Dalibor Davidovič Zum Begriff System in der Musikwissenschaft Beobachtungen einiger pragmatisch ausgerichteten Entwürfe In einem seiner 1982 veröffentlichten Texte beklagte Carl Dahlhaus beim Abhandeln der Begriffe System und Systematik im Kontext der Musik- wissenschaft den Mangel an Reflexion in ihrem gegenseit igen Bezugs- verhältnis. Von der Voraussetzung ausgehend, man sollte dieses Verhältnis als eine eigenartige Abstufung auffassen, versuchte er eine der möglichen Lösungen anzudeuten, fügte aber nebenbei hinzu, auf die seitens der all- gemeinen Systemtheorie begründeten Lösungen werde er nicht eingehen, da die Musikwissenschaftler diese Lösungen als die Ausgangspunkte fü r ihre eigenen Entwürfe bis dahin nicht berücksichtigt hätten (Dahlhaus 1982: 34). Kurz nach der Veröffentlichung des soeben erwähnten Textes von Dahlhaus erschienen - wenngleich nicht unter seinem Einfluß - einige Arbeiten, in denen der Versuch un te rnommen wurde, die vom Begriff System ausgehen- den, unter anderen disziplinbezogenen Umständen entstehenden, sich von der Musikwissenschaft unterscheidenden Theorien auch in ihrem eigenen Rahmen verwendbar zu machen. Und gerade über solche Theor ien wird hier die Rede sein. Dabei sollte man vielleicht gleich hervorheben, daß sich meine Beobachtung dieser Arbeiten hiervon zwei Fragen wird leiten lassen. Die erste wurde vom Soziologen Niklas Luhmann gestellt, als er über das Problem der Anknüpfung an die terminologische Tradition der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin schrieb. Laut Luhmann sind in einem solchen Fall zwei Opt ionen möglich: »Terminologien zu kontinuieren, obwohl ihre Bedeutung sich ändert, oder sie aufzugeben, und damit auf Identifikations- linien zur Tradition hin zu verzichten.« (Luhmann 1981: 173) Falls diese zweite Operat ion jedoch das Greifen nach einer im Rahmen einer anderen Disziplin geschaffenen Terminologie darstellt, entsteht nach Luhmann ei- nerseits auch das Problem der Kontrolle, die eine Disziplin dadurch bezüg- lich einer anderen übernimmt, während andererseits das Problem einer gewissen Inßationierung des theoretischen Jargons der Disziplin erscheint, aus der der Wortschatz entliehen wurde (Luhmann 1981: 175). Die zweite Frage von der weiterhin die Rede sein wird ist die der Problemrelevanz, die mit dem Thema dieser Konferenz einigermaßen zusammenhängt. Bevor ich auf diese Fragen eingehe, möchte ich die Kronologie des Erscheinens von hier berücksichtigten musikwissenschaftlichen Arbeiten Filozofski vestnik, XX (2/1999 - XIVICA Supplement), pp. 325-333 325 Dalibor Davidovič kurz skizzieren, wobei ich auch die ihnen zugrundeliegenden theoretischen Traditionen angebe. Die früheste Arbeit, die hier berücksichtigt wird, ist das Buch des Soziologen Frank Rotter über Musik als Kommunikationsmedium (Rotter 1985). Darin wird die Terminologie zweier soziologischer System- t h e o r i e n g e b r a u c h t : d i e j en igen von Talcott Parsons u n d von Niklas Luhmann . Es wurden 1991 zwei umfangreiche Arbeiten publiziert: eine Dissertation des Musikwissenschaftlers Rolf Großmann über Musik als Kom- munikation, die von der Terminologie der Empirischen Literaturwissenschaft (ELW) Siegfried J. Schmidts ausgeht (Großmann 1991), wie auch die the- matisch verwandte Dissertation Torsten Casimirs (Casimir 1991). Deren Ausgangspunkt stellte j edoch die Luhmannsche Theor ie dar. Auf diese Theor ie beruf t sich auch der im selben J a h r veröffentlichte Bericht des Musikwissenschaftlers Clytus Gottwald, der als öffentlicher Vortrag zustan- de kam (Gottwald 1991). Im Jahr 