Bernhard Waldenfels ES GIBT ORDNUNG/IL Y A DE L'ORDRE Mit dem Thema der Ordnung greife ich ein Motiv auf, das mich seit langem beschäftigt und das es erlaubt, einige Kreuzungspunkte zwischen dem deutschen und französischen Denken der Gegenwart zu markieren.1 Dabei geht es mir nicht um eine querelle franco-allemande. Ein wirkliches Streitgespräch, in dem etwa Gadamer auf Ric^ur oder Derrida, Foucault auf Habermas, Levinas auf Tugendhat oder Bourdieu auf Luhmann gestoßen wäre, hat es, soweit ich sehe, nie gegeben, wenn man von halb mißlungenen Versuchen oder von gelegentlichen, meist verspäteten Respektbezeugungen absieht. Der Vorschlag von Alain Badiou, ein Grenzland „Frankeutschland" oder „Deutschankreich" zu deklarieren, ändert wenig daran, daß der Austausch vielfach erst post mortem, sozusagen im Agregationsstadium der Autoren stattfindet. Außerdem läßt man dabei 5 1 Dieser Beitrag erschien auf Spanisch in: R. Alvarado, G. Leyva, S. Perez Cortes (Hg.), ^Exi-ste el orden? La norma, la ley y la trangresion, Mexiko: Anthropos 2010. Ich erspare mir eine Menge Einzelnachweise, indem ich einerseits auf meine Schrift Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main 1987 (engl. Athens, Ohio 1997) verweise, in der die Ordnungsproblematik erstmals von mir systematisch entwickelt wird, und andererseits auf meine wiederholten Brük-kenschläge zwischen deutscher und französischer Gegenwartsphilosophie: Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt am Main 1983, ^1998, Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt am Main 1995 und zuletzt Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt am Main 2005. außer acht, eine welch wichtige Rolle osteuropäische Emigranten im deutschfranzösischen Ideentransfer des 20. Jahrhunderts gespielt haben. Man denke an Namen wie Berdjajev, Gurvitch, Jankelevitch, Kristeva, Kojeve, Koyre, Levi-nas, Minkowski, Politzer, Šestov oder Todorov. So scheint es mir fruchtbarer, von einer Sachfrage auszugehen, die Kontraste, Resonanzen und Dissonanzen wachruft und außerdem über einen nationalen Bruderstreit hinausführt, so daß auch Mexiko als unser Gastland sich daran beteiligen kann. Außerdem gibt es nicht wenige Divergenzen innerhalb des deutschsprachigen und des frankophonen Denkraumes, die eine geschlossene Frontbildung ausschließen. Schließlich gehört die Nationalisierung des Denkens zum fragwürdigen Erbe des 19. Jahrhunderts, das uns Etikettierungen wie den französischen Materialismus und den deutschen Idealismus beschert hat, die höchstens als Kurzformeln taugen. Man möchte sich nicht wünschen, daß auf einen Buchtitel wie Descartes, c'est la France 6 demnächst so etwas wie Kann, das ist Deutschland folgt. 1. Große Ordnungen Um neueren Debatten eine Folie zu unterlegen, unterscheide ich drei großangelegte Ordnungsmuster, die das westliche Denken entscheidend geprägt haben. Der erste Typ trägt den Namen Kosmos, der in der Nebenbedeutung des Schmuckes einen ästhetischen Überschuß erkennen läßt. Der Kosmos steht für eine Ordnung in den Dingen. Er hat seinen Kern in der Zusammenstellung, in seiner synoptischen, synthetischen und synergetischen Kraft. Bei Cicero und Augustinus wird daraus eine compositio oder dispositio rerum. Alles findet seinen Platz in einem Ganzen. Doch das ebenso gängige griechische Wort Taxis, das wörtlich die Heeresaufstellung meint, hat einen härteren militärischen Beiklang. Damit nähern wir uns dem zweiten Ordnungstyp, der Ordnung als Order, als Befehl, Gebot oder Gesetz, hinter denen ein Befehlshaber, ein Gesetzgeber oder ein Richter steht und die sich an Befehlsempfänger und Untertanen wenden, selbst wenn die Gesetzgebung als Autonomie verinnerlicht wird. Die bekannte Parole von Law and Order gehört in diese Rubrik. Entscheidend ist in diesem Fall, daß die Ordnung in Geltung ist. An dritter Stelle bleibt noch die Ordnung nach Maß und Zahl, die in der Ordinalzahl oder der Ordinate explizit wird und eine künstliche Apparatur wie den ordinateur ermöglicht. Die Komplexität dieser Ordnungsvielfalt schafft eigene Probleme, von denen nur beiläufig die Rede sein wird. 2. Kontingenz von Ordnung Zu dem, was wir heute gemeinhin als Moderne bezeichnen, gehört die Kontingenz. Reduziert man die sogenannte Postmoderne nicht auf ein anything goes, so ist sie selbst eine Spielart der Moderne. Radikale Kontingenz besagt, daß keine Ordnung einfach dieselbe ist, sondern daß jede anders sein könnte, als sie ist. Robert Musil, der die Hauptfigur in seinem Mann ohne Eigenschaften zunächst Anders nennen wollte, äußert gleich zu Beginn seines Romans den halbironischen, theologisch eingekleideten Gedanken, „daß wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche"; denn - so lautet die Begründung - „Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein".2 Der Status der Kontingenz läßt sich auf verschiedene Weise explizieren. Eine der ältesten Bestimmungen ist die der Positivität. Kulturelle Ordnungen beruhen auf Setzung (thesei) und sind nicht von Natur aus (physei) gegeben, wie die Sophisten, diese verfrühten Modernen, behaupten. Doch diese Charakterisierung erinnert allzu sehr an jemanden, der als Ordnungsstifter tätig wird, und dies führt uns auf die Bahnen des zweiten großen Ordnungsmusters. Woher aber nimmt der fragliche Ordner seine Kraft oder seine Befugnis? Um in dieser Frage nichts zu präjudizieren, empfiehlt es sich, mit der bescheideneren Formel Es gibt Ordnung Vorlieb zu nehmen. Sie findet sich in verschiedenen Varianten, bei Hei- 2 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1978, S. 19. Dazu vom Verf. „Ordnung im Potentialis", in: Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main 1990. Der Text wurde für ein französisch-deutsch-chinesisches Kolloquium verfaßt, das in Peking hätte stattfinden sollen, aber nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens vom Juni 1989 abgesagt wurde. Im Text findet man Spuren dieses Anlasses. 