Das Wissen der Gegenwart Zcnlsche Universal-Mibliothek für Gebildete. Einzeldarstellnugeil aus dein Gefamtgebiele der Wissenschaft, in anziehender gemeinverständlicher Form, von hervorragenden Fachgelehrten Deutschlands, Österreich-Ungarns und der Schweiz. Jeder Band bildet ein für sich abgeschlossenes Ganze. — Die Bände erscheinen in kurzen Zwischenräumen.— Elegante Ausstattung.— Schönes Papier u. grosser Druck,- Reich illustriert—Druck u. Format aller Bände gleichmässig. — Jeder Band füllt 15 - 20 Bogen. — Solider Leinwand-Einband. Jeder Zand ist einzeln käuflich nnd lwstet gebunden nur 1 Mark ^ K0 Kr. - 1 Fr. 35 W. Das von uns eingeleitete Sammelwerk: „Das Wissen der Gegenwart" durch dessen plamnäsnge Tm'chfiihrnng die Ansgalic gelöst werden soll, dem Gebildeten anf jedem einzelnen (Gebiete wie ans dem Gcsamtgebicte der Wissenschaft vom Standvnntte der heutigen Forschnng ans befriedigende ?!ufttnrllug, Belehrung nnd Anregung zn bieten, wird hiermit der allgemeinen Teilnahme empfehlen. Fnr unsere Sammlnng ist vorläufig ein Ilmsang von zwei bis dreihundert Vänden in Äusficht gcuonnnen, ron denrn jeder einzelne ein Ganze« für sich, zugleich aber einen Baustein zu ciuem (^esamtgeliände bilden foll. Bei dein Plane des Unternehmens haben wir jene Zweiteilung, welche als herrschende unverkennbar durch die moderne Wissenschaft hindurchgeht, zum obersten Einleiluugsgrnnde gemacht. Die ylltulwisstuschaftr» und die lMorischru Wissenschaften^ die gleichsam wie glücklich gelegene Inseln immer mehr fruchtbares Land ansehen nnd fellist widerstrebende Disziplinen an sich heranziehen, werden, wie sie im Leben der modernen Wissenfchaft felbft die Herrfchaft angetreten haben, auch in unfercm Werke, welches diefes Leben klar abspiegeln will, die beiden grofzen Hanptgrnppen der systematischen Einteilung bilden. Die rein abstrakten Wissenschaften, welche eine dritte Gruppe bilden könnten, werden wir keineswegs aus unserem Werte ausfcheidcu, aber nicht sowohl vom dogmatischen als vom historischen Standpnnkte aus beleuchten. Und dies aus dem Doppelgrunde, »veil in einem Teil dieser Wissenschaften, wie z. B. in der Mathematik, ein anderes Wissen als ein durchaus vollständiges Fachwissen nicht denkbar ist, während in einem andern Teile, wie in der Metaphysik, positive Wahrheit nur infoweit, als es auf innere Geschichte ankommt, zu bieten ist. Wir bemerken nur noch, das; wir die Länder- lmt» Völkerkunde, die als felbständigc Wissenschaft immer bedcntfamer hervortritt und die uaturwifsen-fchaftlichen und historischen Elemente in sich schlief;!, in unserem Plane deshalb der grüßen Gruppe der historischen Wissenschaften augereiht haben, weil der Hauptgesichtspunlt, von dem die Methode dieser Wissenfchaften ausgeht, nämlich die territoriale Abgrenzung, ein historischer ist. Inhalt der erschienenen Zände: Bd. 1. Gindely, A., Geschichte des 30jäl,rigen Krieges in.drei Abteilungen. I. 1«18—l«2i: Der böhmische Ausst.ind und seine Bestrafung. 280 Seiten. Mit 3 Duppeluollbildern, 1 Vollbild u, 4 Porträts in Holzstich. Bd. 2. Klein, Nr. Herm. I,, Allgemeine Witterungstuude. 2«« Seiten. Mit 0 Karten, 2 Vollbildern und öl Abbildungen in Holzstich, Bd. 3. Glnbely, A„ Geschichte des 30 jährigen KriegeZ in drei Abteilungen. II. 1622-1632: Der niedersächsische, dänische und schwedische Krieg bis zum Tode Gustav Adolss. 292 Seiten, Mit 10 Doppeluollbildern und 4 Porträts in Holzstich. Bd. 4. Taschenberg, Prof. Nr. E,, Die Insekten nach ihrem Nutzen und Schaden. 3U4 Seiten. Mit 70 Abbildungen. Bd. 5. Oindely, »., Geschichte des 3Uiähria?n Krieges in drei Abteilungen. III. i«c!<—1848: Der schwedische und der schwedisch-französische Krieg bis zum westfälischen Frieden. 24o Seiten. Mit !> Doppelvollbildcrn nnd 3 Porträts in Holzstich. Bd. 6. Jung, l>r. Karl Emil, Der Wettteil Australien. I. Abllg.: Der Australtontinent und seine Bewohner. 28o Seiten. Mit 14 Vollbildern, 24 in den Text gedrückten Abbildungen nnd 2 Karten in Holzstich. Bd. 7. Taschenberg, Nr. Otto, Die Verwandlungen der Tiere. 2?2 Seiten. Mit 8« Abbildungen, Äd. 8. Jung. I>r. Ka,'l Emil, T^r Weltteil Australien, II. Abtig,: I. Die Kolonien des Australtonlinents u. Tasmanien. II. Melanesien (I. Tei». «12 Seiten. Mit 1!) Vollbildern, 23 in den Text aeoiucklen Abbildungen und 6 Karten in Holzstich. Äd, 9. sslnar, Alfred, Geschichte des modermn Dramas in Umrissen. Ä2u Seile». Mit i> Porträts m Holzstich. Bd, 10, Becker, Dr. Karl Emil, Die Sonne und die Planeten. üii» Seilen. Mit (>8 Abbildungen. Bd. 11. Jung, Nr. E., Der Weltteil Anst, alien. III. Abtlg.: I. Melanesien (II. Teil), I-I. Polynesien 4 w den Text gedauckten Abildnngen. Bd. 20. Lehman», Paul, Die Erde nnb der Mond. 280 Seiten. Mit 6 Vollbildern und ül) W den Text gedruckten Abbildungen Bd. 21. Vchullz, Prof. Nr. A„ Kmist nnd Kunstaeschichte II. 2U2 Seiien. Mit 44 Vollbildern und 42 in den Text gedruckten Abbildungen. Vb. 22. Der Weltteil Nmerita I. vchsemns, E., Chile. Land nnb Leute. 2«8 Seilen. 28 Vollbildern, 59 in den Text gedruckten Abbildungen und 2 Karten in Holzslich. Folgende Zände sind in Vorbereitung und werden in rascher Keihensolge erscheinen: Ächanhcl, >»r. Otto, Tie deutsche Sprache. Bernstein, Prof. Nr. Julius, Natiirkrafte. Älümncr, Das Kuuftgewerde im Altertum. Dctlcfscil, Nr. E., Wir wächst die Pflanze? Düderlcin, Japan. (?„li, Prof. Nr. I. I, Nie Schweiz. (Wit, Abbildungen.) falten stein. West.Afrika. ssournier, Prof. A., Napoleon I. (Eine Biographie/) ^ritsch, K. u., Prof. Nr., Geschichte der Tierwelt. (Mit Abbildungen,) ssritsch, Prof. G>, Südafrika. (Diit Abbildungen.) Ocschichle der Malerei. I. Geschichte der deutschen Malerei. II. Geschichte der niederländischen Malerei von Dr. A. uan Wurzbach. III. Geschichte der italienischen Malerei non Vruf. Ki. Ianitschet. IV. Geschichte der spanischen, französischen »nb englischen Malerei. Geschichte der Architektur von N. Redten bach er. I, Die Baukunst des Altertums. II. Die Baukunst des Mittelalters. III. Die Baukunst der Renaissance. IV. Die Vauknnst der Neuzeit. Mndcly, Prof. A,, Albrecht von Waldstein. (Eine Biographie,) — Gustau Adolf, König «on Schweden. (Eine Vio>;rllftl!ie.) GutlmailN, Nr., Geschichte der französischen ReUolutiuu. (Mit Abbild»na,en.) Gräber, Prof., Nr., Die mechanischen Werkzeuge nnd Einrichtungen der Tiere. — Die Hanfttftlane der tierisM'n Oissünisatic,,,. Hänfen, Die Ernährung, der Pflanze. Hartman«, Prof. Nr. !tt„ Madagaskar. Tie Nilländer. Hupp, Nr. tk. O,, Geschichle der Vereinigten Staaten in 3 Abteilungen, Kirchhoff, Prof. Nr. N,, Bilder aus der Völkerkunde. (Mit Abbildungen,) Krctzschmar, Nr. H., Neschichtc der Oper. (Mit Abbildungen.) Krümmel, Nr. Otto, Der Ozean nnd die Binnenmeere. (Mit Abbildungen.) Kuglcr, Geschichte des dentlche^ Volles. Kippert, Julius, Allgemeine Kulturgeschichte in Einzeldarstellungen, küwenberg. Geschichte der geographischen Forschungen und Entdeckungen am Pol und Äquator. (Mit Abbildungen und Mrtchen.) Mcncr l»on Waldrit, »r. ssr., Nußland: i!ebcn, Sitten u. Gebräuche. (Mit Abbildungen) Nüßlin, Prof., Das Ticrlcben unserer Seen und Flüsse. — Aoliliia nud Peru. Schilderung von Land nnd Leute. (Mit Abbildungen.) Piuncr, Prof. Nr., Die Gesetze der Naturerscheinungen. Protztaucr, Nr. V.. Beleuchtiingsstofse. (Mit Abbildungen.) Rri», Prof., Nr., Marocco. (Mit Abbildungen.) Schafzler, Nr. Wax. Ästhetik. Schor«, Geschichte des KinisigewerbeZ im Mittelalter bis zur Gegenwart. Schütz, Fricdr., Geschichte Österreichs von I8l8—i«?«. Sell, Prof. Nr., Das Wasser. (Mit Abbildungen,) Tellin, Brasilien. Semper, Nr. H., Geschichte der Plastik. (Mit Abbildungen.) Studer, Prüf,, Allgemeine Tiergeographie. (Mit Abbildungen.) Tascheubcrg, Nr. Otto, Vüdcr ans dem Tierleben, Touln. Prof. Nr. F., Die 6rde als Weltlürpcr (Relief, ihr Inneres, N,re Entstebuna ,e^ !ar Ioann der Schreckliche (n. einer Phutuaraphie des in St. Petersburg befindlichen Oelnemälbes). 1», 5 «tirche Wassili VlaMniNi in Moskau (n. dem Vilde in 5<, 'lanr >W INanH»), 1«. « Wam^n Wassili Tiniofchewitsch Ierm^l, der Eroberer Sibiriens. 19. 7 Jar Burls Födorowitsch Godnn,',w. 21. 8 Michall F6dorowitsch. Erster Zar aus dem Nause Romanow. 25. 9 ssürst Alexand. Daullowitsch M6»l!itsch, 37. (ssic,. 6—1i n. Photoqraphieu d, in St. Petersburg befindlichen Orissinal^velgemälde.) 15 Denkmal Peters des Großen in St. Petersburg (nach einem Vüde in 8!iivwi>l8«n»Ha, «n»^»,). 33. 16 Kaisciin Katharina I. 4l. 1? Kaiserin Elisabeth Petr6wna. 43. 18 Kaiserin Katharina II. als Großfürstin. 45. 1!» Katharina Nom^nowna Fiirstiu D^schtow, <6. 20 Mirst Alerandcr WassNjewitsch ItaUisti Graf Ssuwarow Rymnilski. 47. tssiss. 16—2U n. Photossraphien d. in St. Petersburg besindlichen Vriainal-Oelnemäldc.) 21 ^cnlmal der Kaiserin Katharina II. zn St. Petersburg sn. einer Orlglualphotographic). ^IN. 22 Kaiser Paul 1 Petr^>witsch. 5«. 23 Kaiser Alexander I. PHwlowitsch. 52. 2< Kaiser Nikol-U I. 'Mwluwitsch. 5»5. (ssiss. 22—24 n. Photostraphien d. in St, Petersburg befindlichen Original-Oelgemälde,) 25 Kaiser Alexander II. Nilol^ewitsch. 58. 26 General Släbelew. «l. (Fig, 26—26 n. Oriqinalphotllgvapl'ien,) 2? Kaiser Alexander III. «lerMdrowitsch, «5. 28 Maria Fsbornwna, Kaiserin von Russland. 6«. (Fig. 27—28 nach Stahlstichen im St Petersburger Kalender.) 3l»> 2» Wintermittäg im Eismeer. 71. 20 Schwimmendes Eis. 7!. 31 Nordlicht. ?5, 32 Eisbären. 77. 3« Jagd auf Eisbären. ?». 34 Mwajll SemliZ,. 81. 35 Mitj,'llchew-Felsen am westl. Ufer von N6waja SemljH, 82, 36 Der Schneepflug, 84. 3? Die Timdrll im Sommer. 86. (Fig. 29—3? nach Bildein in 8K1^api88n»,M Nonz^a,) 38 Die Steppe. »I. 39 Großrnssin ans dem Gouvernement Nlshni Nüwgorod. 117. 40 Großrussen ans dem Gouvernement Nljhni Nowgorod. 118. 41 Oroßrnsstnnen aus d:m Gouvernement Lala. 1l9. 42 Großrussen aus dein Gouvernement Or<5l. 12!. 43 Großrussische Frauen aus Nrchänaelsl (n. einem Bilde in 8>iiw<,i,i8»n^l», K,a»«h»,), 122. 44 Kleinrnssin (n, einem Vilde der illnstr. Zeitschrift „nwa"). I2ti 45 Kleinrussin (n. einer Originalphoto^raphie). 125. 46 Kleinrussische Musikanten (». einem Bilde der illustr. Zeitschrift „Mv?»,"). 131. 4? Kosak, 134, 4» Kosakenschildwache am Teret. 1i5. 49 Wachtposten auf der Linie. 146. 5» Lmienlosal. 14?. (Fia, 4?—kll nach Bildern in 1^« 'laui 3 n. miscke lisolu«. lHsozrapM« univorsolle,) 54 Deutsche Kolonisten aus der Gegend dun St. Petersburg (n. der Oliainalzeichiiuua vuu Dzieizanously), 17«. 55 Deutsche Kuloiiisteu aus der Gegend »on St. Petersburg (n. der Originalzeichmuig uou W, Timm). i?^. 5ß Armenischer Patriarch (n. dem Bilde in I^e ^c>ur äll I^ouHu), 198. 5? Lager russischer Zigeuner (n. einer Photographie des Bildes von W, A, V>ier. (Bilder aus dem russischen Volksleben von W. A. Beer. Sammlung photographischer Nachbildungen), 198. 58 Kasknsche Tataren (n, Henry ÜauZdells: ^lirauFl, »ldsll»,), 201. 59 Nogaier (n. einem Bilde in I^a ^aur clu Alona«), i!l)o. W Kirgisenältcste (n. einer Originalphotografthie), 20?. «1 Kirgisen. 211. 82 Inneres eines Kirgisenzeltes, 213. (ssia, «1—«2 n. Photossraphieu der Bilder von Wereschtschägw,) «3 Alter Kalmnk, 214, «l Junger Kalmyk, 215. ofig, «3—64 nach Bildern im „Globus".) «5 Kalmykenlagei am linken Ufer der Wolga (n. einem Bilde in I^o l'aiir au zlonän). 218. 66 Lappländer. 227. «? Hütte (Wjäsha) der Lappen auf der Halbinsel Küla, 229. S3 Nmnmerzelt (Kuwli,ss) der Lappen an der norwegisch.finländischen Grenze. 231. «9 Lappländische Wiege, 233. 70 SUrjänen, 233. (Flg. 69—70 nach Bildern in 8lnvvupl»Z»^Ä, Na^ha,) 71 Ssamojsdensamilie (n, eiuer Oriainalphotographie), 2U 72 Ssamoj6den aus der Gegend von MesIhni-N<'»wgurod n), 258. 76 Russische Iudenfamilie in der Herberge, (u. einer Photographie dez V ildel von W. A. Beer, Bilder aus dem russischen Volksleben). 263. 77 Karaite (n. dem Bilde in Ks Loui äu üHauHs), 28«. Vorwort. Als ich am Ende des Jahres 1845 nach Nussland berufen war — eill jlluger Gelehrter, dem die rauhe Wirklichkeit den Blutenstaub der Universität noch nicht aligestreift hatte — bedürfte es dreier Tage, nm mit der preußischen Post die Strecke von Berlin bis zur Grenze zurückzulegen. Den Niemen, von knirschenden Eisschollen bedeckt, mnßte ich nicht ohne Gefahr auf einein Fischerboot passieren. Wenn damals die Quellen unseres Wissens iilier Russland spärlich sickerten und sich nicht durch übermäßige Klarheit auszeichneten, war es natürlich. Heutzutage fliegt das Dampfroß mit dem Berliner Schnellzug in fünfzig Stunden zur russischen Residenz, ganze Armeen uon deutschen Reisenden jedes Standes und jeder Bildungsstufe suchen den nordischen Nachbarstaat auf, unsere Zeitschriften schwellen von ^riginaltorrcspoudenzcn alls dem Zarenreich, jede Buchhändlermesse zählt neue, nicht selten umfangreiche Werte über Russland, sein politisches, geistiges und sittliches ^cben, und über lein ^and in der Welt" ist Dentschlaud schlechter unterrichtet, als über das große slawische Land an seinen Ostmartcn. Wie ist das möglich — fragt man sich — wie ist das denkbar bei der vielgerühmten deutscheu Gründlichteil und Gewissenhaftigkeit? Die üef-bcschämende, leider unantastbare Antwort lautet: An Rnsslands Grenze verhüllt die deutsche Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit ihr Haupt. Deutschland ist durchtränkt von starrer, an grundlosen Vornrteilcn genä>,ras Thema „Russland" ist eiu unermessliches, ein unerschöpfliches. Wer dasselbe in irgend einer Weise zu behandeln gedenkt, muß fich ans einzelne Teile, einzelne Gesichtspunkte beschränken. So beziehen sich die folgendeil Schilderungen zuuächst nur auf das europäische Nusstand. Ich beabsichtige weder eine geographische, noch eiiu' statistische, uoch eine eiugehende ethnographische Beschreibung des ^aildes. Ich begnüge mich, das Terrain in großen Zügen zn skizzieren und gebe mir dasjenige von den Einrichtungen, Sitten, Gewohnheiten und Gebräuchen, was für den russischen Staat und den HauPtkeru seiner Angehörigen, den großrussischen Stamm, eigentümlich nud charakteristisch ist. Was in der Staatsverwaltung, den Institutionen des Landes, im ^eben und den Beschäftigungen des Volkes, in der Kultur des Bodens wie in der Industrie dein Beobachter keine anderen Seiten darbietet, als im übrigen Europa, übergehe ich vollständig Auch lasse ich die Landesteile mit ihren Bewohnern unberührt, welche nicht vorwiegend voll Muffen bevölkert sind, wie Polen, Finland, den Kaukasus, die baltischen Provinzen. Sie bieten zu gesonderten Schilderungen ein reiches Material. So grbe ich von dem Ricsenthema nur verschwindend kleine Bruchstücke, aln'r diese entstammen dem Boden der Wahrheit. Heid^lbl>lg, den 1. Februar 1884. Friedrich Meyer von Waldeck. I. Das Uetch und seine Dewohner. 1. Angdehnung nnd Einteilung des Landes. 3as russische Reich umfaßt den ganzen Osten Europas, sowie dcu Norden und einen Teil der Mitte von Asien. Es bedeckt den sechsten Teil alles festen Bodens der Erde. Im großen und ganzen zerfällt Russland in drei gesonderte Land-gebiete: das europäische, das asiatische Nussland und das Großfürstentum Finland. Bei der kolossalen Größe des Reichs ist eine genaue Bestimmung seines Flächeninhalts mit großen Schwierigkeiten verbunden, weshalb denn auch alle statistischen Angaben nnr annäherungsweise richtig siud. Nach Ermittelungen von 1882 maß das europäische Nusslaud 5 016 034,3 ^ Kilom,, das Großfürstentnm Finland 373 603,8 und das asiatische Nnss-land (zum Teil nach Angaben von 1874) 16 213 266,6. Somit beträgt das Areal des gcsammten gegenwärtigen russischen Landes 21602 901,7 ^ Kilom. Das asiatische Nussland ist aus drei für sich bestehenden Landcstcilcn zusammengesetzt: dem Kaukasus, den mittelasiatischen Ländern und Sibirien, die für sich wieder in verschiedene Gouvernements, Gebiete uud Bezirke zerfallen. Finland wird geographisch in neun Landschaften, administrativ in acht Gouvernements eingeteilt. Die Schilderungen dieses Buches beschränken sich auf das europäische Russlaud. Innerhalb seines Grenzgebietes unterscheidet man sieben Landschaften, die sich in historisch-ethnographischer Beziehung von einander sondern und auf welche sich die Mr»er, Russland. I. - 1 — 2 — sechzig, aus administrativen Rücksichten hervorgegangenen Gouvernements wie folgt verteilen: H.. Großrussland mit den Gouvernements: Moskau, Nowgorod, Pskow, Twsr, Iarossläw, Kostromä, Wladimir, Nlshnij Nowgorod, Rjasän (spr. Njäsan), Tula, Kalnga, Ssmol^nsk, Oröl (spr. Areöl), Kursk, Worönesh, Tamb6w, Pünsa, Wölogda, Ol6nez, Archangel. V. Kleinrussland (Ukraine) mit den Gouvernements: Kijew, Tschcrnigow, Polt-Uva, Charkow. 0. Ostrussland mit den Gouvernements: Perm, Orenburg, Ufa, Wjätka (spr. Wjätka), Kasan, Ssimbirsk, Ssarittow, Ssannn'a, Astrachan und dem Gebiet der donischcn Kosaken. I). Süd- oder Neurussland mit den Gouvernements: Iekaterinosslllw, Taurien, Chersün, Bcssarabien. N. West- oder Weiß russl and mit den Gouvernements: PodU4.) fahrt feierlich gekrönt wurde, nahm er — als der erste unter den Moskauer Großmrstcn — den Tilel Zar (Cäsar) an. (1547). Das Kastw'schc Gebiet an den Ufern der Flüsse W6lga und Buna, in welchem eine betriebsame Bevölkerung Handel und In- Fig. 5.. Kirche Wasslli NIaMmn, in ^iuslau. — 17 — dustrie zu reicher Blüte entfaltet hatte, war bisher den Großfürsten zinsbar gewesen. Der Abhängigkeit überdrüssig, weigerten sie sich jetzt, den von MoZkan eingesetzten Chan anzunehmen. Ioann überzog sie mit Krieg, eroberte die Hauptstadt und unterwarf das Chanat seinem Scepter. (1552.) Zum Gedächtnis dieser zu glücklichem Ende geführten Unternehmung ließ er die Kirche Wassili Vlashsnny errichten, in ihrer Art das merkwürdigste Gebäude Moskaus. Ein buntes Durcheinander heterogener Bestandteile, ein unharmonisches Konglomerat von verschiedenartigen Kuppeln, Türmen und Türmchen. Gewölben, Bogen und Gallericn, Dächern und Vallustraden, von denen beinahe jeder Quadratfuß eine andere Farbe trägt, frappiert dies eigentümliche Gebäude durch seine fremdartige Originalität, ohne irgendwie auf architektonische Schönheit Anspruch machen zu können. (Fig. 5.) Der Einverleibung des Kasän'schcn Gebiets folgte bald die Eroberung eines andern tatarischen Reichs, des Chanats von Wracken, welches ans den Trümmern der goldenen Horde entstanden war. Seine Hauptstadt bildete den Schlüssel des Verkehrs mit dem Orient, zunächst mit Persicn. (»554.) Gegen die räuberischen Einfälle der krymschen Tataren suchte Iwan das Reich in zwiefacher Weise zu schützcu: durch eine Reihe vou Grenzfcstungen und durch die Hilfe der Kosaken, die in der Geschichte des russischen und polnischen Reichs eine Rolle zu spielen beginnen. Sie bestanden aus russischen Flüchtlingen und Deserteuren, welche Freiheit nnd Ungcbundcnhcit answärts suchten, sich in der Steppe, dem Grenzgebiet zwischen Slawen und Tataren ansiedelten, freie kriegerische Gemeinschaften bildeten nnd sich ihre Anführer, die Hetmans (Atamäns), wählten. Ihre Hauptniederlassungen befanden sich an den Flüssen Dnjcpr und Don. Aber alle diese Schutzmittel, verbunden mit siegreichen Einfällen in das tatarische Gebiet, konnten die Horde nicht verhin- Meyer, Rüssland. i. 2 — 18 — dern, das Zartum unvermutet zu überfallen, Moskau einzuäschern und unzählige Gefangene in die Sklaverei zu schleppen (1571). Der staatsmannifchc Blick, der aus vielen Regicrungshand-lungen Iwans hervorleuchtet, lenkte feine Aufmcrkfamkcit auf die Ufer des baltifchen Meeres, deren Besitz ihm zur Anknüpfung ersprießlicher Verbindungen mit Westeuropa unumgänglich schien. Der Zeitpunkt war günstig, der deutsche Schwcrtordcn, dem die Uferländcr angehörten, offenbar in Verfall. So eröffnete er denn den Krieg im Jahre 1558 und zwar mit dem glücklichsten Erfolge; ein fester Platz nach dem andern fiel in seine Hände. Der Heermeiftcr des Ordens, Gotthard Kettlcr, sah die Unmöglichkeit ein, das baltische Gebiet mit eigener Kraft gegen die vordringenden Nnssen zu schützen, trat Livland an Polen ab, Estland an Schweden, und begnügte sich mit Kurlaud und Semgallen, deren Regierung er als erster Herzog unter polnischer Oberhoheit antrat (l561). Dergestalt mit zwei mächtigen Staaten in Krieg verwickelt, von wichtigen Änderungen in den heimischen Verhältnissen bedrängt, gab der Zar seine Erobcrungspläne an der Ostsee auf. Die letzten düsteren Lebensjahre Iwäns wurden durch ciu freudiges Ereignis erhellt. Ohne seine Veranlassung und sein Zuthun wurde Sibirien erobert und dem russischen Ncichc einverleibt. Die donischen Kosaken, obwohl sie sich selbst für Unterthanen des Moskanschen Zaren ausgaben, leistete»: ihm weder Gehorsam, noch unterließen sie es, seine und seiner Kaufleute Schiffe auf der Wolga zu plündern, die bucharischcn ir.id persischen Handclskaravanen zu überfallen und zu berauben. Iwan schickte Trnppen gegen die Übclthätcr, ließ sie fangen und aufhängen. Einige hundert Kosaken, ihren Hetman Icrmäk an der Spitze, entgingen der Verfolgung und gelangten auf ihrer Flucht in das Permsche Gebiet. Dort war die Familie Ströganow ansässig, reiche Kaufleute, welche die Salzquellen der Gegend ausbeuteten. Da sie von den räuberischen Überfällen der sibirischen Tataren viel zu leiden hatten, unterhielten sie ihre eigenen Festungs- — 19 — Werke, mit einer eigenen Schar von Landsknechten. Sie nahmen Iernuck (Fig. 6) mit seinen Kosaken freundlich auf, rieten zu Fig. 6, Atamsm Wassili Timoftjewitsch IernM, der Eroberer Sibiriens, 'l/ 1584. einem Erobcrnngszng nach Sibirien und unterstützten ihn mit Leuten und Proviant. So zog nun der tapfere Hetman mit 2* — 20 — einer Schar von 800 Mann über den Ural, und nach vielen Kämpfen und unsagbaren Mühseligkeiten gelang es ihm, die Hauptstadt Sibiriens, Isskcr oder Ssiblr am Irtysch zu erobern und den Chan aus seinem Lande zu vertreiben. Eilboten meldeten dem Zaren das glückliche Ereignis, legten ihm das eroberte Land zu Füßen und im Dezember 158^ wurde Sibirien mit dem russischen Reiche vereinigt. Der schwache, kinderlose Sohn Iwans, Föodor I. Iwnnowitsch (1584—1598), verbrachte seine Tage mit religiösen Übungen und überließ die Regierung des Landes seinem klugen, ehrgeizigen Schwager Boris Godunöw, dem Nachkommen eines tatarischen Vornehmen. Der einzige überlebende Bruder des Zaren, Dimitri Iwlmowitsch wurde zu Uglitsch ermordet und der Volksmund bezeichnete Godunöw als Urheber des Verbrechens, das ihm den Weg zum Throne frei machen sollte. Übrigens war dieser unumschränkte Statthalter des Regenten, den man den Richelieu Nusslands genannt hat, ein kluger Herrscher und tüchtiger Organisator, der die Ruhe im Innern und den Frieden nach außeu zu befestigen wußte. Ein verhängnisvolles Ereignis jedoch drückt der sonst bedeutungslosen Regierung Füodors einen unauslöschlichen Makel auf: die Freizügigkeit der Bauern wurde aufgehoben, die Leibeigenschaft eingeführt. Mit Fjodor starb die moskowische Dynastie des Njürik-Gcschlcchtes aus. Boris Godunöw hatte seine Maßnahmen vorsichtig und schlau getroffen. Die von den Tcilfürsten abstammenden, von Neid erfüllten, vornehmen Familien, widerstrebten vergebens. Von der Kricgerkaste der Bojaren, von der Geistlichkeit wie von den Abgeordneten der Städte, einer Art Landtag (S6mskaja Duma oder Ssobör), der in wichtigen Angelegenheiten zu Rate gezogen wurde — von allen Faktoren des Reichs wurde er zum Nachfolger Fsodors und Zaren gewählt und bestieg den Thron nach wiederholtem, gut gespielten Sträuben. Die Regierung des Zaren Boris Fodorowitsch Godunuw (1598—1605) (Fig. 7), obgleich selbstverständlich von der Acra __ HI __ Fvudors I. innerlich nicht verschieden, wurde äußerlich von den unglücklichsten Verhältnissen begleitet. Dem Neid und der Mißgunst der vornehmen Familien gesellte sich das Bewußtsein des neuen Dynasten, duß er seinen Thron auf dem unsichersten Boden Fiss. ?. Zar VorlZ Fsdorowitsch Godunüw. 1598—1«05 errichtet habe. Auch das Gewissen mag nicht stumm geblieben sein. Das erzeugte in ihm Mißtrauen und Verfolgungssucht, dic ihm zahllose neue Feinde weckten. Mißernten, Hungersnot und — 22 — schwarzer Tod kamen hinzu, die das Volk in Massen hinwcg-rafftcn. Unzufriedenheit wühlte überall und man betrachtete die allgemeine Heimsuchung als Strafe des Himmels für die Ermordung des Zaröwitsch Dimitri. Da zog von Polen her das Ungcwittcr herauf. Ein begabter Jüngling, Grig6ri Otr^Pjew, wie ihn seine Zeitgenossen nennen, den die Ehrsucht zum Verbrechen stachelte, dem Kloster entlaufen, hatte sich für den wunderbar geretteten Zaröwitsch ausgegeben. Den Polen cm willkommenes Werkzeug, um der Ausbreitung ihrer Macht zu dienen, den Jesuiten, um die orientalische Kirche zu bekämpfen, fand er bei Sigismund III., seinen Magnaten und Prälaten, die ausgiebigste Unterstützung, und ein polnisches Heer brach in die russischen Marken ein, um den falschen Dimitri auf den Thron von Moskau zu setzen und den Katholizismus in dem Zartnm einzuführen. Viele russische Städte huldigten dem Usurpator als Sohn Iwans IV. Da erkrankte Boris Plötzlich uud starb (1605), Moskau huldigte dem falschen Dimitri und der einzige Sohn Godnn6ws, der siebzehnjährige F6odor, wurde ermordet. Die Regierung des Pscudo-Dimltri dauerte nur elf Monate. Übermut, Nichtachtung russischer Sitten und Gebräuche, unkluge Bevorzugung der Polen gaben seinem energischsten Gegner, den: Fürsten Wassili Schnsiki, Vorwand genug, das Volk gegen den von der Natur reich ausgestatteten Usurpator aufzureizen. Die Verschwörer überfielen den Unvorsichtigen im eigenen Palast nnd erschlugen ihn (160l^). Wassili Schniski, zum Zaren des russischen Reichs ausgerufen, war der schwierigen Aufgabe, die ihm die verwickelten Verhältnisse des Landes auferlegten, in keiner Weise gewachsen. Wilde Bewegung, Unruhe und Unzufriedenheit dauerten fort. An verschiedenen Orten Russlands tauchtcu neue Pscudodimitris auf. Der bemerkenswerteste von ihnen, der sich für den ersten, der Todesgefahr entronnenen ausgab, erschien mit einer Armee von Polen, Kosaken und russischen Verrätern vor der Hauptstadt und belagerte dieselbe fast anderthalb Jahre. Ein Neffe Schuiskis, — 23 — der junge, tapfere Michail Sköpin sammelte ein Heer in Nowgorod, und von schwedischen Truppen unterstützt, entsetzte er Moskan. Pseudodimitri II. floh nach Kaluga und wurde dort erschlagen. Die Polen zogen sich zurück; ein Teil vereinigte sich mit König Sigismund, welcher die Stadt Smolensk belagerte. Sknpm zog als Sieger in die befreite Hauptstadt ein, wurde Liebliug des Volkes und bereitete sich eben, Smolensk zur Hilfe zu eilen, als er plötzlich starb. Wie das Gerücht ging, wurde er von einem andern Oheim, Dimltri Schuiski, der deu Ruhm des Neffen beneidete, vergiftet. Nun übernahm jener Dimttri Schulski den Oberbefehl über die russischen Truppen und erlitt durch die Polen eine schmachvolle Niederlage. Das aufgebrachte Moskau erhob sich, Wassili Schuiski wnrde vom Throue gestoßen und die unselige Zeit eines dreijährigen Zwischeurcichs begann. Scharen polnischer Truppen, Kosaken nnd abtrünnige Nüssen durchzogen das Land raubend und mordeud. Wo sie gehaust, hinterließen sie menschenleere Trümmerstätten. Niemand gedachte der gemeinsamen Not, jeder snchte nur Rettung vor dem eigenen Elend. Die Hauptstadt selbst war in den Händen der Polen. In diesem Wirrsal sahen die Bojaren keinen andern Answeg, als die Wahl des polnischen Kronprinzen Wladislaw zum russischen Zaren, unter Wahrung ihrer Rechte und der nationalen Kirche. Aber Sigismund, ein eifriger Katholik, versagte seine Einwilligung. Er selbst wollte den russischen Thron besteigen und beide Kronen auf seinem Haupte vereinigen. Die russische Geistlichkeit sah ihre Existenz bedroht und HermogM, Patriarch von Moskau, ein heroischer Charakter, rief das Volk auf zur Verteidigung des orthodoxen Glaubens. Über hunderttausend Mann folgten seinem Ruf, vereinigten sich unter den Mauern Moskaus und belagerten die polnische Besatzung. Aber ihnen fehlte die einheitliche Führung. Die verschiedenen Befehlshaber gerieten unter einander in Streit. Der tüchtigste von ihnen, Proköpi Ljäpunuw, der mit eiserner Strenge die im rnssischen — 24 — Lager befindlichen Kosaken bestrafte, wenn sie die friedliche Landbevölkerung brandschatzten und plünderten, wurde ermordet. Die Landwehr zerstreute sich. Gleichzeitig nahm Sigismund die Stadt Smolensk und der schwedische Heerführer Delagardie bemächtigte sich Nowgorods. Das Elend Rusflands hatte die äußcrften Grenzen erreicht. Unterdessen ermüdete die Geistlichkeit nicht, das Volk zum Befreiungskampf aufzurufen. Proklamationen wurden im ganzen Lande verbreitet. Sie zündeten zuerst in Nishni Nowgorod. Ein einfacher Mann aus dem Volke, Kosimi Münn SsuchorM, entflammte durch seine Nedcn das Volk, daß es sich zum Kampfe rüstete und sein Eigentum darbrachte, um Söldner dafür zu werben. Andere Städte schlössen sich an; eine starke Landwehr sammelte sich. Den Oberbefehl übernahm der heldenmütige Fürst Poshlirski; Patriarch HcrmoaM sandte seinen Segen aus der Gefangenschaft. Posh^rski rückte vor Moskau, ein polnisches Heer, das der Besatzung zu Hilfe eilte, wurde geschlagen und die Garnison, die sich mutvoll verteidigte, belagert, bis sie, durch Hunger gezwungen, sich ergeben mußte. Moskau war befreit, die nächste Aufgabe war die Wahl eines Herrschers, ohne welchen Ordnung und Gesetzlichkeit nicht wiederkehren konnten. Der Landtag, die Somskaja Duma, wurde berufen uud mit seltener Einmütigkeit der sechzehnjährige Bojar Michail Fsdorowitsch Romanow, aus einem den letzten Abkömmlingen Njüriks verwandten Hause, zum Zaren gewählt. Die Negierung Michails (1613-1645) (Fig. «), des ersten Zaren aus dem jetzt regierenden Kaiscrhause, war der Wiederherstellung des inneren und äußeren Friedens und der staatlichen Ordnung geweiht. Treulich zur Seite staud ihm sein Vater, der, auf Befehl des mißtrauischen Godunow Mönch geworden, nun unter dem Namen Philcnst das Patriarchat von Moskau inne hatte. Die Kriege, welche Michails Regierung — 25 — aus dem Zwischenreich geerbt, wurden unglücklich beendigt. An Schweden verlor das Ncich seine Besitzungen am Baltischen Milboll Fsdoiowtlsch. Erster Zar a»s dem Hanse Romiluow. Meere, an Pulen die Stadt Smolensk. Wenn auch bis zu Michails Tode nicht alle Schäden, die das Interregnum vcr- — 26 — ursacht hatte, geheilt werden konnten, so waren doch Friede und Ordnung heimgekehrt und das staatliche Leben in seine Ufer zurückgetreten. Während der jugendliche Nachfolger Michails, sein sechzehnjähriger Sohn Alex^i Michailowitsch (1645—1676) allerlei Er-götzlichtcitcn, besonders der Falkenjagd, oblag, bediücktcn seine Günstlinge das Volk, bis es aufstand und die mißliebigen Ve-amtm erschlug. Das öffnete dem jungen Zaren die Augen, der sich fortan der Verwaltung feines Landes widmete. Nach einer löblichen Reform der Gesetzgebung war die Vereinigung Klciu-russlands mit dem Reiche das wichtigste Ereignis seiner Regie-rnng. Die Kosaken, unter ihrem tapferen und klugen Hctman Vogd-W Chmclnizti, führten Krieg mit dein polnischen Könige. Zuerst glücklich, erlitten sie fpätcr entscheidende Niederlagen und in ihrer Bedrängnis snchten sie Hilfe bei dem Zaren, dem sie die Vereinigung von Kleinrussland mit dem russischcu Reiche anboten. Der in Moskan versammelte große Landtag riet Alex^i znr Annahme (1653) und er empfing die Huldigung der Kosaken, welche die freie Wahl des Hetmans nnd ihrer Beamten beibehielten. Aber die Polen waren keineswegs gewillt, Kleinruss-laud gutwillig abzutreten. Auf beiden S.eitcn griff man znm Schwert. Zwei Kriege führte AleM mit Polen, den ersten glücklich, den zweiten unglücklich. 