1993 wurde ein kurzer systemtheoretisch ausger ichte ter Text des Musikwissenschaftlers Ulrich Mosch publizier t (Mosch 1993). Das i m m e r n o c h nicht veröffentlichte Referat des Musikwis- senschaftlers Daniel Müllensiefen aus dem Jah r 1994 spricht über die un- ter dem Sammelbegriff des Radikalen Konstruktivismus zusammengefaßten theoretischen Ausrichtungen in deren Rahmen, unter anderen, auch die Theor ien Luhmanns u n d Schmidts ihren Stellenwert bekommen sollen (Müllensiefen 1994). Ähnlich ist auch ein Referat von Großmann aus dem J a h r 1997 ausgerichtet; darin wird zwar innerhalb des kontruktivistischen Pa- radigmas als Stützpunkt die Theorie Schmidts gewählt (Großmann 1997). Im selben Jahr wurde auch der letzte Text veröffentlicht, von dem hier die Rede sein wird, der Beitrag des Musikwissenschaftlers Ulrich Tadday un te r dem Titel Systemtheorie und Musik (Tadday 1997). Die gegenseitigen Bezugsverhältnisse der hier angegebenen Entwür- fe werde ich hier kurz darstellen, von der Vorgehensweise ausgehend, die vom Soziologen Armin Nassehi vorgeschlagen wurde, als er über den Be- griff der Differenz in drei unterschiedlichen Theorien schrieb. In der Absicht, e iner Deu tung auszuweichen, die behaup ten würde, was die jeweiligen Theor ien sind, inszenierte er deren gegenseitige Beobachtungen (Nassehi 1995: 54), wobei er vom Begriff Beobachtungzusgirig, mit welchem innerhalb der Systemtheorie »jedes Operieren mit einer Unterscheidung« (Luhmann 1984: 110) bezeichnet wird. Beobachtet manjetzt die Art, auf die die erwähn- ten musikwissenschaftlichen Arbeiten einander gegenseitig beobachteten, ist es möglich, die Differenz zwischen den ihnen zugrundeliegenden Theo- rien e inzuführen und sie aufgrund dessen in fünf Gruppen einzuteilen. In der ersten Gruppe würden sich solche Arbeiten befinden, die von der ELW ausgingen und sich mit Arbeiten beschäftigten, die sich auf die Sytemtheorie 326 Zum Begriff System in der Musikwissenschaft. Beobachtungen einiger... berufen (Rot ter /Großmann 1991, Casimir /Großmann 1997); wären in der zweiten j ene Arbeiten zu finden, die von der ELW ausgingen und sich mit gleichartigen Arbeiten befassten (Großmann 1991/Großmann 1997), wäh- rend in der dritten Gruppe die Arbeiten vorkommen, die sich auf die System- theorie stützten und ebenso die Arbeiten beobachteten, deren Ausgangs- punkt gerade diese Theorie war (Rotter/Casimir, Rotter/Tadday, Gottwald/ Mosch). Die vierte u n d fünfte Gruppe wird die Arbeiten umfassen, die ex- plizite vom Radikalen Konstruktivismus ausgingen, obwohl der Stellenwert dieser theoretischen Ausrichtung - wenigstens nach der Beurteilungen in der Diskussion außerhalb der Musikwissenschaft - in Bezug auf die zwei vorhergehenden Ausrichtungen einigermaßen ambivalent ist.1 In der vier- ten Gruppe werden aus der angegebenen Perspektive die Arbeiten beob- achtet, die sich auf die ELW stützen (Großmann 1991/Müllensiefen), wäh- rend in der fünf ten Gruppe die Arbeiten berücksichtigt werden, die vom systemtheoretischen Wortschatz ausgehen (Casimir/Müllensiefen). Wenn jetzt andere Differenzen, wie j ene zwischen den in einzelnen Entwürfen theoretisch zu umfassenden Ebenen außer acht gelassen werden,2 1 Obwohl man mit dem Begriff Radikaler Konstruktivismus (oder nur Konstruktivismus) manchmal die Erkenntnistheorie bezeichnet, auf die sowohl die ELW, als auch die Systemtheorie Luhmanns sich stützen, wird er öfter als eine Etikette für ein besonderes Disziplingefüge gebraucht, das einige kybernetisch oder neurobiologisch ausgerichteten Arbeiten (wie z.B. Roth 1997) umfaßt. Wenn