwärtigen Nietzscheforschung zu verorten, stößt man entweder auf eine Wand oder in ein Wespennest. Finks Anspruch scheint mit so gut wie allem, was derzeit in diesem Zusammenhang verhandelt wird, in Konflikt zu geraten. Seinerseits übt auch er gerne die Geste des pauschalen Durchstreichens oder zumindest Relativierens verschiedenster Forschungsbemühungen, ja möglicherweise der „Forschung" überhaupt. Für Fink ist Nietzsche kein „Forschungsobjekt", weder als Kulturkritiker, Parodist und Stilist noch als Psychologe oder Prophet eines posthumanistischen Menschenbildes. Er sei all dies zwar irgendwie auch, aber nicht im „Wesen" -schon dieser Ausdruck ist natürlich für weitere Teile der heutigen Philosophie, wo sie nicht Philosophiegeschichte ist und sein will, ein Affront. Wesentlich, so Fink, war Nietzsche Philosoph. Und sofern diese Einschätzung, so mit einem weiteren, im Blick auf Nietzsche höchst provokanten Ausdruck, „wahr" sei, so 39 Fink, sei er „im Grunde seines Wesens eingelassen in die Wahrheit" und stehe „unter ihrem Gesetz" (Fink 1947, 134); was er zu sagen habe, sei damit - durch all sein „ästhetisches Kalkül" (Zittel 2000) hindurch - der „Beliebigkeit der Willkür entrückt" (Fink 1947, 134). Mit solchen Aussagen lässt Fink im Grunde all die modernen und postmodernen Fragestellungen der Nietzscheforschung wie Dominosteine reihenweise umkippen und hat umgekehrt selbst natürlich kaum noch eine Chance, im Spielfeld der kontextuellen Annäherungen rund um den migränegeplagten Röckener Pfarrerssohn vorzukommen. Finks Nietzsche ist in jeder Hinsicht „unzeitgemäß" (vgl. Crowell 2006). Ich möchte im Folgenden rekonstruieren, worin die besondere Herausforderung von Nietzsches Denken für Fink besteht und von welchem Ort aus Fink seine Auseinandersetzung führt. Nietzsche liebe auf eine geradezu unheimliche Art die Maske und sei doch „mehr", als seine Masken zu verstehen geben, „mehr" als ein moderner Sophist, „mehr" als (wie es in Zarathustras „Lied der Schwermut" heißt) „Nur Narr! Nur Dichter!"1 Um zu diesem 1 Nietzsche, Za IV; KSA 4, 371f.: „Bunt verlarvt, | Sich selber Larve, | Sich selbst Phainomena 31 | 122-123 | 2022 „Mehr" und damit zum Philosophen Nietzsche vorzudringen, gilt es, so Fink, ihn gerade von dem her zu lesen, woran er sich abarbeitet, was er bekämpft: Es gilt, ihn aus dem Problem- und Begriffshorizont der „Metaphysik" zu lesen. Damit ist zum einen eine inversive und nicht zuletzt bei Nietzsche selbst vorgebildete Deutungsperspektive gegeben: Das, was eine Realität aus sich ausschließen, wogegen sie sich behaupten will, zu ihrem eigenen abgründigen Boden zu machen. Diese antagonistische Perspektivik trifft das „Wesen" auf jeden Fall eher als die Annahme post-metaphysischer Neutralität und Voraussetzungslosigkeit. Zum anderen gibt es nach Fink im Grunde (noch) gar keine Möglichkeit, den Philosophen Nietzsche irgendwie nach-metaphysisch zu lesen, ganz einfach deshalb, weil wir nach wie vor (ob bewusst oder nicht) bis in die innersten Kapillaren im Horizont der Metaphysik, insbesondere ihren ontologischen Voraussetzungen stehen. Die Geschichtlichkeit der Philosophie folgt einem eigenen, langsameren Metrum als die intellektuellen Paradigmenwechsel, die ihre oberflächliche Geschichte bilden (vgl. Fink 1949a, 127; Fink 1977, 49ff.) und wirkt subkutan umso mächtiger - bis dahin, 40 dass sich gerade in der (von Finks als „naiv" bezeichneten)2 Zurückweisung metaphysischer Verortung die stärkste Gebundenheit an eine in ihrer Voraussetzungshaftigkeit abgesunkene Gestalt aussprechen kann. Genau das war ja bereits sein Einwand gegen Husserl gewesen, der glaube, mit der Rückkehr zur „Sache selbst" gewissermaßen alles auf Anfang stellen, bei Null, also beim Phänomen selbst beginnen zu können, unter Missachtung der ontologischen Dimension des Phänomenalen. Dagegen stellt Fink von Anfang an das Bemühen, die unhinterfragte Voraussetzung des Seins dieses Phänomenalen aufzuklären (also das Projekt einer „Phänomenologie der zur Beute - | Das - der Wahrheit Freier? | Nein! Nur Narr! Nur Dichter! | Nur Buntes redend, | Aus Narren-Larven bunt herausschreiend, | Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken, | Auf bunten Regenbogen, | Zwischen falschen Himmeln |Und falschen Erden, | Herumschweifend, herumschwebend, - | Nur Narr! Nur Dichter!" 2 Vgl. Fink 1949a. Fink spricht auch von Naivität als einer „verkümmerte [n] Weise der Wahrheit", die sich durch eine „Festgelegtheit in der ontischen Wahrheit" auszeichne, der das Interesse an der „ontologischen Wahrheit" (Fink1948, 126) abhandengekommen sei. Der Aufgabe der Philosophie bestehe darin, diese „Festgelegtheit" immer wieder neu zu überwinden. Cathrin Nielsen Phänomenologie" in Angriff zu nehmen), indem er auf die Dogmatik nicht nur der vorkritischen Ontologie, sondern gerade auch auf die Gefahr der Hypostasierung einer transzendentalen Subjektivität hinweist. Das Übergehen der (zunächst einfach als Grenze einer jeden Form von Hypostasierung, als me jedes „on" anzusetzenden)3 „ontologischen Erfahrung" und das mit ihr verbundene Festhängen in der neuzeitlichen „Sackgasse des Subjektivismus" (die bei Nietzsche in eine radikale „Selbstbespiegelung" umzukippen scheint) ist auch der Grund, weshalb Nietzsche - oder: der eigentliche Nietzsche - in Finks Augen nach wie vor nicht im Bewusstsein der Gegenwart angekommen ist - man sich also im Wesentlichen bei seinen Masken und Maskeraden aufhält, ohne den Philosophen darin zu erkennen. Fink will sich dagegen an das „Einfache und Wesentliche" halten: „an Nietzsches Wort über das Sein' (Fink 1946, 27), er will also mit Nietzsche die Metaphysik und ihre Kerndisziplin - die Ontologie - „selbst zum Problem" (Fink 1951, 17) machen (so wie, nebenbei gesagt, Nietzsche das „Problem der Wissenschaft selbst" bei den Hörnern packen wollte).4 Nietzsche interessiert Fink also als ein Denker, bei dem sich durch die geschichtlichen Trajektorien, 41 das Narrativ und die Sprache der Metaphysik hindurch - in ihrem Fragehorizont und doch zugleich über ihn hinaus - eine neue „ontologische Erfahrung" abzeichnet, also eine Erfahrung des Seins, in deren Voraussetzungshaftigkeit sich zugleich eine Zäsur, eine Art „meontische Epoche" (EFGA 3.3, Z-XVII/17b), einzeichnet. Eine solche entspringt nach Fink nämlich weder schlicht einer Polemik gegen die „Metaphysik" noch lässt sie sich umgekehrt aus der Geschichte der Metaphysik einfach ableiten - und genau hierin spiegelt sich der geschichtliche Ort des Seinsproblems, das Nietzsche in Form 3 Zu Finks frühem Projekt einer „Meontik" (gr. me on, nicht Seiendes) bzw. eines „Meontisch-Absoluten" als einem Absoluten, das sich als ein Me-on anzeigt, aber nicht phänomenal aufweisen lässt, vgl. Sepp 1998; Dai 2011. 