1667 wnrde Friede geschlossen und Kleinrnssland geteilt; das Land östlich vom Dnjepr fiel an Rusfland, die westliche Hälfte blieb den Polen. Ein Aufftaud der domschcn Kosaken unter ihrem Hetmann St6i,ka Rilsin (1670) wurde mit Waffengewalt unterdrückt. Endlich ist die Regierung AleMs bemerkenswert durch die Entstehung des Rasskol, d. h. des Schismas in der russischen Kirche. Alexm war zweimal verheiratet, in erster Ehe mit Maria Milossläwski, in zweiter mit Natalia Kirillowna Naryschkin. Bei seinem Tode hinterließ er aus der ersten Ehe zwei Söhne Föodor und Ioann nebst einigen Töchtern, aus der zweiten einen vierjährigen Sohn, Peter. Der erstgeborene F6odor __ 27 __ Alex6jewitsch (1676—1682) folgte dem Vater in der Regierung. Ein vernünftiger und wohlgesinnter Fürst, aber von schwächlicher Gesundheit, starb er bereits nach scchs Jahren, ohne Kinder zu hinterlassen. Ioann war schwachsinnig und tränklich. Das Volk wollte den zehnjährigen hochbegabten und kerngesunden Peter zum Zaren, mit seiner Mutter, Natalia Kirlllowna als Vormünderin. Aber eine von den Töchtern Alexms aus erster Ehe, die geistvolle und für ihre Zeit gebildete Sophia, trachtete, von Ehrgeiz getrieben, nach der Erlangung der höchsten Gewalt und intriguiertc gegen die Wahl der Nation. Wurde der geistesschwache Ioann zum Zaren gekrönt, tonnte sie darauf rechnen, die Zügel der Regierung an sich zu reißen. Ihr zur Seite standen die Verwandten der Mutter, die MiloMwstis, ihnen gegenüber die Familie Narhschkin. Die Bojaren schlugen sich teils zu der einen, teils zu der andern Partei. Bei Hofe waren die Narhschkins die stärkeren. Aber Sophia wußte durch falsche Gerüchte, Bestechung und Versprechungen das Corps der zarischen Leibwächter, der Strjclszen (Schützen), einer Art Prätoriancrschar, auf ihre Seite zu bringen. Die falsche Nachricht, Ioann fei von den Narhfchkins erdrosselt, empörte sie bis zum Aufstand. Sie brachen in den Kreml ein und ermordeten ihren eigenen Befehlshaber, den Bojaren Dolgornki, das Haupt der Ncmjsch-tius, den Bojaren Matwojew und einige andere Männer von Bedeutung. Die Bcvölkeruug Moskaus, von Furcht und Schrecken ergriffen, wagte keinen Widerstand, beide Zaröwitsche (Söhne des Zaren) wnrden auf den Thron gesetzt und bis zu ihrer Volljährigkeit Sophia zur Negentin erklärt. Sophia Alcx<3jewnll führte die Regierung fieben Jahre (1682 —16d9) mit Verstand und Geschick. Ihre Hauptstütze war der Günstling Fürst Wassili Gottzyu, ein Mann von westeuropäischer Bildung. Mit Polen wurde Frieden geschlossen und damit der fortdauernde Streit über Klcinrussland beendigt. Der östliche Teil wurde für immer an Russland abgetreten, wogegen sich dasselbe verpflichtete, an der Seite der Polen gegen die — 28 — Türken und Krymschen Tataren zn kämpfen. Zweimal wurde ein bedeutendes Heer unter Golizyn nach dem Süden geschickt und kehrte beidemal erfolglos zurück. Der Günstling war ein bedeutender Staatsmann aber kein Feldherr. Fig. 9. Fürst AleMid. Hanllowttsch Msnlckschilow, Liebling Vrtcrs I,, Generalissimus und Vormm,d Pl'tt'rö U, f in Bl,'il>low 1729. Unterdessen wuchs der junge Zawwitsch Peter Aler^jewitsch heran. Als die Milosslawstis in Moskau dominierten, hatte sich seine Mutter mit ihm nach dem Dorfe Preobrashunskoje zurückgezogen. Dort in freier Luft und natürlicher Umgebung er- — 29 — stärkte der reichbegabte Prinz zu künftiger Größe. Aus seinen Spielkameraden bildete er eine Mustcrcompagnie, die Grundlage der beiden ältesten russischen Gardcregimcnter, des Prcobra-sh «Mischen und Ssem6nowschen. Auf dem See von PcrcjaMv Fig. 10. Franz Iatowlckuitsch L^furt, 1. Oenernl Admiral der russischen Flotte, Vicrtönig uun N>',wnor°d; Liebling Pttcis I. 1- 163Ü, errichtete Peter eine Miniatur-Mustcrflotte. Aus der Schar der jungen Mustcrsoldatcn entwickelten sich später Größen ersten Ranges unter Peters Negierung, vor allen Alexander Danllo-witsch Mönschtschikow (Fig. 9), dessen Pastctenjungcn-Mythus — 30 — allgemein bekannt ist. Vorzugsweise gern verkehrte der Prinz mit den bereits von Iwan III. und später von Michail F6do-rowitsch und Nlex^i Michatlowitsch ins Land gerufenen Fremden, unter denen sich viele Instruktions-Offizicre für das russische Heer befanden, von welchen er wisscnsdnrstig zu lernen strebte. Einer von ihnen, der Genfer Franz Lefort, wurde sein ausgesprochener Liebling und Freund. (Fig. 10.) Als Peter das siebzehnte Jahr erreicht hatte, gedachte Sophia ihn völlig vom Throne auszuschließen und sich zur Zarin auszuwerfen. Von neuem wollte sie die Strjel^zcn gegen die Naryschkins aufwiegeln. Eine Verschwörung, die das Leben Peters bedrohte, mißlang. Zeitig gewarnt, entfloh er in das befestigte TroizkiMostcr, wo er sciuc Musterregimeuter um sich versammelte und den Häuptern der Prätoriaucr befahl, sofort vor ihm zu erscheinen. Sie gehorchten trotz Sophias Gegcn< befehl. Der Versuch der Zaniwna, sich mit dem Vrnder zu versöhnen, scheiterte. Sie wurde in ein Kloster verbannt (168!»), und da der unfähige Ioann überhaupt keilte Neigung hatte, sich um die Regierung zu kümmern, war Peter von mm an alleiniger Zar und Herr des russischen Reichs. Mit Peter beginnt die neue, so zu sagen europäische Aera des russischen Staates. Sein rastloser Genius ließ keinen Augenblick ab von der Sorge um Nusslands Wolfahrt, Macht nnd Größe. Für Nnssland das Meer öffnen, eiuc Flotte ins Leben rufen, war sein nächster Gedanke. Zwar grenzte das Reich an das Weiße und das Kaspischc Meer; das eine war jedoch durch seine nördliche Lage wenig günstig, das andere zu scru vom Centrum und nur ein Binnensee. Aber von Sophiens Regieruug hatte er den Krieg mit Türken und Tataren geerbt. Dieser sollte ihm die Gelegenheit bieten, am Asow'schen Meere festen Fuß zu fassen, eine Flotte zu erbauen und von dort aus mit dem südlichen Europa Handelsbeziehungen anzuknüpfen. Die türkische Festung As6w, am Ausfluß des Don gelegen, wurde belagert. Peter diente dabei unter seinen Generalen als ein- __ HI __ facher Kapitän. Im Jahre 1696 wurde die Festung genommen. Moskau begrüßte jubelnd die siegreiche Armee, die unter großen Feierlichkeiten und Belustigungen in die Hanptstadt einzog. Die Generale fuhren in Gala-Equipagen, während Peter in Kapi- Zar Petor I, 1682—1I25. Nach einem 1L9? vun Knell« gcnmltcn Vildc. täns-Uniform an der Spitze seiner Compagnie zu Fuß marschierte. Ans dieser Zeit stammt das Bild des jugendlichen Zaren, von dem wir unsern Lesern eine Reproduktion mittheilen. (Fig. 11.) __ 32 — Peter war zur Einsicht gelangt, daß er vor allen Dingen selbst lernen müsse, um der Lehrmeister seiner Russen zu werden. So geschah das Unerhörte, er schloß sich der eigenen Gesandtschaft, an deren Spitze Lefort stand, unter dem Namen eines einfachen Edelmanns, Peter Michallow, an und bereiste Deutschland, Holland, England und Österreich, wo er, unersättlich in dem Aufnehmen westeuropäischer Kultur, überall sah, untersuchte, lernte, ja — wie bekannt — selbst als Schiffszimmer-maun arbeitete. Ein neuer Anfstand der Strjel6zm rief ihn in die Heimat zurück. Bei seiner Ankunft war die Bewegung bereits unterdrückt nnd die Rebellen fandet: in ihm den unerbittlichen Nichter. Nun begann der kleine Krieg Peters gegen veraltete Sitten und Gewohnheiten der Nusseu, der große gegeu abgelebte Staatsformen, kirchliche, militärische und sociale Einrichtungen. Die langen Bärte nnd langen Kleider wurden gekürzt, aber auch die Frauen aus ihrer haremartigeu Eiuspcrruug befreit und Peter selbst gab „Assemblöen" um das gesellige Zusammenleben beider Geschlechter zu vermitteln. Die Ehen, welche früher der unumschränkte Wille der Eltern geschlossen, wnrdcn jetzt von der Einwilligung des Brautpaares abhängig gemacht. Der Zar selbst war der rastloseste Arbeiter seines Reiches. Von frühem Morgen bis in die sinkende Nacht gab er sich den Mühen der Negierung, Kultivierung und Civilisicrung hin. An die Stelle der alten Behörden traten Ministerien nach westeuropäischer Art, denen er die Bezeichnung Kollegien*) gab. Ans dem alten Vojarenrnt bildete er den Senat, als oberste Verwaltungsbehörde. Die früheren Bezeichnungen des Adels wurden aufgehoben. Im Militär gab der Offizicrsrang, im Eivildienst jeder Posten vom Kollegicnasscssor an den Adel, von welcher Herkunft auch der Träger sein mochte. Der Adel aber verlieh das Recht, Land *) Daher noch heute in Ausstand die Titcl: KollegienreMrator, Kollegiensekretär, Kollegienajsessor, Kollegicurat. — 38 — und Leute zu besitzen. Jeder Edelmann war zum Staatsdienst verpflichtet. An die Stelle des übermächtigen Patriarchen setzte Peter den Synod ein, eine Versammlung höherer Geistlichen, welcher er die Leitung der kirchlichen Angelegenheiten übertrug. Das Steuerwesen wnrde reformiert auf der Basis von Volkszählungen, welche Peter einführte. Über zwanzig Jahre von der Regierung des Zaren nahm der Krieg mit Schweden in Anspruch. Die Uferlande des Baltischen Meeres, welche bei Peters Dränge nach dem Westen, ihm höchst begehrenswert erscheinen mußten, waren in den Händen der Schweden, seit Gustav Adolf das mächtigste Volk im Nordosten Europas. Peter schloß ein Bündnis mit den Königen von Polen und Dänemark zur gemeinschaftlichen Aktion gegen Schweden, dessen Thron soeben der junge Karl XII. bestiegen hatte. Aber dieser nahm es unerschrocken mit den drei Mächten anf und erfreute sich des besten Erfolgs. Trotz Peters eifriger Mühwaltung war sein Heer noch nicht geübt und gerüstet genug, um einem Feinde, wie den Schweden, Stand zu halten. Der Zar rückte in Estland ein und belagerte Narwa mit 40 000 Mann. Karl mit seinem kleinen aber kriegsgcübten Heere überfiel zunächst Dänemark, schlug den Köuig, zwang ihn zum Frieden und eilte Narwa zur Hilfe. Peter uuterlag, verlor aber den Mut nicht und hatte binnen kurzem eine ueuc, stärkere Armee ausgerüstet. Während Karl XII. den dritten Gegner, August II. von Polen bekriegte, übte Peter seine Soldaten, nahm den Schweden einige Städte und setzte sich am finischcn Meerbusen fest. Er eroberte die schwedische Festung Nyenskanz am Ausfluß der Newa und errichtete auf einer der Inseln des Newadeltas eine neue, die Petcrpaulsfestung (1703). Bald erhob sich rings um dieselbe eine Stadt, St. Petersburg, welche später der Zar zur Residenz erkor. Nach der Niederwerfung August II. uud nachdem er Stauis-laus Lesczmsy auf deu polnischen Thron gesetzt, wandte sich Mcycr. Nnsjland. I. 3 — 34 — Karl wieder gegen Peter. Es war bereits zu spät; der Besiegte hatte dem Sieger die Kunst abgesehen. Aus Polen marschierte Karl gegen Klcinrussland, das damals von dem Hctman Masöpa*) verwaltet wurde. Wer kennt Fig. 12. Iwän Nstep^nowitsch Mlls6pa, H^tmann von Klemnissland. f I7U3, nicht die abenteuerliche Geschichte seiner Jugend aus Byrons Gedicht, aus Horace Vernets Bildern? Er war jetzt ein Greis. 5) Fälschlich Mazeppa genannt. aber verschlagen und ehrgeizig. (Fig. 12,) Er hatte das Vertrauen Peters gewonnen, unterhandelte aber mit seinen Feinden nnd wollte Kleinrussland wieder nnter polnische Hoheit bringen. Peter glaubte erst dann an den Verrat, als Mascha sich mit Karl vereinigte und Kleinrussland zur Erhebung gegen den Zaren aufrief; aber das Land blieb treu. Nun eilte Peter nach Poltäwa, das von Karl belagert wurde, nnd die Schweden erlitten eine entscheidende Niederlage (170!)). Karl entfloh mit gcriugcm Geleite in die Türkei; seine ganze Armee legte die Waffen nieder. Die Schlacht bei Polbiwa hatte die schwedische Macht gebrochen. Der Krieg übertrug sich auf den türkischen Sultau, der von Karl zum Kampfe aufgestachelt wurde. Peter hatte auf die von den Hospodarcn der Moldau und Walachei zugesagte Unterstützung gerechnet. Der erste stieß mit unbedeutenden Streitkräftcn zu ihm, der zweite ließ ihn im Stich. So wurde der Zar an den Ufern des Prut mit seiner geringen Streitmacht von der 200 000 Mann starken Armee des Großveziers umringt. Ein Angriff auf das russische Lager wurde zwar zurückgeschlagen, aber die Vorräte warcu erschöpft, die Lage äußerst kritisch. Auf Beschluß des Kriegsrats wurden dem türtischen Oberbefehlshaber günstige Friedensbedingnngen vorgelegt. Es heißt, Peters Gc-malin, Katharina, habe das Gewicht dieser Vorschläge dnrch die llbersendnng ihres sämtlichen Schmuckes an den Großvezier verstärkt. Genug, der Friede wurde geschlossen und den Türken As6w uud die Mündungen des Don zurückgegeben (17IN. Mit der Abtretnng As<>ws hatte Peter den Gedanken aufgegeben, die Seefahrt und dcu Handel Nufflands nach dem Schwarzen Meere zu leiten; auch erschienen ihm jetzt die Ufer der Ostsee viel geeigneter. So führte er den Krieg mit Schweden 'wch zchu Jahre fort, bis der bedeutsame Friede im finländischcn Städtchen Nystad geschlossen wurde, durch welchen Rnssland in den Besitz von Livland, Estlaud, Iugcrmaulaud und einem Teil Finlands gelangte. Nun nahm Peter auch den Titel eines 3* — 36 — Kaisers von Nussland an, welcher als ein westeuropäischer, der Machtstellung des Reiches entsprach. Peter war zweimal «erheiratet. Die erste Gemalin Jew-dutia Lopüchin, wurde dem siebzehnjährigen Jüngling von der Fig. 13. Zarswitsch AleM Petrü>Mch, ältester Sohn Peters I. von Iewdntta F6dorowna Lopi'lchin. sseb, 1690. 1- 17 l8, Staatsraison seiner Mntter aufgenötigt. Die Ehe war unglücklich und Icwdokia mußte ins Kloster gehen. Später heiratete Peter das schöne Mädchen von Marieubnrg ill Livlaud, Martha, nach ihrem Übertritt zur griechischen Kirche Ickatcrina Nlcr/'jcwua — 37 — genannt. Nus dcr ersten Ehe hatte Peter einen Sohn, den ebcnsu nnfahigen wie charakterlosen ,und unglücklichen Alex^i (Fig. 18), dessen trauriges Geschick, wie das seiner bemitleidenswerten, liebenswürdigen Gemalin, einer Prinzessin von Branu- Fiss. 14. Prinzessin Charlotte Christine Sophie Uo„ V raunschweia Wolfeittmttl'l. Gemalin des Zai6>l'itjch M'x6i Petr^witsch, geb. l«!>3, f 1715, schweig-Wolfenbiittel (Fig. 14), der Dichtung einen unerschöpflichen Stoff zu romantischen Kombinationen gegeben hat. Unfähig zu jeder Art vou Ncgiernngsgeschäftcn, warf sich Alcx6i dcr mit allen Neuerungen unzufriedenen, allrussischen Partei in — 38 — die Armc und beteiligte sich an Konspirationen gegen den Vater. Als seine Verbindungen aus Licht kamen, floh er ins Auslaud. Zurückgekehrt, wurde cr von Peter dem Gericht übergeben, zum Tode verurteilt und starb im Gefängnis (1718). Man hat das Verhältnis Peters zum Sohne häufig als einen Makel an seiner Größe betrachtet und ihm unverzeihliche Härte und wilde Grausamkeit gegen sein eigen Blut zum Vorwurf gemacht. Jetzt, wo die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn offen zn Tage liegt, muß dieser Vorwurf uicht allein verschwinden, sondern der Charakter Peters erhebt sich in jener traurigsten Episode seines Lebens zu ungeahnter Größe. Unermüdlich ist cr in der stets erneuten Sorge, den Sohn auf die rechte Bahn zu briugcn, wenn auch nicht eiuen würdigen, doch wenigstens einen erträglichen Nachfolger in ihm zu erziehen, und da Alcxäi alle seine Bemühungen vereitelt, jeder Zweifel schwindet, und er in ihm den künftigen Zerstörer seines großen Rcformationswerkcs erkennen muß — da steht ihm das Heil des Vaterlandes über jeder Familicnrücksicht. über jeder Herzensempfindung und, ein zweiter Brutus, fcndet cr den abtrünnigen, lasterhaften Sohn in den Tod. Peter starb, wie er gelebt, indem er sich für sein Volk ans opferte, dessen Geringster ihm nicht zu klein war, um sein Leben für ihn in die Schanze zu schlagen. Es war im Herbst 1724, als er am finischcn Meerbusen Soldaten auf der See erblickte, die im Begriffe zn ertrinken waren. Um sie zu retten, stürzte cr sich selbst in die Flut. Eiue heftige Erkältung war die Folge. Sie zerstörte die bereits angegriffene Gesundheit des Kaisers. Am 28. Januar 1725 endete sein thatcnreiches Dasein. Wie wenig andere Regenten hat Peter die Denkmale ill Erz nlld Stein verdient, welche ihm das dankbare Vaterland widmete. Vor allen würdig ist das Mouument in St. Petersburg, das vor den Gebäuden der beiden von ihm gegründeten Staatsbehörden, des Senat nnd Synod, auf einem finländischeu Granitfclseu, in Erz gegossen, ragt und den Kaiser auf ansvren- Zl! — gcndcm Roß darstellt, unter dessen Hufen die zertretene Schlange des Aufruhrs sich windet. (Fig. 15.) Peters große Nachfolgerin und Erbin seiner hochfliegenden Ideen, Katharina II., ließ die Rciterstatue von Falconet herstellen, der Kopf ist das Werk von Marie CaUot. Auf Peter den Großen folgten vier Herrscher seines Hauses, welche sämtlich nur kurze Zeit regierten und für die Entwickelung des russischen Reichs bedeutungslos sind. Zum besseren Fi«. 15. Denkmal Peter des Greszen m st. Petersburg. Verständnis der Verwandtschaftsgrade, welche die Thronfolge begründeten, möge die nmstehendc Stammtafel der russischen Negmtcn aus dem Hause Romanow dienen. Bei seinem Tode hatte Peter keinen Nachfolger bezeichnet. Sein direkter Erbe war sein Enkel, der zehnjährige Peter II., Sohn Alex/äs. Seine Minderjährigkeit benutzte Peter des Großen Witwe Katharina (Fig. 16) (1725^1727) um mit Hilfe der Garde den Thron zn besteigen. Die Hauptstütze und der all- — 40 Stammtafel der Aegenten aus dem Kaule ßonnmaw. 1. Michail Fsdoronmjch Romüuow. 1613—Iß l5. 2. Alexöi Michailowitsch. Z, Fsodor. 4. Iwän V, 5. Sophia. 6. Pcter der Große. ?. Katharina I. 1676—1682. 1632—1683. 1682—1d89, 1683—1725. —„— 1725—1727. Heiz. Karl Leop. «^f,c.^in<, 9. Anna Ioannowna Herz. Fr. Alexsi, Anna. Herz. v. Holstein, 11, Elisabeth, v. Hleillenburg. «°^"""«' 1760-17«. v. Kurland, « —^- 17^1-1?61. Herz.Nnt. Uli. t>. Anna üeopoldowrla. s.Veterll. 12. PeterIII. 13.KatharinaII. (Prinzess, v> Zerbst). VrllUNschweig, 1727—1730. 17ei—1762. 17S2—1796. w. Ioann VI, 14. Paul I. ,740—1741. 1736—1801. 15. A>exanter I. Konstantin. 1«. Nikolai I. Michail. 18Ul—18L5. 1825—185». 17, Alexander II. 1855—1881. 18. Alexander III. — 41 — mächtige Minister ihrer kurzen Regierung war Mwschtschitow. Sie starb 17^7 und hinterließ die Herrschaft dem Zaröwitsch Peter II. Alex^ewitsch (1727—1730)/bis zu dessen Volljährig- Fig. 16. Kaijei!!! Kathaiuiü !. «l-Ii. üi«4. f 1727. keit ein Regcntschaftsrat die Ncgicrnitg sichren sollte. Auch in diesen: spielte Fürst M'>w,m. stürzt, nach Sibirien geschickt, uud die Regierung des Säuglings Iocnm VI, Aut'Nwwitsch unter der Regentschaft seiner Mutter währte nur bis zum folgenden Jahr. Die Großfürstin Elisabeth Petrowna (Fig. 17) (1741 bis 17M) bemächtigte sich des Thrones mit Hilfe ihres Leibarztes — 44 — Lestocq durch das Preobrashüustische Regiment. Die Eltern Ioanns wanderten nach Cholmogüry in die Verbannung, cr selbst beschloß sein Dasein in der Festnng Schlüsselburg. Müu-nich nnd Ostcrinann wurden nach Sibirien geschickt. Mit ihnen hatte der Einfluß fremder Einwanderer auf die Regiernng sein Ende; an ihre Stelle traten Eingeborene. Unter diesen waren die hervorragendsten Elisabeths Günstlinge Gras Aler/i Nasn-nmwski und Iwän Schuwälow, der Gründer der ersten russischen Universität (zu Moskau). Elisabeth führte zwei Kriege: den einen gegen Schweden, welches das von Peter erstrittene Land zurückerobern wollte, im Kampfe unterlag und einen weiteren Teil von Finland einbüßte; den zweiten gegeu Friedrich den Großen, als thätige Bundesgcnossin Österreichs und Frankreichs im siebenjährigen .Kriege. Die russischen Waffen waren glücklich und nur der Tod Elisabeths befreite Preußen aus der kritischen Lage, in welche es durch den Kampf mit drei Großmächten geraten war. Zum Nachfolger in der Regierung ernannte Elisabeth ihren Neffen Peter F^dorowitsch, den Sohn ihrer Schwester Anna, Herzogin von Holstein. Sie ließ ihn in Nussland erziehen und gab ihm zur Gemalin die schöne und kluge Prinzessin Sophie Auguste von Anhalt-Zcrbst, welche mit dem Bekenntnis der griechischen Kirche die Namen Ickatcriua Alcr/'Mma annahm und als Katharina II. die Größe und staatliche Entwickelung Rnsslands in ungeahnter Weise fördern sollte. Der Reproduktion eines seltenen Bildes von ihr, das sie als Großfürstin darstellt (Fig. 18), ist es nicht völlig gelungen, die Anmut und Lieblichkeit wiederzngcben, welche diese jugendlichen Züge so überaus anziehend machen. Mit großer Umsicht und unermüdlichem Fleiß benutzte sie die Zeit bis zur Thronbesteigung ihres Gemals zum Studium der Sprache, der Geschichte, des Volksgcistes und der Einrichtungen Nusslands und trat so aufs beste vorbereitet au die große Aufgabe, welche das Schicksal ihr aufbewahrt hatte. — 45 — Peter III. s17(i1—-1762) rcgicrte nur cm halbes Jahr. Seine Ehe war cine sehr unglückliche. So viel Sympathie und Zuneigung Katharina sich erwarb, so viel Unzufriedenheit und Mißvergnügen weckte er bei den Nüssen durch seine Negicrungs- Flg. 18. Kaiserin Kaiharina n. als Gl'oMrsUn. Handlungen nnd sein Leben. Zn Katharinas Guusten bildete sich eine Verschwürung, die ihn znr Thronentsagung zwaug uud ihm das Leben kostete. An der Spihc der Freunde Katharinas, die 'hr zuiu Throne ^iusslands vcrhalfcn, standen die Brüder Orl.'.n, nud die geniale Fiirstil, D^schtow l^Fig. 1^'), welche später — 46 — wegen ihres Geistes und ihrer ungewöhnlichen Bildung von der Kaiserin zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften ernannt wurde. Fig. 19. Katharina NomHnawna Fürstin D^schlow, neb, 1743. f 1810, Die vicrunddrcißigjährige Regierung Katharinas II. (N62 bis 1796) stellt sich in ihren großartigen inneren und äußeren .^ 47 — Errungenschaften würdig der Umgestaltungsperiodc Peters des Großen zur Seite. Mit den Türken führte die Kaiserin zwei Kriege, Im ersten wurden sie zn Lande vun dem Grafen NlimMzew-Sadunaiski Fig. 20. Viirst Alexander Wassiljoluitlch ItaMjli O>af Ssiiw^rolu Nynmitjli (nach dein Gümäldi' von Schmidt), ssrb. !7'.'3. f 18N0. ^schlagen und Graf OrlM-TschcsnMski verbrannte ihre Flotte llu Hafen von Tschcsinc. Der Frieden von Kuitschuk-Kainardshi (1774) brachte an Nussland die Länder des Dun- und Dnjöpr> Deltas und öffnete seiner Handelsflotte das Mittelländische Meer. — 48 — Die Besetzung der Krym, deren Bewohner Russland so lange Zeit mit ihren räuberischen Einfällen beunruhigt hatten, führte den zweiten türkischen Krieg herbei. Nusslcmds Verbündeter war Kaiser Joseph 11. von Österreich. Die russischen Truppen führte Fürst Potcnntin-Tawritscheski (spr. Patjmukin), dessen Kriegsruhm aber von dem seines Untcrfeldhcrrn Graf Ssuworow-Rynnnkski (Fig. ^0), des Siegers am R/mnik und Eroberers von Ismail, weit übcrstralt wurde. Im Frieden von Iassy erhielt Russland das nördliche Ufer des Schwarzen Meeres. Ein Krieg mit Schweden, welches den ehemaligen Verlust immer noch zu ersetzen hoffte, endete mit dem früheren Besitzstand auf beiden Seiten. Die drei Teilungen Polens brachten Weißrussland, Woly-nien, Littauen und Kurland unter die russische Botmäßigkeit. Der Nufstaud des altgläubigen Bauern Pugatsch6w (spr. Pugatschuw), der sich für Peter !11. ausgab, nahm höchst bedenkliche Dimensionen an, wurde aber schließlich von dem tapfern Obersten Michclsun unterdrückt. Die gewaltigen Reformen Peters des Großen, welche bis zu den Zeiten Katharinas geruht hatten, nahmen jetzt einen erneuten und lebensfrischcn Fortgang. Um die Administration des kolossalen Reiches zu erleichtern, wurde das Laud in 50 Gouvernements eingeteilt, jedes derselben in kleinere Verwaltungsbezirke; Gerichtsbehörden wnrdcn lieu geschaffen und organisiert, eine Städteordnung eingeführt, die Rechte und Privilegien des Adels revidiert uud reformiert. Aus alleu Schichten der Reichsbevölkerung wurden Abgeordnete berufen zur Beratung eines neuen Gesetzbuches, ein Werk, das dnrch den Ausbruch des ersten türkischen Krieges in den Hintergrund gedrängt wurde. Wissenschaft und Kunst wurden nach jeder Nichtnng gefördert und gehoben, Schnlcn in großer Anzahl errichtet, ein nie gekanntes geistiges Leben iu den bedeutenderen Städten geweckt. Der Verkehr mit den großen Geistern der Zeit war für Katharina, die selbst eine begabte Schriftstellerin, Lebensbedürfnis. Fiss. 2l. Denkmal der Kaijeiin ztluharina n. in St. Petersburg Meyer, Russlaud, I. ^ — 50 — Auf einem dcr schönsten Plätze St. Petersburgs, begrenzt vom Ncwsti Prospekt, dem Aultschkow-Palast, dem Alexandra-Theater und dcr Kaiserlichen öffentlichen Bibliothek hat Alexander II. seiner großen Ahnfrau ein prächtiges Denkmal errichten F>«. 22. Kaiser Paul I. Petröimlsch. geb. 1754. 5 I8»l. lassen. Zu den Füßen der Kaiserin umgeben den Sockel, auf welchem sie steht, die großen Feldherren, Staatsmänner, Gelehrten und Dichter Russlands, welche ihrer Negierung Ruhm - 51 — und Glanz verliehen, unter ihnen auch die Fürstin D^schkow. Mg. ^.) Der einzige Sohn Katharinas, Paul I. (1796 — 1801) (Fig. 22), folgte der Mutter auf dem Throne Nufflands. So lange die große .Kaiserin lebte, die vermutlich von seiner Begabung nicht die günstigste Meinung hatte, blieb er den Negie-rungsgeschäftcn fern und schon frühzeitig scheint sich durch diese Zurücksetzung eine gewisse Verbitterung in ihm eingewurzelt zu haben. Dabei war er keineswegs ohne Gaben und eine gewisse Großherzigkeit und ein lebhaftes Mitgefühl für Bedrückte und Zurückgesetzte zeichnete ihn aus. So beschränkte er, sobald er zur Herrschaft gelangte, die Willkür der Gutsbesitzer den Leibeigenen gegenüber und erleichterte die Lage der letzteren. Auch für Polen hatte er Sympathiccn. Mit England und Österreich schloß er ein Bündnis gegen die französische Republik und sandte seinen Feldmarschall Ssuwl'»row an der Spitze einer Armee nach Italien. Ihre glänzenden Kriegsthaten erwarben dem bewährten Heerführer den Titel eines Fürsten Italnski. Zwei Monate vor dem Tode Pauls wurde Grusien mit dem rnssischen Reiche vereinigt. Kaiser Panl hinterließ vier Söhne: Alexander, Konstantin, Nikolai, Michnü, von denen der älteste, als Alexander I. Püw-lowitsch (1801—1825) dem Vater in der Negierung folgte. Der junge Herrscher hatte eine ausgezeichnete Erziehung erhalten und war ebenso herzensgut und liebenswürdig, als schön. Ein bisher nicht veröffentlichtes jugendliches Bild des Kaisers (Fig. 23) läßt das letztere deutlich erkennen. Nach außen war die Regierung Alexanders so reich an bedeutsamen Ereignissen wie im Innern an Reformen im Sinne des Fortschritts. Große, verhängnisvolle Kriege wurden mit enormen Erfolgen für Rnsslaud gekrönt, der erneute Kampf mit Schweben führte zu dem Friedensschluß von Fricdrichshamm (1809) M welchem ganz Finland bis zum Flusse Torneö mit den Alands- Inseln an Nussland fiel. Gleichzeitig wurde das Reich von 4^ — 52 — einem sechsjährigen Kriege (1806—1812) gegen die Türkei in Anspruch genommen, die von Napoleon I. aufgestachelt, die früheren Verträge verletzt hatte. Auch die Türkei unterlag und Fig. 23, Kaiscr Alexander I, Püwlowüsch. gcb. l???. f 1825. im Frieden von Bucharest (1812) wurde Vcssarabien bis zum Prut dem Reiche einverleibt. Inzwischen hatten anch im Kaukasus bedeutende Gebietserweiterungen stattgefunden. Im Jahre 1803 wurde Mingrelicn, 1805 die Provinzen Karabag und Schirwau, im Jahre 1810, — 53 — nach völliger Unterwerfung Grusiens, Imeretien mit Nussland vereinigt. Ein kriegerischer Zusammenstoß mit Persien, den diese Ausdehnungen zur Folge hatten, endigte mit dem Friedensschluß in Gulistan (1813), durch welchen das Land bis zum Araxes dem russischen Gebiet zufiel. Alle diese Kriege verschwinden gegen dm ungeheuren Kampf, den Nussland mit Napoleon I. zu bestehen hatte. Dell ersten Fcldzug gegen den großen Eroberer, im Verein mit Österreich, beendete die unglückliche Schlacht bei Austcrlitz (1805), den zweiten, im Verein mit Preußen, die Niederlage bei Friedland. Kaiser Alexander sah sich genötigt, Frieden zu schließen, und der Ver^ trag von Tilsit (1807) brachte Nussland, trotz seiner Niederlagen, cinen neuen Zuwachs in dem Gebiet von Bjclostük, der ueue Krieg Napoleons mit Österreich (1809) einen Teil des östlichen Galiziens. Bei allen Vegünstigungcu von Seiten Napoleons konnte die Verbindung Frankreichs mit Nusslaud nicht von Dauer sein. Die scheinbare Freundschaft giug in Trümmer und eine kolossale französische Armee brach 1812 in Russland ein. Der Brand, welchen das russische Volk selbst an seine Hauptstadt legte, die Kälte, der Hunger, der Gnerillakampf der gesamten Nation gegen die Eindringlinge, sie verzehrten das feindliche Heer bis auf elende Neste. So wurde in Nussland dem stolzen Eroberer der Nimbus der Uuüberwindlichkeit vom Haupte gerissen und der erste Schritt zu seiner Vernichtung gethan. Die verbündeten Armeen der enropäischeu Mächte rückten m Frankreich cm, die Bourbons wurden von neuem auf den französischen Thron gesetzt und im Wiener Kongreß (1815) die staatlichen Verhältnisse Europas geordnet. Russland erhielt hier den größeren Teil des Herzogtums Warschau, welches Napoleon aus den polnischen Landesteilen Preußens uud Österreichs geschaffen hatte, das mm unter der Bezeichnung „Königreich Polen" "'it cigucr Verwaltuug dem rufsifcheu Läuderkomplex hinzugefügt wurde. — 51 — Zu den wichtigsten inneren Umgestaltungen unter Alexander I. gehört die Verwandlung der alten Kollegien Peters des Großen, deren Geschäftsgang hinter der Zeit zurückgeblieben war, in Ministerien nach neuerer Art, die Gründung des Ncichsrats zur Vorberatung aller neuen Gesetze und wichtigen Verordnungen und eine ausgedehnte Fürsorge für die Bildung des Voltes durch Errichtung von höhereu und niederen Schulen, Universitäten uud anderen Lehranstalten. Alexander I. hatte bereits die Aufhebung der Leibeigenschaft im Angc, die er aufs lebhafteste herbeiwünschte, aber es blieb bei einigen Maßregeln, welche die Lage der an die Scholle Gefesselten erleichterte, ohne sie völlig zu befreien. Dicfe und manche andere durchgreifende Verbesserung wurde durch die fortdauernden Kriege bei Seite gedrängt. Alexander I. starb, als er den Süden des Reichs bereiste, in der Stadt Taganrog (19. Nov. 1825). Da er keine Kinder hinterließ, war sein Bruder Konstantin der nächste Thronerbe. Dieser aber, morganatisch vermalt, hatte schon bei Lebzeiten Alexanders der Thronfolge entsagt, seine Abdankung war vom Kaiser angcuommcu, aber das betreffende Manifest nicht pub-liciert. Es sollte das erst nach dem Tode Alexanders geschehen. So kam es, daß beim Eintreffen der unerwarteten Todesnachricht in St. Petersburg Nikolai, der jüngere Bruder, mit der Armee dein älteren Konstantin huldigte, während Konstantin ill Warschau mit den dortigen Truppen den jüngeren Nikolai zum Kaiser ausrief. Jetzt erst wurde das Erbfolgemanifcst Alexanders eröffnet, und da Konstantin auf seinem Entschluß beharrtc, bestieg Nikolui I. Mwlowitsch (1825—1855) (Fig. 24) den russischen Thron. Die erste traurige Aufgabe des jungen Kaisers war die Niederschlagung eines Militär-Ausstandes. Auch in Russland hatten sich damals, nach Art der Earbonari, geheime Gesellschaften gebildet, welche die Verfassung und Regierungsform des Reiches umstürzen wollten. Sie hielten das kurze Zwischenrcich — 55 - nach dem Tode Alexanders für eine günstige Gelegenheit, ihre Pläne auszuführen und wußten das Militär durch die Vor- Fic,. 