man aber die Arbeiten wie beispielsweise Nassehi 1992 und Schmidt 1995 beobachtet, ist es möglich zu schließen, daß die Differenz, die von ihnen installiert wurde, ausdrücklicher die Systemtheorie von der ELW und dem Radikalen Konstruktivismus abtrennt; es scheint, daß in diesen Arbeiten die Unterschiede zwischen der ELW und dem Radikalen Konstruktivismus fast verschwunden sind. Nassehi fügt allerdings hinzu, daß auch »Luhmann selbst wohl an konstruktivistische Erkenntnistheorien anschließt, er aber zu anderen Ergebnissen kommt als seine Kritiker« (Nassehi 1992: 43). 2 Zieht man in Betracht beispielsweise die Klassifikation in Großmann 1991, wo man die Theorien-von der semiotischen Triade Charles Morris' ausgehend-nachjenen verteilen, die auf der sintaktischen, semantischen oder pragmatischen Ebene operieren, ist es wohl möglich, einige der hier erwähnten musikwissenschaftlichen Entwürfen für unpragmatisch und deswegen im Kontext dieser Beobachtung für unangemessen zu halten. Die erwähnten Arbeiten wurden jedoch in diese Beobachtung eingeordnet, weil jede von ihnen wenigstens die Möglichkeit anführt, daß die Theorie auch auf der pragmatischen Ebene operierbar sei (vgl. Gottwald 1991: 36, Mosch 1993:1). Die anderen Differenzen, die hier nicht berücksichtigt werden, sind unter anderem auch jene, die sich auf die Gattung (z.B. Dissertation, öffentlicher Vortrag usw.) der erwähnten Texte bezieht, und jene zwischen die Fachzugehörigkeiten ihrer Autoren. Aufgrund dieser letzten Differenz wurde die kritische Bestandsaufnahme in Inhetveen 1997 durchgeführt. Da die Autorin schon am Anfang betont, daß sie sich »mit der musiksoziologischen Forschung innerhalb der Disziplin Soziologie« (Inhetveen 1997: 9) beschäftigen möchte, wählt sie von hier erwähnten Arbeiten nur jene aus, deren Autor, Frank Rotter, ein Soziologe ist. 327 Dalibor Davidovič und wenn mittels der Selbstbeobachtung der eigene blinde Fleck bei der Einfüh- rung der Differenz festgestellt wird, die hier besprochenen theoretischen Strömungen scharf voneinander abtrennt, zeigen sich die Beobachtungs- ergebnisse solcher Beobachtungen als einigermaßen unerwartet. Während man nämlich im Hinblick auf die Arbeiten aus der zweiten oder aus der drit- ten Gruppe annehmen könnte, daß darin die Differenz zwischen sich selbst und der von ihnen zu beobachtenden Arbeiten nicht thematisiert wird, wä- ren in übriggebliebenen Fällen drastischere Abgrenzungen zu erwarten, ins- besondere in der ersten Gruppe. Da aber innerhalb der so skizzierten Unter- schiede solche Abgrenzungen nicht festgestellt worden sind, wäre es im wei- teren Verlauf mittels der Einführung der Differenz zwischen diesen Beobach- tungen und den gegenseitigen Beobachtungen von angegebenen theoreti- schen Ströhmungen im Rahmen anderer Disziplinen vielleicht möglich ge- wesen, andere Ergebnisse zu erzielen. Solche Beobachtungen von Beobachtungen außerhalb der musikwissen- schaftlichen Zusammenhänge sind allerdings außergewöhnlich zahlreich, so daß ich hier wegen des beschränkten Textumfangs gezwungen bin, solche Beobachtungen nur kurz und vereinfacht zu umreißen. Die Differenzen wer- den in bisherigen Beobachtungen auf unterschiedliche Asymetrisierungen der Opposi t ionen wie Konsens/Dissens, Humanismus/Antihumanismus, Alltags- erfahrung/Distanz hinsichtlich der alltäglichen Erfahrung, oder konkret/abstrakt zurückgeführt, wobei die Systemtheorie in Bezug auf die ELWund den Kon- struktivismus die Favorisierung ihren ersten Opposidonspole beanstandet, und umgekehrt. Es werden ebenfalls ihre jeweiligen Unterschiede hinsicht- lich