4 Nietzsche, GT, Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, 13: denn „das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden". Die Parallele liegt in der Notwendigkeit einer „Exposition" der Frage, wobei Fink mit „Exposition" eine „Umkehrung aller Weltvertrautheit" (Fink 1949b, 195) verbindet. Analog dazu gelte es, eine „Phänomenologie der Phänomenologie" bzw. „Ontologie der Ontologie" anzustreben, was mit der Exposition (dem radikalen Aufs-Spiels-Setzen und Neu-Ausarbeiten) derjenigen Begriffe einhergehe, die ihren Boden bilden. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 eines „furchtbaren Fragezeichens" (Fink 1960a, 7) verkörpere, wider: „Sein Angriff auf die Metaphysik kommt nicht aus der vor-philosophischen Sphäre des Daseins, er ist nicht ,naiv'. Das Denken selbst wendet sich in Nietzsche gegen die Metaphysik." (Ebd., 12.) Und genau deshalb sei das, was Nietzsche zu sagen habe, auch der „Beliebigkeit der Willkür entrückt", „mehr" als das „ästhetische Kalkül" eines zu sich verführen wollenden Individuums, mehr als Parodie, Polemik oder raffinierte Psychologie. Der Konflikt, so drückt sich Fink an anderer Stelle (hier im Blick auf Heidegger) aus, „geschieht vor allem im Problem selbst; der Denker ist nur der Ort, wo die Fragwürdigkeit [...] sich in neuer, ursprünglicher Gewalt meldet" (Fink 1949b, 348f.). In diesem antagonistischen Zwischen, dieser „Selbstgegenwendung" spielt sich Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik ab - und gleichermaßen Finks Deutung dieser Auseinandersetzung. Das „Problem" liegt folglich, so Fink, nicht einfach offen zutage, so dass man nur darauf zeigen, nur die einschlägigen Stellen zu zitieren bräuchte; es sei vielmehr „das Risiko einer Interpretation, hier eine Wandlung'" zu behaupten und gleichzeitig den 42 „Richtungssinn dieser Wandlung" (ebd., 349). Um diesen Richtungssinn, der nicht nur das Denken und den geschichtlichen Ort des zu Deutenden, also Nietzsche, betrifft, sondern ebenso sehr in den Entwurfshorizont und geschichtlichen Ort dessen hineinreicht, der deutet, also Fink, soll es im Folgenden gehen. 2. Ich möchte zunächst jedoch noch etwas genauer umreißen, was Fink unter „Metaphysik" und „Ontologie" bzw. der „Seinsfrage" versteht und ihrer inhärenten Selbstentgegensetzung, die sich in Nietzsches Philosophie vollziehen und die, wie alle ursprünglichen Fragen der Philosophie, über den Einzelnen als Einzelnen hinausweisen soll, auch wenn sie sich im Einzelnen (und nur hier!)5 entzündet. Nietzsche metaphysisch zu lesen bedeutet Fink 5 Vgl. Fink 1937, 62: „Das Problem - im philosophischen Verstande - ist keine schon ,seiende' [...] Fragwürdigkeit, sondern wird [...] überhaupt erst aufgebrochen und ,erzeugt' im Staunen. Im Staunen widerfährt dem Menschen eine ihn auf sich selbst vereinzelnde und vereinzigende Vereinsamung, die [...] ihn zurückbringt in den Cathrin Nielsen zufolge nicht, ihn mit scheinbar längst obsoleten Fragen zu behelligen, sondern ihn und das, was sich in seiner Philosophie ausspricht, aus der Differenz als der Voraussetzung philosophischen Fragens überhaupt sehen zu lassen - und die Philosophie damit in ihre „eigenste Möglichkeit" (Fink 1951, 18) zu bringen. Die Einsicht in diese Differenz sei nämlich gerade der Problemhorizont, den die antike Metaphysik aufgestoßen habe und in dem wir nach wie vor stehen bzw. in dem sich heute der Bruch vollzieht, dessen „Richtungssinn" Fink mit Nietzsche tastend nachbuchstabiert: Am Beginn der abendländischen Philosophie steht eine ontologische Differenz zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sein. Mit dieser Differenz bildet sich allererst das Problem der Ontologie, der Spielraum ihres Fragens. Und immer, wo je Philosophie beginnt, ist sie das Aufbrechen einer inneren Differenz im Sein des Seienden selbst - ist sie der scharfe und ausdrückliche Gegenzug gegen die Gleichgültigkeit des menschlichen Seinsverstehens. (Fink 1960a, 143.) 43 Ohne ein Bewusstsein für die hier auch als „Metapher aller Metaphysik" (Fink 1946, 30) bezeichnete „Differenz" und das mit ihr verbundene Aufbrechen der „Gleichgültigkeit" gegenüber einer Onto-Logie, also einer seinsbegrifflichen Zäsur im Herzen unserer naiv-ontischen „Verschossenheit" in die Gegenstände der Welt (Husserl, § 38 der Krisis), fehle schlicht jeder Zugang zum eigentlichen Problemhorizont. Oder, mit einer Wendung aus der Vorlesung „Sein, Wahrheit, Welt" (1955/56) formuliert: Die Seinsfrage setzt immer schon „den Einblick in die merkwürdige Steigerungsmöglichkeit des Seiendseins voraus". Diese Steigerungsmöglichkeit bezeichnet Fink hier als „,ontologischen Komparativ" (Fink 1955/56, 232), als das „im Sein alles Seienden selber wirkende und ziehende Maß" (ebd., 238), dem sich das Philosophieren als einem zunächst prinzipiell „maßlosen Maß" zu übereignen habe. Während die „,Ontologie des Alltags'" immer schon „,fertig' zu sein" scheine, sei die „,Ontologie der Philosophie' [...] keineswegs fertig", sondern Urstand seiner Existenz: in die Ungewißheit seines Stehens mitten zwischen Wissen und Nichtwissen." Phainomena 31 | 122-123 | 2022 „offen" (Fink 1957, 182). Philosophie habe somit die Aufgabe, das in der Regel gedankenlos praktizierte Seinsverständnis immer wieder neu „aus der Distanz einer ursprünglichen Verwunderung" zu durchdenken, wobei (und das ist wesentlich!) „nicht ein gültiger Maßstab für diese Prüfung vorwegbesteht, sondern der Maßstab gerade das am meisten Frag-Würdige ist" (ebd.).6 Das, worum es geht, bildet sich als Maß und Thema überhaupt erst heraus in der „Exposition", also im Sich-selbst-aufs-Spiel-Setzen der Philosophie und der Fragwürdigkeit ihres ureigenen „Gegenstandes". Denn der ontologische Komparativ komme in der Dimension der uns erscheinenden Dinge nicht vor, die Seinssteigerung selbst sei ausdrücklich kein „Phänomen": Die Phänomenalität der Phänomene ist kein phänomenales Problem. [...] Der Seinsrang der Phänomene kann gar nicht erfragt werden, solange man sich auf dem Boden der Phänomene als einziger Basis bewegt; denn innerhalb des Phänomenalen gibt es keine Seinssteigerung. (Fink 1955/56, 248.) 