24. Kaiser MtMi I. PüMowitsch. sftiegclnng zit gewinnen, Konstantin habe keineswegs dem Thron entsagt, von dem man ihn nngercchtcrweisc verdrängen wolle. — 56 — So geschah es, daß ein Teil der Gardc sich weigerte dem Kaiser Nikolai zu huldigen, der erst, nachdem der Gencralgouverneur vou St. Petersburg, Graf Milorüdowitsch, vou den Aufrührern getötet worden, sie mit Kartätschen auseinandertreiben ließ. Die Haupträdclsführer wurden hingerichtet, die verführten Soldaten in andere Regimenter uersetzt. Nicht lange nach seinem Regierungsantritt hatte Nikoku Krieg mit Persien zn führen (1826—1828), das seine verlorenen Provinzen wieder erobern wollte. Dieser Versuch cudigte für den Augrcifcr sehr unglücklich. Nachdem in dcm zweijährigen Feldznge der russische Heerführer Graf PaMwitsch - Eriwänski sich mit Ruhm bedeckt, schloß Ftt-AlvSchah mit Russlaud deu Frieden von Tnrkmantschai, in welchem er die Chanatc Eriwan und Nachitschewan abtrat und eine Kriegsentschädigung von zwanzig Millionen Rubel zahlte. Es war uicht der materielle Besitz des armenischen Hochlandes allein, welchen Nusslaud durch diesen glücklichen Krieg erlangte. Weit wichtiger war noch der Einfluß, den es auf sämtliche armenische Christen gewann, indem nun der Patriarch von Armenien, der in Etschmiadsin seinen Sitz hatte, russischer Unterthan war. Noch vor der Beendigung des persischen Krieges wurde Nuss-land in einen ncnen Kampf mit der Türkei verwickelt, indem es den Griechen, welche das muselmänmsche Joch abschüttelteu, seinen Beistand nicht versagen durste. Im Friedensschluß vou Adria uoftel (1829), der diesen erfolgreichen Krieg beendigte, erhielt Russland das östliche Ufer des Schwarzen Meeres und freie Schiffahrt auf der Donau und den Dardanellen; der Moldau, Walachei und Serbien wurde eine vou der Pforte weniger abhängige Stellung unter russischein Schutze zugestauden und die Unabhängigkeit Griechenlands anerkannt. Der im November 1830 ausgebrocheuc polnische Aufstand wurde in nicht viel mehr als einem Jahre uuterdrückt, das Königreich Polen mit dcm übrigen Bestand des russischen Reiches enger vereint, die Polnische Armee anfgelöst nnd die Universitäten — 57 — zu Warschau und Wilna geschlossen, an deren Stelle eine nene Hochschule in Kljew gegründet wurde. Dem Kaiser Nikolai verdankt das Mich die vollständige Sammlung aller russischen Gesetze, die Herausgabe des zur Zeit in Kraft bestehenden Gesetzbuches und die Errichtung des Ministeriums der Ncichsdomäncn. Als durch den damaligen Präsidenten der französischen Republik im Jahre 1852 die Pforte sich verleiten ließ, die griechisch-russischen Pilger zu Jerusalem iu verletzendster Weise den lateinischen nachzusetzen und die bezüglichen Forderungen des russischen Gesandten, Fürst Münschtschikow, zurückgewiesen wurden, ließ Kaiser Nikolai eine russische Armee in die Donaufürsten-tnmer einrücken nnd im Herbst desselben Jahres zerstörte Admiral Nachimow das türkische Geschwader bei Sinope. England, Frankreich nnd Sardinien kamen der Türkei zu Hilfe, der sogenannte >vrhmtrieg entbrannte, die russischen Trnvpen blieben in verschiedenen Schlachten im Nachteil und trotz des heldenmütigsten Widerstandes gelang es den Verbündeten nach elf-monatlichcr Belagerung das Hanptbefcstignngswcrk von Ssewa-stopol als Trümmerhaufen zu erobern. Unterdessen hatten die russischen Waffen in Kleinasien den besten Erfolg. Kaiser Niko-Ilu überlebte die Demütigung nicht, welche die rnssischc Armee von seiten eines übermächtigen Feindes und behindert durch die äußerst schwierige Vcrproviantiernng erfahren; er starb am 18. Februar 1855 und hinterließ dein ältesten Sohne Alexander II. Nikolüjewitsch (1855—1881) (Fig. 25) die Negieruug uud die Fortführung des Krieges, welchem der Pariser Friede vom 18. März 1856 cm Ende machte. Russland verlor durch denselben an Territorialbesitz nur die Mundnna.cn und einen unbedeutenden Landstrich am linken Ufer der Donan. aber es mußte sich entschließen, seiner Kriegsflotte im Schwarzen Meere zu entsagen. Friede nach anßcn nnd friedliche Entwickelung im Innern waren die leitenden Ideen des neuen Kaifcrs. Einer späteren Zeit bleibt es vorbehalten, die Regierung — 58 — Alexanders II. in ihrem ganzen Umfange zn würdigen. Sie ist im civilisatorischen Sinne vielleicht die glänzendste der russischen Mg. 25. Kaiser Alexander II. Nitolkjewitsch. Geschichte und hier ruht ihr Schwerpunkt, wenn e5 ihr auch keineswegs an äußeren Erfolgen gefehlt hat. Seit Peter dem Großen hatte Rnssland seine Aufgabe er kannt, die Kultur nach Osten hin zu tragen, von wo sie dcr^ — 5!) — einst der Wclt gekommen, wo sic aber bis auf geringe Spnren erloschen war. Sicherung der Grenzen, des Handelsverkehrs und Erweiterung des Absatzgebietes gingen damit Hand in Hand. Ununterbrochene Konflikte mit den räuberischen Nomaden der Ostgrenze hatten schon Kaiser Nikolai veranlaßt, die Linie des Syr-Darja zu okkupieren uud mit den Beherrschern der mittelasiatischen Chanate Buchara, Khokand lind Chiwa Verträge abzuschließen. Wenig war damit erreicht. Wiederholte Einfälle nötigten zu energischen Kriegsopcrationen nnd Taschkent wnrdc 1665 dem rnssischcn Reiche einverleibt. Nach der Eroberung Samarkands (1866) war ganz Turkestan in russischem Besitz. Auch die Unterhandlungen mit Chiwa, welche hauptsächlich die Freilassung russischer Gefangenen bezweckten, führten zn keinem Resultat. Ein neuer, ruhmvoller Fcldzug begann 1873, Ehiwa wurde erobert und durch den Friedensschluß zu Gendcmain das ganze rechte Ufer des Amu-Darja und die angrenzenden Landstriche an Nlissland abgetreten. Der Chan, mm Tributär des russischen Reichs, wurde gezwungen, die Sklaverei aufzuheben. Im Jahre 1875 erfolgte die Einnahme von Chotand; 1880 ein neuer überaus schwieriger Kriegszug gegen die Tckc-Turkmcucu, der vou dem jungen und kühnen General Skobclew (Fig. öija Nemij». U - «2 — (Fig. 34 mid 35.) Das Ostuser der Insel ist fast beständig von den Eismassen des Karischen Meeres blockiert und unzugänglich, die Westseite genießt einer milderen Temperatur und hat im Sommer wenigstens eine eisfreie See. Die nördliche Hälfte der Insel ist von Gletschern bedeckt, die oft bis ins Meer hinabreichen. 2. Die Sumpfzonc oder Tundra. Unter dieser Benennung begreift man den Hunderte von Kilometern breiten Gür- Miljüschew-Felsen am westl. Ufer von N>',wc>ja-Semlj», tel der Polarsiimpfe, welche die Ufer des Eismeers umfassen. Der im Winter zu einer kompakten Masse erstarrte Moorboden thaut im Sommer nur einige Zoll tief auf und das Gruudeis läßt das Schuee- und Ncgcnwasser nicht eindringen. So bildet das letztere Sümpfe, Wassertümpel, kleine und größere Seen, wo der Boden abschüssig ist, Niunsalc, deren Ufer sich mit Kräutern bedecken. Das Wasser ist vou den Sumpferzen der Tiefe rostig rot gefärbt, der Vodcn stellenweise von weißem Rentier--moos überzogen, hier uud dort stehen Büschel von Wollgras. Aus dem Morast ragen die festeren Stellen wie große Maulwurfshügel hervor, auf denen saftige Beeren und Wacholder — 83 — wachsen, Hier ist das Vaterland des Rentiers, welches alle übrigen Hanstiere ersetzt, das Neich des Wolfes, des unum> schränkten Gebieters der Fauna, die zeitweilige Heimat wilder Schwäne und Gänse, welche in der Manserzeit die Tundra in zahllosen Scharen aufsuchen und in den moosbcdcckten Sümpfen nisten. Die Tnndra dehnt sich tansende Kilometer Uon Westen nach Osten aus, die nnabschbare Wüste des Nordens. Im Süden grenzt sie an die Region undurchdringlicher Wälder, im Norden verschmilzt sie mit der dämmernden Fläche des Eismeers,- im Osten ragt. wie der Wächter ihres ewigen Schlafes, die Felsenkettc des lwU. Im Winter das Gebiet des Todes, heißt die Tundra in den skandinavischen Sagas das Reich des Schreckens. Nnr für ihren angestammten Bewohner, den melancholischen Ssnmoj6den ist sie weder das eine noch das andere. Alle Freuden seines armen Lebens vereinigen sich anf dieser morastigen Fläche. Im Winter ist die gefrorene, schneeuerwchte Tundra eine grenzenlose blendend-weiße Ebene ohne Baum, ohue Strauch, ohne menschliche Ansiedelung. Unter dicker Eisdecke schlafen die gigantischen Flüsse des Nordens ihren langen Schlaf. Ihr Eis ist von tiefem Schnee verhüllt und der einsame Reisende krenzt die Fläche im schnellen Schlitten, ohne zu ahnen, daß tiefe, fischreiche Gewässer unter ihm ruhelos dahinziehen. Tage, Wochen kann das flüchtige Gefährt über die Schnecwüstc gleiten, ohne einer meuschlicheu Wohnung zn begegnen. Die Sonne erhebt sich kaum über den Horizont und übergießt beim Hinabsinken die glitzernde Fläche mit rosigem Schimmer. Bald erlöscheu die hellen Purpurtöne im Westen, der Schnee, der noch eben wie in Vlut getränkt erschien, färbt sich bläulich und die zwanzig-ständige Nacht verdrängt den kurzen, kränkelnden Tag. Jetzt treten bei dem Scheine des Nordlichts und des Mondes die Pelztiere der transnrcüischen Gegenden ihre geheimnisvolle Wandrung in die Tnndra an. In langen dichten Scharen, das Leittier voran, hnschen die Hermeline durch die nächtliche — 84 — Stille, Überreste von Fisch und Fleisch zu kärglicher Nahrung suchend; Marder, Füchse, Hasen folgen in endloser Zahl. Das Rentier scharrt das dürftige Moos unter dein Schnee hervor, nicht selten überfallen von seinem schlimmsten Feinde, dem gefräßigen Wolf. Oft braust die „Pnrga", der grausige Schnecsturm dieser Zone, in furchtbarer Majestät über die Tundra, Der Nordost, Fig. 3«. Ver KchM'l'pfwg, ihr Vorläufer und Herold, fegt widerstandslos über die Weiten, Berge lockeren Schnees werden anfgctürmt nnd wieder auseinandergejagt nnd begraben unter ihrem lawinenartigen Fall den hilflosen Wanderer, das Zelt des nomadisierenden Fischers und Jägers und die Rindcnhüttc des scheuen Eingeborenen. Die Purga vernichtet oft ganze Familien von Renticrhirtcn und begräbt die Herden in solchen Tiefen, daß der Hirt, wenn er am Leben bleibt, keine Svur seiuer Tiere zu entdecken vermag. Weit in das Innere von Ausstand hinein wüten diese nordischen — 85 — Schnccstürme, dort „MtM" genannt, und oft im Winter, wenn sie Dorf und Stadt, Wald und Flur, Berg uud Thal mit ihren ungeheuren Schnccmasscn verschüttet haben, muß der Schnee-Pflug (Fig. 36) anf den entschwundenen Wegen cinc notdiirstigc Verbindungsbahn herstellen. In hellen Wintertagcn, wenn der tnrzweilende Gast, die Sonne, auf die weiße Fläche uicdcrblitzt, dann leuchtet der Schnee in Myriaden von Krystallen wie cm Meer von Feuer-fuutcn. Schließt der Mensch geblendet die Augen, so tanzen feurige Spiralen vor der gereizten Netzhaut, öffnet er sie, so starrt ihm von neuem die unabsehbare Flut geschmolzenen Silbers entgegen. Die Augenlider bedecken sich mit Geschwüren, es tritt zeitweilig vollständige Blindheit ein. Im kurzen Frühling-Sommer ist die Tundra nicht wieder zu erkennen. Vun Süden ziehen heran, wie dnutle Wolken die Sonne verhüllend, zahllose Scharen von Polarcnten, Gänsen und Schwänen. Das Ohr wird tanb von dein durchdringenden Geschrei nnd Geschnatter, das ohne Unterbrechung aus den Lüften herabtönt. Zwischen den buntfarbigen Mooswcideplätzeu der Rentiere fchimmcrn hier und dort klare Seen und Wasserbecken, wie Stückchen blaueu Himmels. Langsani fließen die menschen-verlassenen, fischreichen Ströme gen Norden. Ncntierherdeu löschen am Wasser den Dnrst. Dürftige Grasflächcn mit verkrüppeltem Gesträuch durchsetzen in schmalen Streifen die trock-neren Stellen der Tuudra. Wolken von Mücken und Bremsen erfüllen die Luft, und ohue die kalten Nächte und die ticfeu Erdspalten, in denen während des ganzen Sommers der Schnee nicht schnalzt, würden die Rentiere von diesen schrecklichen Feinden alles Warmblütigen vernichtet werden. Die unabsehbare Fläche bedeckt sich mit buntfarbigen Blüten, Stränchcrn, zuweilen auch mit spärlichem Gebüsch. In diesen nördlichen Breiten gilt für das Leben in der Natur eine Stuude so viel wie ein Tag in gemäßigten Zonen. Hier könnte man in der That beinahe das Gras wachsen hören, der helle Tag nnd die helle — 86 — Nacht wecken in dcr Erde nach ihrem langen Schlafe so mächtige schöpferische Kräfte, daß sie die Tundra für zwei bis drei Monate in eine reizende Flur umznwandcln vermögen. Moosige Weideplätze in den verschiedensten Farben wechseln miteinander ab und erfrcncn das Auge. Bald sind sie blau wie Türkisen, bald weiß, bald rot, bald grau. Für den Ssamojsdcn, den darbenden Sticfsohn der Natnr, beginnt jetzt die lebhaste Zeit dcr Fig. 37. Die Tundra im Sonnmr. Sommerarbeit. In den einsamen Buchten der Flüsse schallt fröhlicher Lärm. Hier plätschert und gackert das bunte Volk der Enten und anderer Wasscrvögcl. Im Morgen- und Abendrot tönt aus der Höhe der laute Nuf dcr Schwäne, Kleine Bäche hüpfen nnd sprudeln dnrch die pfadlose Tnndra, um sich in einen der majestätischen, breiten, gemächlichen Ströme des Nordens zu ergießen. Die tote Einöde, plötzlich, wie alls den Wink des Zauberers, in eine lachende Ane verwandelt, atmet frisch Pulsierendes Leben von einem Ende znm andern, (Fig. 37.) - 8/ — Aber auch die Schönheit der sommerlichen Tundra birgt Verderben für den Wandrer. Unter dein bnuteu Teppich lauert an wärmeren Stellen anf den Unvorsichtigen beweglicher, tiefer Sumpf, der selbst unter dem Schneeschuh nachgicbt und die Fußspur sofort mit rostfarbenein Wasser füllt. Nur das Ncntier wandert ungefährdet übcr den trügerischen Boden, der Jäger geht hier häufig spurlos zu Grunde. Im Süden der Tnndra schieben sich die letzten Ausläufer des Waldes in den Moorsumpf vor wie Oasen der Wüste. Weiter nördlich beginnt die ewige Pfadlosigkeit. 3. Die Zone der Wälder nnd der Viehzucht. Sie wird von unermeßlichen Nadelholz-Urwäldern bedeckt, zwischen denen hier und dort der weiße Stamm des eigentlichen Nurd-landsbaumcs, der Birke, hervorleuchtet. Unter milden Himmelsstrichen zart und schlank gcbant, wird die Birke in kalten Klima-ten zu einem stattlichen, dickstämmigcn, dichtbelaubten, zähen Prachtbamn, einer wahren Augenweide und unerschöpfliche»: Quelle reichen Gewinns. Holz, Bast, Nindc, Laub, alles wird vom Hanshalt lind dem Gewerbe verwertet. Auch die Weide findet sich in den nordischen Wäldern als seltener Gast. Gegen den Polarkreis zu werden die Waldungen immer lichter, die Bäume niedriger nnd krüppclhafter, bis sie iu armseligen Gebüschen ihr Ende erreichen. Dann folgen weit ausgedehnte magere Grasflächen mit Moosen nnd verschiedenen Beercnarten, welche den Übergang in die Tnndra bildeu. Im nördlicheu Teil der Waldregion bildet die Jagd, besonders anf Eichhörnchen, das Hanpt-erwerbsmittel der Nomadenvülkcr, welche diesen Gürtel durchstreifen. Erst im südlichen Teil, welcher reich an Futterkräutcrn ist, wird die Viehzucht von Bedeutung nnd findet man einige Spuren von Ackerbau. 4. Die Zone der Gerste. Sie ist die Region des beginnenden Ackerbans nnd wird nach der Gerste benannt, weil wegen der Kürze des Summers dieses Getreide das einzige ist, welches mit einigem Erfolge gebaut werden kann. Man beginnt - 88 - jedoch hier die Kartoffel und einige Gartengemüse zu akklimatisieren. Da aber das Erträgnis des Ackerbaus in dicscr Zone immer ein sehr beschränktes scin mnß, so dienen Viehzncht. Jagd, Fischfang nnd Holzflößerei als Hanptenuihrnugszwcige der Bevölkerung. Die ungeheuren Wälder dicfes Landstrichs, welche aus Nadelholz und Birken bestehen, wie die Niescnflüsse desselben, bieten zu jenen Gewerben reiche Gelegenheit. Die Zone der Gerste erstreckt sich nach Süden bis zur Breite der Stadt Iarsnsk im Stromgebiete der Dwina, also etwa bis zum 63. Grad nördlicher Breite. 5. Die Zone des Roggens und Flachses. Die Be-zeichnnng rührt selbstverständlich von den beiden Landcsproduk-ten her, welche hier vorzugsweise mit Erfolg gebaut werocu. Dieser klimatische Gürtel, welcher den Hnuptteil dcs Neichs umfaßt, erstreckt sich uach Süden bis in die Mitte des Gouvernements Tscheruigow, d. h, bis zum 51." nördlicher Breite. Das Mima ist dem Ackerbau im allgemeiuen güustig, rauher im Osten, milder, je weiter die Zone sich uach Westen erstreckt. In den baltischen Provinzen wird die Temperatur außerdem durch die Nähe des Meeres gemäßigt, so daß diese vor den Landstrichen desselben Breitengrades besonders bevorzugt erschciucn. Mit der vierteu Zone verglichen, haben die Wälder an Areal bedeutend abgenommen, mit Ausnahme der Gegeuden, in welchen der Transport des Holzes schwierig und die Ausbeutung der Waldungen weuig gewinnbringend ist, aber sie sind reich au vortrefflichen Laubhölzern. An jagdbaren Tieren ist noch heute großer Überfluß. Wie in der ältesten germanischen Sage, ist der Bär hier König der Wälder und der Tiere und ist uur in der Nähe der großen Städte seltener geworden, .hier finden sich noch zwei Arten stattlicher Waldbcwohner, die das übrige Europa uicht mehr kennt: der Ur- oder Auerochs im Walde von Bjelow^sch nnd das Elen in Litauen nnd den baltischen Ländern. Zahlreiche Stromsysteme, durch Kanäle uutcreinauder verbunden, bilden bequeme Vcrtehrsstraßen' in den weniger vom — 89 — Klima begünstigten Gegenden hat sich eine lebendige Gewerb-thätigkeit entwickelt. Im allgemeinen ist der Boden der Zone fruchtbar, aber der Landbau ist, mit Ausnahme der Ostseepro-vinzcn, was die rationelle Ausbeutung des Ackers betrifft, noch wenig vorgeschritten. Der Weizen nimmt in der Bodenkultur eine nur untergeordnete Stelle ein. Gemüsebau wird eifrig betrieben. Garteufrüchte gedeihen uorzugswcifc nur in dem westlichen Teile, den Gouvernements Groduo und Wilna. In den mittleren Gegenden der Zone ist der Apfel die einzige Gartenfrucht, die mit Erfolg gezogen wird. 6. Die Zone des Weizens und der Gartenfrüchte, die hier vorzugsweise uud mit dem günstigsten Erfolge angcbant werden, reicht im Süden bis IekaterinoMw oder bis zmn 48." uördl. Breite. Sie ist im vollsten Sinne des Worts die Kornkammer des Neichs und die Landstriche, welche sie nmfaßt, versorgen die beiden Hauptstädte, verproviantieren die Armee und bringen außerdem noch beträchtliche Quantitäten von Getreide in den Ausfuhrhandel. Hirse, Vnchwcizcn und Hanf werden hier mit dem besten Erfolge gebaut, die Tabakpflanzungen sind von beträchtlicher Ausdchmmg uud hervorragender Bedeutung, Viehzucht uud Branntweinbrennerei stehen in Blüte, auch die Vicnnenzucht ist vuu Wichtigkeit, Iu dieser Zoue ist der Uuter-schicd zwischen dem Osten und Westen weniger bcdentend, als in den vorhergehenden. In den westlichen Gegenden, wie Kijcw und Podolicn, ist das Klima ausnehmend gesund und der Vegetation günstig, während der Ostcu freilich unter dem nachteiligen Einfluß der asiatischen Ebenen zu leiden hat uud ein großer Teil desselben von sogenannten Steppen eingenommen wird, deren Schilderung ich für die nächste Zone vorbehalte. Dagegen cm-hält die sechste Region mich den Tschcrnos6m, die Schwarzerde jenen vorzüglichen Humusboden, der an manchen Stellen iu einer Mächtigkeit von 5 Nietern vorkommt uud keiner Düngung bedarf. Dieser TschcrnoM, zieht sich dnrch einen Teil von Bessarabien, Podolien, einen Tell von Wolunien, Kijew, Pol- — 90 — täwa, Tschernigow, Charkow, Kursk, den nördlichen Toil von Worunesh, Tambow, Psnsa, Ssimbirst und einen Teil der Gou-verncmcns Ssar-Itow und Ssamära. Eine große Partie der Zone leidet an empfindlichem Holzmangel, der von verschiedenen Ursachen herrührt, aber doch wol znm Teil durch eine weise Forstwirtschaft gehoben werden dürfte. Auch der Wassermangel ist ein großes Hindernis für das Fortschreiten der Kultur uud der Bevölkerung in diesen Gegenden. 7. Die Zone des Mais- und Weinbaues umfaßt Bcsfarabicn, Neurnssland, das Laud der domschcn Kosaken, das Gouvernement Astrachan, den Kaukasus und die Krym, deren südlicher Teil jedoch schon der achten Zone angehört. Außer allen Produkten der früher genannten Striche, nimmt die Kultur des Mais in derselben einen hervorragenden Platz ein nnd in verschiedenen Gegenden wird Wein mit dem besten Erfolge gebaut. Einen großen Teil dieser Zone nehmen die Steppen ein, deren Boden, so weit er noch produktiv ist, als Weideland für die Viehzucht benutzt wird, die in diesen Gegenden eilten wichtigen Zweig der Landwirtschaft bildet. Einige Gegenden dieser Region leiden unter häufiger Dürre uud werden von der eut-setzlichcn Plage der Wanderheuschrecke heimgesucht. Der südliche Teil der Krym hat das Klima Italiens. Hier gedeihen neben dem Wcinstock der Ölbamn, der Kapernstrauch und andere Pflanzen, die eine gleichmäßige, milde Tempcratnr verlangen. Die Steppen bilden cincn beträchtlichen Tcil der beiden letztgenannten Zonen. Ihre Ansdehnung beträgt etwa ein Fünftel des gesamten europäischen Nnsslands, ein Gebiet mehr als zweimal so groß wie Frankreich. Sie ziehen sich im Süden des Landes vom Ur-U bis zu den Karpathen hin und werden im großen uud ganzeu als die puntische Steppe, im Norden des Schwarzen, nnd als die kaspische Steppe im Norden des Kaspischcn Meeres bezeichnet. Im einzelnen zeigen die Steppen bedeutende Abstufungen der Bodenbeschaffenheit und vegetativen Physiognomie; es laffcn sich grasige, Fi,q, 38, Die Steppe, — 92 — Weide-, Heide-, sandige und steinige Steppen unterscheiden. Die ersteren werden teilweise als Weideland für die Viehzucht benutzt, die letzteren enthalten fast nnr unproduktiven Boden. Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß nnr tüchtige Arbeitskräfte uud einsichtsvolle Kultur mangeln, um wenigstens einen Teil dieser sterilen Landstriche in fruchtbare Ebenen zu verwandeln. Außer andern Eigentümlichkeiten ist es besonders der Holzmangcl, welcher diesen Gegenden ihren besonderen Charakter verleiht; aber Spuren alter Wälder beweisen, daß die heutige Kahlheit des Stcppcnlandcs nicht nur in natürlichen Hindernissen ihre Begründung findet, sundern daß auch, hier wie anderwärts, die Zerstörung vorhandenen Vaumwuchscs einen Haufttfaktor der gegenwärtigen Waldarmut und Unfruchtbarkeit abgegeben hat. In ihrer ganzen Ausdehuuug zeigt die Steppe überall dieselbe Physiognomie. Die geringen Erhebungen und Vertiefungen des Bodens, in der Nähe dem Meere vergleichbar, das von leichter Brise in mäßigen Wellen bewegt wird, fließen in der Ferne in eine unabsehbare Fläche zusammen. (Fig. Z8.) Niedrige Thäler, oft mcilenlang, durchziehen in den westlichen Teilm dieser Ebene, meist in der Richtung von Norden nach Süden das Land, mit unbedeutenden Verzweigungen nach rechts und links. Diese Budcneinschnittc voll flußartigcr Bildung, den größten Teil des Jahres hiudnrch trocken, führen zur Zeit der Schnceschmelzc oder nach heftigen Gewitterregen das Wasser sporadischen Becken, nnd weiter den Limans oder dem Meere zn. Die peinliche Einförmigkeit der Natur drückt den Geist zu Boden. Eine Tagereise nach der andern wird zurückgelegt, überall dasselbe Bild. Kein Wald, kein Baum, kein lebendiges Wasser, bis auf die wenigen großen Flüsse, welche die Steppe durchbrechen, hier und da nur kündet ein armseliges Dorf oder ein Aul nomadisierender Hirteil, eine weidende Herde die Nähe menschlicher Bewohner. In manchen Gegenden der Steppe bilden künstliche Hügel, Türkenhügel nennt sie der Volksmund, eine Unterbrechung der ^ <>3 — einförmigen Flächcnöde. Es sind dies iu der Regel 7 bis 8 Meter hohe Aufschüttungen auf den Spitzen der relativ höchsten Vodeuerhcbnngen, welche eindringenden asiatischen Horden als Warten oder Wegweiser gedient haben sollen. Sie sind in der That derartig über die Steppe verteilt, daß man gewöhnlich von der Höhe des cincn dieser Hügel nach vier Seiten hin einen folgenden im Ange hat. Möglicherweise ist die Verteilung auch mir eine zufällige. Diese Aufschüttungen enthalten keine Gräber, wie die im Osten bis ins südliche Sibirien hinein vorkommenden Grabkurgane oder Tschndcngräbcr, und ist man über die Zeit lind den Zweck ihrer Entstehung, wie über das Volk, das sie errichtete, noch bis hente im dunkeln. Eine andere Eigentümlichkeit der Stepftcngegeuden am Schwarzen Meere bilden die Limans. Unter diesem Ausdruck versteht man ursprünglich die Müu-düngen der Flüsse, welche sich in den nordwestlichen Teil des Pontus ergießen uud sich zu breiten Mceresarmeu, Busen nnd Becken erweitern, die durch Reihen tleiucr Inseln nnd Eilande von der offenen See getrennt sind, also eine Art von Lagunenbildung. Sie mögen wol den häufigen Süd- uud Südostwinden ihre Entstehung verdanken, welche die Wassermassen der Flüsse zurückdrängten, dadurch die Ufer stromaufwärts erweiterten und zugleich Sandbänke vor den Mündungen anschwemmten, welche durch den Schlamm und das Geröll, das der Strom mit sich führte, zu Inseln heranwuchsen. Bei weniger mächtigen Wasscrlänfen wnrden dann diese Inseln nnd Werder zu förmlichen Dämmen und Düuen nnd ans den Flußmündungen formten fich Binnenseen, die sich langgestreckt dem Meere zuwenden, in seiner Nähe die größte Tiefe zeigen, zum Teil auch noch salziges Wasser nud die Fische des Schwarzen Meeres führen. Interessant sind eine Anzahl dieser Limans dadnrch. daß sie reiche Stätten für die Salzgewinnung darbieten. Es sind dies vorzugsweise die flachen Wasserbecken, welche im Sommer znm Teil austrocknen, ans denen sich das Salz niederschlägt. Unter chnm sind die ergiebigsten die von Odessa aus — 94 — nach Südwesten gelegenen bessarabischen Limans. Dort zieht sich schon im Juni das Wasser von den Ufern zurück und läßt das Salz in kleinen Krystallen auf den Vodcn fallen, im Juli verstärkt sich dieser Niedcrschlag und wird gegen Ende des Monats so bedeutend, daß es sich lohnt mit der Salzernte zu beginnen. Die Mächtigkeit der Salzschicht nimmt nach der Tiefe zn und wechselt von 1 bis 30 Centimeter. In ergiebigen Jahren soll man aus den drei bessarabischcn Limans über sechs Millionen Pud (^ 40 Pfund) Salz gewonnen haben, Der Winter der Steppe ist außerordentlich kalt, der Sommer unerträglich heiß; die Übergänge sind schnell und schroff, so daß von Frühling und Herbst kaum die Rede sein kann. Mehr als eiu Drittel des Jahres wehen die heftigen Steppenstürmc aus Norden, Nordosten nnd Osten. Im Sommer verdunkeln sie die Luft durch den Staub, den fie aufwirbeln, der wie ein dichter Nebel die Gegend verhüllt, durch Thüren uud Fenster in das Innere der Wohnuugcn dringt und alles bedeckt. Wehen sie im Winter bei 15 bis 20" Kälte, so wird der Aufenthalt im Freien fast unmöglich, wenn man nicht Nafe uud Ohren erfrieren will. Nach der Schneeschmclzc verwandelt sich die Oberfläche der Steppe, wo nicht alter dichter Nasen eine feste Decke bildet, in einen schwarzen flüssigen Brei, der keine Stelle bietet, wo mau den Fuß sicher hinsetzen kann. Von allen Erhöhungen herab, in allen Thälern und Einsenkungcn ranschen Ströme schmutzig brauuen Wassers. Die Oberfläche des Vodens verändert sich über Nacht, die strömende Flut reißt klaftertiefc Schluchten auf, lange Thalstrecken werden oft in wenigen Tagen mit einer metcrdicten Erdschicht bedeckt, die Ufer des Meeres werden abgespült und treten zurück. Bis zur Mitte des April schwankt die Temperatur je nach den Windrichtungen. Gegen Ende des Monats und anfangs Mai verwandelt sich die Steppe in einen grünenden Garten, bedeckt mit Hyazinthen, Krokus und Schneeglöckchen, und der Himmel lächelt im freundlichsten Blau auf sie __ gh __ herab. Nachtfröste gehören hier zu den unbekannten Erscheinungen, höchstens bedeckt in kühlen Nächten reichlicher Tan Thäler und Schluchten. Die schwachen Gewitter der Stcftftc, welche niemals einen gewaltsamen, verderblichen Charakter annehmen, beginnen bereits im April und halten oft den ganzen Mai hindurch die Erde feucht. Im Juni erhitzt sich der Boden, überall klaffen Nisse und Sprünge. Nuu fällt kein Tropfen Negeu mehr und die Sonne brennt unbarmherzig versengend nnd verdorrend vom bleiernen Himmel herab. Die Lnft ist von Dünsten erfüllt, die uubeweglich und uuveräudert über der schmachteudcn Fläche lagern. Blutrot geht die Sonne auf und nntcr, die Hitze wird unerträglich durch ihre ununterbrochene Dauer. Der Pflanzenwuchs welkt und verbrennt zn Stanb, die Steppe wird duntelbrann, die Herden magern ab und werden matt und schwach. Die Quellen vertrocknen, die Vrnnnen versiegen, alles lechzt und dürstet nach einem Tropfen erquickenden Wassers. Im August erreicht die Trocknis ihre qualvollste Höhe und beginnt wieder abzunehmen. Der Nachttan tritt ein, Gewitter bringen erfrischendes Nah, der Himmel klärt sich, die Lnft wird milde, die Steppe ergrünt abermals, anmutig geformte Wolken ziehen über die zn neuem Leben erwachte Fläche. Nbcr mit dem September endigt die kurze Freude, der Oktober ist überreich an Nebeln und strömendem Negcn und am Ende desselben tritt schon der Winter ein, der im November die uferlose Ebene mit dichtem weißen Lcichcntuche bedeckt. Die Pflanzenwelt ist in der Steppe hauptsächlich dnrch Grasartcn vertreten, uuter denen das Schilf die hervorragendste Rolle spielt. Die Ufer aller größereu Flüsse der Steppcngegcn den sind, besonders wo sie ruhig fließen, sich in Arme teilen nnd durch häufige Überschwemmungen den Boden feucht erhalten, mit Schilfwaldungen bedeckt, welche au manchen Stellen eine Höhe von 3 bis 4 Metern erreichen. Diese Schilfwälder haben in den Niederungen des Dnjcstr, Dnjepr und Don eine Ausdch-mmg von mehr als sieben Kilometern in der Breite und vielen - 96 — ' Meilen in der Länge. In ihnen ragt Rohr neben Rohr, nur unterbrochen durch Flußarme und Wasserbecken nnd die schmalen Stege, welche die wilden Tiere ausgcbrochcn haben. Ein unendlich reiches animalisches Leben birgt ihr Schoß, Neben den verschiedensten Singvögeln hausen hier Wasservögcl aller Art, Enten, wilde Gänse nnd Pelikane, die man oft in Trupps von mehreren Hunderten beieinander sieht, anch Reiher nnd Trappen. Ubcr dem Schilfe kreisen beständig die einzigen Jäger der Gegend, die Raubvögel, welche hier die reichste Vcntc fiudeu. Im Wiu-tcr zieheu sich alle schädlichen und unschädlichen Vierfüßler der Steppe, Wölfe und Hasen, Füchse uud Wiesel, in die Schilfwälder zurück, um dort Schutz vor der unbarmherzigen Kälte zn suchen. Das Schilf spielt hier fast dieselbe Rolle, wie die Dattelpalme in den Oasen Afrikas, nnr daß es keine nahrhaften Früchte darbietet. Mit Schilf deckt der Steppcnbancr sein Dach, aus Schilf flicht er seinen Gartenzaun, ja in manchen Gegenden bant er ans dem Schilfe, das mit Lehm bcworfcn wird, treffliche Hänscr. Das Schilf ersetzt in den Steppen das Holz als Brennmaterial, wenn es auch rasch verbrennt, wie Stroh, und keine nachhaltige Glut erzeugt. Auffällig, besonders in der kaspischen Steppe, ist das Vorkommen einer Grasart, der Stipa pcnnata, welche in großen Büscheln beisammen steht. Die überaus zierlichen und langen weißen Grannen dieses Grases leuchten weithin, selbst in der Nacht, und nicken im Winde, wie Gespenster, dem vorüberziehenden Reisenden zn. Neben den Gräsern ist wohl die Distel die verbreitetste Stcppenpflanze. Einige Gattungen entwickeln sich hier zu einer bewunderungswürdigen Größe so daß, wo sie in Haufen stehen, der Kosak zu Pferde sich in ihnen verbergen kann. Eine Distcl-art ist anch die Wind- oder Stcppenherc. Ihre feinen dünnen Zweige bilden etwa meterhohe Kuppeln oder Kugeln, die oft einen Umfang von drei bis fünf Metern erreichen. Ungenießbar, werden sie selbst von gänzlich ausgehungerten Tieren nicht au- - 97 - geillhrt. Im Herbst fault der Staunn über der Wurzel ab un3 das Gewächs trocknet zu einem schwarzen, federleichten Balle zusammen, den der Sturmwind vom Boden reißt uud durch die Lüfte über die Steppe hiutreibt. Oft werden huudcrte dieser Distelgloben zu gleicher Zeit durch die Lüfte geführt uud machen aus der Ferne deu Eiudruck eiuer Herde wilder Pferde. Charakteristische Stcppeuftflauzcn siud fcruer der Wermut, unter deu sich gern die Königskerze mischt mit ihren klafterhohen Steugelu uud leuchteudgelbeu Blumcu, dereu Blätter aber das Vieh uicht frißt, der wilde Klee, Schafgarbe, welche die Höhe uou zwei Metern erreicht, Pastinakeu, wilder Hanf, Wolfsmilch uud Gehlrübe. Dazu kommen Gänsefußarteu, Strauduelkeu in zartem Violet, Naiufaru, Wickeu, Seideukraut, Salbei uud Lavendel, Reseda, Kümmel, Krauscmünze u. a. Da der Stepftcu-bodcu nußerordcutlich salzhaltig ist, gedeihen eiue Mcugc Salz-krautpflauzeu (8^8alu) nnd Fettkrautartcn (8«äuui) in üppigster Schöuhcit. Deu lieblichsten Schmuck aber bilden die Zwiebel-uud Knolleugcwächse: Tulpen, Hyaeiutheu, Muscat-Hyacmthen, Meerzwiebel, Vogelmilch, Lanch, Schilccglöckchcu, Hohlwurz uud audere, die im Frühling mit ihrer Farbenpracht das Auge eut-zückeu. Iu der kaspischeu Steppe findet sich als ciuziges holz- oder strauchartiges Gewächs eine Tamarixart. Alle diese Pflanzen wachsen jedoch nicht in wolgefälliger Mischnng. Meilenweit bedecken nur eiuzelnc Artcu deu Bodeu, oft erblickt mau ganze Qnadrattilomcter vou eiucr einzigeu Pflauzengattllug bestaudeu. Die hochwachseudcu Steppcnkräuter mit holzartigem Stengel werden hier Burj-W (Gestrüpp, Uu-kraut) gcualntt. Sie wachscu vorzugsweise in den Niederuugcu uud an deu Abhäugcu, erreichcu, wie crwähut, oft eine beträchtliche Höhe nud bilden das uueutbehrlichste Breuumaterial des Steppeubeluohuers. Weuu inl Spätjahr, nachdem der erste Reif gefallen, die Herbststürme über diese Unkrautwäldcr hiubrauscn, siud sie iu kurzer Zeit gäuzlich vertrockuet und werdeu nun abMeyer, «»sslaud, I, ^ — 98 — gehauen und eingebracht. Der Bnrjun brennt wie Reisig, erzeugt aber bei anhaltendem Feuer eine beträchtliche Glut. Auch der Dünger, namentlich der Schafe und Kamele, welcher festgetreten, in Würfeln ausgcstochen und getrocknet wird, bildet eine nützliche Feuerung in der Steppe und brennt, abgesehen von dem abschculicheu Geruch, dem Torf ähnlich. Zur Verbesserung des Graswuchses iu den Gegenden, welche sich für die Viehzucht eignen, wird das „Abbrennen der Steppe" angewandt. Es geschieht im Frühjahr nach der Schnccschmelze. Zur Sommerzeit, wo die Eteppenvcgetation bis auf die Wurzeln vertrocknet ist, gerät sie auch häufig durch Zufall in Brand. Dergleichen nichtbcabsichtigte Steppeubräude erstrecken sich oft Hunderte von Kilometern weit und vernichten alles, was ihnen in den Weg kommt, Fruchtfclder, Schober, Wohnungen, oft ganze Dörfer. Auch die Schilfwäldcr in den Flußniederungen werden zn-weilen mit Absicht, zuweilen durch Zufall, Übermut oder Böswilligkeit angezündet nnd der Brand wälzt sich dann wie ein Feuermcer durch die Stromlhäler. Mit Vorbedacht wird das Schilf verbrannt, entweder um die Wölfe ans der Gegend zu vertreiben oder um dem jungen aufsprossenden Nachwuchs Luft zu machen. Der Brand folcher Schilfniälder, der sich an den Stromufern herabzieht, gewährt häufig in den Frühlings-nächtcn einen schauerlich erhabenen Anblick. Ist die Tierwelt in der Steppe auch nicht durch viele Arten vertreten, so finden sich doch diese in ungeheurer Menge. Im Frühjahr wimmeln die zahlreichen Wasserbecken uud Wasscrläufe, die Limans und Flüsfe voll wilden Enteu, Gänsen, Schwänen und Pelikanen. Allerwärts wandeln Störche nnd Reiher, in der kaspifchen Steppe Flamingos und weiße Kraniche; dazwischen tnmmeln sich allerlei Taucher und Mövcn und eine Unzahl kleinen Geflügels, welches rastlos am Wasserrandc hin und herläuft oder fliegt. Dazu noch die Menge der Adler, Falten, Sperber und anderer Raubvögel, die nicht die geringste Scheu vor dem Menschen bekunden. — 99 — Auch eine große Zahl von Vierfüßlern findet ihr gemächliches Fortkommen in der Steppe: da ist der Wolf, der die Herden bedroht, der Fuchs, der Marder, der Hase. der Ssnsslik oder Zieselmaus, ein charakteristischer Indigene der Steppcngegcn-dcn, den man auf Schritt und Tritt in seine Löcher schlüpfen ficht, das Murmeltier (^cwiu^» I^üdaic), welches allcrwärts seine Erdhaufen aufwirft und die überaus zierliche Springmaus (Dii>u8 .stumiu«), die so Pfeilschnell im Sprunge dem Auge vor-übcrflicgt, daß der Vlick ihre Gestalt nicht zu erhäschen vermag. Dazu kommen in der kaspischen Steppe noch Schlangen von beträchtlicher Größe und zahllose Eidechsen. In den pontischcn Steppen begegnet man hier und dort in der Nähe des Wassers Schildkröten, die eine Länge von 30 bis 40 Celitimetern erreichen, und Frösche sind in solcher Menge vorhanden, daß ihre Sommernachtskonzerte zur Landplage werden. Die Inscttenwclt ist ungcmcin zahlreich vertreten, freilich auch von solchen Individuen, die recht lästig und schädlich werden tonnen. In der pontischcn Steppe ist die Tarantel nicht selten und die Wanderheuschrecke richtet dort die entsetzlichsten Verwüstungen an. Die kaspische Steppe hat größtenteils sandigen, stark salzhaltigen Boden. Weit landeinwärts erstrecken sich die Dünen des Kaspisees mit ihrem rötlich gefärbten feinen Sande, dcr sich bei stürmischem Wetter in Bewegung setzt, die Luft erfüllt, drei bis fünf Meter hohe Wellen bildet und ein anschauliches Bild der afrikanischen Wüste giebt. Da entstehen Berge nud Thäler und verschwinden in der kürzesten Zeit. Das Wüstenbild wird um so drastischer, wenn man cincr Karavane rcichbcladcner Kamele begegnet, welche wie in der Sahara die geeignetsten und beliebtesten Lasttiere sind. Aber auch hier hat dcr Mensch seine Wohnsitze aufgeschlagen; es ist dcr tatarische Stamm dcr Kalmyken, welcher die taspische Steppe als wanderndes Hirtenvolt durchzieht. 