der Auffassung des Systembegriffs festgestellt. Während das System für die Systemtheorie immer einen differenziellen Begriff in Bezug auf den Um- weltbegriff darstellt (Luhmann 1984), so daß es wegen einer solchen abstrak- ten Bestimmung auch auf der Ebene des Sozialen, Psychischen und Physio- logischen anwendbar ist, wird seitens der ELW dadurch der konsensuell, inter- subjektiv eingespielte Rahmen des menschl ichen Handelns bezeichnet (Schmidt 1991), was allerdings aus der Perspektive der Systemtheorie als eine gewisse Reduktion ihres eigenen Entwurfs ersichtlich ist. Die externen Beob- achter stellten indessen den Reduktionismus auch im Hinblick auf die Operationalisierung der Systemtheorie im Kontext der Literaturtheorie und Kunstgeschichte fest (Blom/Nijhuis 1995); nicht unbemerkt blieben aber auch die Selbstwidersprüche der ELW und des Konstruktivismus, wie etwa bezüglich ihre Schwierigkeiten mit eigenen antihermeneutischen Proklama- tionen (Ort 1994), oder im Hinblick auf die Unmöglichkeit, sich selbst zu begründen (Pasternack 1994).3 Als eine eigenartige Antwort wurde seitens 3 Schmidt selbst bekennt, daß die konstruktivistisch ausgerichtete Forschung »ihre eigenen Voraussetzung nie analytisch einholen (kann)« (Schmidt 1997: 55). 328 Zum Begriff System in der Musikwissenschaft. Beobachtungen einiger... der ELW und des Konstruktivismus an die Systemtheorie nebst bereits er- wähnten auch noch der Einwand hinsichtlich der Fragwürdigkeit ihres theo- retischen Designs serviert (Schmidt 1995). Die Beobachtung der Differenz zwischen musikwissenschaftlichen und nicht-musikwissenschaftlichen Beobachtungen läßt dadurch erkennen, daß die musikwissenschaftlichen Beobachtungen, da sie voneinender nicht ab- gegrenzt werden, auf nahezu identische Weise die vorhin angegebenen Oppositionen asymetrisierten, und zwar so, daß sie sich stillschweigend den seitens der ELW und des Radikalen Konstruktivismus vertretenen Konzep- tionen zuwandten. In diese Richtung bewegen sich anscheinend auch die Autoren, die die Terminologie der Systemtheorie explizite beibehalten: Casimir modifiziert beispielsweise die systemtheoretische These über die Geschlossenheit u n d die gegenseitige Abgegrenztheit sozialer u n d psychi- scher Systeme mittels seine Konzept ion der teilweise autonomen Systeme (Casimir 1991: 216) , 4 Tadday häl t ebenfal ls die e rwähn te These f ü r unannehmbahr (Tadday 1997: 30), während Gottwald die Systemtheorie mit der f rüheren Kritischen Theorie zu versöhnen versucht. Auch Rotter - ob- gleich von einer f rüheren Phase der Sytemtheorie ausgehend, als sie ihre späteren Thesen über die Selbstreferenz und Autopoiesis der Systeme noch nicht einführte — betrachtet die sozialen Systeme in ihrer notwendigen Ver- b indung mit psychischen Systemen, so daß er sich daher der Psychoanalyse zuwendet. Es scheint, daß in anderen Fällen die Differenz zwischen der ELW und der Systemtheorie durch deren Verschmelzung in die angeblich ge- meinsame konstruktivistische Ausrichtung ausgemerzt worden ist.5 Was hat all das mit dem Thema dieser Konferenz zu tun? Es scheint, daß die Beantwortung dieser Frage in gewisser Hinsicht auch die Antwort auf die erste Frage, hinsichtlich der Plazierung innerhalb/außerhalb der je- weiligen Disziplin oder Wissenschaft sein könnte. In allen hier erwähnten 4 Die Argumentation in Schmidt 1994 scheint wunderlich ähnlich. 