7 dagger: „Es gibt Wahrheit", bei Merleau-Ponty: „Es gibt Rationalität" oder „Es gibt Sinn" und schließlich bei Foucault: „Es gibt Ordnung". Die Unbestimmtheit, die im Französischen durch den Teilungspartikel zum Ausdruck gebracht wird, verweist auf eine Unbestimmtheit in der Sache. Eine Ordnung, die es gibt, fällt niemals zusammen mit der Ordnung, die in den großen Ordnungskonzeptionen vorausgesetzt ist. Demgemäß habe ich für die Ordnung eine offene Definition gewählt wie diese: Ordnung ist „ein geregelter (d. h. nicht-beliebiger) Zusammenhang von diesem und jenem."3 Allerdings öffnet die deutsche Formulierung „es gibt" spekulative Hintertüren. Sie suggeriert eine Gabe (don), die über Daten und Gegebenheiten (donnees) hinausgeht und die Frage nach dem Wer des Gebers aufwirft. Der späte Heidegger leistet der spekulativen Aufladung Vorschub, und Derrida hat dies bereitwillig aufgegriffen.4 Doch eine Phänomenologie der Gabe, wie sie auch von Jean-Luc Marion entwickelt wird, kann auf einem solch 8 kärglichen sprachlichen Boden nicht gedeihen. Um den Überschwang zu dämpfen, genügt es, das deutsche „es gibt" durch das süddeutsche oder schweizerische „es hat" zu ersetzen, das der Neutralität des französischen „il y a" denkbar nahekommt. Gewiß gibt es noch mehr Beispiele für eine solche Verführung durch die fremde Sprache. 3. Ordnung im Zwielicht Die Formel „es gibt" verweist auf die Unumgänglichkeit eines Faktums, das keineswegs ein wortloses factum brutum ist und das auch kein blindes sacrifici-um intellectus erfordert. Es kann in seiner Unumgänglichkeit aufgewiesen werden, so daß es sich als incontournable erweist. Zu diesem Faktum, dem Husserl und in seinem Gefolge auch Sartre eine „faktische Notwendigkeit" zuspricht, 3 Ordnung im Zwielicht, S. 17. 4 Vgl. J. Derrida, Donner le temps 1: La fausse monnaie, Paris 1991, S. 62, deutsch: Falschgeld. Zeit geben I, übersetzt von A. Knop und M. Wetzel, München 1993, S. 51; auf ähnliche Weise vertauscht Heidegger das blasse „es ist" gegen ein emphatisches „es gibt", siehe Zeit und Sein, Tübingen 1969, S. 5. Vgl. dazu meinen kritischen Kommentar: „Das Un-ding der Gabe", in: Idiome des Denkens, S. 295 f. gehört das leibliche Selbst, sein leibliches Befinden, seine Situierung hier und jetzt, der Andere, der uns nolens volens in Anspruch nimmt, die Muttersprache, die jeder Wahl vorausgeht, desgleichen die Traditionen, in die wir hineingeboren werden, bevor wir sie annehmen oder abschütteln. Husserls phänomenologische Epoche, aber auch Wittgensteins Sprachexerzitien stellen den Versuch dar, diese Selbstverständlichkeiten aufzuzeigen, ohne sie begründen zu wollen, und sie aufzusprengen, ohne sie aufheben zu wollen. Auf dieser Linie bewegt sich auch Roland Barthes' Suche nach einem „Nullpunkt der Literatur", das heißt nach einem Nicht-Ort, an dem die Sprache sich in ihren Angeln bewegt. Hier bricht eine Radikalität hervor, die nicht metaphysisch zu nennen ist, aber auch nicht einfach nachmetaphysisch, wie manche Neopragmatiker es gern sähen. Das Faktum der Ordnung ist nun durch eine besondere Ambivalenz gezeichnet. Auf der einen Seite haben wir die Wirkkraft der Ordnung. Hinter der bestehenden Ordnung, dem ordo ordinatus, taucht eine entstehende Ordnung auf, 9 ein ordo ordinans, eine Ordnung in actu, wie auch Fichte noch unterscheidet. Das deutsche Wort ,Ordnung' kann doppelt gelesen werden, als normales Substantiv, aber eben auch als Verbalnomen, das den Prozeß des ,Ordnens' benennt, einschließlich der Möglichkeit eines ,Sich-ordnens', das dem aktuellen Konzept der Selbstorganisation zugrunde liegt. Wie Cornelius Castoriadis in seinen Untersuchungen zur Imaginären Institution der Gesellschaft unermüdlich betont, haben wir es hier mit Prozessen der Kreation und Autokreation, der Poiesis und Autopoiesis zu tun, in denen etwas vom Nicht-Sein ins Sein gelangt. Diese Wirkkraft wird vielfach als Wunder bezeichnet, als Wunder der Vernunft (miracle de la raison) bei Leibniz, als Wunder der Rationalität, des reinen Ichs und des reinen Bewußtseins bei Husserl, als Wunder des Ausdrucks bei Merleau-Ponty.5 Mithin kann es mancherlei bedeuten. Für uns bedeutet es, daß etwas sich nicht weiter herleiten und begründen läßt. Es ist etwas, wovon wir wohl oder übel ausgehen, selbst dann, wenn wir nach Gründen fragen. Mitten im Prozeß der Begründung stoßen wir auf Abgründe, nicht nur auf einen Abgrund der Freiheit, den wir schon bei Kant und Schelling finden, sondern auch auf eine Abgründig- 5 Vgl. Deutsch-Französische Gedankengänge, S. 111. keit des Sinnes. Darin zeigt sich die Kehrseite der Kontingenz. Eine kontingente Ordnung bleibt zurück hinter den Ansprüchen der großen Ordnungen, in denen ratio als Vernunft mit rationes im Sinne von Gründen verschmilzt. Das Prinzip des zureichenden Grundes weicht dem Faktum unzureichender Gründe, das in seiner Unumgänglichkeit ein Quasi-Prinzip darstellt. Die Lücken, die sich hier auftun, finden ihren Ausdruck in einem „blinden Fleck" des Bewußtseins