7» — 100 — 8. Die Zone des Ölbaums, des Seideuwurms und des Zuckerrohrs umfaßt die transkaukasischen Provinzen, ein Gcbirgsland, dessen Klima, je nach der Lage der verschiedenen Teile, große Abwechselung darbietet. Die Thäler bringen einen großen Reichtum an Pflanzen heißer Klimate hervor, die Höhen sind bedeckt mit Getreidefeldern nnd trefflichen Weiden. In den Niederungeil mit gemäßigtem Klima werden Neinstock, Maul-beerbamn und viele andere Früchte gebaut. In den Ebenen mit heißem Klima, namentlich in den ehemals persischen Provinzen, wachsen Südfrüchte, Neis, Baumwolle. Der Olbanm gedeiht nur im westlichen Teil, das Zuckerrohr in den tiefer liegenden Gegenden am Knr, welche ein sehr heißes Klima mit außerordentlich fruchtbarem Boden vereinigen. Es ist jedoch nicht wahrscheinlich, daß die Knltur des letzteren eine bcdcntcnde Ausdehnung erlangen werde. Anch Cochenille, Assa foetida, Kravv und wilden Safran bringt diese Zone hervor; ein Hanptpvodlikt derselben ist die Seide. 4. Die Dcuölkenmg im europäischen Kujsland. Dieselben Schwierigkeiten, die sich der Berechnung des Flächeninhalts entgegenstellten, begegnen uns in Nussland in noch höherem Grade bei der Bestimmung der Bevölkernngszahl. Eine große Menge von Sektierern entzog sich bisher der Einschreibnng ili die Nevisionslistm, nur wenige Personen sind schriftkundig, ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung besteht ans nomadisierenden Horden; — so ist denn das einzige Mittel, ein sicheres Ergebnis zu erlangen, die zu gleicher Zeit veranstaltete Zählung, für Nusslaud unmöglich. Die bisherigen Revisionslistcn, von rein fiskalischem Eharakter, lieferten in Bezug alls Frauen und Kinder nur sehr ungenaue Augabcn, erhalten aber jetzt dnrch die Polizciregister, die Gcmeindcvcrwaltuugen und die statistischen Lokalkomit^s ihre Berichtigung und sind zuverlässiger gewordeu. So schätzt man denn die Gesamtbevölternng des rnssischcn Reichs nach den vorliegenden neusten Berechnungen auf 94 938 839 E. Wen» zur Feststellung dieser Snmme vorwiegend Zahlungen des Jahres 1882 zu Grunde gelegt sind, so haben doch für verschiedene Gebietsteile frühere Berechnungen benutzt werden müssen. (Finland 1880, Kaukasus 1871, Sibirien und Mittelasiatisches Gebiet 1870.) Kann die gegebene Zahl somit überhaupt nicht der Wirklichkeit entsprechen, so ist sie — abgesehen von dem Anwachsen der Bevölkerung in den verschiedenen Provinzen seit der letzten Zählnug — auch deswegen zu uiedrig gegriffen, weil die Einwohnerzahl mehrerer Neuerwerbungen, als unbekannt, in der Anfstellnng vollständig fehlt. So mnßten die Gebiete von Va-tmn nnd Transkasfticu unberücksichtigt bleiben. Es ist demnach keineswegs zu hoch gegriffen, wenn man die hcntigc Gcsamtbc-völkernng des russischen Reichs auf 95 bis 100 Mill. Köpfe veranschlagt. Auf das europäische Nussland allein kommen davon 80459 066 Einw., die specififchc Bcvölkcrnng beträgt also hier 16 E. anf den Quadratkilometer. Vom Jahre 1722, in welchen: die erste Zählnng stattfand, ist die Zahl der Bevölkerung Nusslands — die Gebietserweiterungen selbstverständlich mit in Anschlag gebracht — nngesähr in folgender Weife gestiegen: Jahr. Einwohner in runder Zahl. 1722 14 Mill. 1742 1»! „ 1762 19 „ 1782 28 , 1796 36 „ 1812 41 ., 1815 45 „ 1835 60 „ 1851 68 „ 1858 74 1870 86 I 1882 95 ,. — 102 — Kein Reich der Welt schließt cm so buntes, fast unentwirrbares Völkergemisch ein, wie das russische. Seine ungeheure Ausdehnung über zwei Weltteile hin, seine Zusammensetzung aus deu heterogensten klimatischen Regionen mit den verschiedenartigsten Volksstämmen, seine Lage zwischen Asien nnd Europa, die es gewisscrmasscn zur Schleuse machte, durch welche die Völker des Orients sich in den europäischen Westen ergossen, nicht ohne hier und dort Überbleibsel zurückzulassen, — alle diese Umstände haben die großartige Mannigfaltigkeit an Völker-Stämmen, Gruppen und Familien erzeugt, deren Bestimmung dem Ethnographen des Zarenreichs fast unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet. Schon das europäische Nusslaud für sich — auf das ich mich beschränke — hegt einen fast unbequemen Reichtum verschiedenartiger Völkerschaften, die noch lange nicht genügend gesondert, erkannt und schematisiert sind. Gehört anch bei weiten: die Mehrzahl der Einwohner (etwa ^/5) der großen slawischen Familie an, die wir Russen nennen, so hat diese im Laufe der Jahrhunderte sich keineswegs rein und unvermischt erhalten können. Der beständige unmittelbare Kontakt mit Völkern, namentlich der finischen nnd tatarischen Gruppe des mongolischen Stammes, hat vielfache Krenzungen im Gefolge haben müssen und auf die Bevölkerung einzelner Landcstcile variierend eingewirkt. Wurde auch im allgemeinen der nationale Typus festgehalten, so konnten doch die Völkerfragmente, welche in die russische Nationalität aufgingen uud sich allmählich rnssificicrtcn, unmöglich ohne Einfluß auf den neuen Typus bleiben, welcher sich an der Stätte ihrer früheren Existenz bildete. Der scharfe Unterschied zwischen dem Typus des Großrusscn und des Kleinrusscn läßt sich wahrscheinlich — nach Annahme hervorragender russischer Gelehrten ^ nur durch die Entwickelung äußerer Veimischuugeu auf allgemein slawischer Grnndlagc erklären. So zeigt sich schon frühe ein charakteristischer Gegensatz zwischen den nordöstlichen und südwestlichen russischen Slawen. — 103 — Beiläufig sei hier bemerkt, daß, wenn auch nicht auf ganze Vcvölkcrnngsmassen, aber doch auf dic höheren Schichten der russischen Nation, die Einwanderung der Ausländer stets von hervorragend entmischendem Einfluß war und keineswegs nntcr--schätzt zu werden verdient. Nach der thatsächlichen oder sagenhaften Ankunft der normannischen Waräger folgte mit dein Ehristcntum der Einzng eines zahlreichen griechischen Klerns. Dann kam die Herrschaft der asiatischen Eindringlinge, der Tataren. Nach Abwerfnng des mongolischen Joches spielten Emigranten ans Griechenland wiedcr eine bedeutsame Nolle in Moskau. Zar Boris Godmww, selbst von tatarischer Abkunft, zog viele Ausländer in das Ncich. Das Haus Nom-Inow führt seinen Stammbaum auf einen preußischen Fürsten zurück, der im Ansauge des XIII. Jahrhunderts nach Russland übergesiedelt war. Unter dem Zaren Alcxck Michallowitsch gab es in Mos-kan schon ganze aus Ausländern gebildete Regimenter. Der Handel war im XVI. nnd XVII. Jahrhundert hauptsächlich iu den Händen deutscher, holländischer und englischer Kaufleute. Artilleristen, Ingenieure, Architekten, Bergleute, Ärzte, Apotheker und Handwerker waren größtenteils Ausländer. Ein ansehnlicher Teil der rnssischcn Bojarcnfamilien stammt — trotz ihrer rnssisch klingenden Namen — von Ausländern ab und die Ein-wcmdcrnug dieser Magnaten erfolgte nicht selten mit einer ans tauseudeu bestehenden Gcfolgsmannschaft gleicher Nationalität. In den mittleren Gouvernements des östlichen Russland ist die Mehrzahl des örtlichen Adels ans getanften tatarischen Mnrsm uud mordwinischen „Panki" hervorgegangen. Den meisten wurde — wie später auch im Kankasns — bei der Taufe der Fürstcn-titel beigelegt, daher so viele rnssischc Fürstenfamilien ohne jede historische Basis, ohne jedes staatliche Verdienst ihrer Vorfahren. Um nur ewige der bekannteren russischen Adelsfamilien von ausländischer Abstammuug anzuführen, so sind von deutscher tzcrkuuft- dic Tolstoi, Lcwschm (Löweustcin), Kosudäwlew Wß von Dahlcn), Iächontow, LewaMw (von Dohlen), MMew, — 10i — Vuturlin, Müssin-Puschkin, Kutüsow. Orlüw (Leo), Wassil-tschikow; von altprcußischcr: die Scheremotjcw, Ssallyküw, Morosow; von litauischer: die Golowiu, Lichatsch6w, Gollzyn; von dänischer: die Nagol, von französischer: die Grjüsnow; von englischer: die Bcstüshew und Chomntöw (Hamilton); von schwedischer: die Ssuwürow, Chrul«w, Nowosfllzcw; von italienischer: die Pu,nin; von ungarischer: dieVlüdow; von tatarischer: die Urüssow, Apr-Ixiu, Iermolow (Arsslan-Icrmol), Däschkow, Uwürow, Schirinski, Bibikow, Mordwlnow, Karamstn (Kara Mnrsa). Nur ein bedeutender Name von jüdischer Abstammung tritt uns in der russischen Geschichte entgegen: Schaslrow (Schavira), Vizekanzler unter Peter dem Großen; der zu gleicher Zeit genannte russische Diplomat Wessclöwski war ebenfalls jüdischer Abkunft, Unter den bedeutenden Männern Nusslands in neuerer Zeit war nur ein einziger, der sein Geschlecht von Rjüvik ableiten konnte, — Fürst Gortschakow. Wenn ich im Folgenden die Völker, welche das europäische Nussland bewohnen, nach ihren vcrwaudtschaftlicheu Beziehungen Revue passieren lasse, so will ich keineswegs überall die strikte Nichtigkeit der ethnographischen Gruppierung vertreten, auch sind dabei mancherlei kleine Stämme und Stämmchen Übergängen, welche bei ihrer geringen Kopfzahl und ihres sporadischen Vorkommens wegen von untergeordneter Bedcntnng sind. Das cnropäischc Russlaud wird vorwiegend von zwei Haupt-völtcrstämmcu bewohnt, vom indogermanischen und mongolischen. Ein dritter, der semitische, tritt gegen die beiden genannten weit zurück. I. Völker indogermanischen Stammes. Unter diesen stcht als wichtigste und zahlreichste im Vorder-grnnde ^. Die slawische Gruppe, welche von Nnsscn und Polen — 105 — nebst einer geringen Zahl vun Vnlgaren, Serben mid Tschechen gebildet wird und ^ der Gesamtbcvölkernlig Nnsslauds ausmacht. Selbstverständlich fallen hier die Russen vor allem ins Gewicht, sic machen in Z4 Gouvernements mehr als drei Viertel der Bevölkerung aus, in 6 mehr als die Hälfte, in dreien mehr als das Viertel und uur in 6 bleiben sie unter dieser Zahl. ). Die russische Bevölkerung, welche sich auf etwa 52 Millioueu beziffert, zerfällt in drei Hauptfamilien: die Groß-rnssen, Kleinrusscn und Weißrusse:'. Die letzteren, an Zahl un-gcsähr 3'/2 Millionen, bewohnen die Gouvernements Mohil^w, Minsk, Wltebsk, Gwdno, Teile der Gollvcrnements Wilna, Kmvuo, Wolynieu, Podolieu, Tschernigow, Sinolcnsk, OM und in geringer Anzahl die Gvnvernemcnts Chcrsun und P6nsa. Die Kleiurusscn, etwa ^14 3)cillioncn, sind in den Gouvernements Polt/lwa, Charkow, Tschermgow, Kijew, Wolynien, Podolien, Iekaterinosslliw und Tculricu seßhaft, finden sich auch in hervorragender Zahl in den Gouvernements Wur^uesh, On';l, Knrsk, Mohilelv, Vessarabien und im Lande der donischcn .Uo sakcn, miiuder zahlreich in den Gouvernements Ssaunira und Ssar-itow. Der Nest obiger 5s Millionen kommt demnach auf die Grohrussen, welche vorzugsweise das mittlere Nnssland bc Völkern, aber anch in allen nbrigen Gegenden des Reiches an getroffen werden. n. Die Großrusscn. Sie sind im allgemeinen ein kräf tiger und wolgebantcr Meuscheuschlag. Unter den Bauern findet man wahrhast edel geformte Köpfe und jnngc Mädchen lind Francn von entzückender Schönheit. Ihr Körperban ist meist etwas gedrungen, der Hals uicht lang. der Nacken stark, die Schultern breit, die Beine verhältnismäßig kurz, doch finden sich unter ihucn auch recht schlanke Individuen. Der Großrnssc hält sich gerade, hat uatnrlichc Anmnt und Leichtigkeit der Vc-wcgnngcn, einen festen und raschcu Gang — aber das beweglichste und schucllste Glied seines Kürpcrs ist die Zunge. Er — 106 - redet mit jedem Vornehmen, auch mit seinem Herrscher ohne Verlegenheit und klettert über Abgründe ohne Schwindel. Die Physiognomie des Großrussen ist etwas grob geschnitzt, aber offen, die Nase dick, der Bart lockig, das Auge heiter. Seine Gesichtsfarbe ist ein gleichmäßig über das ganze Antlitz verbreitetes helles Nut, nicht wie bei den germanischen Stämmen, wo ein kräftigeres Rosenrot nur in den Wangen blüht. Die Haare sind meist hell gefärbt: lichtbraun, goldig rot, blond — dunkelhaarige Großrusscn sind selten. Es wird behauptet, der reinere Slawcntyftus sei brünett und der Grußrussc habe das helle Haupt- und Varthaar, wie die häufig vorkommenden blauen Augen, der Vermischung mit finischcu Nachbarn und ciugewan-derten Normannen zu danken. Wenn der Großrusse wolhabend wird und gut lebt, erlangt er häufig eine bedeutende Körperfülle. So findet man unter höheren Offizieren, Gutsbesitzern, Kaufleute» und den Frauen der Gutsituierten nicht selten Exemplare von ansehnlicher Wol-bclcibthcit. Wird von den Temperamenten dem Niederländer das Phlegmatische, dem Engländer und Teutschen das cholerische, dein Spanier das melancholische zugeschrieben, so hat der Großrussc unbedingt mit dcm Franzosen das sanguinische gemein. Nicht mit llnrccht nennt man ihn den Franzosen des Nordens. Dcm glücklichsten der Temperamente verdankt der Großrusse seine unzerstörbare Fröhlichkeit, seine Gewandtheit, seine Geselligkeit und Gesprächigkeit, seinen Geschmack an leichter Unterhaltung und unschuldigen Spielen, seine Furchtlosigkeit oder vielmehr seinen leichten Sinn. Trotz seines melancholischen Volksgcsanges besitzt er einen unbesiegbaren Hang znr Heiterkeit und eine ans Un-glaubliche grenzende Sorglosigkeit nm die Zukunft. Lustig leben, singen, jubilieren erscheint ihm als die Hauptaufgabe des Lebens viel arbeiten ist nicht nach seinem Geschmack, und wenn er arbeitet, scheut er jede größere Anstrengung. Mit beispielloser Gemütsruhe läßt der Grußrusse Glück - 10? — und Unglück über sich ergehen, wie cs der Himmel ihm bestimmt hat. Er lebt nur im Angenblick und für den Augenblick. Seine Gleichgültigkeit gegen alles, was da kommen mag, wird zur sträflichen Indolenz in allem, was eine Sorge für die Zukunft in sich schließt. Für bevorstehende schlechtere Zeiten arbeiten uud sparen, Vorräte sammeln für die magcrcu Tage des Jahres oder des Lebens, alles das liegt nicht im Charakter, im Temperament des Großrusscu. Zwei Lieblingswörtcr, die er jeden Augenblick gebraucht, illustrieren diese Seite seines Wesens anf das Prägnanteste. Das eine heißt: „Awnss"; beinahe unübersetzbar, bedeutet cs: „Was kümmert mich die Zukunft, laß' kommen, was da kommen mag." Das andere „Nitschewo" gebraucht er bei allem, was nicht so ist, wie cs sein könnte oder müßte, wir würden statt seiner sagen: „Das schadet nichts, das thnt nichts, laßt's gehen!" Das fröhliche Blut, welches durch seine Adern rollt, das Gefühl seiner Kraft uud das Bewußtsein, mit welcher Leichtigkeit uud Gewaudthcit er im Staude ist, sich aus kritischen Lagen zu befreien, bewirken, daß der Großrussc nirgends Gefahr sieht und selten an das Kommende denkt. Seine Sorglosigkeit zeigt sich in den kleinsten Dingen wie in den wichtigsten Angelegenheiten nnd bringt ihn oft in mmöthigc Gefahren, ans denen ihn freilich meistenteils seme Gegenwart des Geistes rettet. Sicherheitsmaßregeln beunruhigen ihn nie. lim einige Schritte zu ersparen, geht er über eiu morsches Brett oder brüchiges Eis. Im Wagcngcdrängc sieht er nach allen Seiten, »mr nicht auf scincu Weg. Seinem Hange zur Heiterkeit entspricht die Neigung des Großrussen zu Witz und Scherz in der Untcrhaltuug. und dieser Ncignug kommt feme seltene Vegalnmg für die Sprache, seine staunenswerte Macht über das Wort, seiue angeborene Beredsamkeit eutgcgcn. Jedes frohe Gelage wird durch Gesang, Dichtung, gewandte und witzige Erzählung geschmückt. Dabei gebraucht der gemeine Manu gern Fremdwörter, ohne jemals den Sinn derselben zu verfehlen. Ich hörte einst auf der Straße — 108 — in St. Petersburg cm paar einfache Markthclfer miteinander reden. Der eine erzählte dem andern von einen: frohen Abend, den er verbracht. „Da waren anch ein paar Mamsells — fagtc er (das Wort hatte bei ihm einen gewissen Beigeschmack) — kurz, wir bildeten ein vollständiges Comit6." Der Großrnsse hat vorzügliche Charaktereigenschaften, anf welche ich an anderem Orte eingehender zurückkomme. Er ist aus tiefstem Herzensgründe religiös, womit selbstverständlich eine beträchtliche Quantität Aberglauben znfammeuhäugt. Aber mit seiner angeborenen Frömmigkeit vereinigt er die liebenswürdigste Toleranz in Glaubcnssachcn. Nie sragt er einen Fremden nach seiner Religion, nirgends sind — trotz der Starrheit der orthodoxen Kirche — Andersgläubige in der öffenttlichcn Übung ihres Kultus weniger behindert, nirgends in der Welt dürfen sie sich so frei nud zwanglos bewegen, nirgcuds wird bei dem Manne und seinen Leistungen so wenig nach seinem Glauben gefragt, als in Nussland. Deshalb würde man anch arg fehlgreifen, wenn man den traurigen Indcnhetzen der letzten Zeit einen religiösen Charakter nnterlcgen wollte — ihre Entstehung wurzelt lediglich in sozialen Verhältnissen. Der Großrnssc ist menschenfreundlich, gefällig, zuvorkommend, in hohem Grade gutmüthig und mildthätig. Mit dein Bedürftigen nnd namentlich mit Gefangenen, die er niemals Verbrecher oder Ubelthätcr, fondcrn „Unglückliche" neuut, teilt er seine letzte Kopeke, fein letztes Stück Brot. Seine Liebe zu Kindern ist sprüchwörtlich geworden nnd war auch in Deutschland nach den Befreiungskriegen bekannt genug. Der an sich komische Aliblick einer männlichen Kmdcrwärterin ist in Nnssland nichts seltenes. Mit den genannten trefflichen Eigenschaften steht die weltberühmte Gastfreiheit des Großruffcu in innigstem Zusammenhange, die auch anf die andern das Reich bewohnenden Stämme übergegangen ist nnd das Leben in Rnsfland so anziehend gestaltet. Ich schließe die Reihe der angestammten russischen National-rügenden mit keiner der geringsten — mit der Tapferkeit. Sie - 109 - steht mit dem Frohsinn, der Sorglosigkeit, der Leichtlebigkeit des Großrnssen in innigstem Zusammenhange. Er achtet — nein er kennt keine Gefahr, er steht im Kampfe wie ein Fels, erstürmt den Wall wie ein Dampfroß, er folgt seinem Vorgesetzten in die Hölle und erträgt Mühsal nnd Strapazen wie vielleicht lein Volksstamm in der weiten Welt. Neben diesen glänzenden Lichtseiten des großrussischen Charakters liegen tiefe Schatten. Der Hang znr Heiterkeit, zmn lnstigcn Leben führt znr Gennßsncht, die um jeden Preis befriedigt sein will, die Genußsucht znr Habsucht, zur Misachtnng fremden Eigentums. So ist der Großrusse in hohem Grade geldgierig und der Dicbstahl ein Nationallastcr, wiewol dasselbe mit fortschreitender Cultur beträchtlich abgenommen hat. Aber wie Habgier und Dicbstahl bei ihm nur Kinder der Genußsucht sind, so paart sich mit ihnen die Verschwendung. Sehr treffend sagte einst ein geistreicher gebildeter Nüsse: „Wenn der Deutsche stiehlt, so thut er es, um Weib und Kind auf fcruc Zeiten zu vcrsorgeu, der Nüsse stiehlt uur, um ein Gelüste des Augenblicks zu befriedigen." Ans der Genußsucht ohne Maß und Ziel entspringt die Völlerei, das Laster der Trunksucht. Dasselbe ist übrigens durchaus nicht so eingewnrzclt nnd so all-nmfasscnd, wie parteiische Berichterstatter erzählen. Es hing in vergangener Zeit mit dem Umstände zusammen, daß dem gemeinen Manu kein anderes spirituöscs Getränk zu Gebote stand, als der Branntwein (wödka, Wässerchen) nnd daß die Negieruug einen großen Teil ihrer Nevcnüen aus der Besteuerung dcsselbcu bezog. So wurde denn das Volt von den sogenannten Braunt-weinspächtcrn auf jede denkbare Art znm Trunk, zum übermäßigen uud unmäßigen Trunk, verleitet, damit jene sich bereichern tonnten. Auch kann der Nüsse nicht allzuviel an geistigeu Getränken vertragen, uud hat er erst über dcu Durst getrunken, wird ihm von den betrügerischen Schenkwirten das erbärmlichste, miserabelste ^nselgcmisch untergeschoben. Seit mau in allen größeren Städten des Ncichs ein gntes, gesundes -^ 1W — Vier braut und eine vernünftige Regierung selbst darauf bedacht ist, die Zahl der Branulweinschenken zu vermindern, hat die Trunksucht in Nusfland beträchtlich abgenommen. Aber auch in der Betrunkenheit offenbart sich der gutmütige, freundliche Charakter des Großrussen. Es kommt wol vor, daß ein paar Vcirunkene zornig werden, schimpfen und slucheu, auch sich einander beim Kragen nehmen und mit den Fäusten tüchtig darauf losschlagen, dann verlieren sie aber in der Ncgcl bald das Gleichgewicht, rollen in die nächste Pfütze, richten sich sorgsam, einer den andern unterstützend, auf und trollen Arm in Arm, singend und jubelnd von dannen. Mit Nccht oder Nurecht wird behauptet, der Charakter offenbare sich im Rausch. Jedenfalls ist der Großrnssc in der Betrunkenheit stets zärtlich nnd liebcbcdürftig. Anf seinem süßlich und schelmisch lächelnde« Gesicht stralt die Frende, wie Butter, welche in der Sonne zergeht. Sein Verlangen nach Kuß und Umarmung wird dann so lebhaft, daß es unbedingt Befriedigung fordert, nnd da muß denu der Schenkwirt herhalten und alle seine betrunkenen Gäste der Neihe nach abküssen uud umarmen. Daher leitet die Volksetymologie seine Bezeichnung im Russischen: Zclowälnik, d. h. der Küsser, von dem Umarmen der Gäste her, obwol sie in der That vom Küssen des Evangeliums beim Leisten des Eides abstammt. Die sprüchwörtlich gewordene Uurciulichkeit des Grußrusscu ist lange nicht so arg, als sie der Mythus schildert. Er hat leine Neigung, keiue Ausdauer zu regelmäßiger Arbeit, deshalb ilt ihm auch die alle Tage wiederkehrende Sorge für die Reinlichkeit des Körpers nnd des Hauses zu beschwerlich. Aber das Rciulichkeitsbcdürfuis ist bei ihm in sehr hohem Grade vorhanden, nnr macht er das au einem Tage der Woche gründlich ab, was andere emsigere Völker sparsamer auf sieben Tage verteilen. So wenig der Großrusse Kamm, Seife und Wasser im Verlauf der Woche für seinen Körper in Vewcguug setzt, um so fleißiger uud verschwenderischer geht er am Sonnabend Abend damit nm, wenn er sein Dampfbad aufsucht, das den Schmutz - Ill — sämtlicher Arbeitstage für den Sonntag hinwegspült und ihm Frische, Gelenkigkeit, Wolbehagcu, Gesundheit für die ganze Woche, für das ganze Jahr verleiht. Davon später mehr. Der Großrusse ist geistig außerordentlich begabt, alles erfaßt er ohne viel Mühe, und bewältigt, wenn er sich der Wissenschaft widmet, die schwierigsten Probleme mit Leichtigkeit. Sein Sprachtalent, wie das aller slawischen Voller, ist enorm. Ich habe nnsere für den Ausländer sicher nicht leichte deutsche Sprache von keinem Angehörigen einer anderen Nationalität so vortrefflich, so gewandt, so ohne jede Epnr eines fremden Ae-eents fprechcn hören, als von Nnssen. Die llcincn Kaufleute anf dem Markte von Wassili-Ostrow, jenes Stadtteils von St. Petersburg, in welchem vornehmlich die Matrosen fremder Schiffe verkehren, sprechen alle Sprachen der Welt, ohne jemals in irgend einer unterrichtet zu fein. Wenn sie den vorübergehenden Schiffer auffordern, bei ihnen einzutreten und zu kaufen, versuchen sie's znerst mit dem Deutschen. Autwortet er nicht, wiederholen sie ihre Einladnng französisch, dann englisch, italienisch nnd wandern so durch alle bekannten Idiome, bis sic das richtige getroffen haben nnd der Fremdling erwidert. Dann ist er aber auch in der Negel dein kaufmännischen Uberrcdnngs-talcnt des geschäftigen Nnsscn verfallen. Es hat allerdings seinen gntcn Grund, wenn behauptet wird, die große Schwierigkeit der eigeucu Sprache wirke so außerordentlich bildend und verfeinernd auf Ohr nnd Znnge des Nusscu, daß die Erlernung jeder fremden für ihn zum Miderspiel werde, freilich ist der Neichtnm an Lanten, ^ormeu uud Viegnugen in der russischen Sprache ein ganz eminenter und macht deu Nichtrnsfen beim Etndimn derselben nnsagbarc Mühe. Aber trotz ihres Überflusses an einfachen nnd zusammengesetzten konfonantifchen Lan-teu, ift sie in hohem Grade wolklingend nnd melodisch und cignet sich trefflich zum Gesänge. Auch in der Sprache offenbart sich das gutmütige, liebenswürdige Wescu des Nüssen, namentlich in seiner Vorliebe für Diminutiva und Liebkosuugs- Wörter. Väterchen, Mütterchen, Täubchm, Seelchen sind gewöhnliche Anreden in der Konversation und zwar bei Personen' die sonst in keinerlei näherem Verhältnis zu einander stehen Auch das häßlichste Mädchen wird der Nnsse stets „Krassäwiza" (Schöne) nennen. Welchen angenehmen Eindruck macht es, wenn der Fuhrmann, der seine Pferde antreibt, statt der abscheulichen Flüche, die wir in Deutschland so häufig vernehmen müssen, ill den zärtlichsten Ansdrücken mit seinen Tieren redet: „Warte, mein Schwälbchcn", ruft solch' ein Pferdclcntcr, „du sollst bald ausruhen und blanken Hafer und grünen Klee fressen, so viel dll willst." Haben diese freundlichen Zusagen keinen Einflnß auf die Gangart des kleinen Pferdes, dann heißt es wol: „Pfui, Vrannchen, schämst dn dich nicht? Siehe, dort Gria/>ri's Schim-mclchen, er ist kleiner als dn und läuft doch schneller. Du wirst mich noch erzürnen und dann werde ich dich schlagen. Schläge thnn wehe, höre nnr!" Und dann schlägt er mit der Peitsche an die Schlittcnwand, daß es klatscht. Läßt sich das Nößlcin durch diese Drohung zur Eile bewegen, so wird es in den zärtlichsten Ausdrücken überschwenglich gelobt. Die linguistische Begabung des Rnsscn beschränkt sich übrigens hauptsächlich auf das gewandte Sprechen fremder Dialekte, in deren Geist er einzudringen, deren Laute und Konstruktionen er sich in vollendeter Weise anzueignen vermag. Philologische Untersuchungen liegen eben so wenig in seinem Geschmack, als in seiner Vegalmng, und die Namen russischer Sprachforscher sind bisher nicht über die Grenzen ihrer Heimat gedrungen. Eine große Neigung hat der gebildete Nnsse sür die Philosophische Weltbctrachtung, ohne jedoch in den Disziplinen dieser Wissenschaft prodnktiu zu werden. Die philosophischen Vorlesungen an den deutschen Universitäten bilden in der Negel den Sammelplatz der zahlreichen an denselben studierenden jungen Russen. Wie ein Freund des verstorbenen Generals Sk''ibelew berichtet, sah man gewöhnlich auf seinem Tische Kluno Fischers Geschichte der Philosophie. Ihre Vorliebe für die Dialektik läßt — 113 — alls den Russen vorzügliche Juristen hervorgehen, welche, unterstützt durch die angeborene Gabe der Beredsamkeit, beim öffentlichen Gerichtsverfahren durch ihren Scharssinn, ihre Gewandtheit und den Schwung der Rede ill Erstaunen setze»?. Offenbar aber nmschrciben die Naturwissenschaften das geistige Gebiet, für welches der Nüsse den stärksten Trieb und die höchste Begabung zeigt. Chemie, Physik, Botanik, Mineralogie haben rujsische Forscher anfznweiscn, die von der westeuropäischen wissenschaftlichen Welt mit Hochachtung genannt werden. Vor allem aber zieht sie eine hervorragende Begabnng zu den mathematischen Disziplinen, in denen sie so Treffliches geleistet haben, daß die Werke vou Osstrogr^dsli, Bnujakowski, Ssnwitsch u. a. ins Deutsche oder Französische übersetzt, eine europäische Verbreitung erlangt haben. Früher hatte man ein, vielleicht gerechtfertigtes, Mistraucn gegen studierte Nüssen solcher Dächer, welche unmittelbar in das Leben eingreifend, eine gewisse persönliche Zuverlässigkeit und strcugc Gcwissenhaftigkcit voraussetzen. So soll Peter der Große seinen Landcstindern die Leitung von Apotheken untersagt habeu, die sich noch heute größtenteils in den Händen voll Deutschen befinden. Anch nahm man in vergangenen Zeiten seine Zuflucht lieber zu deutschen, als zu russischen Ärzten. Heute ist das anders geworden. Das Ncich zählt eine enorme Schar aus dem großrnssischen Voltsstamme hervorgegangener tresslicher Ärzte, denen die russische Gesellschaft bis in ihre obersten Schichten mit dem unbedingtesten Vertrauen entgegenkommt und Namen wie Pirugckv werden in der ganzen gebildeten Welt mit Ehrfurcht genannt. Leider fehlt dein Großrussen, wenn auch nicht das Geschick, aber Lust und Neigung gerade zn dem Beruf, der ihm selbst der nützlichste, dem