5 Es ist allerdings zu betonen, daß diese Verschmelzung in Müllensiefen 1994 differenzierter und vorsichtiger als in Großmann 1997 durchgeführt ist. Müllensiefen beispielsweise bekennt, daß die Systemtheorie Luhmanns und der Konstruktivismus zwei selbständige Entitäten seien, da sie verwandt sind (Müllensiefen 1994: 1). Hinsichtlich der angeblichen Gemeinsamkeit der Systemtheorie und des Konstruktivismus ist doch zu sagen, man könnte dieser Bestimmung eine kritische Note nur im Fall der hier unternommenen Beobachtung zuschreiben. Es sollte aber nicht vergessen werden, daß auch in streng systemtheoretisch argumentierenden Arbeiten (z.B. Nassehi 1992) - in denen man die ELW und den Konstruktivismus für das Andere hält - die These anzutreffen ist, daß diese theoretischen Richtungen in gewisser Hinsicht mit der Systemtheorie verwandt seien (vgl. Anm. 1). Das bedeutet allerdings nicht, daß die feinen Unterschiede, die Nassehi im erwähnten Text zwischen ihnen einführt, zu vergessen sind. 329 Dalibor Davidovič Entwürfen ist, mehr oder weniger explizite, das Bestreben bemerkbar, die Differenz zwischen sich selbst und dem Rest der Musikwissenschaft und nicht zuletzt auch zwischen den unterschiedlichsten, innerhalb der Musikwissen- schaft um die Thematisierung des Bezugsverhältnisses zwischen Musik u n d Sprache bemühten Theorien anzuführen.0 Manche von diesen Musikwis- senschaftlern, wie beispielsweise Großmann, lassen die hermeneut ischen Konzeptionen überhaupt nicht zum Wissenschaftssystem zu, weil sie der Auffassung sind, daß diese Konzeptionen der Kriterien unwürdig sind, die das jeweilige System herstellt. Wenn z.B. Großmann ihnen deshalb einen Stellenwert im Kunstsystem zuteilt, wird er sie als seine eigenen Gegenstän- de , beziehungsweise Konstrukte betrachten, deren Konstruierthei t u n d Kontingenz durch seine Beobachtung entdeckt werden wird. Möglicherwei- se ist eine solche Beobachtung der Musikwissenschaft tatsächlich interessant, so daß manche, wie Hans-Peter Reinecke, die Ansicht vertreten, daß sie letzt- endlich auch notwendig geworden ist (Reinecke 1993: 123). Vielleicht ist es ebenfalls interessant hervorzuheben, daß eine ähnliche Rolle des Beob- achters der Musikwissenschaft in jüngster Zeit auch einige Autoren für sich reservierten, die mit der amerikanischen Musikanthropologie verwandt sind (Moisala 1986, Kingsbury 1991, Edström 1997). Eine solche Ausrichtung der hier erwähnten Anthropologen sollte zwar nicht so verwunderlich sein, wenn man bedenkt, daß bereits im kanonischen Buch der betreffenden Disziplin, The Anthropologe of Mu.sic von Alan Merriam, die These anzutreffen ist, die den Beobachter als j e m a n d e n herausstellt, dessen Beobachtung für den zu beobachtenden Gegenstand konstitutiv ist (Merriam 1964: 271; die Beob- achtung der Architektur). Solche musikwissenschaftlichen Beobachtungen lassen sich auch selbst der Beobachtung unterziehen, gerade von der Leitdifferenz ausgehend, von welcher hier bereits die Rede war, jene Differenz zwischen der Systemtheorie einerseits und der ELW und des Radikalen Konstruktivismus andererseits. Wie allerdings auch zu erwarten ist, sieht eine solche Beobachtung im Fall der bereits erwähnten musikwissenschaftlichen Entwürfe deren b l inden Fleck im Widerspruch zwischen ihrer Auffassung, daß alle anderen Konzep- t ionen der Musikwissenschaft von der Nähe des eigenen Gegenstands ge- blendet u n d deswegen ungenügend selbstkritisch sind, während sie aus ih- rer privilegierten wissenschaftlichen Perspektive heraus beobachten können, wie die Dinge tatsächlich aussehen, ohne j edoch festzustellen, daß sie da- 6 Die Ausnahmen sind Gottwald 1991, wo man explizite die kritischtheoretisch formulierte These über Musik als Sprache behalten wollte, und Mosch 1993, wo der