und der Erfahrung wie bei Bataille oder Merleau-Ponty oder im politischen Postulat eines „leeren Platzes" wie bei Claude Lefort. Die Stiftung einer Ordnung findet niemals ihren gemäßen Platz in der Ordnung, die sie einführt, außer in der nachträglichen Form eines Re-entry, wie Systemtheoretiker dies nennen. Die Unruhe, die von dem weißen Fleck auf unserer Ordnungskarte ausgeht, verführt dazu, ihn auszufüllen. Dies hat zur Folge, daß die Kontingenz verkannt wird. Was nicht notwendig ist, erscheint als beliebig. Was sich einer umfassen-10 den und vollendeten Ordnung entzieht, wird als Unordnung, als Chaos abgetan, bis hin zur Personifizierung der Unordnung in Gestalten wie dem Teufel, den Barbaren, Heiden, Hunnen, den sogenannten Primitiven, den Klassenfeinden oder den Volksfeinden. Große Ordnungen fordern ihre Opfer. Fremdheit schlägt geradewegs in Feindschaft um, sobald man Regionen betritt, wo die Sonne der großen Vernunft nicht hin scheint. Doch selbst wenn man diesen Pendelschlag von Vernunft in Unvernunft vermeidet und sich mit einer bescheideneren Ordnung begnügt, bleibt es bei der Gefährdung der eigenen Ordnung; sie macht sich immer dann bemerkbar, wenn es zur Lösung von Konflikten keine zwingenden Argumente gibt, die eindeutig den Ausschlag geben können. Im Zweifelsfalle neigt man dazu, die andere Ordnung mit bloßer Unordnung gleichzusetzen, gegen die es sich zu verteidigen gilt. Volks- und Demokratiefeinde werden am Ende zu Menschenfeinden, Feindesstaaten zu Schurkenstaaten. Es stellt sich die Frage, wie wir in begrenzten Ordnungen leben, denken und handeln können, ohne die Grenzen aufzuheben. Im Hinblick auf das drohende Chaos, das von Ordnungshütern immer wieder zur Stützung der Ordnung angeführt wird, und zwar nicht nur von Platon, sondern auch von Hobbes oder Kant, so müssen wir unterscheiden zwischen einer anarchischen und einer gleichsam hyperarchischen Variante. Der ersten Variante entspricht das Durcheinander, das Tohuwabohu, die Konfusion, die noch in der Verworrenheit der ideae con-fusae und im chaotischen „Gewühl der Empfindungen" zum Vorschein kommt. Der zweiten Variante entspricht das absolute Gleichmaß, die völlige Homogenität, wie sie in der modernen Konzeption von Entropie angelegt ist. Die Zahl 7777 besteht zwar aus vier Ziffern, doch macht es keinen Unterschied, wie man sie anordnet. Der Limes der Gleich-gültigkeit verhält sich antipodisch zum Limes des absoluten Einsatzes für eine einzige Sache. Im Existentialismus Sartres, der in den Schlußpassagen von Das Sein und das Nichts sowie in der Programmschrift Der Existentialismus ist ein Humanismus einen Gipfelpunkt und auch einen gewissen Endpunkt erreicht, schlägt Engagement, das sich bis zur „totalen Bindung" steigert, in ebenso absolute Indifferenz um.6 Dem „Alles oder Nichts" tritt ein „Alles ist Nichts" entgegen, der Siedehitze der Gewalt kontrastiert ein Kältetod der Sinnlosigkeit. Doch damit deuten sich bereits verschiedene Weisen an, wie man mit der Kontingenz umgehen kann. 11 4. Begrenzte Ordnung als Herausforderung Die moderne Konfrontation mit der Kontingenz stellt eine permanente Herausforderung dar, die verschiedene Antworten zuläßt. Arnold Toynbee legt seiner Philosophie der Geschichte eine alternierende Bewegung von Challenge und Response zugrunde. Ich selbst gehe in meiner responsiven Phänomenologie davon aus, daß alle persönlichen und kollektiven Entscheidungen als spezifische Formen des Antwortens zu begreifen sind, mit denen wir uns auf die Angebote und Ansprüche bestimmter Situationen und Konstellationen einlassen. Betrachten wir das Auftauchen der modernen Ordnung als eine solche Herausforderung, so gewinnen wir den Eindruck, daß die französische und die deutsche Denktradition auf verschiedene Weise für diese Auseinandersetzung gerüstet sind.7 6 Zu Sartres Moral als Engagement vgl. Phänomenologie in Frankreich, S. 102 f. 7 Vgl. dazu meinen Artikel „Ordnung" in: Esprit/Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, hrsg. von J. Leenhardt, R. Picht, München, Zürich 1989 bzw. Au jardin des malen-tendus. Le commerce franco-allemand des idees, Arles 21997. Auf französischer Seite wird die Massivität der Ordnung aufgelockert durch wechselnde Formen der Pluralisierung. Das Konzept der Ordnung spielt eine Rolle, aber in Form mehrfacher Ordnungen. So mildert Descartes den strengen ordre de la raison, die Ordnung der Gründe, durch Einräumung eines ordre de la vie, der unsere Alltagswelt prägt. Daran knüpft Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung an, wenn er auf die natürliche Erfahrung im Sinne Husserls zurückgeht. Pascal bemüht sich um eine Balance zwischen ordre du corps, ordre de lesprit und ordre de la charite, indem er wechselseitige Übergriffe abwehrt. Spuren davon finden wir in Derridas Schrift Gesetzeskraft. Die Reihe ließe sich fortsetzen mit Rousseaus Unterscheidung von natürlicher und bürgerlicher Ordnung, mit Comtes Einführung eines wissenschaftlich abgestützten Ordre Nouveau, mit dem Ordnungen schaffenden und verändernden Leben bei Bergson und den Ordnungen als verschiedenen Verhaltensebenen bei 12 Merleau-Ponty. Schließlich Foucault. Für sein bahnbrechendes Werk von 1966 war zunächst der Titel Lordre des choses vorgesehen, der dann aus verlegerischen Gründen der deutschen und der englischen Übersetzung vorbehalten blieb. Die Kontingenz dringt mehr und mehr in die jeweilige Ordnung ein und tritt ihr nicht als Widerpart entgegen. Somit