Landeswolstandc der förderlichste sein würde — zum Ackerbau. Ihm mangelt zur Laudwirtschaft die erforderliche Solidilät der ganzen Lebcnsrichtung, das Interesse am eignen Heim, am eignen Grund und Bodcu. Er hat zu viel Meyer, Nussland. i. " — N4 — Nomadenblut in den Adern, zuviel Lebhaftigkeit des Temperaments, zu wenig Ausdauer für die schwere und einförmige Arbeit. Dagegen ist er ein geborener Kaufmann, in wenigen Fällen der Handelsherr in großem Sinne, meist nur der Krämer, der im Kleinen operiert und kleine Vorteile im Auge hat. Aber diese Kleinkrämer bringen es nicht selten zu vielen Millionen und besitzen weite Strecken schönen Landes mit reichen Schlössern und Paläste in der Residenz. Und das sind nicht etwa Errungenschaften einer gewissen Solidität, sondern der Ertrag verschmitzter Spekulation, nicht selten offenbaren Betrugs. Das Markten und Schachern ist geradezu eine Leidenschaft des Großrusseu. Den doppelten, dreifachenPreis einer Waare von Kunden zu fordern ist Negcl; natürlich zahlt der Verständige schließlich doch nicht mehr, als die Sache wert ist. Der Fleischer, der Gemüsehändler, der Verkäufer von Wildbret, Kolonialwaren und dergl. auf dem St. Petersburger Markt bedient zuweilen ein angesehenes Haus iu seiner Nachbarschaft zwanzig Jahre hindnrch auf das beste und solideste, und im einuudzwanzigsten betrügt er unverfroren seine treue, reiche gute Kundschaft, wenn sich gerade eine günstige Gelegenheit darbietet. Bei Peter dein Großen sollen die holländischen Juden einst darum nachgesucht haben, in Nnss-land als Handeltreibende zugelassen zu werden. Der kluge Zar, der sein Volk gründlich kannte, antwortete — wie man erzählt — den Bittstellern: „Um eurer selbst willen kann ich das Gesuch nicht gewähren. Ihr würdet von meinen Nüssen so arg betrogen werden, daß ihr bald als Bettler das Land verlassen müßtet." Mit Begierde ergreift der Großrusse jede Gelegenheit, um dem Ackerban, der ihm zu langweilig, zu einförmig uud au-strengend ist, den Nucken zu kehren und irgend ein Gewerbe zu ergreifen, bei dem es lustiger zugeht, bei dem er mehr Abwechselung und weniger Arbeit findet, wenn auch Schmalhans Küchenmeister ist. Leicht erträgt er die größten Entbchrungeu, wenn er nur schwerer Arbeit entgehen kann. Da sieht man zu- - 115 - weilen in dcn Straßen der Residenzen wahre Hünengestalten in den besten Iünglingsjahrcn, die im Felde für vier zn arbeiten vermöchte»:, mit einem Körbchen, in dem sich etwas Band, leinene Knöpfe, Haken nnd Ösen befinden, anf dem Trottoir den Vorübergehenden ihre ärmliche Waare anpreisen nnd sich mit den wenigen Kopeken begnügen, die dieser Miniaturhandcl am Tage abwirst. Geschickt nnd anstellig wie er ist, ergreift der Großrusse mancherlei Gewerbe, nnr müssen sie seine physischen Kräfte nicht allzusehr nnd allzulange in Beschlag nehmen, anch keine Ansprüche anf große Zuverlässigkeit nnd Gewissenhaftigkeit macheu. Am Eismeer, am Schwarzen Meer oder an den grüßen Flüssen wird er ein trefflicher Fischer, in der Waldregion des Nordens ein geschickter Holzfäller, Tecrbreuner, Baftmattenflcchter, in dcn Urwäldern Sibiriens ein ansgczcichncter Jäger, in dcn Fabriken ein brauchbarer Arbeiter, in dcn großen Städten ein gnter Handlanger, Diener, Kellner. Auch Handwerke aller Art erlernt er bei seiner vorzüglichen Begabung mit Leichtigkeit. Freilich sind die Erwcrbszweigc, bei denen besonderer Fleiß, Ausdauer und Zuverlässigkeit gefordert wird. in den Residenzen noch hentc fast ausschließlich in den Händen der Dcntschen. Zn allem, was ihm einigen Gewinn zu versprechen scheint, zeigt sich der Großrussc willig und nntcrnchnmngslnstig, nnr darf es dabei an Nnhcpansen und heiteren Unterbrechungen nicht fehlen. Seine Arbeit erleichtert er stets durch frohen Gesang, sciu Mal würzt er mit lustigen Scherzen nnd Erzählungen. Ganz besonders in die Augen fallend bei dem Großrufscn ist seine Gc-schicklichkcit nnd Anstelligkeit, seine Befähigung, mit dcn schlechtesten und geringfügigsten Werkzeugen Unglaubliches herzustellen. Der Ausländer staunt über die einfachen Mittel, mit denen ein gebrochenes Nad repariert nud ohne künstliche Maschinen die größte Last gehoben wird. Mit dem gewöhnlichen Handbeil »nacht er in kürzester Frist die kompliziertesten und feinste,: Zimmer-, Wagner- und Schrcincrarbeiten, nnd im buchstäblichsten Sinne wahr ist das Sprüchwort, welches sagt: Der Nüsse reitet mit dem — !l6 — Veil in dm Wald und fährt aus demselben zurück (d. h. auf cincm in dcm Walde angefertigten Wagen). Es ist bewunderungswürdig, zuweilen haarsträubend, mit welchen einfachen Geräten und Vorrichtungen sich der russische Zimmcrmann, Maurer, Tnnchcr bei der Arbeit begnügt. Ein einziger langer Balken, der mit Querhölzern als Sprossen versehen ist, reicht aus, um das höchste Gebäude anzustreichen. Zuweilen sitzt der Künstler auch auf cincm Brett, das an schwankendem Tau befestigt über cine Nolle unter dem Dache gezogen ist und auf der Straße von einem einzigen Gehilfen gehalten und dirigiert wird. Daß er dabei in beständiger, drohender Lebensgefahr schwebt, kommt dem Arbeiter nicht in den Sinn. In wenigen Wochen nach seiner Einstellung im Regiment wird der rohe Rekrut, wie es gerade dem Kommandeur gefällt, Soldat, Schuster, Schneider oder Musi-kaut. Die hervorragende Gcschicklichkeit des Großrusseu zeigt sich namentlich in gewissen Hausindnstriezweigcu, in denen derselbe ganz Vorzügliches leistet. So werden im Gouvernement Archangel an der Meeresküste aus Walroßtnochcn Schindereien angefertigt, die sich den bcrühmtcu Geißliuger Arbeiten an die Seite stellen können. Im Spitzenklöppcln wird in verschiedenen Gegenden ansgczeichuctcs geleistet, die Leinwand des Gouvernements IaroMw ist ebenso berühmt wie die wollenen Tücher aus Orenburg, ein so feines Gewebe, daß man einen Shawl, in welchen sich eine Dame vollständig einhüllen kann, dnrch einen Fingerring zu ziehen vermag. Das vorzügliche russische Iuch-tcnlcdcr ist in der ganzen Welt bekannt und wird vielfach nachgeahmt, aber nicht erreicht. Die prächtigen Ledcrstickercien ans TurslM sind in ganz Westeuropa beliebt und die russische Schuh-machcrarbeit hat den wolvcrdientestcn Nuf. Nicht selten steift der Großrusse sich darauf, mit seiner eminenten Geschicklichkeit etwas zu erreichen, was nach hergebrachten Begriffen unmöglich erscheint, wenn es auch noch so wenig reellen Nutzen gewährt. Und in solchen Fällen fehlt es ihm nicht an Fleiß und Ausdauer. So sah ich auf russischen — 117 — Ausstellungen eine Uhr, die vortrefflich ging und deren Werk von einem einfachen Bauer aus Holz geschnitzt war, so daß dieselbe nicht den kleinsten Stift aus anderem Material auszuweisen hatte. (Hiue zweite Uhr war von dem gewöhnlichen Arbeiter Fig. 39. Grosu'üssw a»ö dem Omm^oemcnt N. cincr Glashütte mit Ausschluß jedes auderen Stosses nur aus Glas hergestellt. So sind geistige und körperliche Begabung des Großrussen eminent. Wird er dereinst die Kulturstufe erreichen, wo er In- GroßrMien aus dem Gouvernement Nishiu-N6wgorod, Ng. «. Fig. 41. Großrussinnen aus dem Gouvernement Mla. — 120 — tercsse, gewinnt für Erwerb und Besitz eines soliden Eigentums, wl) ihm die moralische Kraft nicht fehlt, ehrlich, mäßig, fleißig und beharrlich zu sein nnd zu bleiben — so steht ihn: eine große Znkunft bevor. Unsere Leser erhalten in den Bildern 39 bis 43 großrussische Typen aus verschiedenen Gegenden. Die Klciduug. be-soudcrs der Fraueu, weicht in wesentlichen Stücken von ciuau-der ab, ich werde dieselbe später eiugchcnd zu betrachten haben. Die junge Großrussiu aus dem Gouvernement Nlshui-Näwgo-rod (Fig. 39) repräsentiert den Stammcscharaktcr ill vollendeter Weise. Das schöne Oval des Gesichts, das fleischige Kinn, die dunkeln feurigen Angcn, ans denen Lust und Mutwille hervor-blitzen, der etwas starte sinnliche Mund. die aufgeworfenen Lippen — jeder Zug atmet heilere Sorglosigkeit und fröhlichen Lcbensgc-nnß. Nnf Fig. 40 haben wir eine ganze Familie derselben Gegend vor dem etwas ursprünglichen Gartenzaun beim einfachen Male versammelt. Haltung nnd Arrangement, die etwas steif ausgefallen sind, lassen sofort erkennen, daß die Zeichnung nach einer Originalphotographic hergestellt wnrdc, zu welcher die Laudleute in ungewohnter Weise posieren mußten. In Fig. 41 sind ältere Frauen aus der Gegend vou Tüla dargestellt in ihrer originellen, charakteristischen Kopfbedeckung. Mit ihnen kontrastieren erheblich die Bancrn aus deni Gouvernement OnU (Fig. 42). Die beiden Alten in dunklen Kaftans sitzen auf ihrem einfachen Lastschlittcn, umgeben von dem üblichen Pferdegeschirr dem Krummholz, auf welches die Frau sich stützt, dem Kmnmet links und dem übrigen Zubehör. Die Frauen aus Archlingelsk (Fig. ^3) sind würdige Vertreterinnen dieses überaus starken nnd schönen Menschenschlags, bei dem, währcud die Mäuncr Wochen, Monate hindurch auf Fischfang oder tzolzarbcit abwesend sind, sämtliche Haus-, Stall- nnd Feldarbeit von den Frauen verrichtet wird, deren Wohnungen sich durch Reinlich-lcit und schmuckes Äußere ganz besonders auszcichucn. d. Die Klcinrussen. Sie sind der Mehrzahl nach hoch Fig. 42. Großrilssen aus dein Gouvernement Oröl, — 122 ^ gewachsen und schlank, ihre Körperbildung fein nnd zierlich; dickleibige Individuen gehören zu den Seltenheiten. Die Physiogno-miecn sind ausdrucksvoll und ansprechend, die bräunliche Gesichtsfarbe erinnert an den wint, dn«m>6 der Orientalen. Ihr Haar Fig. 43. GrosnuMche Frauen aus Archängeljk. ist gewöhnlich dunkelblond, häufig schwarz, selten hell gefärbt. Die Majorität hat graue, meist dunkelgraue Angcu, braune nnd schwarze Augen sind häufig, blaue kommen nur in geringer Anzahl vor. Die Klcinrussen sind ihrer äußeren Erscheinung nach - 123 — hübsche Leute; das starke Geschlecht hat vorwiegend feste ernste Züge; die Männer erscheinen älter als ihre Jahre, ihr Gesichtsausdruck ist fast rauh zu nennen. Die Frauen sind in der Regel bedeutend kleiner vou Wuchs, als das starke Geschlecht und ucigen mehr zur Fülle. Im ganzen sind sie wolgestaltct und graziös, das Ebenmaß, die Schmicgsamkcit der Gestalt ist uach landesüblichen Begriffen Grundbedingung weiblicher Schönheit; braune Nugen und schwarze Augenbrauen dürfen dabei nicht fehlen. Der Gcsichtsausdruck der Frauen ist meist weich nnd freundlich mit einem melancholischen Nnfluge. Iu Fig. 44 und 45 sind zwei Charakterbilder dieses anmutigen Geschlechts aus verschiedenen Gegenden Kleiurnsslands dargestellt; die erstere umgeben von Skizzen der Feld- nnd Hausarbeit. Der klein-russische Typus ist nicht ohne asiatische Beimischung. Es ist das eine Folge der Kreuzung mit orientalischen Elementen, ähnlich wie im Grußrnssen sich die Vermischung mit finischen nnd germanischen darstellt, nnd so der scharfe Unterschied zwischen beiden seine Erklärung findet. Was die Körperpflege betrifft, so giebt es zwar in Klein-rnsslaud keine Badstubcn, nnd nur die Jugend badet in den Flüssen, dennoch ist der Sinn für Reinlichkeit und ein gewisses ästhetisches Behagen bei den Klcinrnsscn stärker ausgebildet, als bei ihren nördlichen Stammesgenofsen. Die Wäsche wird wöchentlich gewechselt und überall zeigt sich das Bestreben, die Wohnuug sauber und nett zu halten. Der Kleinrussc spricht gewöhnlich langsam und macht nicht viel Worte. Die Frauen tcilcu diese Eigenschaft nicht, sie sind gesprächig nnd reden schnell, und doch durchtliugt ihre Ncde häufig cm melancholischer Ton, wie überhaupt eine gewisse Schwermut über dem ganzen Volksstamme lagert. In seinen Bewegungen ist der Kleinrussc laugsam nnd ziemlich apathisch; auch er arbeitet nicht gern, aber er teilt mit dem Großrussen nicht dessen Lebensfreudigkeit und Unternehmungs- Fig. 44. Kleinrussin, ^ 125 — lust. Die Franen dagegen sind rege, cinsig und an Arbeit gewöhnt. Fill. 15. Kleinnilsi». Der Verstand des Kleinrnsscn faßt langsam, eignet sich aber das cmmal Anf^clioimncnc anf die Daucr an. Er besitzt einen hellen Verstand nnd die Fähigkeit zu spekulativem Deuten; das bekunden namentlich die zahlreichen, gern gebrauchten Sprnch- — 126 — Wörter. Diese Hinneigung zur Spekulation, die durch den häufigen einsamen Aufenthalt in der weiten, uferlosen Ebene genährt wird, hat auch auf die Phantasie des Klemrussen befruchtend gewirkt und in ihm eine auffallende Vorliebe für Allegorie und Symbolik, für Bilder und Vergleiche, entwickelt, von welcher seine Lieder das lebendigste Zengnis ablegen. Ihm erscheint die Natur geistig belebt und stellt sich dar als symbolische Verkörperung der verschiedenartigsten Erscheinungen des menschlichen Lebens. Daraus ist denn eine ganze Welt von Geistern entstanden, nnter denen es höchst poetisch gedachte giebt. Eigentümlich und bemerkenswert ist die Empfindsamkeit des Klein-russcn, welche sogar zum Gegenstände des Spottes geworden. Leicht, besonders leicht bei den Francn, fließen ihre Thränen. Eine tranrige Geschichte, ein klagendes Lied weckt bei ihnen tiefe Senfzcr und Zähren des Mitgefühls. Klima und Natnr haben sie besonders zum Gefühlsleben disponiert, das sich in allen Lcbcnscrschcinnngen äußert; vornehmlich in der Liebe Lust und Leid, in der Anhänglichkeit der Gatten, in der Zärtlichkeit für die Kinder. Tiefes Gefühl und lebhafte Phantasie haben das weltberühmte Volkslied der Klcinrusscn geschaffen, ansprechend nnd reizvoll durch Inhalt lind Melodie. Der Schönheitssinn derKleinrusscn nmgicbt ihre Ansiedelungen mit Gärten, ihre Häuser mit Bänmeu. Die Frnchtplätzc sind mit Weiden umpflanzt, in den Gemüsegärten werden auch Blumen gezogen. Die Mädchen schmücken im Sommer das Haar mit Blüten; trockene, auch künstliche Blumen ans farbigem Papier zieren die Heiligenbilder. Der Klciurusse ist sehr gottesfürchtig, aber sein reiches Gefühlsleben macht ihn gleichgültig gegen die Spitzfindigkeiten der Dogmatik. Jeder Hader in Glanbenssachcn ist ihm fremd und der Rassk6l, das Schisma der Großrnssen, fand bei ihm keine Stätte. Wo das Scktenwesen bei den Kleinrusscn — immer nur in geringem Grade — Einlaß fand, geschah es vor- — 127 — zngswcise in einer Form, die dem protestantischen Rationalismus ähnelt. Die Ncignng znr Spetnlation und Empfindsanikeit hat in: Kleinrussen einen Skepticismus erzeugt, der ihn unentschlossen macht und seine Energie lahmt; sie bringt in ihm eine trübe, sentimentale Stimmung hervor, infolge deren er häufig zum Becher greift, nm sein wirkliches oder eingebildetes Leid zu ertränken. Alles das zusammengenommen crgicbt eine Apathie gegenüber den Erscheinungen des Lebens, welche auch den Gebildeten unter den Bewohnern Klcinrnsslands nicht fremd ist. Fallt es dem Kleinrussen schwer, einen Entschluß zu fasseu so ist cr wieder nicht leicht von einem beschlossenen Vorhaben abznbringen. und das hat ihm den Nnf des Eigeusiuns verschafft. Nicht leicht stimmt er einer fremden Meinung bei und hält an seinem Sprüchwort fest: „Besser ein eigener Lappen, als ein fremdes Haus." Dank diesem Starrsinn hat er nnter fremder Unterdrückung seine Religion, seine Nationalität, seine Sprache bewahrt. Aber diese Eigentümlichkeit erzeugt anch im öffentlichen Leben Zwiespalt, Streit, Mangel an Einheit unter größeren Gemeinschaften. Seine Prozcßfucht wird dem Kleinrusseu mit Necht vorgehalten. Den Wert der Persönlichkeit, der Individualität schätzt der Kleinrusse sehr hoch; daher seine Liebe zur Freiheit, die im Kosakcntnm ihren Ausdrnck gcfnnden, daher aber anch seine Ab-ncignng gegen die Association. Noch hellte krankt die klcinrnssische Intelligenz an: Geist des Individualismus, am Mangel des Interesses für die Angelegenheiten des Gemeinwesens, daher stehen hier die landschaftlichen Institutionen den großrnssischcn nach, dahcr die historische Neignng der kleinrnssifchen Adligen zum Polonismus, dem klassischen Boden der individnellcn Freiheit und Nngebundenhcit. Anch im hcntigcn Volksleben beherrscht die Idee der persönlichen Selbständigkeit alle Erscheinungen, Die Zerstückelung des Familiengutes, das Streben des Sohnes, nach seiner Vcrhei- — 128 — ratung sich vom Vatcr zu treuneu, dic Unlust zu wirtschaftlicher Association schädigen den ökonomischen Fortschritt und zersplittern die materiellen Kräfte. Daher sind die Klciurussen ökonoiuisch so wcuig cutwickelt, so abhäugig von dcn Juden. Zeigen die 5Aeinrussen auch ein gewisses Mistrauen dem „Pan" (Herrn) gegenüber, so sind sie doch untereinander trcn-hcrzig, aufrichtig nnd gutmütig. Des Kleiurussen Herz hängt au der Heimat, am Geburtsort, am Dorf, wo seine Verwandten und Freunde leben, wo seine Liebste weilt. Wird er von ihm getrennt, so leidet er au Heimweh. Daher wird es ihm schwer, sich auch nnr anf geringe Weite vom väterlichen Wohnsitz zu entfcrueu. Die heimatliche Natur bietet ihm genug, um zu Hause satt zu werden, wozu soll er in fremden Gegenden seinen Unterhalt suchen? Der Ncinrussc ist vorzugsweise Ackerbauer nnd Hirt. Er hat wenig Anlage nnd Lust zn mechanischen Arbeiten, noch welliger aber zu Handel uud Gewerbe. Der Sinn für kaufmännische Unternehmnngen geht ihm ganz uud gar ab. Ihm fehlen dazn die notwendigsten Eigenschaften: Naschheit, Beweglichkeit, schnelles Auffassen und Benutzen der Umstände, vor allem die Gabe der Nede. Bringt der Klciurussc seiuc Erzeugnisse auf dcn Jahrmarkt, so rnft er die Käufer uicht au, und wird er gefragt, giebt er nnr widerwillig Auskuuft. Die Frauen sind darin gewandter und lebhafter. Die tlcinrussischcn Händlerinnen sind flink, klug, berechnend und unternehmend. Das Haften an der Scholle uud die ausschließliche Beschäftigung mit dem Ackerban bedingen eine Einfachhcit dcr Gewohnheiten, eine Einschränkung dcr Bedürfnisse und eine Genügsamkeit, wie sie in dcr sittlichen nnd ökonomischcn Lcbensordnung des Klciurussen ihren vollen Ausdruck fiudeu. Jeder Unternehmungsgeist geht ihm ab. Er führt seine Wirtschaft, wie cs seine Vor-cltern vor Jahrhunderten gethan. Von den Gewerben beschäftigt cr sich nur mit denen, welche für das bäuerliche Leben uuum- — 1^> — gänglich sind, und auch bci diesen sind seinc Erzeugnisse ursprünglich und roh. Die ausgebildete persönliche Unabhängigkeit des Mcinrussen erzeugt in der Familie das Streben der einzelnen Glieder nach ökonomischer Selbständigkeit, welches nach erreichter Volljährigkeit die verwandtschaftlichen Bande zu lockern Pflegt. Gründet der Sohn seinen eigenen Herd, so knüpft er weit öfter ökonomische Beziehungen mit andern an, als mit seinen Verwandten. Daralls entspringt das stark entwickelte Nachbarschafts lind Freundschaftsverhältnis der Memrussen, welches oft stärker ist als die Bande der Blutsverwandtschaft. Das Familienleben ist durchweg ein sittliches. Selten oder nie wird die Tochter zur Ehe mit einem ungeliebten Manne gezwungen- selten oder nie sind die Männer in der Ehe treulos oder finden sich Mädchen, die vor derselben ihre Inngfrän lichtcit eingebüßt. Der hohe Begriff vom Werte der Persönlichkeit hat der tleiln'ussischen Fran cine bessere, gcachtcterc Stellung zugewiesen, als der großrussischen. Sie ist dem Gatten gleichberechtigte Gefährtin ulld Freundin und schaltet im Hause uach eigenem Ermessen, während die großrnssischc Fran nicht viel mehr ist als die Dienerin des Mannes. Ihre Stellnng legt freilich der kleinrussischen Fran eine Fülle von Mühen nnd Pflichten auf — sie arbeitet doppelt soviel als der Mann — aber sie klagt nicht darüber, sie ist die Herrin im Hanse und erfährt von niemandem -^ am welligsten von einer Schwiegermutter — Kränkungen, Tadel oder Vorwürfe. Der Kleinrnssc ist im allgemeinen stolz und egoistisch. Kränkungen erträgt er nicht leicht und ist rachsüchtig, wenn ihm eine schwere Beleidigung widerfahren. Die schwerste für ihn ist die Kränkung einer geliebten Person, vor allen seines Weibes. Diesen schönen Zng von Ritterlichkeit teilen alle. Der Kleinrussc ist zartsinnig und verabscheut alles Cynische. Das tritt besonders ill den Schmähworten hervor. Die klein- M^,cl. «»sslaiid, I, 9 - 130 — russischen sind weit entfernt von der erschreckenden Roheit der großrussischen. Wcnn der Klcinrussc schmäht, gebraucht er weder Schimpfwörter, noch ergeht er sich, Nnc der Grußrusse, in Ob-seönitäten, er wünscht nur, daß seinem Gegner oder diesem nahestehenden Personen (namentlich dem Vater) irgend ein großes Unglück widerfahre, Im geselligen Verkehr sind die Kleinrussen äußerst höflich; das „Sie" ist bei ihnen ganz gebräuchlich. Einen verheirateten Mann nennen sie „Ontclchcn", eine verheiratete Fran „Tantchen", alte Leute „Großvater" und „Großmutter". Der Kleinrusse ist gefällig, plaudert gern und besitzt einen bedeutenden Grad von Humor. Er liebt Gesang nnd Musik; die Schalmei wird vou vielen in ihren Mußestunden gespielt. Fast in jeden: Dorfe giebt es mehrere Musitanten von Profession; Geige und Schellentrommel sind die verbreitetsten Instrumente, doch begegnet mau anch nicht selten dem Hackebrctt. In Klem-rnssland giebt es noch wandernde Rhapsoden, Barden oder Skalden, welche die Thaten der Altvordern, Vogo/ui Chmelnizkis und anderer Helden singen; meist blinde Bettler, welche, von Knaben geführt, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt wandern nnd ein zahlreiches Auditorium zu gesegneter Ernte nm sich versammeln. Sie begleiten ihre Gesänge mit der Leier (Lira), der Bandüra, einem Saiteninstrument mit zwanzig Saiten oder der K6bsa, welche nur acht Saiten hat. Von ihren Instrumenten führen sie die Namen Lirnik, KobsiU' nnd Vandurist. Unser Bild (Fig. 46) stellt einen bliuden Llrnik dar, begleitet von einem gleichfalls blinden Bandunsten, mit ihren beiden juugcu Führern. Übrigens sind die historischen Heldenlieder auch in Klcinrussland im Aussterben begriffen. Neich begabt für Musik und Poesie, haben die Klcinrusscn kein Geschick für mechanische Arbeiten, noch weniger für plastische Knnst. Früher soll es Maler unter ihnen gegeben, die Malerei in Ansehen gestanden haben — diese Zeiten gehören jedenfalls längst der Vergangenheit an. Fig. 46. «n',nrnWch^ MnM„!!i^l,, 9. — 132 — Mildthätigkeit, wie überhaupt Mitleid mit den: Unglück, ist bei dem Kleinrussen wic bei dem Großrussen stark entwickelt. „Witwen und Waisen mit der Tat zn helfen — sagt der Klcinrussc — ist die Pflicht eines guten Menschen." Die Kosaken. Kleinrussland, insbesondere der Landstrich, welcher Ukraine genannt wird, ist einer der Hauptsitzc der Kosaken. Die Bezeichnungen Kleinrusse, Kosak, Ukrainer werden häufig durcheinander geworfen. Ich halte es deshalb für augezeigt, der Charakteristik des Kleinrussen die Erörterung der Frage folgen zu lassen, was man denn eigentlich in Nussland unter Kosaken verstehe — eine Erörternng, die um so notwendiger erscheint, als im Auslande selten ein deutlicher Begriff mit dem Namen Kosak verbunden wird. Ob derselbe die eigentümliche Abzweigung eiues russischen Volksstammcs, oder eine besondere unter eigenartigen Bedingungen lebende Gemeinschaft, oder ob er nur eine charakteristische landesübliche Truppengattung bedentct, darüber sind sich wol wenige Nichtrnssen klar geworden. Das ist aber um so natürlicher, als alle diese Bezeichnungen dem Kosak von Rechtswegen beigelegt werden können. Ich habe bereits früher (S. 17) den Zeitpunkt angegeben, in welchem die Kosaken eine historische Nolle zu spieleu beginnen, uud bei jener Gelegenheit die Entstehung dieses Zweiges der russischen Volksfamilie berührt. Das Wort (rnssisch:'Kas-U) scheint tatarischen Ursprungs und gleichbedeutend oder verwandt mit „Tscherkessc" zu sein. Ob die Kosaken sich ursprünglich um den Krystallisationstcrn eines slawischen oder mongolischen Stammes angesetzt und geschart haben, ist nicht leicht zu entscheiden. Jedenfalls erhielten die Flüchtlinge aus allen möglichen rnssifchen Gebietsteilen und slawischen Stämmen sehr bald das Übergewicht und haben sich dann als ein slawisches Misch-lingsvolt in dem Grenzgebiet der Steppe, zwischen Slawen und Tataren, angesiedelt, festgesetzt und dnrch zahlreichen Zuzug vermehrt. Sie bestanden ursprünglich aus solchen Elementen, welche der Bedrückung der Beamten, der Besteuerung, irgend einer Art Von Abhängigkeit, der Leibeigenschaft oder auch wolverdienten Strafen aus dem Wege gingen, teilweife auch aus solchen, welche der Drang nach einem freien ungebundenen Leben und Abenteuerlust in die Ferne, in das von allerlei Gefahren bedrohte Grcnzcrgebiet zog. Sie mögen hin und wieder versprengte mongolische Stammesangchörige aufgenommen haben, jedenfalls versorgten sich die unbeweibt Entflohenen vorzugsweise nach Art der alten Römer unter Romulus, durch den Raub tatarischer Frauen mit den unumgäuglichcn Lebensgefährtinnen. So erhielt das Blut dieser slawischen Mischlinge einen bedeutsamen mongolischen Beigeschmack und es entstand ein eigenartiger Volks-tyftus, welcher seinen Ursprung aus verschiedenen slawischen und orientalischen Elementen nicht verleugnen kann. Der treffliche Kopf unserer Fig. 47 ist ein sprechendes Beispiel. Anf dem streitigen, hcrrenloscu Landstrich zwischen den beiden feindlichen Staatsgebieten und Raffen bildeten diese freien Kosaken unabhängige militärische Gemeinschaften. Als notwendiges Lebenselement suchten sie vor allem die Wafscrläufe auf, und ließen sich an den nach Suden fließenden Strömen, dem Dnjcpr, dem Don, der Wolga und dein UrÄ (IM) nieder. Vor der Welt waren sie Feinde des Islam, Vertheidiger der orthodoxen Kirche und getreue Unterthanen des russischen Zaren. In Wirklichkeit machten sie sich wenig ans den kirchlichen Behörden und befolgten die Weifungen ans Moskau in aller Ehrerbietung nur insoweit sie mit ihrem Nutzen und ihrer Bequemlichkeit vereinbar wareu. Dabei kouute es deuu vorkommen, daß sie bei räuberischen Einfällen auf türkisches Gebiet vom eigenen Souveraiu desavouirt oder bei Plünderungen russischer Karavancn von den Truppen des Zaren aufgesucht lind gezüchtigt wurden. Die letztgenannten Fälle waren jedoch selten. Sie erhielten aus Moskau regelmäßige Sendungen von Vorräten und Munition, die sie nicht leichtsinnig anfs Spiel setzen durften. In demselben Verhältnis wie die Kofaken des Don, der Wolga und des Imk zum russischen Zaren, standen die Kosaken des Dnjepr bis in die Mitte des 17, Jahrhunderts zu den Konigen uou Polen. Um diese Zeit machten sie sich vuu der polnischen Oberhoheit srei und Flss. 47. KosnI. luurdcu gleichfalls Unterthanen des Beherrschers von Moskau. So lebten die Kosaken auf beständigem Kriegsfuß mit den - 135 — Tataren, stahlen ihre Herden, plünderten ihre Dürfer, raubten ihre Frauen, durchstreiften auf kleinen Ruderflotillcn das schwarze Meer und zerstörten bei Gelegenheit ausehnlichc Küsteustädte. War keine tatarische Beute zu erlangen, mnßtm die slawischen Landslentc herhalten, nnd wenn sie deshalb von den christlichen Monarchen hart verfolgt wurden, nahmen sie anch keinen Anstand, sich unter den Schutz des türkischen Sultans zu begeben. Trotz dieses etwas fragwürdigen staatsbürgerlichen Verhaltens haben die kriegerischen Gemeinschaften der Kosaken sowol Nussland wie Polen unschätzbare Dienste geleistet. Die südlichen Grenzen konnten gegen die räuberischen Nomadenhorden nicht leicht besser geschlitzt werden, als dnrch Vcrbrüderuugeu solcher waghalsiger Abenteurer nnd Freischärler, die ein ähnliches Leben führten wie jene, nnd die Tataren mit ihren eigenen Waffen bekämpften. Sclbstcrhaltung und Veutegicr schärftcu ihre Wachsamkeit, Tag uud Nacht wareu sie auf dem Posten nnd Feuer-zeichcu verkündeten das Nahen des Feindes. Sofort stand der Bezirk unter Waffen. War die Zahl der Geguer nicht übermäßig groß, wurden sie angegriffen und zurückgetrieben. Erwies sich die Macht der Feinde zu stark für die in Bereitschaft stehende Schar, so ließ man sie unbehindert passieren nnd eine Abteilung Kosaken überfiel die tatarischen Dörfer, um sie während der Abwesenheit der Krieger zu plündern und zu zerstöret!. Iu-zwischcn sammelte man ein zahlreicheres Heer, lanerte dem rückkehrenden, mit Bcnte beladencn Feinde auf und jagte ihm seinen Raub wieder ab. Die ältesten und bedeutendsten der unabhängigen Kosaken-gemcinschnftcn sind die Sapowgcr am Dnjepr und die Kosaken am Don. Am Dnjepr hanstcn die Kosaken ursprünglich nur in der Gegend der Stromschuellcn dieses Flusses. Das von ihnen eingenommene Gebiet dehnte sich bald nach Westen und Osten aus und erstreckte sich nördlich bis in die Gegend von Kijew. Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts vertraute König Stephan — 13« — Bäthori ihnen den Schutz der ganzen südöstlichen Grenze Polens an, welche beiläufig das ehemalige Großfürstentum Kijew umschloß, nnd dies Gebiet erhielt nun den Namen Ukraine, d. i. Grcnzland, auch wnrde es Kleinrussland genannt im Gegensatz zu dem Großfürsten-tmn Moskau als Großrusslaud. Die Kosakenscharcn, welche die Hut der polnischen Grenze übernahmen, erhielten nun alles Land nördlich von den Stromschuellcn des Dnjepr und wurden kleinrussische oder ukrainische Kosaken genannt, diejenigen ihrer Genossen aber, welche ihre früheren Wohnsitze an den Wasser fällen beibehielten, nannte man von nun an Sapornger (russisch Sapor6shzi, d. h. jenseits der Stromschnellen wohnende, von vor6g, die Schwelle, Felsenbant, der Wasserfall). Die Sapor^ger werden schon im Anfang des 14. Jahrhunderts urkundlich erwähnt. Man hat in ihrer Organisation Ähnlichkeit mit dein deutschen Ritterorden finden wollen, doch ist diese nicht weit her. Sie nannten sich freilich selbst LHzari, eine Korruption des russischen rhzari (Ritter), und spielten sich als Verteidiger der orthodoxen Kirche gegenüber dem Islam und Katholizismus auf, doch staud die Religion bei ihnen keineswegs in erster Linie und ihr Hauptziel war Raub und Beute. Ihre Verfassung war rein demokratisch mit einem Anflug von .Kommunismus. Mit Jagd, Fischfang und Plünderung erwarben sie ihren Lebensunterhalt. Ihr Wohnsitz war ein befestigtes Lager (Ss^tsch) am Dnjepr oder auf einer Insel desselben unterhalb der Stelle, wo das Flußbett von breiten Felscnbänkeu durchsetzt wird. Alle Sapur6ger waren unter einander gleich. Als eine Gemeinschaft von Flüchtlingen und Abenteurern, waren sie ursprünglich unbeweibt, und damit der Hausstand, die Familie, sie von der Erfülluug der übernommenen Pflichten nicht abhalte, wurde Ehelosigkeit bei ihnen zum Gesetz. Als sich später bei fortdauernder Vermehrung ihrer Zahl und entsprechender Ausdehnung des Gebiets die Notwendigkeit des Ackerbaues und der Gründung von Familien herausstellte, wurde ihre Organisation insoweit geändert, daß die Unverheirateten von nun an die ^ 137 — herrschende Kaste ausmachton nnd aus ihrer Mitte die Befehlshaber gewählt wurden, welche die Obrigkeit (Kosch) bildeten. Die Verheiratetet, bewohnteu Dörfer (Ssöla). Das Haupt der Regierung, der Hetman (Ataimm), und seine Unterbefehlshaber wurden jährlich neu gewählt. Dann legten die Würdenträger in der allgemeinen Versammlung die Abzeichen ihrer Ämter nieder, dankten den Brüdern für die genossene Ehre und waren fortan gemeine Kosaken wie früher. Su tonnte sich für jeden Sapor^ger das Sprüchwort bewähren: „Halt aus, Kosak, du wirst noch Atamün!" Als die polnische Ncgieruug am Ende des 16. Jahrhunderts ihre Freiheit zu gefährden bcganu, widerstanden sie mit Waffengewalt nnd traten 1654 im Verein mit den ukraiuischeu Kosaken unter russische Hoheit. Nach dem Anf-stande Maschas wurde ihre Ss^tsch von Peter dem Großen zerstört, die Saporoger flohen zur Münduug des Dnjepr nnd in die Krym, wo sie sich unter den Schntz des Chans der Ta^ taren stellten. Aber der alte, eingewurzelte Haß gegen diese gab dem neuen Verhältnis nur kurze Dauer. Sie erklärten der Kaiserin Anna ihre Unterwerfung, welche bereitwillig angenommen wnrde. Doch waren die goldeneu Zeiten für sie vorüber. Nanb und Plünderung anf russischen! Boden wurde streng geahndet nnd gegen die machtlosen Tataren und tiefgesunkenen Polen bedürfte man ihres Armes nicht mehr. Katharina II. ließ die Ss«tsch von russischen Trnppcu besetzen nnd machte der kosakischen Selbstverwaltung ein Ende. Nnn flohen die Saftorugcr nach der Krym, nach der Türkei; ihr Land wurde konfisziert und verschenkt. Von ihren späteren Schicksalen weiter unteu. Die Kosaken am Don, welche bereits im 15. Jahrhundert erwähnt werden, hatten eine Organisation, die sich wesentlich von der Saporügischen unterschied. Sie bewohnten keine Sfttsch, lebtet, verheiratet in Dörfern und versammelten sich je nach Bedürfnis. Im Laufe der Zeit nahmen sie mancherlei tatarische Gebräuche an, sogar die prächtigere morgenländischc Kleidung. Vorzugsweise aus Unzufriedenen bestehend, die von allen Seiten — 138 — der großrussischen Landstriche herbeiströmten, erhielten sie auch Zuzug aus Kleinrussland, von den Sapor6gcrn des Dnjepr, selbst Flüchtlinge aus Polen, Griechenland und der Türkei gesellten sich zu ihnen, doch war jeder Flüchtling genötigt, den russischen Glanben und die russische Ssirache anzunehmen. Bei der Eroberung Astrachans erscheinen sie zuerst als die Bundesgenossen Nusslauds, dessen Oberherrschaft sie bald darauf anerkannten. Sie behielten eine gewisse Selbständigkeit, entrichteten aber dem Zaren einen jährlichen Tribnt. Auch sie lebten hauptsächlich von Raub und Plünderung zu Lande uud zu Wasser, wobei gelegentlich selbst russische Städte und Handclskaravaneu gebrandschatzt wurden. Waren sie daheim und keine Fehde, kein Veutezng in Sicht, so beschäftigten sie sich mit Fischfang und Jagd. Der Ackerban war in ihren Augen ein schimpfliches Gewerbe. In der zweiten Hälfte des !6. Jahrhunderts vereinigten sich die ver schicdenen getrennten Genossenschaften der donischen Kosaken zu einem allgemeinen Verbände, der den Schntz der Christenheit gegen Türken und Tataren anf sein Banner schrieb. Die Organisation dieser Körperschaft und ihre Satzungen entspracheu im ganzen den Einrichtungen der Sapor<^gcr, mit denen sie eine fortdauernde Verbindung unterhielten. Als Centralftunkt der donischen Kosatenschaft erbauten sie anf einer der Inseln des untern Don das befestigte Städtchen Tschcrknst, nicht weiter als einige fnnfzig Kilometer von der türtischen Festung As<"'w entfernt, südlich vom heutigen Nuwutschcrk-Isk. Diesen Hauptort umgaben, an den Ufern des Don und sciucn Nebenflüssen, eine größere Anzahl Ansiedelungen (Stanlzen), deren es bereits im 17. Jahrhundert mehr als fnnfzig gab. Über die älteste Verfassnng der donischcn Kosaken ist nnr wenig Zuverlässiges bekannt. Hatten sie in Tschcrkäsk anch einen allgemeinen Vcreinigungspuntt, so ist es doch sehr glaublich, daß die einzelnen Stanizen an einer gewissen Unabhängigkeit festhielten und, wo sich Gelegenheit zn Fehde- lind Plünderungs-zügcn darbot, für sich oder mehrere im Verein, selbständig zum — 139 — Kampfe auszogen. Dieser Zustand erfuhr im 17. Jahrhundert insoweit eine Änderung, als von jetzt an eine Centralverwaltuug in Tschert-Ist von allen Stanlzeu ancrkcnmt uud ihren Befehlen willig Gehorsam geleistet wurde. Doch behielten die einzelnen Ansiedelungen immer noch die Selbstverwaltung ihrer inneren Angelegenheiten nntcr einem besonderen Oberhaupt. In allen Kriegsaffaircn, über das ub und wie eines zu unternehmenden Zuges, über die Verteilung der Beute nach demselben n. s. w. beschloß die allgemeine Versammlung der waffenfähigen Mannschaft unter dem Vorsitze des Kricgshctman (Woistowoi Atanuin), während für den Kricgszng selbst ein besonderer Feld-hnufttmann (Poch6dni Atam-ut) gewählt wnrde. Wie bei allen kriegcrifchen Naturvölteru offetwarten sich auch in dem sittlichen Lebcn uud den Einrichtungen der Donischcn Kosaken die sonderbarsten Gegensätze. Raub und Plünderung in Feindes Land war selbstverständlich; daheim wurde Diebstahl wie Mord, Feigheit und Verrat mit dem Tode bestraft. Der Schuldige wurde in einen Sack gcbuudcn und ertränkt. Die Regierung der Zaren, welche die trefflichen Dienste der Kosaken gegen Türken uud Tataren wol zu schätzen wußte, verlieh ihnen bedeutende Privilegien, aber „die sie rief, die Geister", welche ihr in Kriegsläuften sehr bequem und nützlich wareu, wurde sie mm auch in Fricdcnszeiten nicht wieder los. Lebten die Zaren in Frieden mit Türken und Tataren, so hörten darum die Kosaken nicht auf, den Kriegspfad zu beschreiten, und raubten und plauderten nach Herzenslust. Dabei setzten sie sich über eine kleinliche Unterscheidung der Nationalitäten gleichmütig hinweg und türkische, tatarische, persische und russische Kaufleute wurden mit einer edlen Unparteilichkeit beraubt uud geplündert. Solchen Übelständen gegenüber sah sich denn die russische Regierung genötigt, mit eiserner Strenge einzuschreiten. Ihre Strafen und Einschränkungen stießen bei den Kosaken auf offenen Widerstand uud Rebellion, die dann nut Waffengewalt unter^ — 140 — drückt werde», mußte. Bei dem Aufruhr unter Peter dem Großen kamen teils durch das Schwert, teils durch das Veil gegen 7000 Kosaken ums Leben. Unter Katharina II. gab der Pugatsch6w'sche Aufstand, obwol sich die Dunischen Kosaken nur in geringem Grade an demselben beteiligt hatten, einen willkommenen Vorwand, um die Lebensadern dieses kosakischen Staates im Staate zu unterbinden und den schädlichen unter ihren alten Gerechtsamen und Privilegien ein Ende zu machen. Die allgemeinen Versammlungen wurden aufgehoben und an ihrer Stelle eine Regierungsbehörde eingesetzt, welche als Gerichtshof, als oberste Verwaltungsinstanz und als Finanzkammcr fnngierte. Aus den Anführern, Hauptlcuten nnd Vorstehern verschiedenen Ranges schuf man einen Adel, ans dem von nnn an die Offiziers- und Bcamtenstellcn besetzt wurden. Hierzn kam nnter Alexander I. die Organisation des kosakischen Bauernstandes nach dem Muster des großrussischen und unter Nikolai l. ^184 l) die Verteilung des Landes, welches früher Gemeingut gewesen war. Jetzt ist der jedesmalige Großfürst Thronfolger Ataimin aller Kosaken und der Hctman Inouni t^n bis 1000 Dessjatincn zugeteilt. Dieser Landbesitz, der nntcr Kaiser Nitollu zu freier Nntznießung verliehen wurde, ist seit 1870 erbliches Eigentnm der Inhaber geworden. Die Kosaken des oberen und des unteren Don unterscheiden sich sowol in ihrem Äußeren, wie durch Charakter, Einrichtungen und Sitten. Der Kosak des oberen Don ist häusig blauäugig und blond, schwerfällig aber kräftig, bequem nnd allem Neuen — 141 — abgeneigt. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Ackerban und Viehzucht, ist wenig unternehmend, von einfachen Patriarchalischen Sitten und ausnehmend gastfreundlich. Eiuc Trennung der Fanlilienglieder findet selten statt. Die verheirateten Söhne bleiben in der Ncgel im Elternhanse und arbeiten iu Gemeinschaft mit dem Vater, dem Familicuhaupt, dem alle mit Ehrerbietung begegnen. Der Kosak des unteren Don hat in Blut nnd Charakter eine beträchtlichere orientalische Beimischung. Er ist brauet, dunkeläugig, schlank und zart von Wuchs. Gewaudter als seil, Nachbar vom obcreu Stromlauf, ist er weniger einfach nnd gastfreundlich. Er ist leichtlebig, ehrgeizig uud prahlerisch und neigt zu Putzsucht und Verschwendung. Der Charakter des Kosaken alter Zeit, das Kecke, Unternehmende, Abenteuernde tritt bei ihm lebhafter hervor, als beim Bewohner des oberen Don. Der Fischfang im Fluß nud auf dem As<>w'schcu Meere, Pferde zncht, Salzgewinnung, iu neuerer Zeit auch Wein nud Veraban bilden ein weites Feld mit reichen Einnahmequellen für die Unternehmungslust des Kosaken vom unteren Dun. Die Donischen Kosaken — uud nach ihrem Beispiel alle übrigen, von denen noch die Rede sein wird — bilden jetzt eine Art beritteucr Landwehr. Für die großen Strecken fruchtbaren Landes in ihren, Besitz zahlen sie keinerlei direkte Abgaben. Als Gegenleistung für diese Vorrechte sind sie zum Periodischen Kriegsdienst verpflichtet. Ist die Zeit ihrer Entstellung gekommen, haben sie sich auf eigene Kosten zu cqnipieren und ihrer Militärpflicht dort zn genügen, wo es der Staatsrcgicrnng gut dünkt. Ill Friedcnszeiten bleibt ein beträchtlicher Teil der Kosakenmiliz ill der Heimat und wird nur des Sommers eine kurze Frist zu Übnngen einberufen, der Nest thnt aktiven Dienst in allen Gegenden des Reichs, und begegnet man Kosaken vom Riemen bis zur Grenze Chinas. In den nukultivierten Landstrichen des asiatischen Rnsslands ist die Kosaken-Landwehr von unschätzbarem Werte. — 142 — Der Kosak wie sein Pferd können die unglaublichsten Mühseligkeiten und Entbehrungen ertragen nnd sind im Stande nnter Verhältnissen zu existieren, denen reguläre Truppcu bald erliegen würden. Sie besitzen im höchsten Grade die vorzügliche Eigenschaft aller Russeu, sich den obwaltenden Verhältnissen anzubequemen. In die entlegenste Gegend Asiens kommandiert, wird der Kosak an Ort nnd Stelle sofort zum Ansiedler, baut sich sein Haus, holt sich sein Vieh zusammen, wo er es findet, bearbeitet das Land, säet lind erntet nnd ist ein trefflicher Kolonist, während er seine militärischen Pflichten aufs pünktlichste erfüllt, ein ausgezeichneter Soldat, der dem Staate nur geringe Kosten verursacht. Die Kosaken der Ukraine, obgleich schon im vierzehnten Jahrhundert beglaubigt, spielen erst seit König Stephan B-Ithori eine historische Nolle. Vis dahin bildeten sie eine Gemeinschaft mit den Saporogern. Nach crfolgter Trennung änderten sie ihre Lebensweise, ihre Verfassung. Sie wohnten in Ansicdlungcn und wurden in 20 Regimenter geordnet, jedes von 2000 Mann, die sich aus der waffenfähigen Jugend rekrutierten. Als ihre Selbständigkeit, ihre Freiheit von der polnischen Negierimg bedroht wurde, unterwarfen sie sich dem russischen Zaren (S. 26). Die neue Verfassung unter russischem Scepter wahrte ihnen die alten Rechte, die Gleichheit unter einander und die Besetzung der Ämter aus ihrer Mitte. Als die Grenze Nusslands immer weiter nach Süden gerückt wurde, verloren die Kosakeu als Hüter der Marken ihre Bedeutung uud wurden vernachlässigt und bei Seite geschobeu. Mas^pa, der die gänzliche Unterdrückung der Freiheiten uud Privilegien seines Volkes vor Augen sah, griff zum letzten, verzweifelten, unglücklichen Mittel, dem Aufruhr und der Verbindung mit dem Reichsfcind. Nach dem Siege bei Polt^wa und der Unterdrückung des Aufstandes mußte die Ukraine den Frevel büßen. Alle Privilegien wurden vernichtet und viele Tausende zum Dienst in weiter Ferne verwandt. — 143 — Unter Katharina II. erhielt das Land dieselbe Organisation, wie alle übrigen Provinzen Nnsslands. Die Astrachan'schen Kosaken werden seit 1730 als besondere Gemeinschaft genannt. Zum Schntzc gegen die räuberischen Kalmyken errichtete zn dieser Zeit die russische Regierung eine zusammenhängende Linie vun Kosakcnansiedlnugen am unteren Lanfe der Wolga und führte zu diesem Zwecke tansend Ko-satcnfamilien vom Don nach den nencn Wohnplätzen über. Die Kosaken vom Ur^l. Zn den ältesten Kosakennicder-lassnngen gehören die am Flusse IM. Sie werden schon im sechzehnten Jahrhundert genannt und leisten bereits im siebzehnten Kriegsdienste im russischen Heere. Als die meisten Ko-sakcngemeinschaften ihre Privilegien und Freiheiten cinbüßteu, befandcu sich die Kosaken vom IM der Negierung gegenüber in beständigem Aufruhr und gehörten zu den zahlreichsten nnd eifrigsten Teilnehmern am Pugatsch«w'schcn Ausstände. Katharina II., um das Andenken dieser Empörung zu vernichten, ließ den Fluß Iaik in Ural, die Kosakenstadt Iavzk in Urälsk um-beueuncn. Vou nun an bildeten die Kosaken vom IaN die Gemeinschaft der UnU'schcn Kosaken. Der ihnen angewiesene Landstrich dehnt sich am rechten Ufer des genannten Flusses bis zum Kaspischcn Meere aus, Fischfang und Viehzucht sind ihre Hauptbeschäftigung. Die Wolga-Kosaken sollen in frühester Zeit unter der goldenen Horde gestandeil haben, wahrscheinlich stammten sie aus den Gemeinschaften vom Don. Denn es waren Donifche Kosaken, die, vielleicht im Verein mit früher au der Wolga angc-sieoclteu, nach dem Untergange der Tatarenrcichc Kasiin nud Astrach-m die russischeu Handelskaravanen in den Wolgaländern nnd die Kauffahrcr auf dem Kaspischm Meere vlüudcrten. Iwnu IV. sandte Truppen gegen die Freibeuter und eiue versprengte Abteilung derselben eroberte, wie im historischen Überblick berichtet worden, Sibirien (S. 15.) Andere Flüchtlinge dieser Abentcurcrbandc suchten die Ufer des Kaspischcn Meeres auf, — 144 ^ wieder andere kamen nach dem Abznge der russischen Truppen aus ihren Schlupfwinkeln hervor, sammelten sich von nenem, wurden durch Zuzug vom Don und aus der Ukraine verstärkt und bildeten nun abermals eine Gemeinschaft, die im achtzehnten Jahrhundert als Wolga-Kosaken anerkannt wurde. In der Folge nahmen sie an allen Aufständen, zuletzt am Pugatschsw'schen, teil und wurden zur Strafe an die Ufer des Terek versetzt. Die Kaukasischen oder Liuienkosaken erhielten ihre allgemeine Bezeichnung von der ununterbrochenen Verteidigungslinie, welche ihre Stanizcn im Norden des Kankasus gegen die wilden kriegerischen Völker des Gebirges bildeten, eine Linie, die sich vom Asowichen bis zum Kaspischen Meere, von der Mündung des Kubnn bis zum Ausfluß des Terck erstreckte. Zu ihnen gc^ horten die As<'»w'schen oder uenrussischen Kosaken, welche aus den Sapurogern organisiert wnrdcn, die nach der Türkei geflohen waren, aber im Jahre 1828 nach Russland zurückkehrten und um Wiederaufnahme baten. Sie erhieltcu einen Landstrich am Asöw'schcn Meere, ihre Gemeinschaft wurde jedoch im Jahre IK65 aufgelöst. Die westlichsten unter den Linienkofaken sind heute die Kubnuscheu, auch wol Tschernouwrzen, d. h. Kosaken vom Schwarzen Meere (Tsch^rnojc müre) genannt. Den Kern derselben bildeten die Saporüger die nach der Krym geflohen waren (S. 137). Als die Halbinsel russische Provinz wurde, stellten sie sich der Regierung zur Verfügung und mau gab ihneu neue Wohnsitze am KuNn, spater erhielten sie eine umgestaltete Verfassung und Zuwachs ans anderen Kosakcngcmcinschaftcn. Auf der östlichen Linie, am Terek, sollen schon im sechzehnten Jahrhundert Kosatennicderlassungen bestanden haben. Sie wurden vermehrt durch deu Nest der Wolga-Kosaken, der nach dem Pugatschöw'sthen Aufstäube sich hier nusiedcln mnßte. Im achtzehnten Jahrhundert wnrden die Kosakeukolonieen am Terek reorganisiert und erweitert. So entstanden nach und nach 14 Regimenter Linienkosateu, die sich durch eine fabelhafte Tapferkeit und Verwegenheit alls- ,Vlss. 4». — 145 — zeichneten. Im beständigen Kriege mit den kaukasischen Gebiras--stämnlcn konnten sie ihre altgewohnte, abenteuernde Lebensweise wieder aufnehmen nnd beibehalten, sie kehrten so zn sagen in ihr eigentliches Element znrück. In den tapfern und listigen Tscher-tcsscn fanden sie ebenbürtige Gegner, von denen sie im Laufc der Zeit Kleidnng, Waffen, auch manche Sitten annahmen und ihnen dadnrch um so gefährlicher wurdeu. Nach dem Erlaß von 1K40 orhiclt jeder gemeine Linienkosak 30, jeder Offizier 60, jeder Stabsoffizier 300 Dessjatinen Land, das sie nicht allein zu bcbancn, das sie anch jeden Angenblick gegen die räuberischen Überfälle der Tschetsch^uzcn zu verteidigen hatten. So war denn längs der Linie eine uu-unterbrochenc Kette von Wachtposten organisiert, die Tag nnd Nacht anf Türmen und Ausgucken von abenteuerlichster Konstruktion (Fig. 48 und 49) ihren mühsamen Dienst verrichteten. Bei der Annäherung des Feindes wnrdc sofort durch Feucrsiguale, reitende Eilboten u. dgl. die ganze Linie alarmiert. Wie sich den Berichten über den Krieg am Kankasns entnehmen läßt, haben die Tschcrkesscn, wenn sie es vermeiden kouu ten, ihre Gegner nicht in offener Feldschlacht angegriffen. Sie fuchtcn die Linie bei Nacht und Nebel unbemerkt zu passieren, um die^^^,^^^. ^^ hinter derselben liegenden Ansiedclnngcn zn überfallen nnd zu bcraubeu. Die außerordentliche Schnelligkeit ihrer Vcwcgnngcn, ihre genaue OrtskeuntniZ, ihre indianerglcichc List und Verschlagenheit ließen diese Unternehmungen nicht selten gelingen. Anch hatten die Bergvölker hinreichende Ursache, den Nlrlii-r, Nusllcmd, I. 10 — I^. ^ Kampf Mauu gegen Mann mit den löwenmutigcn Linienkosaken zu vcrnu'iden. Diese Nachkommen der alten Sapowger sind ein starkes, riesiges (Geschlecht, nnd man sieht nicht leicht so schöne, nurmal gebildete, mit Kraft und Gewandtheit gleichmäßig ausgestattete Männer, wie sie (Fig. 50). Anch dem leichten, behenden Tscherkesscn fehlte es nicht an Mut und Tapferkeit, aber der schwere und starke Kosak war ihm im Handgemenge offenbar Wachlposk'» auf d>^ Umn>, überlegen. Neich war dieser Grenzkrieg an spannenden, schauerlichen Kampsscenen, die noch jetzt im Mnnde aller Anwohner jener Gegenden sind und in den Stamzen abends von Inng nnd Alt erzählt werden. Als mit der Gefangennahme des Münden Schamll die Unterwerfung des Kaukasus Thatsache gewordeu, tonnten sich die Liuicutosaken friedlichen Beschäftigungen, vor allein dem Ackerbau widmen, und gehören jetzt ihre Ansiedelungen zu den ergiebigsten Weizenkulturen Nusslands. Aber die Mehrzahl der Männer sehnt sich doch in die Zeit der Kämpfe und kriegerischen Abenteuer zurück und bedauert, daß die Feldarbeit nicht wie früher von fröhlichen Feindesuberfällcn unterbrochen wird. Auch _ 147 - hier isi die Romantik vor der Prosa der Alltäglichkeit entschwuu-den, und der einzige Feind, den der Kosak des Kaukasus noch zu l'etämpfen hat, ist der wilde Eber, der in dem dichten Röhricht Fic,- 50. Linienfosat, der Flußufer hallst und nicht selten die Ackerfelder der Stanizm verwüstet. Die Sibirischen Kosaken sind die Nachkommen der unter- 10>' — 14« — nehmungslustigen Schar, welche unter Ienn-Ik das La»d eroberte und sich dort festsetzte. Sie wurden im achtzehnten Jahrhundert am Irtysch angesiedelt nnd erhielten die übliche militärische Kosakenverfassung. Ill der Folge wurden sie durch Zuzug Verschicdenartiger Elemente verstärkt. Sie werden in Städte- und Linienkosaken unterschieden, von denen die ersteren den Sicherheitsdienst im Innern des Landes versorgen, den letzteren, welche in Sta-nizeu wohnen, der Schutz der ganzen Südgrenze Westsibiriens obliegt. Da die Heimat der Sibirischen Kosaken die entlegenste voll allen eioilisierten Ländern ist, hat sich bei ihnen in ihrer Absonderung das alte kosakische Wesen mit seinen ursprünglichen Sitten und Gebräuchen am reinsten erhalten. Abzweigungen der Sibirischen Kosaken sind die Transbaikalischen, welche am Baikal-See 1815 aus einem Teil der Sibirischen Städtctosatcn und ursprünglichen Einwohnern der Gegend gebildet, den Dienst an der chinesischen Grenze versehen; serner die Kosaken des Amur, welche 1859 aus den letztgenannten, regulären Truppen und Ansiedlern am Amur organisiert, gleichfalls die chinesische Grenze bewachen, und endlich die Kosaken von Ssemirctschünst, welche 1867 ebenfalls ans Sibirischen Kosaken formiert, das ceutralasiatischc Gebiet südöstlich vom Valchasch-Sec bewohnen. Die statistischen Nachweise des russischen Kricgsministerinms über die irregulären Truppen enthalten gegenwärtig die folgenden Abteilungen: Kofaten vom Don, Kub^n, T6rek, von Astrachan und Orenburg, vomUräl, Sibirien, SsemiretstlMsk, Trans-bmkalien und vom Amär. Außerdem giebt es uoch einzelne Ssütnien (Schwadronen) zu Irkutsk und Krassnojurst. Im ganzen zählt nnni an Kosaken des ersten Aufgebots, d. h. solchen, welche wenn nötig, sofort ins Feld rücken können: 323 berittene Ss6tnicn und 30 SMnen zu Fuß mit 118 Geschützen, welche von 3765 Officicren und 166163 Unteroffizieren und Gemeinen gebildet werden. Die Gesamtsumme der Bevölkerung beiderlei Geschlechts in den Kosakcnansicdelungen betrug am 1. Januar 1882: 312^473. Bei weitem die Mehrzahl gehörte der russi- — 14!» - scheu Kirche an, uur 11341 Bewohner jener Landstriche zählten zu anderen christlichen Bekenntnissen nnd 101112 zu nichtchristlichen Religionen. Wie es scheint, hegt die russische Militärverwaltung gegenwärtig die Absicht, die Eigenact der Kosateumiliz sorgfältiger zu erhalten, als bisher der Fall war, und den Eintritt fremder Elemente in dieselbe zu erschweren. Währcud früher die Versetzung von Officicrcn der regulären Armee unter die Kosakentruppeu häufig vorkam, gehört das jetzt zu den größten Seltenheiten uud ist nur iu dem Falle zulässig, wenn der Betreffende selbst Kosak wird, d. h. ill dem Kosakengebietc Grundbesitz erwirbt. Auch die höheren Befchlshaberstellen sollen nun nach Möglichkeit nur mit einheimischen Kosakcnoffieieren besetzt werden Zur Erreichung dieses Zieles hat die Regierung kürzlich iu NowotscheMst eil, Donisches Kadettencorps gegründet, welches 400 Schüler aufzunehmen bestimmt ist, von denen 300 Söhne von Kosaken Offi eieren oder Beamten sein müssen. Der Andrang zu dieser Mi-litärschnle ist ein ganz nnerwarteter nnd spricht aufs deutlichste für das vorhandene Bedürfnis. Sicher werden jetzt mehr Kosaken, als früher, die Officierslaufbahn ergreifen, da sie die Vorschule derselben in der Heimat absolvieren können. Auch zur Hebung der allgemeinen Bildung unter der Kosakenbevölkeruug wird diese Lehranstalt nicht unwesentlich beitragen, da bisher vielen Kosaken-Offieieren die Neigung oder die Mittel fehlten, ihre Söhne weit entlegenen Militärbildnngsanstalten anzuvertrauen. Alle diese Maßregeln, welche die Erhaltung der charakteristischen Eigenart nnter den Kosakentruppen bezwecken, sind einer sehr treffenden Beurteilung der obwaltenden Verhältnisse entsprungen uud werdeu dem Dienst wie der Disciplin ausnehmend förderlich sein. Eine langjährige Erfahrung hat erwiesen, daß die Kosaken sich einheimischen, mit ihren Sitten und Gewohuheiteu vertrauten Offieieren weit besser unterurducn, als solchen, die früher der regulären Armee angehörten. .'. Die Weißrussen. Für die Bezeichnung dieser russi- Fiq. K1. — 150 — scheu Volksabzwcigung giebt es verschiedene Erklärungen, dic sämtlich wenig überzeugendes enthalten. Die annehmbarste leitet den Namen von der hellen Klcidnng der Frauen nnd Männer im Sommer und Winter ab. Die Weißrussen werden fnr Abkömmlinge des alten slawischen Stammes der Kriwitschen «.ehalten, welcher als besonders konservativ in Sitten nnd Gebräuchen »ud jedem Verkehr abgeneigt, an Sprache, Kleidung und Gewohnheiten mit ausnehmender Zähigkeit festgehalten habe. Der Hang zur Absondcruug charakterisiert den Weißrussen noch hellte. Dörfer, die ein Paar Dutzend Häuser enthalten, gehören zu den größten Seltenheiten; in der Negcl besteht eine Ortschaft nur aus drei bis vier tzof-lagen! einzelne Bauernhöfe dagegen, die zerstreut zwischen Wäldern und Sümpfen liegen, findet man häufig. Die Bewohner von Weißrussland sind gntmütige, friedliche und arbeitsame Leute, die der Kampf mit dem Elend des Daseins Jahrhunderte hindurch niedergedrückt und degeneriert hat, nnd die erst seit Änfhebnng der Leibeigenschaft sich aufzurichten lind aufzuatmen begonnen haben. Der wesentlichste Faktor ihrer Armut liegt wol in der Unfruchtbarkeit dos Landes, in welchem ein steriler Sand- nud Lehmboden mit Seen, Sumpfen nnd unabsehbaren Wäldern wechselt - ein wahres Eden für den Bärcnjägcr. Das Klima ist feucht und ungesund. Jahrhunderte lang stand Wcißrussland unter polnischer Herr Wcisirussl', — 151 - schaft. Katholisch-Polnische Edelleute waren die Gnmdherrcn dcr russisch-orthodoxen Bauern, die von jenen in Verbindung mit ihren unentbehrlichen Juden auf das erbarmungswürdigste gedrückt und ausgesogen wurden. Daß sie uutcr solchen Verhältnissen an Sprache und Glauben unerschütterlich festgehalten, spricht für die Treue und Stätigteit ihres Charakters. Die Weißrussen sind von mittelgroßer Gestalt, hagerer Figur und haben ill dcr Regel hellblondes, gelbliches Haar. Mauucr lmd Frauen trageu deu Kasakln, einen Nock ohne Knöpfe mit stehendem Kragen, welcher bei deu Männern über dcr Hüfte durch einen roten Gurt zusammengehalten wird ^Fig. 51). Die Weiber traget, dasselbe Kleidungsstück über einem reich gefalteten Nock. Im Wiutcr besteht dasselbe aus einem groben, Hellgranen Wollcn-gcwebe, im Sommer aus ungefärbtem Leinen. Beide Geschlechter umwickeln die Füße, an Stelle dcr Strümpfe, mit Stücken Zeug und tragen ans Bast geflochtene Schuhe, welche mit Riemen festgebunden wcrdcn. Die Frauen winden ein weißes Tuch tnrbanartig um den Kopf, dessen Zipfel zu beiden Seitcu herab' häugcu. Dcr Koltün oder Wcichselzopf ist in Weißrusslaud ciuc weit-verbreitete Volkskrankheit. Das Haar schwitzt eine klebrige Fenchtig-tcit aus und verfilzt sich zu undurchdringlichen, kompakten Massen, welche in dicken Strängen vom Haupte herabhängen. Ungesundes Klima, schlechte Wuhmmgeu, mangelhafte Ernährung, Unreinlich-keit und verdorbene Luft wetteifern mit einander, dieses Übel zu erzeugen und zn verbreiten. Feierstunde!! und Feiertage verbringt der Weißrusse in der Schenke, wo er sein letztes bewegliches Eigentum hingiebt, um den Iammcr des Lebens zu vergessen. An Sountagcu ist die Schenke dcr Aufenthalt für die gesamte Bevölkerung jeden Alters und Geschlechts. Hier wird der Weißrusse gemütlich uud froh, fingt uud lacht, uud während die Jugend sich unermüdlich nach den näselnden Tönen des Dudelsacks dreht, schwinden ihm in kur zem Rausche die Mühseligkeiten seines armen Daseins. — 152 — 2. Die Polcn. Das ehemalige russische Königreich Pulen, in seinem Bestände vor dem letzten Ausstände, liegt außerhalb des Kreises dieser Schilderungen. Im übrigen europäische»! Nuss-land lebt etwa eine Million Angehörige dieses slawischen Stammes, von denen die Mehrzahl die westlichen Gouvernements bewohnt nnd dort in verschiedener Dichtigkeit 3 bis 15 Prozent der Bevölkerung bildet. Die Polcn, ans verschiedenen, nahe verwandten, Vvlts-stämmen (Masüren, KrakowMcn) bestehend, sind im ganzen eil, schöner, mittelgroßer, schlanker, ansehnlicher Menschenschlag vom reinsten slawischen Thpns. Durch leichte Fassungsgabe, angeboren ncs Schönheitsgcsühl, Sinn für ästhetische Formen und Alistand ausgezeichnet, sind sie elegant und graziös iu Haltung und Bewegung, aber auch als träge, leichtsiuuig, zügellos, jähzornig und unzuverlässig verschrieen. Die Masüreu, welche sich im Gouvernement Plvzk am reinsten erhalten haben, sind von hohem Wuchs und kräftigem Körperbau, mutig, lebenslustig, sorglos, offenherzig und fromm. Nicht besonders arbeitsam, sind sie mäßig in ihren Vcdürfnisseu. Der alte Nationalhaß hat ihren Namen (Masü-rit) znm russischen Schimpfwort umgebildet. Ihr Lieblingstanz, die Masnrka, hat die Ruude durch die ganze Zivilisierte Welt gemacht, doch wird er von den Polen mit einer Krafteutwickc-lung, einer Verve uud einem Fener getanzt, die von keinem anderen Volte auch uur annähernd erreicht werden. Die Krako wjüken, au den Ausläufern der Karpathen seßhaft, ein kraftvoller, nüchterner nnd anfgewecktcr Menschenschlag, sprechen das reinste Polnisch. Sie sind reizbar, rachsüchtig, aber edelmütig. Auch ihr Lieblingstanz, der KrakowM, ist wenigstens auf den Bühnen heimisch geworden und ihre bekannte viereckige Mütze — die Kon föderätta - war, mit deu lebhafteren Sympathieen für die Polnische Nation, eine Zeitlang in Euiopa Mode. Neben deu beiden genannten werden noch einige andere minder zahlreiche polnische Stämme unterschieden. Außer den Bauern, die bis auf die neueste Zeit in der drückend stcn Leibeigenschaft schmachteten und erst seit der jüngsten Ncorga- — 153 — nisation Polens unter Al^aiiderll. cin uienschenloürdiges Dasein zu führen begonnen haben, und den Bürgern in den Städten, zählen die ehemaligen polnischen Provinzen einen nngemein zahlreichen Adel, der in früherer Zeit mit ganz enormen Vorrechten ausgestattet war. Er bildet so ziemlich ein Prozent der Bevölkerung; im ehemaligen polnischen Neich gab es 120 000 adlige Familien. Dies abnorme Verhältnis hat darin seinen Ursprung, daß die polnischen Könige nach glücklichen Fcldzngen zuweilen ganze Armceabtcilnngen zn Adligen machten, wic z. B. Johann Sobieski, nach der Entsetzung Wiens, seine ganze Reiterei. Infolge dessen gehörte so ziemlich jeder Bauer, der nicht Leibeigener war, der SclMchta, dem Adel, an, nnd aus diesen nie heranfgekom-mcnen und allen heruntergekommenen, früher wolhabenden Edelleuten bildete sich in den weiland polnischen Neichstcileu ein zahlreicher Landadel — vorzugsweise SchlMhtitschen genannt —, dessen ganzes Grundeigentum nicht über dem Besitz gewöhnlicher Bauern stand. Diese SchlMhtitschen leben in der Negel einsam für sich, ohne sich um ihre Nachbarn viel zu kümmern. Von den Häusern der Baucru unterscheiden sich ihre Wohnungen nur durch etwas mehr Gelaß, größere Fenster, Fruchtgärtcn und abgesonderte Teuneu uud Viehställe. Nicht selten sieht man die Töchter dieser edlen, polnischen Pans (Herren) in der landesüblichen Bauerutracht, barfuß, auf Feld und Wiese im Schweiße ihres Angesichts arbeiten (Fig. 52). 3. Die Bulgaren, iu sässig, zählen etwa 40 000 Köpfe. Sie nahmen das Land ein, welches nach dem Krymkricge durch deu Auszug der Nogai-Tataren unbcficdelt blieb, und stehen den deutschen Kolonisten an Fleiß, Orduungssinu uud Reinlichkeit nicht nach. 4. Die Tschechen, in Wolynien, Podolicn und Tauricn angesiedelt, werden auf 8000 Seelen geschätzt. 5>, Die Serben. Als man unter der .Miserin Katharina II. daranf bedacht war, die Macht der Sapowger Kosaken zn schwächen, wnrdcn Serben ans den türkischen Donanländern uuf- Polnijche Schljächmschen aus WllNnnen, Fig. 52. — 155 — gefordert, ihre Heimat zu verlassen und sich am Bug, auf Sa-powgijchem Lande, anzusiedeln. So entstanden dort binnen kurzer Zeit 50 Ortschaften mit 60000 Bewohnern nnd dcr ganze Bezirk erhielt den Namen Ncuscrbicu. Wie so manchen Kolonisten, anch den eben genannten Bulgaren, mag ihnen die ncnc Heimat auf die Länge nicht sonderlich sympathisch gewesen sein. Die Zahl der russischen Serben hat sich denn anch im Laufe dcr Zeit bedeutend verringert nnd wird heute kaum die Hälfte dcr früher Eingewandcrtcn betragen. 1!. L c t t i s ch - l i t a u i s ch c G r u P P e. Die Völker dieser Gruppe zu welcher anch die alten Preußen gezählt werden, sind aller Wahrscheinlichkeit nach in vorgeschichtlicher Zeit aus Indien in die Gegenden eingewandert, welche sie noch heute bewohnen. Dafür zeugt neben dcr theotratischcn Verfassung derselben, welche sich noch in historischen Zeiten nachweisen läßt, die auffallende Übereinstimmung ihrer Sprache mit dem Sanskrit, welche ans eine ursprünglich sehr nahe Verwandtschaft schließen läßt, die in den abgesonderten Wohnsitzen dieser Stämme durch fremde Einflüsse nicht verwischt wurde. Hierher gehören ). die Letten (russ. Sing. Latysch). Sie zerfallen in die eigentlichen Letten, die kurischeu Letten uud die Semgalleu, welche ihrclrHauptsitz im südlichen Livland und Kurland haben, ihre Abzweignngcu in die Gouvernements Vitebsk uud Kowno ansstreckcn, aber auch in einigen inneren Landstrichen als Kolonisten angetroffen werden. Ihre Kopfzahl wird rnnd auf eine Million geschätzt. Die Letten sind meist lichthaarig und btauängig, von kurzer gedrungener Gestalt uud breiten, wenig ansprechenden Zügen. Sie sind gutmütig, freundlich, gastfrei und zuvorkommend, dabei aber schwach, schlichter», fügsam und geduldig. Ihr National, charaktcr hat naturgemäß eine Färbung angenommen, welche sie von ihren Nachbarn und Stmnmcsvcrwandtcu, den Litauern, wesentlich unterscheidet. Während diese in srühcreu Jahrhunderten ein mächtiges M'stcutum grüudeteu, aus welchem am Ende dc^ — i5<; — 14. Jahrhunderts durch die Vereinigung mit Polcn ein großes und starkes Neich hervorging, sind die Letten, ein friedliches, stilles mid arbeitsames Volk von Ackerbauern und Hirten, obwol sie sich mit hartnäckiger Tapferkeit gewehrt, so weit die Geschichte von ihnen weiß, stets von fremden Eroberern unterdrückt wordeu. Daher ist der Lcttc seinen angestammten Herren — den Abkömmlingen der dentschen Ritter — gegenüber bis heute mistranisch nnd versteckt, obwol die Macht derselben bis auf unwesentliche Prärogative verschwunden ist. Von wenig festem Charakter, ist der Lette anstellig und gelehrig und hat eine große Vorliebe für Dichtling und Gesang. Eine gewisse Halbbildung, die bei ihrer außerordentlich günstigen ökonomischen Lage, in neuerer Zeit in die lettischen kreise eingedrungen ist, hat das Iunglettcntum crzengt, welches sich dünkelhaft spreizt und für die Herstellung seiucr Diminutiv-Nationalität schwärmt. Es ist von Haß gegen die Dentschen erfüllt und vergißt dabei, daß seine ganze Kultur eine deutsche ist. Die Wanderlust des Großrusscn, seine Neigung zn Spekulation und Handel, fehlen dem Letten durchaus. Er geht vollständig ans in den kleinen Geschäften des Ackerbaus und der Hauswirtschaft. Im Gegensatz zu den umwohnenden Volksstämmen hausen die Letten niemals in Dörfern, sondern in zerstreut liegenden Einzelhöfen, welche von den dortigen Deutschen „Gesinde" ge uannt werden. Ihre Nationaltracht zeigt vorzugsweise hellere Farben, doch ist sie fast ganz von der sogenannten „deutschen Kleidung" verdrängt worden. Ein gewisser Sinn für Ordnung nnd Reinlichkeit fehlt ihnen keineswegs. Der Lette ist eine vor^ zugsweisc lyrisch angelegte, sentimentale, zur Zärtlichkeit neigende Natur. In seiner einfachen nnd lieblichen Volksvocsic hat sich keine Svnr eines epischen Elements erhalten, aber seine Sprache ist überreich an Ansdrückcn der Zärtlichkeit, Liebkofungs und Verkleinerungswörtern. Der größte Teil der Letten gehört mit den in Kurland ansässigen Deutschen dem protestantischen — 15,7 — Glaubensbekenntnis an; mir die ill den Gouvernements Wttebsk und Kowno wohnenden sind römisch-katholisch. 