Verfassersich hauptsächlich mit der Syntaktik beschäftigt, vermutlich voraussetzend, daß die Musik mit der Sprache zu vergleichen sei. 330 Zum Begriff System in der Musikwissenschaft. Beobachtungen einiger... durch für sich selbst dasjenige besetzt haben, was sie den anderen bereits verweigert hatten.7 Obwohl die Systemtheorie selbst mit vielen Problemen konfrontiert wird, wenn sie beispielsweise die Position der Ästhetik und der Theorie der Kunst bezüglich des Kunstsystems einerseits und des Wissen- schaftssystems andererseits bestimmen will, hätte sie hier keineswegs versäumt, auch die Frage nach der Stellenwert der hier besprochenen musikwissen- schaftlichen Theor ien zu stellen. Abgesehen davon, ob die Musikwissen- schaft als Selbstbeschreibung des Kunstsystems betrachtet wird, wie es hin- sichtlich der ihr verwandten kunstbezogenen Wissenschaften Luhmann meint (Luhmann 1995), oder des Wissenschaftssystems, was per analogiam hinsichtlich der Thesen des Literaturtheoretikers Niels Werber zu folgern wäre (Werber 1992), könnte man die Abgrenzung der h ier e rwähnten musikwissenschaftlichen Entwürfe von ihren Konkurrenten vorläufig als die Einführung der Differenz in das System der Musikwissenschaft selbst halten, was hingegen seitens der Systemtheorie gleichzeitig als eine selbstreproduktive Operation des jeweiligen Systems betrachtet worden wäre. Luhmann weist indessen daraufhin, solche rekursive Operationen »kann man allerdings nur im Nachhinein beobachten. Die Ordnung verdankt sich ihrer Evolution, sie ist daher nur als geschichtliches System möglich.« (Luhmann 1989: 11) Das bezieht sich dann auch auf die Entscheidungen bezüglich der Wissenschaft- lichkeit, gleichermaßen im Fall der musikwissenschaftlichen Theorien, von denen hier die Rede war, wie auch ihre hermeneutischen Konkurrentinnen. Von der Systemtheorie ausgehend, könnten erst die weiteren kommunika- tiven Anknüpfungen darüber entscheiden, ob es sich in j e d e m einzelnen Fall um die Kriterien einer echten Wissenschaftlichkeit handelt , oder darum, was Pierre Bourdieu den »Schein der Wissenschaft« bezeichnete, der »mit- tels des Methoden- und Operationentransfers einer entwickelteren, oder - sagen wir - angeseheneren Wissenschaft erreicht wird« (Bourdieu 1992: 207). Bibliographie Barsch, Achim/Rusch, Gebhard/Viehoff , Reinhold (Hg.). 1994. Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion. Frankfurt a /M. Berg, Henk de/Prangel , Matthias (Hg.). 1995. Differenzen: Systemtheorie zwi- schen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Tübingen. 7 Zur systemtheoretischen Position in diesem Fall siehe Nassehi 1992. 331 Dalibor Davidovič Blom, Tannelie/Nijhuis, Ton. 1995. »Sinn und Kunst: Die Umarmung Niklas Luhmanns durch die Literaturtheorie und Kunstgeschichte«, in: Berg/ Prangel 1995: 247-274. Bourdieu, Pierre. 1992. [to znači govoriti: Ekonomija jezičnih razmjena (Orig. Ce que parler veut dire: L'Economie des échanges linguistiques, 1982). Zagreb Casimir, Torsten. 1991. Musikkommunikation und ihre Wirkungen: Eine system- theoretische Kritik. Wiesbaden. Dahlhaus, Carl. 1982. »Musikwissenschaft und Systematische Musikwissen- schaft«. in: ders./Motte-Haber, H. de la (Hg.). Systematische Musikwis- senschaft (= Neues Handbuch der Musikiuissenschaft, Bd. 10), Wiesbaden/ Laaber. 25-48. Edström, Olle. 1997. »Fr-a-g-me-n-ts: A discussion on the position of critical e thnomusicology in contemporary musicology«. Svensk tidskrift för musikforskning. 79 (1): 9-68. Gottwald, Clytus. 