44 Daraus folge die Aufgabe der Philosophie, einerseits „den stehenden Bereich der Phänomene sachgetreu zu durchforschen" wie auch „darüber hinauszufragen, in eine Seinsbewegung zurückzudenken, welche überhaupt erst die Phänomene zum ,Stand' bringt. Die Philosophie muß phänomengebundene Sachlichkeit vereinen mit spekulativer Kraft." (Ebd.) Auch in methodischer Spiegelung reflektiert Fink diese Doppelspur -die alltägliche Vertrautheit mit dem „stehenden" Sein auf der einen und das „reißende" Wissen um sein „Mehr" als Bewegung, „Riss" und „Grenze"7 dieser Vertrautheit auf der anderen Seite - in seiner Unterscheidung von „operativen" und „thematischen Begriffen" (Fink 1957; vgl. Terzi 2018). Als 6 „Das ,Thema' des Philosophierens kann sozusagen gar nicht außerhalb des Philosophierens angegeben werden. Die Philosophie [...] ist sich selber hinsichtlich ihres Themas ständig fragwürdig." (Fink 1957, 183.) 7 „Wir sind geborgen und ausgesetzt in einem. Und diese paradoxe Zweideutigkeit unserer Existenz bestimmt auch unser Seinsverständnis. Sein ist uns das innig Vertraute und zugleich maßlos Befremdende." (Fink 1955/56, 260.) „Wir Menschen leben sozusagen an der Grenze, wo das Offene sich vom verschlossenen Grunde scheidet, wo sie einander berühren und doch auseinandertreten." (Ebd., 296.) Cathrin Nielsen thematische Begriffe bezeichnet er dabei Begriffe, in denen etwas ausdrücklich als Thema entwickelt und gleichsam „fixiert" wird (Fink nennt als Beispiel u. a. Nietzsches Bestimmung des Seins des Seienden als „Willen zur Macht"). In der Bildung dieser Grundbegriffe kommen jedoch immer zugleich Schemata zum Zuge, mit denen ein Denken operiert, ohne sich eigens Rechenschaft darüber abzulegen (ohne diese Voraussetzungshaftigkeit „bei den Hörnern zu packen"). Vielmehr denke es durch diese Schemata hindurch auf die Grundbegriffe hin und beziehe genau daraus seine produktive Kraft. Fink spricht von operativen Begriffen auch als dem „Schatten einer Philosophie" (Fink 1947, 186). Dass das Denken also das „Ganze", dem seine unendliche, seine „reißende" Sehnsucht gilt,8 immer weder vorläufig in thematischen und damit endlichen Begriffen fasst, in deren unbedenklichem Gebrauch es zugleich „gründet", bezeichnet Fink wiederum als „Wesensverhalt" (ebd.), also als etwas, in dem sich das „Wesen" selbst bzw. unser (be)zeugendes Verhältnis zu ihm widerspiegelt. Wir ziehen die Kraft unseres Denkens aus nicht Hinterfragtem, und zugleich durchfährt dieses me (nicht) unsere endliche Perspektive mit einer Negativität (einem „Sehnen" und „Reißen"), welche die Philosophie umgekehrt dazu 45 nötigt, immer wieder „über ihren eigenen Schatten zu springen" (Fink 1947, 186). Gerade weil die Philosophie in dieser Hinsicht immer schon „VorausSetzung", Sprung aus dem Ontischen in Onto-Logie ist, ist die Deutung einer Philosophie (in unserem Fall Finks Deutung Nietzsches) „unausweichlich eine Interpretation der Interpretation' (Fink 1957, 184), eine Interpretation, die auf und in sich selbst zurückschlägt. Die Philosophie geschieht als aus der Differenz geborene Selbstbesinnung - das ist ihr metaphysischer Kern und als solcher das „Wesen" der zahllosen Masken Nietzsches. Es geht mit anderen Worten nicht darum, es besser oder schlechter zu wissen als die „Metaphysik" oder Fragestellungen zurückzuweisen, die sich als „zu groß" erweisen und die 8 „Die Sehnsucht, das ,desiderium' ist die Grundstimmung der endlichen Menschen Vernunft." (Fink 1955/56, 261.) Sie ist der „Riss", das „Ziehen", der Stachel, indem sich Welt (das Ganze, die Totalität) und Endlichkeit wechselweise reflektieren. Vgl. hierzu auch Finks Überlegungen zum Erscheinen als dem „absoluten Medium" (ebd., 299ff.) und der mit ihm verbundenen ungeheuren Schwierigkeit, „aus einem ,Worin' zu einem Woraufhin' der Beziehung zu gelangen" (ebd., 300). Finks eigenes Denken lässt sich analog dazu als das Bemühen beschreiben, von einem Bezug zum Seienden, der sich in der Welt hält, zu einem Bezug zu gelangen, der sich ausdrücklich zur Welt verhält. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 wir daher glauben, einfach beiseiteschieben zu können. Fink hält vielmehr an Kants Einsicht in das „besondere Schicksal" der menschlichen Vernunft fest, dem Ganzen und der Frage danach - also dem einzig genuinen Begriff der Vernunft: dem des „Un-bedingten" - nicht ausweichen zu können,9 sondern dieses denken - und leben (vgl. hierzu Sepp 2019) - zu müssen. Unsere paradoxe Existenz macht uns zu, wie Fink später sagen wird, symboloi für den „Riss", der durch die Welt - das Ganze, das Thema schlechthin - selbst geht, und ihn begrifflich werden zu lassen ist Aufgabe der Philosophie. 3. Zunächst aber zeige sich das Denken Nietzsches als experimentelle Erprobung einer radikalen „Freiheit von Gott, von Moral und Metaphysik" (Fink 1960a, 55). Die im Bild vom „freien Geist" gespiegelte Bewegung der „Selbstgewinnung des schöpferischen Entwurfs" (ebd., 58) wird jetzt zur Souveränität eines Lebens, das sich selbst in allem Entworfenen wiedererkennt, 46 „eine Metamorphose der endlichen Freiheit, ihre Zurückholung aus der Selbstentfremdung und der freie Durchbruch ihres Spiel-Charakters" (ebd., 71). Als wesentlich erachtet Fink in diesem Zusammenhang, dass Nietzsche „zwar die transcendente Bedeutung_der großen menschlichen Transcendierungen" für „tot" erklärt („Tod Gottes") - also gewissermaßen ihre durch eine Negation der Zeit gewonnenen „Außenhalte" -, nicht aber „die Selbstübersteigung" (ebd.) per se.10 Der „ontologische Komparativ" - die Tendenz auf Mehr, auf „Seinssteigerung", von der oben die Rede war - spiegele sich am Ende der Metaphysik gerade in der wiederhergestellten Souveränität des Schöpferischen wider, in der die Zeit, die „ursprüngliche Geschichtlichkeit",11 und mit ihr auch der „Zukunftswillen des Schaffenden" (Fink 1960a, 75) wieder in ihr Recht gesetzt werden. Die Freiheit des Schaffenden findet mit anderen Worten nicht mehr in einem Außen (einem ihrer abgesunkenen Gebilde) ihre Grenze, 9 KrV, A VII; 1. Aufl. 1781, B 1787; vgl. hierzu Fink 1949b, 290ff. 10 Für Nietzsche gibt es „nur die Wirklichkeit eines Transzendierungsversuches, nicht die Wirklichkeit einer transzendenten Welt" (Fink 1959/60, 24). 11 Das im höchsten Maße Geschichtliche ist für Fink das Schöpferische; vgl. Fink 1960a, 74 und 75: „Das Schaffen ist als solches, als ursprüngliche Geschichtlichkeit, auf die Wirklichkeit der Zeit bezogen [...]