bedeutet Ordnung Einschränkung, nicht Aufhebung von Beliebigkeit. Ein Zusammenspiel von Ordnung und Unordnung gehört auch für Valery zu den Grundbedingungen geistiger Arbeit: „L'esprit va, dans son travail, de son desordre a son ordre. Il importe qu'il se conserve jusqu'a la fin, des ressources de desordre, et que l'ordre qu'il a commence de se donner ne le lie pas si completement, ne lui soit pas un si rigide maitre, qu'il ne puisse le changer et user de sa liberte initiale."8 Man kann sicherlich nicht sagen, daß auf deutscher Seite der hergebrachte Ordnungsbegriff ganz und gar außer Gebrauch gekommen ist. Noch Kant spricht von einer „Ordnung der Dinge"; diese beschränkt sich allerdings auf eine Ordnung der Erscheinungen und unterliegt einer „Ordnung nach Ideen", die unsere Vernunft aus sich selbst schöpft (KrV B 576). Was Goethe angeht, so ist er noch zu sehr von griechischem Geist geprägt, als daß er die Ordnung hätte gering- 8 „Tel quel", in: ^uvres II, Paris 1960, S. 714. schätzen können. Doch philosophisch betrachtet sind dies bloße Ausläufer oder Einzelfälle. Der normale Deutsche, ob Philosoph oder nicht, denkt bei ,Ord-nung' kaum an einen ordo rerum, sondern eher an das sprichwörtliche law and order, an Befehl und Reglement und an Ordnungshüter, also an eine Nachhut des zweiten großen Ordnungsmusters. Dabei macht es keinen großen Unterschied, ob man diese Ordnung bewahrt und verteidigt oder gegen sie rebelliert. Der in den Sechsziger Jahren aufflammende Streit zwischen Verteidigern des Subjekts und Anhängern der Strukturen, der aus dem schulbuchartig zurechtgeschnitte-nen Gegensatz von Phänomenologie und Strukturalismus seine Nahrung sog, erklärt sich wohl zum Teil durch die schiefe Ausgangslage, die das wechselseitige Verständnis erheblich erschwerte. Doch darauf werde ich hier nicht noch einmal eingehen. Stattdessen werde ich von einer Differenz ausgehen, die in der Begrenztheit der Ordnung, in ihrer Selektivität und Exklusivität angelegt ist, nämlich von der 13 Differenz zwischen Ordentlichem und Außer-ordentlichem.9. Dabei unterscheide ich zunächst zwischen zwei gegenläufigen Tendenzen, die darauf abzielen, die Polarität von Ordentlichem und Außerordentlichem zugunsten der einen oder der anderen Seite abzuschwächen, wenn nicht gar zu tilgen. Eine Alternative ergibt sich, wenn wir uns auf der Grenze zwischen Ordentlichem und Außerordentlichem bewegen. Alle Lebens- und Sinnbereiche sind von dieser Problematik betroffen. So ließe sich eine ähnliche Rechung für die Wissenschaftspraxis und Wissenschaftsgeschichte aufmachen, indem man mit Th. S. Kuhn zwischen normalen und revolutionären Phasen unterscheidet und den Paradigmenwechsel einer Zwischenzone zuordnet. Ich werde mich hier aber vorwiegend auf die philosophischen und andeutungsweise auf die politischen Aspekte beschränken. Dabei spreche ich von Tendenzen, nicht von Positionen; denn oftmals finden wir ein und denselben Autor oder gar ein und denselben Text auf der einen wie auf der anderen Seite wieder. Dabei geht es nicht um die übliche Mehrstimmigkeit, 9 Der Bindestrich in diesem Wort ist im folgenden immer mitzulesen, da es ganz wesentlich auf dieses Außen ankommt und nicht auf eine bloße Steigerung des Besonderen. Vgl. speziell hierzu vom Verf. „Das Ordentliche und das Außer-ordentliche", in: Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt am Main 1999; in diesem Text werden auch literarische Aspekte berücksichtigt. 14 die jede schlichte Identität eines Autors unterminiert, oft bleibt es vielmehr bei abrupten Kehrtwendungen, aus denen man wenig lernt. 5. Ordentliches ohne Außerordentliches Die eine der beiden Tendenzen nähert sich einem Ordentlichen ohne Außerordentliches. Sie entspricht dem Versuch, die Bresche, die durch das Einbrechen der Kontingenz in das Ordnungsgefüge geschlagen wird, so gut es geht zu schließen. Dabei fehlt es bekanntlich nicht an Versuchen totalitärer und fundamentalistischer Art, die auf eine künstliche Restauration alter Großordnungen bedacht sind. Doch abgesehen von offenkundigen Zwangsregimes, deren Ordnung nur als pervertierte Ordnung zu betrachten ist, begegnet uns bei Intellektuellen ein Liebäugeln mit antimodernistischen Idealen, das fragwürdigen politischen Praktiken ein geeignetes ideologisches Terrain verschafft. An Beispielen für eine solche intellektuelle Schützenhilfe fehlt es weder diesseits noch jenseits des Rheins noch anderswo. In seiner vielkommentierten Rektoratsrede, die sich zu einer schwarzen politischen Sternstunde ereignet, orientiert Heidegger sich an einem quasi-platonischen Ständestaat, indem er den allgemeinen „Arbeits-" und „Wehrdienst" mit einem „Wissensdienst" krönt. Darin zeigt sich entschieden mehr als ein opportunistisches Taktieren mit den neuen Machthabern.10 Doch auch die Suche nach einem „dritten Weg", die zwischen den beiden Weltkriegen das intellektuelle und politische Frankreich in Unruhe versetzt, befördert mit ihrer Mischung aus Sozialismus, Nationalismus und Antisemitismus einen fragwürdigen Renouveau, der in der Action Fran^aise seinen ideologischen Scheitelpunkt erreicht und auf deutscher Seite in der Konservativen Revolution sein Pendant hat.11 10 Vgl. dazu vom Verf. „Dienstverpflichtetes Denken" in: Grenzen der Normalisierung, 2. erweiterte Aufl. Frankfurt am Main 2008. 11 Vgl. eine allzu wenig beachtete Untersuchung von Thomas Keller: Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse. Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit, München 2001. Der Autor dokumentiert, wie sich in dieser Wegsuche die Pfade zwischen Deutschland und Frankreich kreuzen, bevor der erneute Kriegsausbruch die Fronten scheidet. Doch als anspruchsvoller und realitätsnäher erweist sich der Versuch, Begründungslücken, die eine kontingente Ordnung hinterläßt, mit den unverdächtigen Mitteln einer neopragmatischen, angelsächsisch ernüchterten Vernunft zu schließen. Jürgen Habermas, der gleich vielen seiner Altersgenossen allen Maitres Penseurs mit der Skepsis gebrannter Kinder begegnet, ist in Deutschland an erster Stelle zu nennen. Man gesteht sich ein, daß es für uns, die wir in einer nachmetaphysischen Ära leben, weder in Moral und Politik noch in den Wissenschaften zureichende Gründe gibt; doch man gibt sich damit zufrieden, daß es gute Gründe gibt, daß argumentiert wird, daß Geltungsansprüche überprüft werden und ein Konsens angestrebt wird. Die normale Ordnung braucht keinen Zuschuß an Außerordentlichem, da die Normalität sich mit den Mittel einer argumentativen Vernunft ständig selbst konsolidiert und korrigiert. Die Normalität wird vor einem normalistischen Schlummer bewahrt, indem sie an ihren eigenen Geltungsansprüchen gemessen wird. In der Literatur heißt so et- 15 was immanente Kritik. Der alte Satz Hegels, in dem Vernunft und Wirklichkeit als konvertibel erklärt werden, läßt sich entsprechend umformen: „Was demokratisch ist, ist vernünftig, und was vernünftig ist, ist demokratisch." Es versteht sich, daß Demokratie nicht mit faktischen Mehrheitsbeschlüssen gleichgesetzt wird, sondern mit öffentlich geführten Diskursen, die jederzeit zum Erliegen kommen können. Dennoch läuft diese Tendenz, die sich auf die kantischen Kritiken beruft und sich nach Bedarf mit einem aristotelischen Ethos der Lebenswelt angereichert wird, auf einen normativ abgesicherten Normalismus hinaus, das heißt auf eine Normalität, die sich einer radikalen Befragung entzieht. Diese normative Variante des Normalismus weist zwei empfindliche Schwächen auf. Erstens läßt sich die Bereitschaft zum vernünftigen Diskurs, die als Kern der Moral betrachtet wird, durch Argumente nicht herbeiführen, da das Hören auf Argumente bereits Vernunft voraussetzt. Beruft man sich aber auf faktisch geführte Diskurse, so gerät man in einen praktischen Zirkel, dem seine eigenen Voraussetzungen entgleiten. Wie Nietzsche kritisch bemerkt, verwandelt sich die angebliche Begründung der Moral in eine „gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral", wenn sie sich eine Genealogie der Moral meint ersparen zu können.12 Zweitens können argumentative Diskurse keine neuen Ordnungen kreieren, sie können nur die Konsensbasis erweitern oder Dissense verringern. Was nicht konsensfähig ist, wird dann lediglich geduldet. Ich nenne dies eine forensische Vernunft, die lediglich der kommunikativen Bestandssicherung einer Gesellschaft dient. Es fehlen Kräfte, die eine Ordnung lebendig und nicht nur am Leben erhalten. Die jüngste Annäherung von Habermas an die Religion wird so verständlich, obwohl dann zu fragen ist, ob eine säkulare Beerbung des religiösen Erbes dieses nicht um seine Wirkung bringt. Erspart man sich solche Begründungsqualen und bleibt man auf dem Boden positiver Ordnungen, ohne eine argumentative praktisch-moralische Prüfungsinstanz einzubauen, so bleiben nur funktionsgerechte Ordnungen zurück, die sich als sich selbst organisierende und erhaltende Systeme durch ihr Funktionieren als funktional rechtfertigen, oder es bleiben historische Epistemen, Diskurse und 16 Praktiken, die sich durch ihre Effekte als wirksam rechtfertigen. Die Rechtfertigung ist wiederum eine zirkuläre, ja nahezu tautologische. Wir nähern uns, juristisch gesprochen, einerseits der normativen Kraft des Faktischen, und historisch oder kulturell betrachtet einer historistischen oder kulturalistischen Selbst-bespiegelung. Die Formel „es gibt Ordnung" würde sich dann auf eine pure Hinnahme der Positivität beschränken; ob dieser Positivismus ein fröhlicher ist oder ein trauriger, ist dann nur noch eine Stimmungssache. Wir können nicht umhin, hierbei an einen gewissen Luhmann zu denken, bei dem formale Operationen wie Unterscheiden und Beobachten ordnungsstiftend sind, und an einen gewissen Foucault, bei dem Machtmechanismen den Ausschlag geben. Wir machen diese Einschränkung, weil es bei beiden Autoren durchaus gegenläufige Motive gibt, die in keine positive Ordnung passen, so den blinden Fleck oder die doppelte Kontingenz bei Luhmann oder die Transgression, das Denken des Außen oder die Widerstandskraft bei Foucault. Die Verknüpfung solcher außerordentlicher Momente mit dem Ordentlichen ergibt sich aber nicht von selbst. 12 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Kritische Studienausgabe (zitiert als KSA), hrsg. von G. Colli und G. Montinari, Berlin 1980, Bd. 5, S. 106. Zu Nietzsche vgl. vom Verf. „Der blinde Fleck der Moral", in: Deutsch-Französische Gedankengänge, Kap. 22, und allgemein zum Status der Moral: Schattenrisse der Moral, Frankfurt am Main 2006. 