1991. »Erkenntnisgenuß: Entwurf einer musikalischen Systemtheorie«. MusikTexte. (38): 33-39. Großmann, Rolf. 1991. Musik als »Kommunikation«: Zur Theorie musikalischer Kommunikationshandlun-gen. Braunschweig. G r o ß m a n n , Rolf. 1997. »Konstruktiv(istisch)e Gedanken zur 'Medien- musik'« in: Hemker/Müllensiefen 1997: 61-77. Hemker , Thomas /Mül l ens i e fen , Daniel (Hg.) . 1997. Medien - Musik - Mensch: Neue Medien und Musikiuissenschaft. Hamburg. Inhetveen, Katharina. 1997. Musiksoziologie in der Bundesrepublik Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme. Opladen. Kingsbury, Henry. 1991. »Sociological Factors in Musicological Poetics«. Ethnomusicology. 35 (2): 195-219. Luhmann , Niklas. 1981. »Unverständliche Wissenschaft: Probleme einer theorieeigenen Sprache«, in: ders. Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen. 170-177. Luhmann , Niklas. 1984. Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a /M. Luhmann , Niklas. 1989. »Reden und Schweigen«, in: ders. /Fuchs, P. Reden und Schweigen. Frankfurt a /M. 7-20. Luhmann , Niklas. 1995. Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a /M. Merriam, Alan P. 1964. The Anthropology ofMusic. Evanston. Moisala, Pirkko. 1986. (»Response to Blum«), PacificRevieiuofEthnomusicology. (3): 34-36. Mosch, Ulrich. 1993. »Systemtheorie und Komponieren. Anmerkungen zum Karlheinz Essl's kompos i to r i schem Ansatz«, h t t p : / /www.es s l . a t / bibliogr/mosch.html. 332 Zum Begriff System in der Musikwissenschaft. Beobachtungen einiger... Müllensiefen, Daniel. 1994. »Der Radikale Konstruktivismus als forschungs- modulierendes Paradigma in der Musikwissenschaft«. Manuskript. Nassehi, Armin. 1992. »Wie wirklich sind die Systeme?: Zum ontologischen und epistemologischen Status von Luhmanns Theorie sozialer Syste- me«. in: Krawiez, W./Welker, M. (Hg.). Kritik der Theorie sozialer Syste- me: Auseinandersetzung mit Luhmanns Hauptwerk. Frankfurt a / M . 43-70. Nassehi, Armin. 1995. »Différend, Différance und Distinction: Zur Differenz der Differenzen bei Lyotard, Derrida und in der Formenlogik«, in: Berg/Prangel 1995: 37-60. Ort, Claus-Michael. 1994. »Texttheorie - Textempirie - Textanalyse: Zum Verhältnis von Hermeneutik, Empirischer Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte«, in: Barsch/Rusch/Viehoff 1994: 104-122. Pasternack, Gerhard. 1994. »Empirische Literaturwissenschaft u n d ihre wissenschaftsphilosophischen Voraussetzungen«, in: Barsch /Rusch / Viehoff 1994: 55-85. Reinecke, Hans-Peter. 1993. »Musikwissenschaft, Systematische Musikwissen- schaft, Musikgeschichte - Versuch einer Bilanz«. Systematische Musikwis- senschaft. 1 (2): 115-127. Roth, Gerhard. 1997. Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a /M. Rotter, Frank. 1985. Musik als Kommunikationsmedium: Soziologische Medien- theorien und Musiksoziologie. Berlin. Schmidt, Siegfried J. 1991. Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft (1980). Frankfurt a /M. Schmidt, Siegfried J. 1994. Kognitive Autonomie und soziale Orientierung: Kon- struktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommuni- kation, Medien und Kultur. Frankfurt a /M. Schmidt, Siegfried J. 1995. »Konstruktivismus, Systemtheorie und Empiri- sche Literaturwissenschaft: Anmerkungen zu einer laufenden Debat- te«. in: Berg/Prangel 1995: 213-246. Schmidt , Siegfried J . 1997. »Konstruktivismus als Medientheor ie« , in: Hemker/Müllensiefen 1997: 39-59. Tadday, Ulrich. 1997. »Systemtheorie und Musik: Luhmanns Variante der Autonomieästhetik«. Musik und Ästhetik. 1 (1 /2) : 13-34. Werber, Niels. 1992. Literatur als System: Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen. 333