." Cathrin Nielsen sondern in sich selbst, genauer: in dem auf die offene Zeit bzw. das Spiel der Zeit selbst bezogenen „Wollen endlicher, sich immer übersteigender Willensziele" (ebd., 76). Da Nietzsche an diesem „Wollen" jedoch Züge des Lebens schlechthin abliest, eröffne dies zugleich einen „Durchblick" (ebd.) auf das Wesen des irdischen, von allen meta-physischen Vorstellungen befreiten Seins überhaupt, des Seins als physis, als „Erde": „Vom schaffenden Menschen aus denkt Nietzsche in das Schaffen, in den Machtwillen der Erde selbst zurück." (Ebd., 78.) Nicht nur die Dinge, auch der Mensch selbst entschwindet sich, wenn er sich als schöpferischen Entwurf „zu Ende denkt" [...]. Er steigt zurück in einen Grund aller Dinge in der Selbstaufhebung seines Menschseins. Wohin führt der Weg zurück? In eine Weltwirklichkeit, zu welcher der denkende Mensch nicht nur als Gebilde, vielmehr als Tor und Wegstück gehört. [...] Der Mensch vergeht in das universelle Werden, die Welt konzentriert sich im Menschen. (Fink 1991, 134.) 47 Von alldem ist, wie Fink immer wieder betont, im Phänomen selbst „nichts zu bemerken" (ebd.). Diese alle Phänomenalität übersteigende schöpferische Bewegung der physis denke Nietzsche nun in besonderer Weise im Verhältnis zwischen dem, was er den „Willen zur Macht" nennt, oder der Bewegtheit des Lebens in der Zeit, und der „Ewigen Wiederkunft des Gleichen" als einer Auslegung der Zeit selbst,12 also - metaphysisch ausgedrückt - im Verhältnis von Ontologie (der Frage nach dem Sein des Seienden) und Kosmologie (der Fragen nach dem Seienden im Ganzen). Wie er das tut, soll nun im zweiten Teil dieses Aufsatzes vertieft werden. Genau hier - im Verhältnis von Ontologie und Kosmologie -ist ja der geschichtliche Ort, von dem aus Fink das „Risiko seiner Interpretation" 12 „Zeigt der Wille zur Macht die Bewegung alles Seienden in der Zeit, so unternimmt der Gedanke der Ewigen Wiederkunft eine Auslegung der Zeit selbst." (Fink 1959/60, 6.) „Mit der Ewigen Wiederkunft [.] wird für Nietzsche das Weltganze zum Problem. Und zwar faßt er es temporal; Weltganzheit wird als Gänze der Zeit, als die Ewigkeit der Zeit, als Ewigkeit des zeitlichen Waltens der Welt angesetzt." (Fink 1960a, 92.) Phainomena 31 | 122-123 | 2022 in Angriff nehmen und den „Richtungssinn" bahnen will, genau hier wird die Ambivalenz von Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik im Blick auf seine „ontologische Erfahrung" als neue Welterfahrung für Fink fruchtbar - und genau hier findet, nebenbei gesagt, auch seine strikte Abgrenzung gegen Heideggers metaphysische Nietzsche-Deutung13 statt: Von der Welt sagt Nietzsche beide Grundgedanken seiner positiven Philosophie aus: den Willen zur Macht und die Ewige Wiederkunft. Weil der Wille zur Macht aus dem Gegenbezug zur Ewigen Wiederkunft gedacht werden muß und umgekehrt, ist es eine einseitige Auslegung, den Willen zur Macht als Nietzsches Grund-Formel für das Sein anzusprechen und darin eine äußerste Position der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität zu sehen [...]. Diese Interpretation [...] trifft vielleicht nur das „Metaphysische" bei Nietzsche, nur seine widerwillige Abhängigkeit von der Geschichte, die er überwinden will. (Fink 1960a, 178.) 48 Was sie nicht trifft, ist nach Fink die Einsicht in den Machtwillen als „Gegenspiel[er] der Verendlichung zur Un-Endlichkeit der Ewigen Wiederkunft" (Fink 1960a, 178) und damit den philosophischen Nietzsche, den Nietzsche, in dessen Kampf gegen die Metaphysik sich (wie vorläufig und missverständlich auch immer) doch zugleich eine neue, diesen Antagonismus 13 Finks Auseinandersetzung mit Heidegger ist auf seinem ganzen Denkweg neben großen Affinitäten und der zweifellosen Vorgängerschaft Heideggers im Bahnen ganz bestimmter Fragestellungen und Schneisen als diese Gegenwendung von Ontologie/Kosmologie spür- und rekonstruierbar: angefangen beim frühen Fink (vgl. Giubilato 2022, im vorliegenden Band), über seine kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Hegel-Deutung 1950/51 (Fink 1977), bis hin zu dem 1966/67 gemeinsam veranstalteten Heraklit-Seminar. Laut Spariosu Fink „gives the latter [Nietzsche] a Heideggerian interpretation against Heidegger himself; or [...] he interprets Nietzsche through Heidegger, and Heidegger through Nietzsche" (Spariosu 1989, 127). Fink positioniert sich auf jeden Fall klar gegen die „psychobiologisierende" Lesart bei Heidegger (vgl. Nielsen 2006) wie auch gegen die beiden anderen einseitig entweder den „Willen zur Macht" (Alfred Baeumler) oder aber die „Ewige Wiederkunft" (Karl Löwith) favorisierenden „metaphysischen" Nietzsche-Deutungen. Vgl. hierzu das noch auszuwertende Nachlassmaterial in EFGA 3.3 und 3.4 (Fink 2023a; 2023b). Cathrin Nielsen selbst austragende Welterfahrung abzeichnet. Es ist nach Fink primär eine Erfahrung des Seins (in) der Zeit und eine damit einhergehende Verwandlung des menschlichen Weltverhältnisses im Sinne einer Verwandlung des Verhältnisses von „Welt, Zeit und Freiheit" (Fink 1959/60, 10). 4. Mit dem „Willen zur Macht" benennt Nietzsche im Sinne eines thematischen Grundwortes also die Bewegtheit des Lebens oder das Sein, sofern es „in der Zeit ist" (Fink 1960a, 83f.). Auch wenn er das „ontische Modell" für diesen ontologischen Begriff in der organischen Natur vorfindet, wie Fink suggeriert (vgl. ebd., 128), handle sich nicht um eine Deskription dessen, wie die Dinge sich ontisch untereinander verhalten, sondern um eine Einsicht in das „bewegte Sein alles Seienden" (ebd.) - und eine solche Aussage ist nicht ontisch, sondern ontologisch. Im Blick stehe mit anderen Worten eine Identifizierung der Dinge „in einer Tiefendimension"; und hier sind sie „trotz der Verschiedenheit des Aussehens gleich": Sie sind allesamt „,Gebilde', Gewächse' der Erde" (ebd., 49 76), die bei Nietzsche zunächst als die „schöpferische Selbstübersteigerung des frei spielenden Daseins" (ebd., 73) angesprochen wird. Anders als in der metaphysischen Tradition erscheint die „ontologische Differenz" nach dem „Tode Gottes" somit nicht (mehr) als Differenz zwischen (unbewegter) Idee und (bewegtem) Abbild, sondern als Differenz zwischen einem Bildenden und seinen Gebilden: Der Wille zur Macht ist ein alle Dinge durchströmendes Sein, das sich nicht als „Idee" zum Seienden verhält, also wie ein Urbild zu Abbildern, sondern das das Bildende von Gebilden ist; alle Dinge sind „Fiktionen" des Wille zur Macht, sie sind „Gebilde" und „scheinhaft" zugleich. Im Menschen ist das „Bildende" in dem angegebenen Sinne das Selbst. (Fink 1959/60, 29.) Es sind vor allem zwei Aspekte der ontologischen Grundeinsicht vom Willen zur Macht, deren „Richtungssinn" Finks