2. Die Litauer bewohnen, in der Stärke von etwa anderthalb Millionen vorzugsweise die Gonvernements Kckvno nnd Wllna. Zu ihnen gehören noch etwa eine halbe Million Shmnden oder Samogiten, ein Brudcrstamm, der im westlichen Teil des Gouvernements Köwno ansässig ist. Der eigentliche Nationaltypus der Litauer ist schwer zu bezeichnen, da sie sich mit den benachbarten Stämmen stark Uermischt haben. Sie sind im Durchschnitt von kleinem, hagerem, gedrungenem Körperbau, das Haar schattiert von blond zu braun uud ist im allgemeinen dunkler als bei den Letten. Sie sind in hohem Grade religiös, aber anch abergläubisch uud häugen noch stark an ihren althergebrachten heidnischen Gebräuchen. In Haus, Hof und Kleidung siud sie weniger sauber und ordentlich als die Letten. Ihre Wohnungen sind noch häufig ohne Schornsteine, die Fenster kleine Löcher. Sie hängen an ihrer Heimat und verlassen dieselbe nur ungern uud selten. Die Kleidung der Männer ist einfach nnd ähnelt der lettischen und wcißrussischcn, bei den Frauen findet man in einigen Gegenden bnntfarbige Trachten. d. Von der Gräko-romanischen Gruppe finden wir in Russland 1. Griechen, die in einer Kopfzahl von etwa 77 000 die Gouvernements Chcrsson, Iekatcrinosslliw, Tfchernlgow, Taurien und Bcssarabien bewohnen, sich auch in ciuigen audcren Gegenden zerstreut finden. Sie sind zum Teil start degeneriert. So sprechen die Griechen im Gouvernement IckatcrmosMw, welche an der Nordtnste des Aj6wschen Meeres in der Nachbarschaft von Mariupol angesiedelt sind, nur tatarisch. Ihre Vorfahren lebten in der Krym, als dieselbe noch unter der Herrschaft mongolischer Chane stand, uud wanderten znr Zeit Katharinas II. nach Nuss-land aus, ehe noch die taurische Halbinsel dem russischcu Reiche einverleibt wurde. Sie habcu die Sprache der Hclleucn fast gauz vergessen, ihren alten Glauben jedoch bewahrt. Aber mit der Sprache - 15>8 — haben sie auch manches andere von den Tataren angenommen, namentlich die orientalische Trägheit und Apathie, deren natürliche Folgen Armut und Unwissenheit sind. 2. Rumänen, welche sich etwa 800 000 Köpfe start ans die Gouvernements Bessarabien, Chersson, Podolien und Iekateri-nossläw verteilen. Sie sind von kräftiger Gestalt, stark, gedrungen, nieist schwarzhaarig mit dunklen blitzenden Augen, von frischer Gesichtsfarbe, lebhaft und gewandt, aber zur Trägheit geneigt. Von lebhaftem Verstände nnd schneller Fassnngsgabc, sind sie mäßig, ehrlich, gutmütig, tren und ehrerbietig gegen höher Stehende. Sie tragen ihre ursprüngliche Nationaltracht (Fig. 53). I). Germauische Gruppe. Außer Deutschen und Schweden finden sich noch Angehörige mancher anderen germanischen Stämme in den weiten Gebietcu Rnsslands zerstreut, doch sind diese gering all Zahl nnd kommen gegen die beiden genannten nicht in Betracht. ), Die Dcntscheu. Ich denke, es entspricht der Anschannng meiner ^eser, wenn ich bei unsern Landsleuten, den Teutschen in Russland, etwas länger verweile. Die Zahl der ill Nussland wohnenden Deutschell wird außerordentlich verschieden angegeben. Die Ziffern schwanken zwischen einer halben und zwei Millionen. Es ist das eine Folge der Schwierigkeiten, die sich häufig einer genauen Bestimmung der Nationalität entgegenstellen. Gewöhnlich entscheidet die Sprache, oft die Religion, zuweilen auch der Name. Alle diese Merkmale sind bei den russischen Deutschen durchaus unsicher. Es giebt dort evangelische Familien rein deutschen Ursprungs und Namens, die lein Wort Deutsch verstehen, andere mit den »licht ungewöhnlichen Familiennamen Müller, Fischer u. s. w. sind griechischorthodoxe Russen ohne Makel, dagegen finden sich in den Ostsec-provinzen Geschlechter mit durchaus slawisch klingenden Namen, die gute lutherische Deutsche sind und kein Wort russisch verstehen. Trotz dieser Schwierigkeiten wird man kaum fehl greifen, wenu — 159 — mau die Summe der iu Russland wohnenden Deutschell auf zwei Millionen normiert. Diese Einwanderer im Wnde der Zaren lassen sich in drei große (Gruppen sondern: u. die Deutschen in den baltischen Pro- Fig. 53. N»mä»e aus Podolien, vinzm . — Reichsangehörigeu eintreten, wo er des Beistandes bedarf. Aus dem schüchternen, zaghaften Lippe-Detmolder oder Sachsen-Ko^ burger ist ein Deutscher geworden, der stolz auf die Größe seines Vaterlandes in berechtigtem Selbstbewußtsein jedermann in fremdem Lande gegcnübertreten darf mit seinem: <üvi« I^<^ Und so ist denn anch jetzt ill Russland alle Welt mit Ach tung, Freundlichkeit und Zuvorkommenheit erfüllt gegen alles, was den Namen eines Dentschen trägt, und eher könnte man unseren Laudsleutcn ein etwas keckes uud übermütiges Auftreten vorwerfen, als den Nüssen Mangel an Rücksicht und Anerkennung. <-. Die deutschcu Ackerbaukolonieeu. Zu verschiedenen Zeiten hat man fremdländische Kolonisten in Russland angesiedelt, um die weiten nnbewohuteu Strecken des Landes zu kultivieren. So giebt es dort Kolonieen von Griechen, Serben, Bulgaren, Rumänen, Montenegrinern, Juden und Deutschen. Die letzteren sind au Zahl und Ausdehnung bei weitem die bedeutendsten. Als an die stark bevölkerten Ackerbaudistrikte Deutschlands die Auf forderung crgiug, Kolouisteu uach Russlaud zu entsenden, hatte die russische Regiernng ein doppeltes Ziel im Auge. Zunächst sollte das wüst und unbenutzt liegende Land bevölkert, angebaut nnd der Nationalreichtum dadnrch vermehrt werden, dann hoffte man aber auch, daß die deutschcn Koloniecn durch ihr Beispiel einen bildenden Einfluß auf die benachbarten russischeu Bauern ausnben würden. Sie sollten in der besseren, vernünftigeren Bearbeitung des Bodens, in Wcinban und Gartcnkultur für den russi schen Ackerbauer eine Schnle sein, die ihn zum Lernen, zur Nach ahmung anregte. Der erste der genannten Zwecke wurde vollkommcu erreicht. Die Zahl der deutschen Kolonisten im russischen Reiche beträgt über 300000. Bei der Gründung der Niederlassungen erhielt jede Familie 40 bis wandernngsfieber hat nachgelassen und die Kolonisten haben sich den nenen Verhältnissen anbequemt. Ein Überblick über die deutschen Kolonieeu Russlands zeigt uns dieselben, abgesehen von wenigen zerstrenten Niederlassungen, als drei große Gruppen in dem weiten Reiche verteilt. Die erste Gruppe wird vou den Ansiedelungen des St. Petersburger Gun-vernements gebildet, die zweite umschließt die Kolouiccn an der Wolga, die dritte die Niederlassungen in Südrussland nnd am Kaukasus. Erste Gruppe. Die deutschen Kolonieen im Gouvernement St. Petersburg liegen teils am Ufer des finischen Mcerbuscus, teils au der Newa, teils im Lande zerstreut. Zu Äicyl'r, N»ssland. I. ^ F'ss. 5)4 Deutsche Kolonist«, au» der Gegend vun Lt. Petersburg. — 17!) — den bedeutendsten der ersten Kategorie gehören die Pctcrhofer, Oranienbaumer nnd Kronstädter Kolonie, zur zweiten NenSsarc»,-towka, zur dritten Fricdeutal bei Zllrskoje-Sselö. Die Kolonisten, meist Würtcmberger, die unter Katharina II. ins Land gekommen, sind fleißige nud betriebsame Leute, die an ihrer Reli^ gion, Sprache, Sitten nnd Gewohnheiten treu nnd beständig festhalten und vortrefflich prosperiereu. Sobald man ein dcntsches Fig. 55. Te»t!chc Kolonisten a,,s dor Ol'gond von St, PcN'vslmrg. Kolonistendorf betritt, fiihlt man sich heimatlich angeweht: die schönen, reinlichen Hänser, von zierlichen Blumengärten und wol-gezimmcrten Einfriedigungen umgeben, die sauberen, stillen Bewohner in der Tracht'ihrer Heimat, die Laute der Muttersprache mit wolkonscrviertcm süddeutschen Anhauch ^ alles vergegenwärtigt ein Stück Deutschland (Fig. 54). Von der Nähe der Residenz wissen diese Landsleutc deu bestell Nutzen zu ziehen. Nicht allein, daß ihre eiuspämngeu i^ — 180 — Wagen am früheu Morgen die Hallptstadt durchziehoi: lind der wolbekannte Ruf ihrer Insassen: „Kartoffel, Kartoffel!" weithin dnrch die Straßen St. Petersburgs hallt und Kaufliebhaber herbeilockt (Fig. 55), ihre netten, hübsch eingerichteten, blumeu-geschmückten Häuser bieten cinen anmutigen nnd vielbegchrten billigen Sommcranfenthalt fiir alle Residcnzbewohner, welche vom Schicksal nicht mit eigenen Sommerwohnungen und Landgütern dotiert wurden. Im Verhältnis zu der Zahl und Größe der südrussischen und der Wolga-Niedcrlasfnngcn find die Kolonieen des Gouvernements St. Petersburg von geringem Belang. Zweite Gruppe. Die Wolga-Koloniecn. Im Jahre 1763 hatte dic Kaiserin Katharina II. ein ansführlichcs Manifest erlassen, durch welches Ausländer aufgefordert wurden, sich unter Gewährung besonderer Vorrechte und Privilegien in Nnss-laud niederzulassen. Bevollmächtigte wurdcu in verschiedene Länder Europas gesandt, um Auswanderer anznwcrben und zn geleiten. Es sammelten sich infolge dessen Scharen von Ackcr-banern, aber auch von Abenteurern und verkommenen Subjekten aus Vaicrn, Sachsen, Würtembcrg, Hannover, Baden, Hessen. Elsaß, Lothriugen, Tirol, der Schweiz und den Niederlanden. Negensbnrg war der Sammelplatz. Die Neise ging zu Lande bis Lübeck, von dort zu Schiffe nach Kronstadt nnd Oranien-baum. Die Eiuwandercr wurden an diesen Landungsplätzen von dcr Kaiserin selbst nnd dem Großfürsten Paul Petwwitsch bewillkommnet und als Bürger der neuen Heimat begrüßt. Mit reichlicher Nuterstützung verschen, ging dauu der Zug über Moskau in die Gegenden, wo die Niederlassung gegründet werden sollte, die sich heilte all den Ufern der Wolga von Kamyschin bis Wolsk in Hunderten vou Koloniecn ansbreitet. Die Ansiedelung nahm ihren Fortgang in den Jahren 1764 bis 1770. Au dcu Nebeuflnssen der Wolga standen treffliche fruchtbare Landstriche unangcbaut, die vou dm ueuen Bewohnern eingenommen wurden. — 181 -. Dies? deutschen Ansiedelungen zerfallen in vier Bezirke, von denen zwei an der rechten oder Verleite des Stromes im Gouvernement Ssar-Uow, zwei ml der linken oder Wiesenseite im Gouvernement Ssamära liegen. Der erste beginnt 35 Kilo meter von der Gouvernementsstadt Ssarätow, erstreckt sich stromaufwärts an der Wicscnseite und enthält 4iKoloniccn, die sich nach Nordosten bis nahe zur Kreisstadt Wolsk ansdehnen, nach Südosten weit iu die uralische Steppe dringen. Hier begegnen wir den Ortsnamen Nosental, Wiesenheim, Sinelbcrg, Lilicnfeld, Ernestineudorf u. s. w. nud nördlich von Ickaterinen-stadt in einer Reihenfolge Unterwaldcn, Lnzern, Zug, Solothurn, Zürich, Basel, Glarus, Schaffhauseu. Der zweite Bezirk liegt 40 Kilometer südlich von Ssar^tow und zahlt 15 Kolonicen. Der dritte und größte, an der Vergseitc der Wolga, enthält 43 Ko-louieen, und der vierte, welcher nur 3 Ansiedelungen nmfaßt, befindet sich nördlich von Sfarätow. Diese 102 Mutterniedcr-lassuugen entstanden in den ersten sechs Kolouisationsjahreu. Die Ausicdler waren sälutlich sehr arm, aber die Ncgiernng that unendlich viel für sie, und wären sie tüchtige Landwirte gewesen, so hätte sich ihre Lage bald günstig gestalten müssen. Das war aber durchaus nicht der Fall. Die Mehrzahl vcrstaud uicht einmal die gewöhnlichsten Handgriffe des Ackerbaues und hatte mit den größten Schwierigkeiten zn kämpfen, bis sie nur iu den Haupt arbeiten des Landmannes eingeübt war. Die wenigen Ackerbauer unter ihnen nuchten das Amt der Lehrmeister übernehmen. Noch schwieriger war es für die Kolonisten, sich an das Klima lind eine entsprechende Lebensart zn gewöhnen. Aber auch Trägheit, Nachlässigkeit nnd Mangel an gutem Willen hielten die Ansiedelungen in ihrer Entwickelung auf. rc Champcnoisc, Paris, Katzbach, Leipzig uud Kulm. Die Kolouisten halten sich abgesondert von den Russen, die ihnen unsympathisch sind, und haben sich infolge dessen ihre nationalen Merkmale in unversehrter Neinheit erhalten. Die älteren Lente verstehen gar kein Russisch, die jüngeren sprechen es beispiellos schlecht. Ihr Deutsch offenbart noch jetzt die dialektischen Eigentümlichkeiten, welche die Großcltern aus der Heimat mitgebracht, und der Pfälzcr, der Alemanne und Schwabe sind wol zu uutcrschcidcu. Sitten und Gebräuche sind unverändert geblieben. Sie halten treu au ihrem religiösen Bekenntnis, heiligen den Sonntag, und wo sie keinen Pfarrer haben, hält der Schullehrcr den Gottesdienst. Von Zeit zu Zeit kommt dann der Pastor des Kirchspiels, der nach der Predigt die Kasualhaud- ___ 185 — lungen verrichtet. Iedc Kolonie hat ihre Schule, ihren eigenen Schullehrer und manche außerdem einen Präeeptor für die rnssi schc Sprache. Mit geringen Ausnahmen sind die Kolonisten reinlich, ordnungsliebend und arbeitsam, deshalb auch die meisten vermögend. Mit der Mäßigkeit steht es nicht überall gleich; manche sind in ihrem Wolstand üppig nnd genußsüchtig geworden. Die Woh nungen sind sämtlich behäbig, lind wein« anch den Lokalverhält-nisscn angepaßt, verraten sie einen gewissen Sinn für Schönheit und Zierlichkeit. Jedes Hans hat seine großen hellet, Fenster, die mit Läden versehen sind. Die kleinen Hansgärten lassen nebe» Gemüse und Nutzkraut auch den Schmuck blühender Ge wachse llicht vermissen. Die Straßen sind breit nnd reinlich. Überall ein wolthnender Gegensah zn den schmutzigen und ver fallenen Dörfern der Russen. Sind die Leistungen der deutschen Kolonisten Südrnsflands demnach höchst achtnngswerte und machen ihre Ansiedelungen den angenehmsten Eindruck, so steigert sich dieser Effekt in nngcahn-tcr, geradezu überraschender Weise bei den Mennoniten. Diese, ursprünglich Holländer, die im 17. Jahrhundert nach Preußen auswanderten, vergaßen dort ihre Muttersprache, behielten aber unter anderen Eharakterzügen, die ganze niederländische Liebe für Ordnung nnd Reinlichkeit. Aus Preußen, wo sie sich in der Nähe von Danzig angesiedelt hatten, wanderten sie aus, um dem Militärdienst zu entgehen, da der Krieg den Fundamentalsätzcn ihres Bekenntnisses zuwider läuft. Im Jahre 1784 zogen die ersten Mennoniten nach Nussland und wurden von der Kaiserin Katharina ll. mit offenen Armen aufgenommen. Sie gründeten die Kolonie KVirtiza unterhalb der Stromschnellen des Dnjepr, die jetzt ans etwa 20 Dörfern besteht. Im Jahre 1804 fand eine neue Meunonitcn Einwanderung statt, die sich an dem Flüßchen Mol6tschna im Gouvernement Taurien niederließ, jetzt die größte und reichste deutsche Kolonie in ganz Russland. Sie wurde im Jahre 1820 bedentcnd erweitert und 1837 enthielt sie bereits — 186 — auf 100 000 Dessjatincn 43 Dörfer mit gegen 10000 Bewohnern, von denen etwa tausend Landeigentümer waren. Die Mennonitcn zeichneten sich schon bei ihrer Einwanderung vor allen übrigen Ansiedlern sehr vorteilhaft alls. Sie brachten aus der alten Heimat die ganze Tüchtigkeit ihres soliden Wesens, einen reichen Schatz nützlicher Kenntnisse nnd bedeutende Kapitalien mit. In Nussland erhielten sie höchst wertvolle Vor-" rechte. Von der Wehrpflicht waren sie gänzlich, von Stencrn nahezu befreit. Auch führte sie ein gütiges Geschick in die angenehmsten Gegenden mit trefflichem Boden und mildem Klima. So konnte es nicht fehlen, daß die Entwickelung dieser Mcnno-nitcn-Niederlassungen eine bewunderungswürdige war. Überall sind ihre Koloniecn dem innersten Wesen nach große Familien. Alle betrachten sich untereinander als Geschwister. Ihre Frümmig/ keit, ihre Sitten und Gewohnheiten, ihre Lebensweise haben sie in ihrer ganzen Reinheit und ursprünglichen Einfachheit bewahrt. Reichtum und Wissen haben keinen Einfluß auf ihre Moralität ausgeübt. Im allgemeinen treiben sie nur Ackerbau, den sie auf treffliche Weise vervollkommnet haben, und werden bei ihrer Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Mäßigkeit fast alle reich. Nach der Reise durch die südrussische Steppe gewährt der Anblick eines Mcnnonitendorfs die freudigste Überraschnng. Da erblickt man plötzlich in fruchtbarem Tale eine lange Neihe ansehnlicher Häuser aus Holz oder Stein erbaut, mit hohen Dächern, von Laubbäumen beschattet. Alle sind nach demselben Plan erbant, einstöckig, geräumig, trefflich eingerichtet und so gut erhalten, daß sie stets den Eindruck machen, als wären sie eben fertig geworden. In lebhaften Farben getüncht, mit Schornsteinen aus zierlich geschnitztem Holzwcrk, sehen sie außerordentlich frcnndlich aus. Die Zimmer sind einfach möbliert, ohne den geringsten Ansprnch an Eleganz, aber überall herrscht die peinlichste Reinlichkeit. Das einzige, wobei der Mennonit nicht spart, ist die schöne Leinwand, die er trägt, die Tisch nnd Bett schmückt. Auch ein Ofen von Fayencekacheln wird gern gesehen; er gilt — 187 - als Zeichen der Wolhabenheit. Pferde- und Knhställe, die dcr Mnstcrfarln jedes Landes zur Zierde gereichen würden, stehen mit dein Hanse in Vcrbmdnng. Dcr geräumige Hof vor demselben hat das Ansehen, als würde er täglich mehrmals gefegt. Hinter dem Gebäude liegt ein gut versehener Gemüsegarten. Obstbämne und Blumen sind vorhanden, so weit das Klima ihre Kultur gestattet. Bei den reichsten wie den minderbcgiiterten herrscht dieselbe Mäßigkeit im Essen und Trinken; der Wolhabende gestattet sich nicht mehr Schüsseln beim Mahle, als dcr Arme. Geistige Getränke sind verboten, Milch vertritt ihre Stelle. Die Franen haben die alte Tracht in ihrer ganzen strengen Einfachheit beibehalten: die Jacke mit tnrzcr Taille, Rock und Schürze von blauer Farbe, die kleine Mütze, die nnr den oberen Teil des Kopfes bedeckt. Alle, ohne Unterschied, sind gleich gekleidet. Die Männer tragen mit einigen Abweichungen das Kostüm der ostprcnßischen Landlcute. Die Mcnnoniten sind fromm, einfach und ehrlich, aber gegen Fremde verschlossen und zurückhaltend. Das hindert sie jedoch nicht, sehr gastfreundlich zu sein, wovon sich jeder Reisende namentlich an den Ufern der Mol6tschna überzeugen kann. Sie haben keine Priester, Ihre Ältesten, welche die Gemeinde wählt, versehen zugleich das Amt der Schulzen und der Geistlichen. Sie predigen Sonntags, lesen aus dcr Bibel uud singen die Lieder vor, in welche die Versammlung als Chor einfällt. Alle Angelegenheiten dcr Meunonitcn werden dnrch ihre selbstgcwählten Obere»! geschlichtet. Nur Kriminalverbrechen. dic aber bis jetzt nicht vorgekommen sind, gehören in die russischen Gerichtshöfe. Alle 5 bis ic meisten und reichsten deutschen Sicdelnngen an dem erwähnten Flüßchen Mol^tschna. Alif dem linken Ufer befinden sich die geschilderten Mennonitcn-Dörfer, auf dem rechten zahlreiche Kolonicen ans Wnrtemberg und Baden. Die evangelisch-lutherischen Niederlassungen zahlen — 189 — , 2? Dörfer mit circa 11 000 Seelen. In geringer Anzahl finden sich hier auch katholische nnd Pietisten Kolomeen. Das Gouvernement IekalernwMw weist 19 evangelische Kolonien auf mit beilänfig 10 000 Einwohnern, 18 Mennomten-Niederlassungen, wie auch einige katholische Ansiedelungen. Hier ließen sich in den zwanziger Jahren — zuletzt 1841 — Würtem-bergcr, Nhcinhesscn, Prenßm lind Badcncr nieder, dazn kam 1831 ein Zuzug aus älteren preußischen Kolonieeu des Gouvernements Tscherulgow nnd 184!» ans der Stadt Iamburg iu^ Gouvernement St. Petersburg. Der wolhabendstc Kolon istcnbezirk liegt in der Nähe der Stadt Mariupol. Hier erheben sich, wo ehemals öde Steppe war, blühende Dörfer mit hübschen Häusern, Zäunen, Hofthorcu, Obst- uud Gemüsegarten, schöneu Wald-baumaulagcn und lebendigen Hecken, mit fleißig bearbeiteten Feldern, Schmieden, Mühlen und Vorratsmagazinen. Alles atmet Wolstaud und Gedeihen. Zweites Gebiet. Als im Jahre 1763 die Kaiserin Katha-riua II. ausländische Ackerbauer zur Einwanderung nach Rnssland aufgefordert hatte, erschienen auch Abgesandte der Herrenhuter Brüdergemeinde, welche um die Erlaubnis nachsuchten, in der Kalmykensteppe an der Wolga, zwischen Ssamtow und Astrachan eine Kolonie zu gründen. Zur Wahl dieser Gegend wnrdeu die mährischen Brüder in erster Linie dnrch die Nähe der Kalmyken veranlaßt, bei denen sie ein ergiebiges Feld für ihre Missionsthätigkeit zn finden hofften. Als ihr Gesuch bewilligt worden, erschienen im folgenden Jahre fünf Delegierte an Ort und Stelle, nm das geeignete Terrain für die Niederlassung ansznsnchen. Die weite öde Steppe, welche bis dahin nur der Aufenthalt nomadisierender Hirtenvölker war, rief den frommen Brüdern die Waudernng des Propheten Elias durch die Wüste nach Sarepta ins Gedächtnis uud die Worte, welche er dort znr Witwe ge-sprocheu, daß das Mehl in ihren: Gefäße sich nicht verringern, das Öl in ihrem Krngc nicht abnehmen werde. Dieser Gedanke erschien ihnen als Wink der Vorsehung, sie entfchieden sich für — 190 — die Gegcnd, die vor ihnen lag, nannten ihre Kolonie Sarepta und wählten zum Gemeindesiegel das Mchlgcfäß mit Kornähren und den Ölkrug unter dem Olivenbaum. Sie hatten, selbst bei der liberalsten Unterstützung der Regierung, ganz enorme Schwierigkeiten zu überwinden, um die Steppe urbar zu machen uud die Keime des Ackerbaus und der Industrie zu entwickeln, welche das heutige Sarepta zu einer reichen und blühenden Stadt gemacht haben. Es gehörte dazu die ganze Ausdauer, der nncrmüdliche Fleiß uud die zähe Geduld, welche den Herrenhuter Vrüdern in so hohem Grade cigcu sind. Sarcpta, 1637 Kilometer von St. Petersburg, 25 von der Stadt Zarlzyn, liegt an beiden Ufern der Sarfta, welche linweit der Kolonie in die Wolga mündet. Im Jahre 1874 zählte der Ort 1225 Einwohner. Das srenndlichc Städtchen liegt malerisch an den sauftabfallenden, von grünen Schluchten durchzogenen Wolga-Bergen, welche sich hier zum letzten Mal dem Ricsenstrom nähern, ehe sie sich in der Kalmyken-Steppe verlieren. Die hübschen steinernen Häuser bilden regelmäßige, breite und reinliche Straßen, die auf beiden Seiten mit Pyramiden-Pappeln oder Maulbeerbäumen bepflanzt sind. Vor der Kirche befindet sich ein großer, schöner Platz mit einem Springbrunnen, von Akazien bestanden. Die ganze Stadt ist von Blumcngärtchcn durchzogen; alles stralt von Ordnnng, Sauberkeit uud Schönheitssinn. Bis in die ncncstc Zeit genoß die Kolonie hervorragende Privilegien (Kaiser Paul verlieh derselben eigene Gerichtsbarkeit): anch heute noch erfreut sie sich einer glänzenden Ausnahmestellung in vollkommener Selbständigkeit und Selbstverwaltung. Alle kirchlichen und socialen Einrichtungen sind denen von Herrenhut treu nachgebildet. Die Bewohner Sareptas sind ausgezeichnete Acker- und Gartcnbauer. Außer verschiedenen Arten von Getreide, Gartenfrüchten und Wein, ziehen sie Tabak, vor allem aber enorme Quantitäten von Senf, der unter dem Namen Sareptascher Senf sehr geschätzt und weit verbreitet ist. Auch — 191 — in verschiedenen Industriezweigen leistet die Ansiedelnng fast Unglaubliches. Sie verarbeiten den gebauten Senf an Ort und Stelle und haben dabei Seiden- und Wollwebereien, Seifenfabriken, Nauch- und Schmlvftabaksmamifakturcn, Brauereien und Brennereien nnd den lebhaftesten Handel. Außer ihren Niederlagen in vielen Städten des Neichs steht mit der Kolonie ein großes Handlungshans zu St. Petersburg iu Zusammenhang, welches teils die Produkte Sareptas absetzt, teils auf eigene Nechnung einen schwunghaften Export- und Importhandel treibt. Dies grußartige Institut, an dessen Spitze augeublicklich ein Sarcfttaner steht, hat seinen eigenen Gebäude-Komplex mit schöner geräumiger Kirche. Drittes Gebiet. Die deutscheu Kolonieen am Kau-, kasus werden durch die Gebirgskette selbst in cis- und transkaukasische geschiedeu. Diesseits der Vergricscu liegeu von älteren Kolonicen: Alexandcrsdorf, drei Kilometer von der Festung Naltschik mit etwa 600 Einwohnern, welche 1ö4li aus den Gouvernements Ssamära uud Ssarütow einwanderten nnd sich gut akklimatisiert haben. Kana, 40 Kilometer von Mosdok, mit mehr als 600 Seelen, dessen Bewohner gleichfalls aus den deutschen Kuloniecu an der Wolga hcrgcwandert. Die schottische Kolonie Karas, am Fuße des Berges Bcschdan, besitzt eine große, ansehnliche, aus Stein gebaute Kirche, ein ordentliches Schulgebäude, saubere Wohuhäuser mit Obst- und Blumengärten und fließende Brunnen mit sclbstgebauten Wasserleitungen. Die Bewohner sind meist reformiert, in der Minderheit lutherisch, nud verwerfen, als echte Abkömmlinge der Schotten, welche die Kolonie gegründet haben, alle Bilder, jeden äußeren Schmuck der Kirche. In Wirklichkeit finden sich übrigens hier uur wenige Enkel der schottischeu Missionäre und die Bewohner der Ansiedelung sind meist Dentsche. Schweden uud getaufte Kabardiner. Bei ihnen hat sich die Nassenlrc^ung nicht bewährt. Sie sind haßlich, nn-wissend und demoralisiert. Letzteres ist die Wirkung der bcnach- — 192 — barten Badeorte Pjatia/>rsk und Shelesnowodsk. Bci weitem höher steht Konstautinowka (auch Bethanien genannt) zwischen Georgiswsk nnd Pjatigl'rsk am Flüßchen Podkümok, ein nicht unbedeutendes, wulhabendes Dorf mit guten Sitten uud guten Traditionen. Hier hat jedes Haus seinen Obst- und Blumengarten, Zucht nnd Ordnuug herrscheu in Familie, Schule und Gemeinde, die auch materiell gedeiht. NikMjewka, in der Nähe der vorigen Niederlassung gelegen, ist wol zahlreich au Höfen uud ausgezeichnet durch seinen primitiven Weinban, der in der Gegend sonst nicht getrieben wird, aber ein nnordeutlich aussehendes Dorf, dessen Bewohner dem Trunk fröhnen uud schlecht beleumundet sind. Die bedeutendsten deutschen Kolonieen im Nordcu des Kaukasus sind die nachbarlichen Tcmpclhof uud Orbeliimowka, welche zwischen der Eisenbahn und Shelesuowudsk liegen. Sie blühen nud gedeihen, so eigentümlich anch die Voraussetzungen sind, denen sie ihre Entstehung verdanken. Gegründet uud bewohnt siud sie von Ierusalcmsfreundcn ans Norddeutschland uud Würtem-berg, welche den baldigen Untergang der Welt erwarten, denen aber der Kaukasus als Zufluchtsort uud Nettuugspunkt in der Katastrophe verheißen ist, weshalb sie denn auch mit Vorliebe hierher wauderu. Nüchterne, fleißige, bescheidene und sittliche Leute, sind sie untereinander zn allem Gnlen verbunden, verwerfen aber alles, was an eine Kirche nnd kirchliche Verfassung erinnert. Sie haben keine Geistlichen, kein Gotteshans, keine Sakramente, nennen sich aber Christen. Das Kind ist dnrch seine Geburt innerhalb der Gemeinde Mitglied derselben. Vcsoudereu Wert legen sie ans gnte Schulen, besitzen eine solche in Tempel-Hof und haben am 2. Oktober 1883 in Orbelilmowka ein Pro-gymnasium feierlich eröffnet. Nicht wenige ihrer Söhne besnchen Universitäten. Sie haben treffliche Wohnungen, betreiben den Ackerbau mit Maschinen, besitzen eine Dampsmühle und zeichnen sich vor den andern, etwas zurückgebliebeueu Kolonisten dadurch alis, daß sic mit der großen Welt in Verbindung bleiben, rciscu, — 193 — neue Erfinduugcu einführen und nach l)öherer Bildung streben. Gute Unterthanen, gegen Menschen und Tiere milde nnd frcuud-llch, führen sie ein sittliches Leben nnd geben in allen Dingen das beste Beispiel. Nuch im Gebiet des KnbVm giebt es solche Ierusalcmsfrennde nnd mehrere Mm ihnen gegründeteKolonieen. Eine ncnc ciskankasische Niederlassung ist Gnadenthal, am Tcrek von Clötianern aus Würlemberg 12 Kilometer von Mos-dok im Jahre 1880 gegründet. Seit demselben Jahre besteht ein Komplex vun vier deutschen Koloniccn an der Vujwola, über welche mir nichts Näheres bekannt ist. Unweit Mosdok am Terck und der Eisenbahnstation Mincrälnyja W6dy sind neue deutsche Ansiedelnngcn im Werden begriffen. Während die Kolonieen im Norden des Gebirges gerade nicht als Muster-Ansiedelungen gelten können und sich manche gewichtige Rüge gesattelt lassen müssen, sind die deutschen Niederlassungen im transkaukasischen Gebiet wahre Modelle des Blühcns und Gedeihens sowol der Dörfer wie ihrer Bewohner. Wundert man sich darüber, wie ans denselben Elementen, aus ähnlichem Vodeu und unter verwandten Verhältnissen so Verschiedenartiges sich entwickeln konnle, so liegt wol in dem verderblichen Einflnß der nordkaukasischen Kurorte nnd in der Hetcrogcnität der Be-völkcruug im Terck-Gebiet die Lösuug des Rätsels. Von dcu lieblichen und wolhabenden Kolouiecn Trauskaukasieus erwähne ich das 40 Kilometer von Tiflis entfernte, auf dein Wege nach dem Weiulaude Kachetien gelegene Marieufeld und nicht weit davon Frcndcntal und Petersdorf, alle dr.i im Jahre 1830 durch Einwanderer ans dem Neckar- und Nemsthal gegründet, schmuck nud wolgcbaut, trefflich gedeihend uud ebenso bekannt wegen der Ordnung uud Reinlichkeit der Dörfer als durch die Freundlichkeit und Geselligkeit ihrer Bewohner. Fcruer südlich von Tiflis Elisabethtal und das reich bevölkerte Iekaterincnfeld, nördlich ein anderes Alexandcrsdorf nnd südöstlich Annenseld nnd die große Kolonie Helencndorf. 2. Die Schweden. Der schwedische Volksstamm, welcher Mcl,cr, Rilssland, i. ^ — 194 — in Russland mit etwa 275^00 Köpfen vertreten ist, bewohnt in seiner großen Mehrzahl das Großfürsten win Finland, wo cr zu der eingeborenen finischen Bevölkerung in einein ähnlichen Verhältnis steht, wie die Deutschen der Ostsecpruvinzen zu Letten nnd Esten. Außerdem wohnen cinc geringe Anzahl Schweden in den Gouvernements St. Petersburg, Estland, Livland n. a. Die in den baltischen Provinzen ansässigen schwedischen Adels-familien sind im Lanfc der Zeit vollkommen deutsch geworden. N. Der iranischen Gruppe werden die Armenier und Zigeuner zugezählt. 1. Armenier. In den Gouvernements Astrachan. Ickatc-rinossläw, Chcrsun nnd Tauricn leben gegen 35 000 Armenier, in der kaukasischen Statthalterschaft etwa ein halbe Million; zerstreut finden sie sich überall in Nussland. Sie sind von schlankem hohen Wnchs, wenn auch nicht sehr kräftig, haben schöne regelmäßige Züge, ansehnliche starkgebogcne Nasen, große dunkle, feurige Augen, starke schwarze Augenbrauen nnd Haare. Die Frauen sind Schönheiten von echt asiatischem Typus, ihr bräunlicher Teint wird durch die dunkclglühcndcn Augen belebt; öffentlich zeigen sie sich nur von langen weißen Schleiern verhüllt. Die vornehlucrcu beiderlei Geschlechts habcu längst die Nationaltracht — die Männer den Kasten mit aufgeschlitzten Ärmeln, weite Beinkleider und hohe Fellmützen, die Frauen ihre orientalischen Gewänder — abgelegt und europäische Moden angenommen. Blick und Ausdruck der Armenier lassen ihre ungewöhnliche Schlauheit erkennen, die ihnen im Verein mit Neigung und Talent znm Handel die Bezeichnung der „Inden des Morgenlandes" verschafft hat. Ein russisches Sprüchwort sagt: „Zwei Juden machen einen Armenier, zwei Armenier einen Griechen, zwei Griechen einen Teufel." Während der angesessene, ackerbautreibende Armenier als gerade und offen, friedliebend, mildthätig, fleißig und sparsam geschildert wird, hat der handeltreibende, in der Fremde wohnende, die Sittencinfalt seines — 195 — > Stammes eingebüßt; er ist Nug, gelehrig, gewandt, aber auch verschlagen, doppelzüngig und geizig. Die russischen Armenier bekennen sich zur sogenannten nicht unicrten armenischen (gregorianischen) Kirche, deren Oberhaupt der Patriarch zu Etschnüadsin ist. Sein Bild (Fig. 56) möge hier den Typus des Stammes vertreten. 