6. Außerordentliches ohne Ordentliches Die Gegentendenz zielt darauf ab, aus den Grenzen bestehender Ordnungen auszubrechen, anstatt an Traditionen zu arbeiten und sie umzuformen. Dies bedeutet, daß Momente wie Transgression, Bruch, Gewalt oder Dezision explosiv hervortreten mit einem Eklat, der alles in ein grelles Licht rückt. Das Revolutionäre neigt dazu, sich im eigenen Glanz zu sonnen. Das „starke langsame Bohren von harten Brettern" scheint nicht spektakulär genug. Was bei Frankreichs intellektuellen Wortführern auffällt, ist eine weitverbreitete Geringschätzung des Alltäglichen, Normalen, Gewöhnlichen, obwohl dieses doch nicht nur als Alltagssprache, sondern auch als Alltagsmoral den Humus einer Kultur ausmacht. Die Kontingenz, die darin besteht, daß etwas auch anders sein kann, nähert sich dann allzu leicht dem ganz Anderen, das von einer quasi-religiösen Aura umgeben ist. Momente eines solchen Extremismus finden wir etwa beim existen- 17 tialistischen Sartre, im Strahlungsfeld von Bataille, in gewissen Foucaultschen Eskapaden, in den Bekehrungsdarbietungen ehemaliger Maoisten oder auch in manch abruptem Seitenwechsel. Die Konversionskaskaden eines Garaudy streifen die Karikatur. Die Frage, wieweit die politische Philosophie eines Nancy, Ranciere oder Badiou davon infiziert ist und wieweit das „Politische" Gefahr läuft, den Boden der „Politik" unter den Füßen zu verlieren, wäre zu diskutieren.13 Hierzu gehört beispielsweise eine neue Paulus-Begeisterung, die von Paulus nur das Bekehrungsereignis gelten läßt und die vom Gesetz nur die Setzung zurückbehält, verkürzt um die Stimme des Gesetzes, die bei Kant noch deutlich zu hören ist. Als reine Ereignisse werden Revolutionen austauschbar.14 Natürlich fehlt es auch in Deutschland nicht an solchen Ausbrüchen des Außerordentlichen, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist voll davon. Selbst 13 Vgl. dazu eine kritische Bestandsaufnahme: „Bodenlos. Der Kampf um das Politische", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007) 5, S. 689-715. 14 Vgl. dazu Dominik Finkelde, „Streit um Paulus. Annäherungen an die Lektüren von Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Žižek", in: Philosophische Rundschau 53 (2006), S. 303331. ein so nüchterner und historisch gebrochener Geist wie Max Weber stimmt 1914 in die allgemeine Kriegsbegeisterung ein. Dieser Umschwung kommt nicht gänzlich aus heiterem Himmel. Dem „Verflachenden des Alltags" setzt Weber außeralltägliche Momente wie Eros und Brüderlichkeit entgegen; im Hintergrund rationaler und traditionaler Herrschaftsformen taucht das Charisma auf mit seinem paulinischen Nachklang; weltanschauliche Optionen, zwischen denen keine allgemeine Vernunftinstanz zu entscheiden vermag, werden als eine Art kultureller Matrix angesetzt. All dies kann man als Bemühung werten, Ordentliches mit Außerordentlichem zu verknüpfen. Doch letzten Endes bleibt nur das „eigne Wesen" in Gestalt der „eignen Ahnen" als Sinnsurrogat zurück. Der Kriegsausbruch entfacht einen Furor teutonicus, der sich in einem grandiosen Kriegserlebnis entlädt; vieles mag scheußlich sein, doch „dieser Krieg ist groß und wunderbar". 15 Dabei ist es dem deutschen Patrioten wohl bewußt, daß 18 es vielen Franzosen nicht anders ging und gehen konnte. Die Gesellschaft als „stahlhartes Gehäuse" kann nur in einem „Stahlgewitter" aufgesprengt werden. Die Ernüchterung folgte der Begeisterung auf dem Fuße, und diese enthielt nicht Max Webers letztes Wort. Doch mit Bedacht beziehe ich mich auf einen Gesellschaftstheoretiker und politischen Geist vom Schlage Max Webers und nicht auf einen der zahllosen politischen Analphabeten, an denen 1914 wie 1933 unter deutschen Akademikern kein Mangel herrschte. Es geht schließlich um mehr als um das Sammeln biographischer Daten. Setzen wir die Reihe bekannter Gestalten fort, so wäre Walter Benjamin zu nennen, der sich im Schatten von Jerusalem und Moskau mit der Frage einer erlösenden Gewalt herumschlug. Und nicht fehlen kann Carl Schmitt, der die verflachte, verbürgerlichte Öffentlichkeit mit Parolen wie Ausnahmezustand, Souveränität, Feindschaft aus dem politischen Schlummer zu wecken suchte und am Ende keine Schwierigkeit hatte, Führererlasse juristisch abzusegnen. Auf den Ideenstreit, den Cassirer und Heidegger 1929 in Davos vor einem ausgesuchten deutschen und französischen Publikum 15 Die Zitate stammen aus Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 230, 530. Das 16. Kapitel, das den Kriegsausbruch aus der Heidelberger Perspektive beschreibt, trägt den ethischen Titel „Dienst". Man vergleiche den in Anm. 10. zitierten Aufsatz „Dienstverpflichtetes Denken" austrugen, fällt ein besonderes Licht. Cassirer war für Heidegger der Vertreter einer überalterten Normalkultur, während Heidegger in Cassirers Augen etwas von einem Brandstifter hatte. Jean Cavailles, einer der Teilnehmer der Tagung, berichtete kurz danach aus Deutschland, hellsichtiger als so manch anderer. Das französisch-deutsche Schicksal, das diesem Resistancekämpfer und Wissenschaftsphilosophen aus der Schule von Husserl und Bachelard in noch jungen Jahren widerfuhr, verdient auch in Deutschland mehr Interesse, als ihm bislang entgegengebracht wurde. 