Interpretation forciert; beide betreffen die „Tendenz auf Mehr" oder den ontologischen Komparativ als das Phainomena 31 | 122-123 | 2022 eigentliche Spielfeld der Metaphysik, und beide weisen auf je ihre Weise in seine eigene Fragestellung nach einem dieses Spielfeld neu, aus dem Ganzen reformulierenden „kosmischen Prinzip". Zum einen nämlich führt das in diesem Grundwort zum Ausdruck kommende „Mehr" nach Fink zu einer Verflüssigung bisheriger ontologischer Festlegungen, indem Nietzsche die „Lehre" vom Willen zur Macht mit dem Willen zur Macht als „Erkenntnis" beginnen lasse, und zwar im Sinne einer subversiven, ihre eigenen Fundamente auflösenden Selbsterkenntnis. Anstatt die Ontologie der Dinge kategorial von der Wirklichkeit des Willens zur Macht her aufzuschließen, sie also auf diesen als ihr Seinsprinzip zu übersteigen, zeigt er, dass diese Kategorien selbst bereits Gebilde des Willens zur Macht sind und gerade deshalb seine Wirklichkeit nicht zu erfassen vermögen (vgl. Fink 1959/60, 25).14 Damit scheint die Differenz als „ontologische Metapher" der Metaphysik ihrerseits durch etwas gleichermaßen motiviert wie gebrochen zu sein, das sich ihrem Vokabular und Instrumentarium entzieht. Diese erweisen sich lediglich als Fiktionen einer „kleinen Vernunft", die sich in ganz bestimmten Narrativen (oben sprach Fink 50 von „fertigen Ontologien", Nietzsche vom „Bewusstseinszimmer") eingerichtet hat. Die Vernunft erkennt mit anderen Worten nur den Widerschein dessen in den Dingen wieder, was sie selber in sie hineingelegt hat, ohne sich dieser apriorischen Vorzeichnung bewusst zu sein. Aber nicht nur der Substanzgedanke, auch sein metaphysisches Pendant, der „Subjektgedanke" wie auch die „phänomenale Bewegung" entspringen einer solchen „Fiktion 14 Vgl. Nietzsche WL 1, KSA 1, 877: „Sie [die Natur] warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte [...]." Diese auch in Finks Unterscheidung von thematischen und operativen Begriffen (Fink 1957) zentrale Thematik, dass wir immer schon aus operativen Schemata heraus denken, deren Genese sich der Bewusstheit und damit Verhandelbarkeit weitgehend entzieht, weil es sich im Wesentlichen um Schemata handelt, die den Boden unserer Begriffe bilden und daher ihrerseits begrifflich nicht „rückwärts" aufgelöst werden können, trägt Fink bereits früh durch die Problematik des Phänomens der „Rücklage" Rechnung: „Die ,Zeitigung der Zeit' ist kein ,Geschehen, so wenig wie sie ,ist', kann aber philosophisch nur durch die Rücklegung des durch sie Ermöglichten (die Innerzeitigkeit) beschrieben werden." (Fink 2008, Z-IV, 10a) Vgl. auch van Kerckhoven 1996, der vom „absoluten Verzug" spricht (106): „Wir können nicht bei der Geburt der Welt anwesend sein; wir sind von ihrer ursprünglichen Stiftung ferngehalten." (Ebd.) Cathrin Nielsen des Feststehens" (vgl. Fink 1959/60, 27). Wenn sich aber Substanz und Subjekt als jeweils vorgängiger Grund des Erscheinens und mit ihnen die ganze phänomenale Welt als bloßes „Spielzeug, Werkzeug, Mittel" (ebd., 26f.) des Willens zur Macht erweisen und auch die Bewegung „zwischen" ihnen wiederum von einer Bewegung hervorgerufen wird, die ursprünglicher zu denken ist als von einer Substanz oder einem Subjekt ausgehend,15 dann wird das Erscheinen tatsächlich auf abgründiges Geschehen geöffnet. Zeuge und Ort dieser Öffnung (die „Lücke im Kosmos"; Fink 2023a, OH-V/45) ist für Nietzsche wie auch für Fink der Mensch, genauer, der nach dem „Tode Gottes" in sein eigenes Schaffen befreite, sich „der Macht des Seinsspieles" (ebd., OH-V/47) bemächtigen wollende Mensch. Der Mensch durchschaut nicht nur die Dinge als Gebilde seiner eigenen schöpferischen Tätigkeit, sondern auch sich selbst, und er kann dies, weil sich in ihm das Lebens überhaupt -als Wille zur Macht - erkennt.16 In der Freiheit des Menschen spiegelt sich die Grundlosigkeit der Bewegung wider, und es ist umgekehrt die grundlose Bewegung des Erscheinens, die sich in der Freiheit des Menschen als sein 51 15 Nietzsche spricht vom „Selbst", in dem nach Fink Substanz und Subjekt aufgehoben sind; vgl. Fink 1959/60, 29: „[...] es kann soviel heißen wie ,die Sache selbst', aber auch soviel wie ,ich selbst'"; mit dem „Leib" sei dann „in erster Linie ein Selbst im Sinne des Wesens" gemeint, dessen, „was der Mensch im Grunde ist, nicht dagegen ein Selbst in dem Sinne des Sichwissens". Das Letztere sei dagegen bei Hegel der Fall, der seinerseits (insbesondere in der Phänomenologie des Geistes) „den festen Unterschied von ,Selbst' als Substanz und ,Selbst' als Subjekt", der die „Grundlage der bisherigen Metaphysik" gebildet habe, „weil durch ihn alle Dinge interpretiert werden" (ebd.; vgl. auch Fink 1955/56, 281) konnten, „in Bewegung" bringt. Bei Hegel wird nach Fink insgesamt eine im Verhältnis zur Metaphysik neue Form der ontologischen Erfahrung eröffnet -er gilt Fink daher als „Ariadnefaden" (Fink 1977, 236) für eine Erfahrung, die erst bei Nietzsche in ihre eigentliche Dimension gelange; vgl. ebd., 352: „Das offene, aufgetane Reich der Einzeldinge und ihre sie zusammenschließende Gesamtfügung - und schließlich die durchströmende Seinsbewegung - bilden das Feld des abendländischen Denkens von Parmenides bis Hegel. Der verschlossene, aller Lichtung vorgängige Grund - die Erde jedoch ist das Neuzudenkende der Philosophie und das Ältesterfahrene, des Mythos, ist die Basis, von woher vielleicht einmal eine Auseinandersetzung mit Hegel möglich werden kann - vielleicht gemäß der Forderung von Nietzsches ,Zarathustra': Bleibt der Erde treu! -" 16 Den Prozess dieses Erkennens schildert Nietzsche in den drei Verwandlungen des Geistes vom Kamel zum Löwen und dann zum Kind als „Spiel", „aus sich rollendes Rad" und „erste Bewegung" (Fink 1960a, 71); vgl. Fink 1959/60, 12ff.; dazu Joisten 2011. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 eigener abgründiger Grund (Fink spricht gleichermaßen von physis, Welt, Zeit, dem Ganzen) zu erkennen gibt. Für Fink ist somit mit der Freiheit als „Selbstbemächtigung" nur eine Seite von Nietzsches „neuer Welterfahrung" berührt. Um die Verwandlung des Verhältnisses von „Welt, Zeit und Freiheit" zu erfassen, die sich in Nietzsches positiver Philosophie - dem Zarathustra - abzeichne, muss der in der Grundlosigkeit des unablässigen Schaffens aufblitzenden Totalität der Zeit, in die der Mensch spiegelnd hineinreicht und aus der heraus er sich produktiv versteht, ihrerseits Rechnung getragen werden. In diese Richtung führt erneut die von Fink als ontologischer Komparativ ausgewiesene „Tendenz auf Mehr", und zwar jetzt im Blick erstens auf den Gedanken der Steigerung als solcher (der Wille zur Macht als reine Selbstüberwindung) und zweitens die notwendig im Gedanken dieser Selbstüberwindung mitgedachten schon bestehenden Gebilde, die sich ja als in der Zeit seiende selbst übermächtigen bzw. übermächtigt werden (eine Steigerung rein aus sich heraus - ein Komparativ ohne ein zugrunde liegendes Adjektiv - scheint ja widersinnig). Fink bringt 52 diesen Sachverhalt so zum Ausdruck, dass er nun den Vollzugscharakter der Übermächtigung hervorhebt und seine Verortetheit in der Zeit. Der Rhythmus, die Bewegtheit des Lebens sei kein spielerisches Hervorquellen, kein „Wellenspiel", keine „allesumfangende Flut" im Sinne eines bloßen Hin und Her, kein bloßes wechselseitiges Bedingen, sondern gleiche vielmehr eher „einem ungeheuerlichen, sich immer mehr auftürmenden Turm, der wächst und wächst; jede erreichte Position wird zum Sprungbrett für einen neuen Anlauf" (Fink 1960a, 80). Das „schaffende Selbst" ist mit anderen Worten ein „auf Größerwerden bedachtes Machtquantum", der Wille zur Macht waltet „als Setzen der Bedingungen seiner Zunahme" (Fink 1959/60, 30) und dieses Setzen bedeute letztlich einen „Kampf auf Leben und Tod": „Das Leben ist als durchströmt vom Wille zur Macht beständiges Überstiegenwerden von Machtquanten durch andere, höhere Machtquanten. Die Selbstüberwindung des Lebens soll [dabei] nicht über das Leben [selbst] hinausführen, sondern nur über jede bestimmte und feste Lebensgestalt." (Ebd., 55.) Cathrin Nielsen 5. Der Wille zur Macht als „Kampf auf Leben und Tod" wird im Zarathustra als ein Kampf zwischen dem „Es war" und der offenen Zukunft ausgetragen. Die Frage, auf die Fink seine Deutung zulaufen lässt, lautet: Wie steht der sich unablässig steigern wollende „Wille zur Macht" zur Macht der Zeit? Wie verhält sich mit anderen Worten die „Tendenz nach Mehr" im Sinne eines „Willens zur Zukunft" (Fink 1960a, 81) zur Gegenwart, zum erlebten Jetzt, und zur Vergangenheit als dem, was unwiderruflich (der Fall) war? Dem Willen zur Zukunft seiner selbst, einem sich immer weiter und tiefer in seinem eigenen Möglichsein erkennen wollenden Willen, steht dieses „Es war" entgegen und bildet doch zugleich den gewaltigen Fuß jenes sich „auftürmenden Turmes" in die offene Zukunft. Zum einen kann der Wille nur im „Spielraum des Möglichen" wollen, an der „Unabänderlichkeit der verflossenen Zeit endet alle Willensmacht" (Fink 1960a, 81). Zum anderen kann das Leben seine Überhöhung nicht ins Unendliche fortsetzen, es kann keinen „endlosen ÜberÜbermenschen" (ebd., 82) geben, denn auch das würde bedeuten, die Macht 53 des Willens der Macht der Zeit zu unterwerfen als der Grenze, die ihn in jedem Moment neu an ihm selbst unmöglich werden lässt. Wie kann dieses Verhältnis also so gedacht werden, dass die Macht des Willens nicht an der Macht der Zeit zugrunde gehen muss und andersherum die Realität der Zeit nicht, wie in der Tradition, einfach negiert wird und die Ontologie des Willens zur Macht damit (wie Heidegger suggeriert) zur „Vollendung der abendländischen Metaphysik", also zur Vollendung jener Bahn, der Nietzsche auf fulminante Weise den Krieg erklärt hat? Was heißt es also, den Machtwillen als „Gegenspiel[er] der Verendlichung zur UnEndlichkeit der Ewigen Wiederkunft" (Fink 1960a, 178) zu denken und damit, wie ich das oben ausgedrückt habe, den philosophischen Nietzsche, den Nietzsche, in dessen Kampf gegen die Metaphysik sich zugleich eine neue, diesen Antagonismus der Zeit selbst austragende Welterfahrung abzeichnet? Wenn der Wille zur Macht die Bewegung alles Seienden in der Zeit aufzeigt und die Ewige Wiederkunft des Gleichen die „Totalität der Zeit" (Fink 1959/60, 6) selbst, dann ist jetzt nach der „Zeit" als der Gegenspielerin und Grenze des Willens zur Macht zu fragen. Die zentrale Frage dabei lautet, ob dabei die Zeit Phainomena 31 | 122-123 | 2022 adäquat von der Wirklichkeit des Willens zur Macht her (also dem Sein in der Zeit) als endlose Abfolge von Momenten gedacht werden kann. Erschöpft sich das „Wesen" der Zeit tatsächlich in der Vorstellung einer unendlichen Linie, die „durch das Jetzt in zwei heterogene Teile zerspalten ist, in das Vergangene und Künftige? Oder gibt es ein tieferes Wissen um die Zeit?" (Fink 1960a, 82.) Auch der Wille zur Macht wird also noch unterlaufen, nämlich durch „Zeit". Er findet seine Grenze im doppelten Gesicht der Unabänderlichkeit der verflossenen/verfließenden Zeit. Genau dies wird im Bild vom „Thorweg" ausdrücklich, das im Zentrum des Gesprächs zwischen Zarathustra und dem Zwerg in dem berühmten Kapitel „Vom Gesicht und Rätsel" steht. Dieser Torweg, so heißt es bei Nietzsche bekanntlich, hat „zwei Gesichter": Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus - das ist eine andere Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor den Kopf: - und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusammen kommen. 54 Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben: „Augenblick". (Za III; KSA 4, 199f.) Wie verhalten sich, so fragt Zarathustra hier, der durch einen „Willen zur Zukunft" gezeichnete Weg des Schaffens zur Vergangenheit, zum unwiderruflichen „Es war"? Hat nicht die Zeit der Transzendenz in die Zukunft immer schon unwiderruflich ihr Gewesensein eingezeichnet? Hier, im Herzen des schöpferischen Entwurfs - im Willen zur Macht selbst - stoßen der „Wille zur Zukunft" und das Überantwortetsein an das Vergangene einander vor den Kopf. Die Frage, ob sich diese „heterogene [n] Teile" (Fink 1960a, 82) der auseinanderstrebenden Zeit je treffen oder einander ewig widersprechen werden, wird im Zarathustra zunächst so beantwortet, dass der Zwerg die Linearität der Zeit infrage stellt und damit den Gedanken des Unendlichen neu fasst. Statt die Zeit als endlose Abfolge von Jetztpunkten zu denken, stellt er sie als einen „Ring von Zeitmomenten, von Jetzten" (Fink 1960a, 87) vor. Unendlichkeit wird nun als ein Ineinanderübergehen von Vergangenheit und Zukunft gedacht und der Machtwille dahingehend „gerettet", dass das Leben als Werden den Charakter Cathrin Nielsen der Ewigkeit erhält. Aber selbst wenn das Leben in seinem unauflöslichen Zusammenspiel von Aufgang und Untergang geschlossen wird, wird doch nach Fink dieser „Kreis des Lebens" nicht seinerseits an seine Grenze gebracht. Stattdessen werde „eine temporale Geschlossenheit und ein Zurückfluß der Zeit in sich selber zu denken versucht" und damit „eine ,Hinterzeit' hinter der Zeit des Erscheinens angesetzt" (Fink 1958, 528f.). In dem Bemühen, die Gegenläufigkeit zum Kreis zu schließen, wird mit anderen Worten die dunkle Problematik der Zeit des Erscheinens - oder der Totalität der Zeit - erneut in eine Zeitvorstellung zurückgenommen, die an innerzeitlichen Gegebenheiten bzw. Modellen - hier der ontologischen Vorstellung vom Willen zur Macht als Bewegungsform der Dinge in der Zeit - abgelesen wird. Die Zeit, zu der wir uns als solcher verhalten, die sich zeitigende („dionysische") Zeit als die Geburtsstätte alles („apollinisch") Gezeitigen, als deren Spiegel der Wille zur Macht fungiert, die er aber selbst nicht hervorbringen kann, wird sowohl im ontischen Bild vom „Ring" der Zeit wieder verdeckt als auch in Zarathustras anschließenden, in einem „Wirbel der [...] Zeitdemarkationen" endenden Versuchen, das Binnenweltliche „auf die Weltganzheit der Zeit hin durchscheinend zu machen" (Fink 1959/60, 55 65f.), indem der Gedanke der Wiederholtheit des Vergangenen nun auch auf die Wiederholtheit des Jetzt und der Zukunft bezogen wird. Die daraus resultierende Paradoxie und (wie ja auch die Forschung zeigt) interpretative Unerschöpfbarkeit der Ewigen Wiederkunftslehre begründet sich nach Fink gerade dadurch, dass alle binnenweltlichen Zeitvorstellungen, mit denen in der Darstellung der Wiederkunftslehre operiert wird, einander letztlich „vor den Kopf stoßen": Es wird einerseits der Gedanke der Wiederholung festgehalten, andererseits wird er negiert, was die Gleichheit des Inhalts bei Verschiedenheit der Zeitstelle angeht. Es wird zusammen mit der Wiederkehr die Selbigkeit der Zeitstelle zu denken versucht; d. h., der Gedanke „explodiert". (Fink 1959/60, 67.) Es geht nach Fink auch gar nicht darum, diese zeitlichen Bestimmungen und Inhalte ihrer Paradoxie zu entledigen. Für ihn ist viel wichtiger, zu erkennen, welche operativen Voraussetzungen überhaupt in diese Paradoxie führen, das Phainomena 31 | 122-123 | 2022 heißt zu fragen, ob nicht die Paradoxie bzw. Antinomie der Zeitvorstellung gerade „aus dem Zusammenstoß der ding-ontologischen Denkmittel mit dem wesentlich fremdartigen ,Ganzen'" (Fink 1949b, 318) entspringt.17 Es stoßen einander also, tiefer besehen, nicht zwei endlos vorgestellte Zeitreihen vor den Kopf, sondern die operative Voraussetzung einer innerweltlichen Vorstellung endloser Zeitmomente (die als Reihe gedacht werden) und dem von ihnen aus undenkbaren Einfall des Ganzen. Die der Welt zugehörige Transzendenz lässt sich aus dem Binnenweltlichen und dem ihm zugeordneten ontologischen Komparativ schlechterdings nicht ableiten. Die Frage lautet also nicht: Wann (in der Zeit) ist die Reihe vollendet? Sondern: Wie verhält sich die Zeit zu dem, was in ihr ist? Wie die Welt zu dem, was in ihr war, ist oder sein wird, und wie die mit der „Macht des Seinsspieles" befähigte Freiheit des endlichen Menschen zum Spiel des Seins, der physis? Die Paradoxien der Lehre von der Ewigen Wiederkunft haben nach Fink demnach ausschließlich zum Ziel, das geläufige Zeitverständnis, welches den Wiederkunftsgedanken unmöglich werden lässt, gleichsam außer Kraft zu 56 setzen, um den Gedanken vorzubereiten, die Wiederkunft des Gleichen als „Wiederkunft des Einmaligen und Selben zu bestimmen" (Fink 21968, 172). Dieses nun wiederum diesseits der operativen Kategorien von Substanz und Subjekt, ja diesseits der Phänomenalität überhaupt zu denkende „Einmalige und Selbe" wird jetzt gerade durch den „schwebenden, tanzenden Charakter"18 der Zeit angespielt („was sein wird, ist schon gewesen, und das Vergangene ist zugleich auch das Künftige, im Jetzt ist auch die ganze Zeit, sofern es das unendlich wiederholte Jetzt ist. Der Mensch schwebt in der schwebenden Zeit [...]"; Fink 1960a, 98), der sich ergibt, wenn sich der Mensch in die reine 17 Vgl. die für diesen Zusammenhang grundsätzliche Auseinandersetzung Finks mit Kants kosmologischer Antinomie in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft in: Fink 1949b. 18 Vgl. Fink 1959/60, 56: „Die Leichtigkeit des Tanzes gilt Zarathustra als Grundcharakter des Lebens. Das Leben ist zwar gestuft in Machtquanten, die sich bekämpfen; aber der Strom, der alle Machtquanten trägt und sie in ihrem Kampf verbindet, ist das Tänzerische als der Grund des Lebens, dessen der Wille zur Macht nicht mächtig ist." Dieser Grund des Lebens ist das Eine, das das Viele aus sich entlässt und wieder zurücknimmt, die „allumfängliche, alles-bringende und alles-tilgende Spiel-Zeit der Welt" (Fink 1960a, 189). Cathrin Nielsen Bewegung des spielerischen Entwerfens bringt und erkennt, dass das, worum es hier und jetzt geht, „über allen endlichen Zeitinhalt un-endlich hinausliegt" (ebd., 104). 6. Dieses un-endliche, alle endlichen Zeitinhalte übersteigende „Hinausliegen" kommt in dem in Finks Augen zentralen Kapitel des Zarathustra zum Ausdruck, das mit „Die große Sehnsucht" überschrieben ist und nun unmittelbar den „Weltbezug des Menschen" (Fink 1949b, 214) zum Thema haben soll. Es bilde die Herzmitte des Zarathustra, aus der heraus alle Grundgedanken - die Frage nach dem Sein des Seienden (Wille zu Macht), die Frage nach dem Ganzen (die Ewige Wiederkunft des Gleichen), die Frage nach dem Seinsgrund (dem Dionysischen als dem, was den Platz des toten Gottes einnimmt) wie die Frage nach der Wahrheit (Übermensch) - erneut und von Grund auf zu rekapitulieren sind. Auch die „große Sehnsucht" geht nicht auf einen bestimmten Inhalt. Sie ist überhaupt kein Sehnen nach Gestern oder 57 Morgen, Diesem oder Jenem, kein Bezug zu Seiendem, sondern, das „reine Überschwingen", das „Sichhinaushalten ins Ganze" (Fink 1949b, 214). Dieses „reine Überschwingen" evoziert Zarathustra im Zwiegespräch mit seiner Seele: „Oh meine Seele", heißt es hier, „ich lehrte dich ,Heute' sagen wie ,Einst' und ,Ehemals' und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen" (Za III; KSA 4, 278). Und: „Siehe, es giebt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter!" (Ebd., 291.) (Das Zitat dieser „Vogel-Weisheit" (ebd.) sind, nebenbei gesagt, die letzten Worte von Finks Spiel als Weltsymbol). Je mehr Zarathustras Seele über alles Hier und Dort, Oben und Unten, Früher und Später, also über alle binnenweltlichen Inhalte, Demarkationen und Bestimmtheiten „hinwegtanzt", je tiefer sich also die Loslösung vom Binnenweltlichen zugunsten des philosophischen Gedankens ereignet, je mehr das Gespräch zu einem des bestimmten Seienden