7. Zwischen Ordentlichem und Außerordentlichem Das Zwischen, das mir als Alternative vorschwebt, bedeutet keine Mitte, sondern eine Schräge, die jede Symmetrie ausschließt. Wenn vom Außer-ordentli-chen die Rede ist, verweist dies auf eine Abweichung vom Normalen auf einen 19 Überschuß über das Normale hinaus. Eine abschließende Synthese ist ebenso ausgeschlossen wie eine strikte Disjunktion; denn was abweicht, bedeutet nichts ohne das, wovon es abweicht, und was über einen Pegelstand hinausschießt, bedeutet nichts ohne das, worüber es hinausschießt. An dieser Stelle möchte ich etwas Anekdotisches einflechten. Das Buch, das ich 1987 zum Problem der Ordnung publizierte, trägt den Titel Ordnung im Zwielicht. Der Titel hat eine Geschichte. Als ich 1984 während eines Paris-Aufenthaltes an diesem Buch arbeitete, stieß ich auf die Ankündigung eines Stücks von Heiner Müller, dessen deutscher Titel Im Zwielicht auf französisch mit Ent-re chien et loup wiedergegeben war. Wörtlich bedeutet dies Zwischen Hund und Wolf, also zwischen Häuslichkeit und Wildnis, zwischen Eigenem und Fremdem oder eben zwischen Ordentlichem und Außerordentlichem. Das Schillern zwischen dem Fremdartigen und dem Gefährlichen gehört zur Sache; Fremdes ist mehr als ein Gegenstand der Neugier oder ein Reiz für die Sinne. Aber auch das Eigene und Heimische ist niemals in unserem sicheren Besitz. Bei der Ausarbeitung dieser intermediären Sichtweise habe ich mich immer wieder auf einen Kerngedanken von Nietzsche bezogen, der in seiner Schrift Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne zu finden ist. Die Entstehung einer jeglichen Ordnung, angefangen beim schlichten Eindruck, sich fortsetzend in Metaphern und Begriffen, wird einem „Gleichsetzen des Nichtgleichen" zugeschrieben (KSA 1, 880).16 Gleichsetzen bedeutet, daß etwas vergleichbar wird und in wechselnden Kontexten als dasselbe wiederkehrt; Gleichsetzen bedeutet dagegen, daß das Gleichgesetzte und Verglichene nicht schlechterdings gleich ist. Jedem Gleichen wohnt daher ein Moment des Unvergleichlichen inne. Keine Ordnung wird dem Zu-Ordnenden gänzlich gerecht. Es gibt Ordnung, sonst könnten wir nicht einmal ein Wort in den Mund nehmen, und ohne eine Zeitordnung wäre der schlichte Rhythmus von Schlafen und Wachen hinfällig. Andererseits gibt es diese Ordnung nur als eine unter möglichen anderen. Weder weitet sich sie sich aus zu einem Weltall, noch liefert sie ein unerschütterliches 20 Fundament. Es gibt viele Ansätze, die in diese Richtung weisen. Von deutscher Seite nenne ich Walter Benjamins Sinn für das, was ungleichzeitig ist, was sich dem Zeitgeist entzieht, was zwischen den Zeilen steht und sich nur in Mikroanalysen erschließt. Mit seinem Beharren auf einem Überschuß an Nicht-Identischem in allem Identischen öffnet Adorno die Hegelsche Dialektik einen Spalt weit, so daß ihr der Schlußpunkt versagt bleibt. In der Dialektik der Aufklärung denkt das Denken gegen sich selbst an. In der Gründerphase der Frankfurter Schule sind es ältere Philosophen wie Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard und französische Autoren wie Baudelaire, Proust und Valery, die aus den Kreisbahnen der großen Ordnungen hinausführen. Für Gadamers Hermeneutik gilt dies 16 Diese Formel korrespondiert auf auffällige Weise mit der Art und Weise, wie Marx die nivellierende Kraft des Geldes charakterisiert, nämlich als ein „Gleichsetzen des Ungleichen"; siehe Grundrisse der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 80. Natürlich ist der Nietzsche, den wir hier präsentieren, ein bestimmter Nietzsche, von dem Valery bemerkt, daß er kein Nährstoff (nourriture) sei, sondern ein Anregungsmittel (excitant); siehe Cahiers, Paris 197374, Bd. I., S. 486, deutsch: Cahiers/Hefte, Frankfurt am Main 1987-93, Bd. 2, S. 23. Im übrigen kam Nietzsche für viele von uns Deutschen verändert aus Frankreich zurück, befreit von so manchem weltanschaulichen Ballast. Die Tatsache, daß wir die Kritische Ausgabe zwei Italienern verdanken, macht aus diesem Autor jenen „guten Europäer", der er gern sein wollte. nur bedingt, da das Verstehen in seiner Zugehörigkeit zu einer fraglosen Tradition in einem platonisch und hegelisch gedachten Kreis von Frage und Antwort befangen bleibt, so das Fremdes nach wie vor nur als das „Andere des Eigenen" zum Zuge kommt.17 In Frankreich sind es andere Deutsche, nämlich Husserl und Heidegger, verstärkt durch die Lektüre von Hegel, Marx und Freud, die für ein verändertes Klima sorgen. Die Problematik, die uns hier beschäftigt, bereitet sich in Mer-leau-Pontys Phänomenologie vor, wenn er die Ordnung nirgends anders sucht als in der Kreativität der leiblichen, ästhetischen und politischen Erfahrung, deren offene Sinnbildung nach einer „Erweiterung der Vernunft" verlangt.18 Doch obwohl er einer der ersten war, der sich bereits in den Vierziger und Fünfziger Jahren strukturalen Ansätzen wie denen von Saussure, Jakobson, Mauss, Levi-Strauss und Lacan öffnete, bleibt sein Denken streckenweise noch einem weichen Hegelianismus verhaftet, das heißt einem Ganzen, das sich zwar nur in 21 Umrissen und Andeutungen zeigt, aber doch ein Ganzes bleibt. Die Problematik begrenzter Ordnungen nimmt bei anderen Autoren schärfere Konturen. Bei Levinas, einem emigrierten litauischen Jude und einem frühen Vermittler deutschen Gedankengutes, der freilich zunächst nicht recht zum französischen Zeitgeist paßte, geht es darum, die Totalität eines ontologisch oder geschichtlich vermittelten Sinnes aufzusprengen, ausgehend von einer Exteriorität, die aus den Ansprüchen des Anderen erwächst. Dazu gehört die entschiedene Weigerung, aus den Opfern der Geschichte welthistorisches Kapital zu schlagen. Nietzsches Formel taucht hier in ethischem Gewand wieder auf in der Definition der Gerechtigkeit als einem „Vergleichen des (oder der) Unvergleichlichen".19 In die- 17 Vgl. Wahrheit und Methode, Tübingen ^1965, S. 283 und dazu meine kritischen Überlegungen: „Jenseits von Sinn und Verstehen", in: Vielstimmigkeit der Rede (s. Anm. 9), Kap. 4. 18 Diese Devise hält sich durch von seinem frühen Essay über den „Der Existentialismus bei Hegel" in Sens et non-sens (Neudruck Paris 1996, S.79, deutsch: Sinn und Nicht-Sinn, München 2000, S. 83) bis zu dem späten Essay „Von Mauss zu Levi-Strauss" in dem Band Signes (Paris 1960, S. 154, deutsch: Zeichen, Hamburg 2007, S. 175). 19 Vgl. Autrement quetre ou au-dela de lessence, Den Haag 1974, S.201, deutsch: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übersetzt von Th. Wiemer, Freiburg/München 1992, S. 344 f. ser paradoxen Konzeption steht die Figur des Dritten für das Vergleichen und Gleichsetzen, das eine Ordnung entstehen läßt, die außerordentliche Figur des Anderen für ein permanentes Korrektiv, das die bestehenden Ordnungen stört und in Frage stellt. Die entscheidende Pointe geht verloren, wenn man, wie es unter Fürsprechern und Gegnern allzu oft geschieht, die Politik des Dritten zum bloßen Appendix einer theologisch gefärbten Ethik des Anderen herabsetzt.20 Allerdings ist nicht zu leugnen, daß Levinas die institutionellen und kulturellen Ordnungen mehr konzediert als thematisiert. Mir selbst ist es so gegangen, daß ich meine Konzeption einer begrenzten Ordnung zwar mit Seitenblick auf Levinas, aber im Durchgang durch Foucault entwickelte. Wenn ich mir eine sehr einfache Formel gestatten darf, so würde ich sagen: Levinas ohne Foucault tendiert zur Unterschätzung des Ordentlichen, Foucault ohne Levinas tendiert zur Unterschätzung des Außerordentlichen. Letzten Endes kommt es allerdings auf die 22 Sache an, nicht auf die Namen. Trotzdem mutet es merkwürdig an, daß Foucault und Levinas jede öffentliche Berührung vermieden haben, obwohl sie - um nur ein Beispiel zu nennen - in einer Blanchot gewidmeten Ausgabe der Critique von 1966 mit ihren Beiträgen Seite an Seite auftauchen. Anders sieht es bei Jacques Derrida aus, der ebenso wie Jean-Fran^ois Lyotard, zunehmend in das Attraktionsfeld der Levinasschen Ethik geriet. Ich denke an Motive wie die Doppelfigur von Recht und Gerechtigkeit, die dem Gesetz seine Kraft verleiht, an die Gabe als das Anökonomische in der Ökonomie oder an das Unentscheidbare in allen verantwortlichen Entscheidungen. Wenn ich in diesem Zusammenhang meine eigenen Bemühungen erwähnen darf, so betrifft dies zunächst das Motiv des Fremden.21 Das Fremde ist etwas, das sich zeigt, indem es sich uns entzieht, und das in der Form des extraordinären Fremden jenen Überschuß gewährt, der bestehende Ordnungen davor bewahrt, nur noch um sich selbst zu kreisen. Hinzu kommt das Motiv der Responsivität, also eines antwortenden Redens und Tuns, 20 Zur Problematik des Dritten siehe Pascal Delhom, Der Dritte. Levinas' Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000 und Thomas Bedorf, Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem, München 2003. 21 Die Grundgedanken finden sich in kondensierter Form in: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 2006. das auf unvermeidliche Weise anderswo beginnt. Im Antworten berührt sich das Außerordentliche mit dem Ordentlichen, ohne daß die Differenz zwischen bei-dem aufgehoben wird; denn das, worauf wir antworten, übersteigt immerzu das, was wir in sinnhafter und geregelter Form zur Antwort geben. Ich nenne dies die responsive Differenz, die uns sowohl vor dem Überschwang eines reinen Wortes, einer reinen Geste oder einer reinen Gabe wie vor der Verfestigung unseres Redens und Tuns in einer bloßen Normalität bewahrt. Nietzsches Warnung vor einer bloßen Herdenmoral und vor der Schrumpfform eines bloßen „Normalmenschen" (KSA 3, 490) ist nicht veraltet. Das Wechselspiel von Ordentlichem und Außerordentlichem macht vor dem Politischen nicht halt. So sei abschließend mit Claude Lefort ein politischer Denker zitiert, der Gedanken von Merleau-Ponty, aber auch von Hannah Arendt aufgenommen und in dem politischen Zerwürfnis zwischen Sartre und Merleau-Ponty eine auslösende Rolle gespielt hat. Unmittelbar relevant für unsere Problematik ist der schon erwähnte 23 Bezug auf eine place vide, einen leeren Ort, von dem die Ordnung ausgeht und um den sie sich dreht, ohne daß er in ihr Platz findet.22 Die verschiedenen Ordnungskonzeptionen lassen sich charakterisieren durch die Art und Weise, wie sie diesen leeren Ort besetzen oder eben aussparen. Damit ergeben sich Möglichkeiten einer Politik an den Grenzen der Normalität, nachdem die Polarität von Fort- und Rückschritt ihre Bewegkraft eingebüßt hat.23 Wie Merleau-Ponty schon in seinen 1955 erschienenen Abenteuern der Dialektik versichert, gibt es Fortschritte, aber nicht den Fortschritt. Doch soll die Politik nicht in einer politischen Pragmatik enden, die höchstens noch Sonderinteressen befriedigt oder als Feuerwehr agiert, so bedarf es eines Mehr, das sich nicht verordnen, sondern nur in Antwort aufwechselnde Herausforderungen erfinden läßt. Max Webers nüchterne Nachkriegsrede von der Politik als Beruf, die sich jeden politischen Theaterdonner versagt, verdient es, von daher neu gelesen zu werden. 22 Vgl. C. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, Wien 1999, S. 50. 23 Vgl. vom Verf. „Politik an den Grenzen der Normalität", in: Grenzen der Normalisierung (s. Anm. 10), Kap. 12. Ursprünglich handelt es sich um den Beitrag zu einer Tagung „Der monströse Diskurs. Der Balkan und Europa: Dekonstruktion des Politischen", die 2001 in Sofia unter Mitwirkung von Jacques Derrida stattfand. Ein Dossier mit den Tagungsbeiträgen erschien in: Divinatio 15 (2002).