unbedürftigen Selbstgespräch der Seele mit sich selbst19 wird - desto schattenhafter, so Fink, wird auch die Figur Zarathustras als eine der vielen Masken, Rollen und Häute, 19 „Im Selbstgespräch Zarathustras mit seiner Seele ereignet sich das Denken an die Welt." (Fink 1949b, 214.) Phainomena 31 | 122-123 | 2022 deren sich Nietzsche bedient und bedienen musste. „Je wesentlicher Nietzsche seine Vision [...] zu fassen sucht, desto mehr bleicht und verblaßt das Bild." Zarathustra wird zum „Schema ohne Fleisch und Blut",20 öffnet sich auf das Ganze, wird auf seinen me-ontischen, unauslotbaren Grund hin „durchsichtig" - in jener von Fink seit seiner Dissertation beschriebenen paradoxen Struktur, die besagt, dass (und hier bediene ich mich einer Formulierung von Hans Rainer Sepp) „in einer Binnensituation das sie zugleich völlig Übersteigende in seinem Entzug aufleuchtet".21 Die Erscheinung ist jetzt, wie es in Spiel als Weltsymbol heißt, reine „Maske, hinter der ,niemand', hinter der nichts [mehr] ist - als eben das Nichts" (Fink 1960b, 223). Denn das „Spiel der Welt" ist einer berühmten Formulierung aus Spiel als Weltsymbol zufolge „niemandes Spiel, weil es erst darin Jemande, Personen, Menschen und Götter gibt; und die Spielwelt des Weltspiels ist nicht ein ,Schein', sondern die Erscheinung" (ebd., 241). Die Seele, die „aufgebrochen ist ins Offene der Welt", ist somit „selber zu einem All-Umfänglichen geworden, sie hat jede Nacht und jedes Schweigen', jede Sehnsucht und jede Sonne in sich" (Fink 1949b, 215), sie 58 ist, wie Nietzsche auf einem seiner letzten, sogenannten „Wahnsinnszettel" von sich selbst behauptet: „jeder Namen der Geschichte", der vergangenen wie in eins der zukünftigen. Ist also vielleicht die „Seele" selbst „in gewisser Weise die Zeit, am Ende die ursprünglichste Zeit?" Nietzsche, so Fink, „denkt hier in eine noch dunkle Dimension. Wie verhält sich die Weltoffenheit des Menschen zur Welt selbst? Etwa wie eine Erkenntnis zu ihrem Gegenstand? Ist die Welt ein vorliegendes Erkenntnisthema, dem man sich zuwenden kann, das man treffen oder verfehlen kann? Ist sie ein Objekt und ist andererseits das Offensein für die Welt eine Art ,subjektiver Ansicht'?" (Fink 1949b, 215.)--- (Hier könnte man jetzt drei von Nietzsches berühmten, immer ein Anathema anspielenden Gedankenstrichen anfügen.) Fink selbst legt das ganze Gewicht seines Denkens spätestens ab 1945 darauf, Raum, Zeit und Bewegung als Weltcharaktere zu denken und nicht 20 Fink 21968, 167. Vgl. ebd., 164: „Wo Nietzsches Vision vom Menschen ihre höchste Höhe erreicht, bleibt das Bild der Bilder schattenhaft. Was ist der Mensch?" 21 Nachwort der Herausgeber zu: Fink 1960b, 326. Bereits der frühe Fink spricht im Blick auf die phänomenologische Reduktion vom „Durchsichtigwerden der Maske der existenten Subjektivität" (Fink 2008, 167). Cathrin Nielsen transzendental oder existenziell bzw. existenzial, wovon insbesondere seine Vorlesung „Welt und Endlichkeit" (1949) Zeugnis gibt. Bei Nietzsche erkennt Fink das Aufblitzen einer „nicht-metaphysische Ursprünglichkeit" (Fink 1960a, 187), und zwar in dem Gedanken bzw. der „kosmischen Metapher" vom die ontologische Differenz ablösenden Spiel und vom Menschen als „Mitspieler des kosmischen Spiels" (ebd., 188): Wo Nietzsche Sein und Werden als Spiel begreift, steht er nicht mehr in der Befangenheit der Metaphysik; dort hat der Wille zur Macht [...] den Charakter der apollinischen Gestaltung, und andererseits wird in der Ewigen Wiederkunft des Gleichen die allumfängliche, alles-bringende und alles-tilgende Spiel-Zeit der Welt gedacht. (Fink 1960a, 189.)22 Die Situation des Torwegs ist und bleibt jedoch sowohl Nietzsches als auch Finks eigene Situation in ihrer Auseinandersetzung mit dem Schatten der Metaphysik, einschließlich der langen Schatten des „toten Gottes": Es gibt keine Positionierung zur Zeit, die sich in ein Außerhalb der Zeit stellen könnte, 59 es bleibt auf ewig der „wunderliche Bruch" (HL; KSA 1, 249). Finks Nietzsche ringt wie Fink selbst mit dem Vergangenen aus der „blitzhaften" Zäsur einer neuen Welterfahrung - und dieses „Ringen" ist in höchstem Maße performativ, vollzugshaft; es schießt gleichsam zusammen in das sich an das Gespräch mit dem Zwerg anschließende Bild des jungen Hirten (vgl. Za III; KSA 4, 201f.), dem, während er schlief, eine Schlange in den Schlund gekrochen ist und der ihr auf Zarathustras Zuruf hin („Beiß zu! Beiß zu!") den Kopf abtrennt und aufspringt, die endlose Geschichte also im Sprung über den eigenen Schatten buchstäblich im Moment enthauptet - und in ein bislang ungehörtes Lachen ausbricht. „Meine Sehnsucht nach diesem Lachen", so Zarathustra schon im selben Moment rückblickend, „frisst an mir: oh wie ertrage ich noch zu leben! Und wie ertrüge ich's, jetzt zu sterben! -" (Za III; KSA 4, 202.) Nietzsche war sich auf jeden Fall - wie Fink auch - in aller Schärfe bewusst, dass das Neue, der Anfang nicht nur seinen Austragungsort 22 Vgl. hierzu: Spariosu 1989, 125ff.; sowie Axelos 1962 und (zu Axelos und Fink) Dastur 1997. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 grundsätzlich im Einzelnen und damit in einer Perspektive der Endlichkeit (der Fragmentarität, des Risses) findet, sondern auch, dass eine „Lehre" wie die von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen niemals „wie eine plötzliche Religion" zu lehren ist: „Sie muß langsam einsickern, ganze Geschlechter müssen an ihr bauen [...]" (NL 1881; KSA 9, 503). Der „Sprung" gelingt immer nur im Augenblick. Ob Nietzsche also aufgrund seines Verhaftetseins in die Schatten der abendländischen Metaphysik mehr als Fink selbst der „mythischen Gestalt des Tantalus" gleicht, dessen Zugriff „das ihm allein Denkwürdige" entweicht - „das Weltganze als das Ziel der ,Großen Sehnsucht'" (Fink 1960a, 180) -, bleibe daher ebenso dahingestellt wie Finks Behauptung, Nietzsche scheitere letztlich daran, eine angemessene Sprache bzw. Begrifflichkeit für seine „neue Welterfahrung" zu finden, weshalb seine „höchsten Intuitionen" den Eindruck erweckten, „als stammle ein Trunkener von inneren ,Gesichten' - als sei der Philosoph ,nur Narr, nur Dichter'" (Fink 21968, 173). Als „Erstling" hänge er „über dem Abgrund" und - so wiederum Nietzsches Zarathustra: „Oh meine Brüder, wer ein Erstling ist, der wird 60 immer geopfert." (Za III; KSA 4, 250.) Bibliographie | Bibliografija Axelos, Kostas. 1962. Héraclite et la philosophie. Paris: Minuit. 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