2. Die Zigeuner (russ. Sing. Zia/m) werden, wie in aller Welt, in allen Landstrichen Nusslauds angetroffen. Iu größeren kompakten Massen bewohnen sie die Gouvernements Besfarabien (19 000) und Taurien (6000), ihre Gesamtzahl in Russland wird auf 112 000 Köpfe geschätzt. Es zweifelt niemand mehr daran, daß dies geheimnisvolle Wandcrvolk ursprünglich iu Indien seine Heimat hatte, von wo es sich über den Westen verbreitete. Der Grundstock seiner Sprache ist überall derselbe, nur daß sie in jedem Lande, wo die Zigeuner heimisch wnrdcn, von den dort wohnenden Völkern zahlreiche Elemente aufgenommen hat. Und das ist in so ausgedehnter Weise der Fall gewesen, daß z. B. der spanische und der russische Zigeuner sich unmöglich verstehen können. Die Farbe des Volkes schattiert von dunklem Braun bis zu lichtem Schmutzig-gelb; das Gesicht ohne Spur vonRotistgcwöu-lich heller als der übrige Körper. Die Zigeuner sind von schlankem, ebenmäßigem Wuchs, haben eine treffliche Muskulatur der Glieder nud die jungen Mädchen uud Fraucu zeigen die reizendsten Formen. Die Geliebte des berüchtigten Millioncndiebs Iüchan-Mv, für die er verschwendete und stahl, war eine Zigcuneriu. Hände uud Füße sind klein, die Finger spitz, das Kinn rund, der Mund wolgeformt, die Zähne glänzend weiß, die Nase gebogen, die etwas schiefgeschlitzten, langbewimpcrtcn Augen dunkelfenrig, die Stirn schön gebildet uud hoch, das Haar schwarz uud straff. Die Frauen verblühen schnell und werden in spateren Jahren, wie die Italienerinnen, fett. In ihrer Kleidung folgen die Zigeuner den Gebräuchcu des Landstrichs, den sie bewohnen; im Süden Russlands ähnelt ihre Tracht der tatarischen, im 13" Fig. 56. Al,»c»i!cher Patriarch. — 197 — Norden der großrussischen; etwas eigentümlich Nationales haben sie nicht aufzuwciseli. Sie heiraten frühzeitig und ihre Ehen sind sehr fruchtbar, wenn man überhaupt die bei ihnen übliche lockere Verbindung zwischen Mann und Weib Ehe nennen will. Der Zigeuner ist geistig begabt und mit Anlagen zu allerlei Kunstfertigkeit reich ausgestattet. Über ihre religiösen Anschauungen schwebt ein gewisses Dunkel. In jedem Laude, das sie durchwandern oder wo sie sich ansässig machen, bekenncu sie sich zu dem herrschenden Glauben. Uuter Protestanten sind sie protcstau tisch, beobachten unter Katholiken die katholischen Gebräuche, in Russland zählen sie sich zur orthodoxen Kirche, spielen unter Tataren die Muselmänner — alles aber nur rein äußerlich. Ob sie iuuerlich ihre besonderen, eigenen religiösen Anschauungen haben, steht dahin. Das russische Gesetz hat die Zigeuner gezwungen, sich an festen Wohnsitzen niederzulassen. Man trifft solche Zigeuner-ansicdelungen hauptsächlich in den angeführten Gouvernements, aber auch in Litauen und Polen. In Moskau bilden sie eine geschlossene Kolonie. Das alles hindert sie nicht, dem angeborenen Wandertriebe folgend, im ganzen Reiche zu nomadisieren, überall ungern gesehene, gefürchtetc Gäste. Treiben die Männer auch verschiedene Handwerke wie Schmiede- und Schlosserarbeit, Kessel-slicken, Drahtbindcn, das Schnitzen hölzerner Geschirre, oder Produzieren sich dieselben als Noßkämme, Tierärzte, Bärenführer und Musikanten, suchen die Weiber eine Art ostensiblen Erwerb durch Wahrsagen, die jungen durch Tanzen und Singen — so muß doch Betteln und Stchleu den größten Teil ihres Lebensbedarfs aufbringen, namentlich sind die Weiber dem Geflügel gefährlich, die Männer berüchtigte Pferdediebe. Vor der Gewalt beugt fich der Zigeuner sklavisch, dem Schwachen gegenüber ist er anmaßend nnd unverschämt; der einsam wohnende russische Landmann hat davon manch' böses Lied zu singen. Der Zigeuner ist leichtsinnig, treulos, betrügerisch und furchtsam, unreinlich im Lager russischer Zigeuner. Fiss. 57. __ 199 __ höchsten Grade und ohne jeden Ekel. Er genießt so gnt wie alles. Männer nnd Weiber rauchen und kauen Tabak. Musik und Tanz wird von den russischen Zigeunern mit Leidenschaft gepflegt; ich werde darauf zurückkommen. Unser Bild (Fig 57) stellt den Lagerplatz wandernder Zigeuner dar. Im Vordergründe vor dem urwüchsigen Zelte schlummert das Familicnhaupt neben einem seiner Sprößlinge Pferde uud Hunde Pflegen gleichfalls der Nuhe. Das vermutlich nicht auf ehrlichem Wege erworbene Geflügel sucht kärgliche Nahrung. Links sind die Weiber mit Kochen und Waschen beschäftigt. Eine jugendliche Schöne in leichtester Bekleidung hat über dem Haupte die Zeltstauge gefaßt und dehnt behaglich die üppigen Glieder, indem sie lächend auf das Treiben umher, vielleicht einem nahenden Wanderer entgegcnschant. II. Dölker mongolischen Stammes. ^. Tatarische Grnppe. 1. Die Tataren, deren Zahl anf etwa 1 300000 zu schätzen ist, bilden einen bedeutenden Bestandteil (1,7 bis 28,8 Prozent) der Bevölkerung im unteren Talgcbict der Wolga vom Gouvernement Nishni-Nowgorod an bis znr Mündung. Ebenso stark sind sie vertreten in den Gouvernements Taurien, P6nsa, Orenburg, WMka uud Pern,; zerstreut finden sie sich in allen übrigen Gebieten des russischen Reichs mit Ausnahme der westlichen Grenzlande, der Ostseeprovinzen und des Grußfürstcntnms Finland. Sämtliche Tataren, von denen die nahverwandten Nogaicr unterschieden werden, sind Bekenner des Islam und Zerfallen in zwei Hanptstämme, die östlichen nnd die Krym'schen. Unter den ersteren sind die Kasän'schen die vornehmsten Vertreter des Nationaltypus, den sie am reinsten bewahrt haben. Der Tatar ist von schlankem Wuchs, hat einen ovalen Kopf, bräunlichen Teint, schöne, regelmäßige Züge, weiße Zähne, kleine schwarze lebhafte Augen, ticfdnnkles Haar, das er nach oricn- — 200 — talischcm Branche rasiert, und dünnen Bartwuchs. Dic Gesichtsbildung der Fralien ist angenehm, doch verblühen sie sehr rasch. Die Kleidnng der Männer ist morgenländisch bequem. Über einem ziemlich langen, ärmellosen Nock, bei den Rncheren von bimtem Seidcnzcng, tragen sie den Chalät, eine Nrt Schlafrock oder Kaftän. Ein seidener Gürtel nmspannt die Taille. Das glattgcschorcnc Haupt bedeckt ein Kävpchen (Icrmolka), das mehr oder weniger reich gestickt ist, und dieses ein heller, kegelförmiger Filzhul. Die Geistlichen, Mollahs oder Mullahs, sieht man hänfig im Tnrban. Die tatarischen Frauen fiihrcn das müßige Leben musel-nlännischcr Weiber, das in Essen, Trinken und Putzen besteht. Sic färben Augenbrauen, den Nand der Augenlider und dic Zähne schwarz, die Fingernägel gelbbraun nnd schminken das Gesicht weiß und rot. Ihre gewöhnliche Hansklcidnng besteht in einem bis anf die Füße reichenden lninten, baumwollenen Hemde mit gesticktem nnd reichbesetztem Brustlatz, der hänfig mit kleinen Silbcrmünzen verziert wird. Wollen sie sich sehen lassen, wird über dem Untcrklcidc noch cin Chnlät von Baumwolle oder Seide mit langherabhängcnden Ärmeln getragen: über den Kopf gezogen dient derselbe häufig als Schleier. Die ärmeren umwinden das Haupt mit einem einfachen tnrbanartigen Tuche, dessen Kanten gestickt sind, die Ncichen bedecken das Haar mit seidener Stirnbinde, die nicht selten mit Goldfäden, Perlen und Edclgcstein geziert ist. Zöpfe, Ohren, Hals und Hände werden gern geschmückt. (Fig. 58.) Der Tatar ist religiös. Seine Gebete verrichtet er mit einer Andacht, in der ihn nichts zu stören vermag. Er ist mäßig in Speise und Trank. Seine Nahrnng besteht in allerlei Fleisch-nnd Pflanzenkost. Schweinefleisch und Krebse genießt er nicht; Honig und Neis sind sehr beliebt. Er ist offen, gastfrei wie alle Orientalen, verträglich, beqncm, ohne träge zu sein, nnd liebt Ordnung nnd Reinlichkeit. Die Kaslin'schen Tataren bewohneil Städte nnd Dörfer. In — 201 — dm ersteren treiben sie Handel mit Thee, bucharischen Waaren, europäischen Zeugen u. dgl. oder unterhalten allerlei Mannfak-turcu uud Fabriken; in den letzteren beschäftigen sie sich mit Ackerbau, Vieh- nud Bienenzucht. Mit Vorliebe treibt der Tatar Handelsgeschäfte und durchwandert gern als Hausierer die Straßeu der großen Städte. Dabei ist er schlau, gewandt und znm Ve-truge geneigt. Mit aller Verschlagenheit paart er ein gewisses Fic,. 58. Kasiwsch? Tataren..' aufrichtiges Wesen. Er lügt gern, bekennt aber die Unwahrheit eben so leicht, als er sie gesprochen. Er ist von scharfem Verstände und gutem Gedächtnis. Wie eine Tradition der alten Nomadenzeit ist den Tataren große Zunciguug zu den Pferden und Gchhick in ihrer Behandlung eingeboren. Deshalb sieht man sie in den Familien der Residenz häufig als Kutscher. Auch als geschickte Kellner werden sie gern in Gasthäusern und Restaurationen verwendet. — 202 — Das Haus dcs Tataren ist in orientalischer Weise eingeteilt. Ein Hansflur, in welchem in der Ncgcl die Andachten verrichtet werden, trennt die Frauengcmächcr von dem Aufenthalt der Männer. Selbst bei den ärmsten, die nur ein Zimmer bewohnen, sind die Sitze der Weiber durch einen Vorhang von dem übrigen Gemach geschieden. An den Wänden befinden sich die Divans, breite Bänke mit Polstern und Teppichen belegt. Fasten und Feste dcs Islam werden von den Tataren aufs strengste beobachtet. Eine nationale Feier ist der Ssaban (Pflug), das Frühlingsfest der Landbewohner. Öffentliche Spiele, Wettkampf und Pferderennen vereinigen an demselben die männliche Bevölkerung, die Weiber sehen verschleiert aus der Ferne zu. Die Heiraten werden bei den Tataren durch Freiwerber eingeleitet. Braut und Bräutigam dürfen sich nicht früher sehen, bis sie Mann und Frau sind, ein Gebrauch, der gewöhnlich umgangen wird. Der Bräutigam zahlt für die Braut einen Kaufpreis (Kalym), der bei Reichen nicht selten bis auf tausend Rubel steigt. Die eine Hälfte desselben wird zur Aussteuer verwandt, die andere für die Frau im Falle der Scheidung aufgehoben. Das musclmännische Gesetz gestattet dem Tataren vier Weiber, doch selbst die Reichen begnügen sich mit zweien, die Armen haben nie mehr als eine. Die Kinder auch der reichsten Tataren werden von den Müttern selbst gestillt. Sobald ein solches zur Welt gekommen, wird es gewaschen, in reine Tücher gehüllt und auf den Tisch gelegt. Dann erscheint der Mollah, spricht die mohammedanische Glanbensformcl und das Kind erhält seinen Namen. Die Be-schneiduug findet später statt, jedoch vor dem achtcu Jahre, ohne jede religiöse Zeremonie. Scheidungen können vom Geistlichen ohne besondere Schwierigkeiten vorgenommen werden. Die geschiedenen Gatten können sich wieder verheiraten, der Mann sofort, die Frau nach bestimmter vom Gesetz vorgeschriebener Frist. Tote blciben nicht länger als zwölf Stunden unbeerdigt. — 203 — Sie werden auf einem offenen Brett zum Friedhof getragen. Das Andenken der Verstorbenen wird ill hohen Ehren gehalten. Die Astrachän'schen Tataren werden in Stadt-, Dorf- und Zelttataren unterschieden. Die ersteren bilden eine besondere Kolonie in der Stadt Astrachan, sind Kanflente und weichen im Vlußcren, Kleidung, Sitten und Gebräuchen nur wenig von ihren Kasan'schcn Stammesgenossen ab. Die Dorftatarcn sind größtenteils Frucht- und Gemüfcgä'rtner, welche ihre Erzeugnisse in der Stadt absetzen. Die Zclttataren sind nomadisierende Hirten, die von dem Ertrage ihrer Herden leben. DieKrym'schen Tataren unterscheiden sich von ihren Brüdern im Vinnenlande durch ein seßhafteres Leben und eine höhere Kultur, die sie in der Zeit erwarben, als sie ein großes Reich unter mächtigen Herrschern bildeten, die mit dem Padischah und den Völkern der Adria und des Mittelmeeres verkehrten. Sie zerfallen in drei verschiedene Volksschatticrungcn, die sich nach den Gegenden, die sie bewohnen, in Küsten-, Berg- und Steppen-tataren unterscheiden lassen. Alle sind entweder Hirten oder Ackerbauer; der Gartcnkultur wird nur geringer Fleiß zugewandt. Die Steppentataren im Norden der Krym sind die reinste,: Vertreter des eigentlichen Mongolentypus. Sie sind klein, von brauner Hautfarbe, haben ein breites flaches Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen und schiefgeschlitztc kleine Augen. Die Frauen sind häßlich. Die Bergtataren, welche die Gebirgsgegenden der Halbinsel bewohnen, zeigen das mongolische Gepräge in viel geringerem Grade. Sie sind wolgcbildete ansehnliche Leute. Die Küstcntataren, am Südufcr der Krym, werden von ihren Stammesbrüder,! Abtrüunige genannt. In der That haben sie die geringste Mitgift von den Rasscneigentümlichkciten der anderen erhalten. Regelmäßige, angenehme Züge, ein starker gelockter Bart, stramme Haltung, offener Blick unterscheiden sie — 204 — nicht minder von ihren stammverwandten Nachbarn, als größere Regsamkeit und Fleiß. Ich habe oben die tatarisch sprechenden Griechen erwähnt, welche im Norden des Asow'schen Meeres ansässig sind. Man findet zwischen ihnen und den Krym'schen Küstentataren die auffallendste Ähnlichkeit. So ist es denn sehr möglich, daß die letzteren gar nicht tatarischen Stammes sind, sondern Hellenen, welche vor der mongolischen Einwanderung jene Gegenden kolonisiert hatten und später Religion nnd Sprache der Sieger annahmen. Die Krym'schen Tataren sind ehrlich, nüchtern und gastfreundlich. Im ganzen genommen träge, gestattet ihnen eine seltene Mäßigkeit das allergeringste Quantum von Arbeit. Neben ihren alten Stammcsgebräuchen haben die Krym'schen Tataren auch mancherlei von den Türken überkommen. Dahin gehört der Stirnkampf, der noch kürzlich in einem Dorfe bei Alüpka seine Opfer gefordert hat. Die Kämpfer, Zwei junge Lentc, postieren sich in gewisser Distanz, rennen dann aufeinander zu und stoßen im Anlanf, wie Widder, mit den Köpfen zusammen. Beule häuft sich auf Beule, das Blut fließt in Strömen von den Stirnen der Kämpfer, keiner will sich als überwunden bekennen. In jenem Dorfe bei Alüpka stürzte endlich einer der Streiter ermattet zu Boden und gebrauchte seine letzte Kraft um das Messer aus dem Gürtel zu ziehen und sich die Kehle zu durchschneiden. Der herbeigerufene Arzt konstatierte, daß dieser Selbstmord eine Folge des Wahnsinns war, welchen die starte Gehirnerschütterung erzeugt hatte. Wo Tataren und Russen dieselben Dörfer bewohnen, leben sie in Frieden und bester Eintracht, ohne daß auch nur die geringste Verschmelzung der Nassen stattfände. Die Religion bildet eine unübersteigliche Kluft. An dem einen Ende des Dorfes steht die Kirche, am anderen die Moschee. Die Dorfgemeinde mit dem Ältesten an der Spitze bildet ein harmonisches Ganze, das jedoch gesellschaftlich in zwei getrennte Gemeinschaften mit verschiedener Sitte und Lebensart zerfällt. Das eine mal wird — 205 — cm Russe, das andere mal eili Tatar znm Vorstand gewählt und die Angelegenheiten der Gcntcindc wcrdcn verN'altct, ohne daß die Religion dabei ins Spiel käme. Religiöser Fanatismus und Vekchrungssucht sind dem russischen Volke unbekannte Dinge. 2. Die Nogaicr oder Nogai-Tataren (russ. Nog-Ijez, Plur. Nogäizy, Fcm. Nogäiza) sind ein tatarischer Volksstamm, über den sich wenig Zuverlässiges sagen läßt. Von den einen erhalten die zwischen dem Asow'schcn Meer und dein Kaspisec angesiedelten Steppcntataren diese Bezeichnung, von andern die Stämme, welche im Norden des As6w'schcn Meeres wohnen, wieder andere nennen die Krym'schcn Tataren Abkömmlinge der alten Nogaicr, andere zählen die Astrachän'schcn Tataren zu diesen und endlich wird sogar behauptet, es gäbe gar keine Nogaicr mehr in Russlaud, sie wären samt und sonders nach dem Krymkricge in die Türkei ausgewandert. Wie dem nun scin mag, jedenfalls sind die in Russlaud vorhandenen Neste dieses Stammes bei den übrigen Tataren mitgezählt. Die Nogaicr, dcreu Namc von Noga'l, einem Enkel von Tschingischan herrührt, halten sich für Nachkommen Ismacls und einen besonders reinen, unvcrmischtcu Stamm. Sie sind gclb-brauu von Farbe, von untersetztem Körperbau, muskulös, hager, haben starte Vrnst und Schultern, cm feuriges Auge, abstehende Ohren, einen mittelgroßen Mund mit dicken Lippen, schöne Zähne, starken Hals und dünnen Bart. (Fig. 59.) Die Weiber sind gewöhnlich heller gefärbt, haben in dcr Jugend regelmäßige, oft schölle Gesichtszüge, verblühen aber schnell. Der Nogaicr hat außerordentlich scharfe Sinneswerkzeuge und findet sich in dcr Steppe znrecht, wie der Beduine in dcr Wüste. Die Kleidung ist mit einigen Abweichungen die allgemein-tatarische: auch Sitten und Gebräuche, religiöse und weltliche Feste sind nicht sehr verschieden. 3. Die Baschkiren. Sie bewohnen vorzugsweise die Gouvernements Orenburg und Ufa, in geringerer Zahl Perm, Ssaimira und WMka und übersteigt ihre Kopfzahl mit den zwischen ihnen — 206 - zerstreut lebenden MeschtscherMn, Teptjärcn nnd Bobylen eine Million. Die Baschkiren haben einen start untersetzten, kräftigen Körperbau, große Ohren, schwachen Bartwuchs und gleichen überhaupt Nogaler. i»n wesentlichen den Tataren. Unter den Weibern und Mädchen würden sich eine beträchtliche Anzahl hübscher Gesichter finden, wenn sie nicht so häusig durch Pocken und Syphilis verunstaltet wären. Die Baschkiren sind muselmännische Sunniten, reden — 207 ^- tatarisch und nennen sich selbst Vaschkür. Sie rasieren den Kopf, bedecken ihn mit einem spitzen Käppchen nnd tragen darüber eine hohe, kegelförmige Filz- oder Pelzmütze mit abstehendem, nach aufwärts gebogenem Rande. Sie halten viel auf Kleidung und wechseln dieselbe häufig. Bei den Männern besteht sie aus eiucm weiten blauen oder roten Kaftän, der von einem Gürtel oder Riemen zusammengehalten wird, weiten Hosen und Stiefeln. Die Tracht der Frauen hat mehr finisches als tatarisches Gepräge. Ihr Kaftän aus Seide oder Baumwolle ist iu der Regel mit buntem Zeug oder Silbcrmüuzcu benäht. Der Kopfputz, Kaschbid, ist ein reich mit Perlen, Korallen, Münzen u. dgl. besetztes Mützchcn; die Mädchen umwinden das Haar mit einem bunten Tuche. Auch die Frauen tragen Stiefel. Das Land der Baschkiren ist in 26 Woloste oder Bezirke eingeteilt, deren jeder von einem selbstgewählten Ältesten (Starschinä) verwaltet wird. Sie leisten Dienst als leichte Reiterei und müssen sich vom 17. bis 43. Jahre im Falle der Einberufung stellen. Der Baschkir bewaffnet sich mit Lanze und Bogengcschütz. Wer einen Säbel hat, trägt ihn. Fcucrgewchrc besitzen nur diejenigen, welche beim Anfgebot mit denselben versehen sein müssen. Sie sind mittelmäßige Soldaten, aber treffliche Reiter. Bogen nnd Pfeile sind nicht die vollkommensten, werden aber mit ansgc-zcichnctcr Geschicklichkcit gehandhabt. Im Kampfe zieht der Baschkir den auf dem Rücken hängenden Kücher vor die Brust, nimmt zwei Pfeile zwischen die Zähne und legt zwei auf den Bogen, die er mit Blitzesschnelle abschießt. Beim Angriff drückt er sich hart ans Pferd und stürzt, Arme nnd Brust entblößt, mit mörderischem Geschrei auf dcu Fciud. Nachdem er die vier Pfeile abgeschossen, greift er zur Lanze. Die Baschkiren sind gastfrei, gefällig nnd dienstfertig, aber auch listig und diebisch; besonders ist der Pferdedicbstahl bei ihnen eingewurzelt. Sie leben größtenteils von der Viehzucht; da aber ihr Weidcgebiet durch die Übergriffe der nralischen Kosakcu im Osten und durch die uordringende Flut russischer — 208 — Kolonisation im Norden und Westen bedentcnd geschmälert ist, scheu sic sich genötigt, vom unstäten wandernden Hirtenleben znm seßhaften Ackerbau überzugehen. Zu letzterem fühlen sie aber dnrchaus keine Neigung uud haben zn dem Auskunftsmittcl gegriffen, einen Teil ihres Landes von rnssischcn Bancrn bearbeiten zu lassen und diesen dafür einen Anteil an der Ernte zu bewilligen. Die Baschkiren sind vorzugsweise Pferdchirten, nebenbei ziehen sie auch Rindvieh, Schafe und Kamele; in der Bienenzucht siud sie Meister. Ihre Pferde sind klein, aber stark und ansdaucrud. Diese sind nicht allein Neit-, Last- und Zugtiere, auch ihr Fleisch wie ihre Milch geben dein Baschkiren willkommene Nahrung. Aus lchtcrcr bereitet er seiu Lieblingsgetrank, den KunNH. Ans den Häuten werden Kleider und Schläuche, aus den Haaren Decken, Stricke uud ähnliche Bedürfnisse des Hanfes angefertigt. Bei reichen Baschkiren findet man Pferdeherden von 2000 Stück. Eine Lieblingsbeschäftigung dieser Nomaden ist die Jagd, bei der auch der Falke häufig verwendet wird. Im Winter wohnen sie in ihren Auls oder Dörfern; im Sommer stehen diese leer. Dann leben sie mit ihren Herden in den grasreichcn Ebenen nnd kampieren in Filzzelten (Kiblt-tcu). Frischer KumW, Hammelfleisch uud Krut, ein steinharter saurer Käse, bilden dann ihre Hauptnahrnng. Die meisten Gebräuche der Baschkiren sind tatarisch, manche derselben höchst urwüchsig, z. V. das; der nach baschkirischen Begriffen Höfliche und Gebildete, um gefittct zu erscheinen, beim Mal seinem Nachbar so viel Speise in den Muud stopft, als hinein gehen will. Dieser entfernt dann das Quantum aus seinen Kauwerkzeugen, legt es auf die flache Hand und verzehrt es nach und nach. Das Lieblingsinstrument des Baschkiren, mit dem er sich unterhält und den Tanz der Iugcud begleitet, ist eine Flöte mit vier Löchern. Die Melodie, welche der Musiker auf demselben spielt, begleitet er dudelsackähnlich mit einem tiefen, gesungenen Gurgelton, zu welchem er den Atem durch die Nase einzieht. Von Zeit zu Zeit stößt er die überflüssige Luft - 209 — durch dieses Organ aus uud man genießt dann ein Terzett von Flöte, Vrummstimmc und Nasenton. 4. Die Kirgisen sind ein nomadisches Hirtenvolk, welches seine beweglichen Wohnsitze weit nach Centralasien hinein verlegt, im europäischen Rnssland aber in der Stärke von etwa 200000 Köpfen die Gouvernements Orenburg nnd Astrach-m durchwandert. Sie selbst nennen sich Kaissakcu (soviel wie Ko- Fig. 60. Kilgisenälteste. sakcn, womit sie den Begriff des Hernmschwcifcns verbinden) nnd heißen bei den Nüssen zum Unterschiede von den asiatischen Kirgisen. Kirgis-Kaissaken. Früher zerfiel das ganze Volk, asiatische und europäische, in drei Horden (Orda bedeutet Wohnnng oder Lager des Oberhaupts), die große, mittlere nnd kleine oder innere, letztere im europäischen Nussland, im Norden des Kaspi-sces, zwischen den Flüssen Wolga nnd Ur-U. Gegenwärtig haben die russischen Kirgisen aufgehört, sich nach Horden zu unter- Meyer, Russland. I. 14 — 210 - scheiden und werden administrativ in orcnbürg'sche und westsibirische eingeteilt. Ihr vom Kaiser bestätigter Khan nennt sich „Sultan-Ncgcnt" und erhält, wenn er Orenburg besucht, die Ehrenbezeigungen eines Souveräns. Auch einen Adel haben sie, den sie gegenüber dem gemeinen Volke, den „schwarzen Knochen", als die „weißen Knochen" bezeichnen. Das Äußere des Kirgisen verrät anf das deutlichste seine mongolische Herkunft. Bei mittlerem Wuchs ist das Gesicht ziemlich platt und breit, die Augen schmalgcschlitzt und schwarz, der Mund klein, die Backenknochen hervorstehend, der Bartwuchs spärlich. Vei den alten sind die Züge in der Regel stark verwittert. (Fig. 60.) Die Weiber haben schwarze Haare, wie die Männer, noch kleinere Angen als diese, sind in der Jugend schlank und breitschulterig, aber weder hübsch noch gewandt. Die Sprache der Kirgisen ist eine tatarische Mnndart. Von Krankheiten wissen diese Nomaden wenig und erreichen meist ein hohes Alter. Obgleich sie fast immer zu Pferde sind, ist ihre Kleidung doch znm Reiten sehr nngceignct. Sie tragen den langen schlafrockartigen Chalet nnd zwar, nach dem Wetter, oft zwei und drei übereinander. Der unterste vertritt die Stelle des Hemdes. Dazu kommen weite Hosen aus Kamelhaar oder Leder, ein Gürtel und spitze, mit Stlckerei geschmückte Stiefeln aus weichem Ziegenfell mit hohen Absätzen. Den geschorenen Kopf bedecken sie mit einem kleinen Sammet-Käppchen, der T)y-betsika, und tragen über dieser, wenn sie das Haus verlassen, eine spitze Filzmütze mit breitem Rande. (Fig. 61.) Die Weiber kleiden sich wenig anders als die Männer; ihre Challitc sind von feinerem Stoff und von lebhafterer Farbe. An ihren hohen runden Mützen tragen sie lange nach hinten herabwallende Schleier; das Haar hängt in Flechten auf den Rücken. Kopf, Hals und Brust reicher Frauen sind mit zahlreichem Schmuck bedeckt. Da auch die Weiber fast beständig reiten, gehört ein reich verziertes Zannp und Sattelzeug zum Vollständigen Putz. — 211 — Die Religion der Kirgisen ist der Islam, dessen Gcbüte sie jedoch nicht mit der sonst bei seinen Bekenncrn üblichen Strenge befolgen. So bleiben die Frauen selbst in Gegenwart Ungläubiger unverschleiert, was die Annehmlichkeit des Umgangs mit ihnen gerade nicht erhöht. In ihren Auls (Dörfern) existiert sogar ein gewisser gesellschaftlicher Verkehr zwischen beiden Geschlechtern. Fig. 61. Mrnisen. Die Krigiscn sind höchst nongierig, leichtgläubig und schwatzhaft. Im allgemeinen gastfreundlich, rechnen sie doch im stillen auf Wiedervergcltuug. Ihre Habsucht giebt nicht selten Veranlassung zu blutigen Streitigkeiten, die sich über ganze Geschlechter ausdehnen. Ihre Familienfehden veranlassen fortdauernd nächtliche Raubzüge und Überfälle (Baranta) der einen gegen die andcru, bei denen jedoch in der Regel das Leben geschont wird. Tötung hat Blutrache zur Folge. Bei alledem sind sie nicht tapfer; sie 14* — 212 — suchen den Feind durch List zu überrumpeln und ergreifen die Flucht, wenn sic kräftigen Widerstand finden. Als sie noch jeden wehrlosen Reisenden in der Steppe plünderten, wnrdcn sie uft durch die rnssische Theemaschine, den Ssamowär, den sie für eine Kanone hielten, in die Flncht geschlagen. Übrigens werden die Kirgisen der europäischen Steppe mit jedem Jahre mehr russi-fkicrt, während ihre Landsleute in Centralasien wilde, heimtückische und feige Räuber geblieben sind. Die Kirgisen leben vorzugsweise von der Viehzucht. Hier und durt treiben sie Ackerban als Nebenbeschäftigung; wo es geschieht, mit Umsicht und Fleiß. Ihr Hauptbesitz besteht in Herden der großen und schönen Fettfchwanz-Schafe, von denen manche Eigentümer 20 bis 30 000 Stück zählen, doch verwenden sie auch Sorgfalt auf die Züchtung von Kamelen und Pferden, Rindvieh und Ziegen.. Das Kirgisenpferd ist klein aber schlank und gut gebaut, ausdauernd und rasch. Industrie ist den Kirgisen so gut wie unbekannt; nur einige Hausgewerbe werden von den Weibern gepflegt. Sie spinnen und weben die Wolle ihrer Schafe und bereiten einen dauerhaften Filz. Sonst beziehen sie, anßer der Nahrung, so gut wie alle Bedürfnisse dnrch den Handel. Die Wohnung des Kirgisen ist ein rundes Zelt (Kibttke), das aus der Ferne wie ein riesiger Maulwurfshaufen oder wie ein Heuschober aussieht. Dasselbe besteht aus einem fachwerk-artigen Gestell, welches mit Filz bedeckt wird. Im Dache befindet sich eine Öffnung, die nach Bedürfnis geöffnet und geschlossen werden kann. Im Sommer wird der Filz durch bunte Strohmatten ersetzt. Das Innere der Kibitke (Fig. 62) ist häufig so reich verziert, daß ihre Herstellung mehrere tausend Rubel lostet. An den Wänden stehen schemelartige Sitze mit bunten Kissen; den Boden bedecken persische oder bucharische Teppiche. Den Winter über bleiben die Kirgisen gewöhnlich an demselben Orte; im Frühling beginnt die Wanderung von einem Lagerplatz zum andern. Am Ende des Sommers sind die cnt- — 213 — legmsten Stellen erreicht und man kehrt dann langsam zn dem Winterplatze zurück, wo das Gras sich unterdessen erneuert hat. Die Nahrung der Kirgisen besteht hauptsächlich in frischem Fleisch von Schafen und Rindern, seltener von Pferden nnd Kamelen, in geräucherten Pferde-Schinken nnd Würsten. Brot ist ihnen unbekannt. Eine Licblingsspeise ist der Fettschwanz Fig. 62. Inneres eines Mrgisenzeltes. des Schafes. In keiner Haushaltung fehlt der harte Käse (Krut). Als Getränk dient ihnen, außer Wasser, süße Milch, KumG und Airan, letzteres aus Schafmilch bereitet. Sie sind sehr geschickte Reiter und lernen mit Leichtigkeit alles, wozu mechanische Fertigkeit gehört; dabei ist jedoch alle Arbeit den Frauen aufgebürdet. Diese sorgen nicht allein snr Haushalt und Kleidung, sie müssen cmch die Zelte abbrechen und wieder aufbauen und die Männer wie Sklavinnen bedienen. — 214 — 4. Die Kalmyken, dcr letzte Volksstamm der tatarischen Gruppe, welcher im europäischen Russland in Betracht kommt, nomadisieren zumeist auf dem rechten Ufer der Wolga, während die Kirgisen vorzugsweise das linke bewohnen. Sie durchstreifen mit ihren Herden das Gebiet der donifchen Kosaken und die Gouvernements Orenburg, SsanUow und Astrachan, hauptsächlich Fig. 63. Alter Kalmyl. aber die Ebene zwischen den Flüssen Wolga, Don und Manytsch, und werden auf etwa 10000 Köpfe geschätzt. Sie treiben wie die Kirgisen Rindvieh-, Schaf- und Kamelzucht im größten Maßstabe, so daß diese beiden mongolischen Stämme einen großen Teil Nusslands mit Wolle, Talg. Filzdecken, Schaffellen und namentlich mit den geschätzten, glänzend schwarzen, kleinen Lammer-fcllen (Astrachan) versorgen. Die Kalmyken sind von mittlerer Größe, mager, wolgestaltct und breitschultrig. Sie haben ausnahmslos schwarzes straffes 215 - Haar, cm flaches Gesicht, hervorstehende Backenknochen, schmale schräggeschlitztc weit auseinanderstehcnde Augen, eine kleine platte Nase mit breiten Nasenlöchern, abstehende Ohren, weiße Zähne, dicke fleischige Lippen, ein kurzes Kinn nnd dünnen Bartwuchs. Fig. 6 4. Junger Kalnn,t. Die Hautfarbe beider Geschlechter ist gelbbraun; bei den Männern dunkler als bei den Frauen. Diese verschiedenen physiognomischen Eigentümlichkeiten machen einen so unharmonischen Gcsamtcindrnck, daß der Durchschnitts Baschkir oder Kirgise dem Kalnchken gegenüber als Schönheit erscheint. — 2:6 — Die Kalmyken rasieren ihr Haupthaar zwei bis drei Finger breit rings um deu Kopf; die Haarinscl in der Mitte wird gescheitelt. Kinn uud Wangen schecren sie ebenfalls, nur der Schnurrbart bleibt stehen, wird aber niemals gedreht (Fig. 63). Die Greise lassen das Haupthaar lang wachsen und flechten es hinten in einen Zopf. Die Kopfbedeckung der Kalmyken besteht in einer rnnden mit Schaffell verbrämten Mütze von gelbem Tuch, mit viereckigem Teller, an welchem eine rote Troddel hängt. (Fig. 64.) Die Leiber tragen ähnliche Kappen, häufig von edlerem Stoffe und mit kostbarem Pelzwerk. Das Haar scheiteln sie in der Mitte und flechten es in zwei Zöpfe, die sie über die Schultern nach vorn hcri'iberlegen nnd mit Haarbcnteln von schwarzem Pelüche verzieren. Auch falsche Flechten von Roßhaar werden häufig an die eigenen geknüpft. Das Schminken ist bei ihnen beliebt. Die Kalmyken beiderlei Geschlechts tragen kurze, bis an den Gürtel reichende, vorn offene Hemden und weite Pluderhosen. Die Männer ziehen kurze blaue Überröcke von Nanking darüber, im Winter Pelze. Die Überröcke der Weiber sind von Kattun, Seide oder Sammet, gewöhnlich mit Borten oder Bändern benäht. Vcim Reiten werden dieselben Obcrklcidcr getragen, nur ohne Ärmel und mit zurückgeschlagenen Schößen. Von dem Zeitpunkt an, wo die Formen der Mädchen sich zu rnnden beginnen, tragen diese eine Art Schnürlcib, denn die kalmykische Sitte verlangt, daß die Brust eines Mädchens flach wie ein Brett sei. Die jungen Schönen tragen, zum Unterschiede von den verheirateten Frauen, ihre Zöpfe nach hinten. Außer Bogen, Pfeil nnd Lanze führen die Kalmyken jetzt anch Fcucrgcwehr. Die Religion dieses Hirtenvolkes ist die buddhistische von der abergläubischsten Färbung. So werde»! sie denn von ihren unwissenden Priestern auf das stärkste ausgebeutet. Diese letzteren wohnen in Klöstern, den Mittelpunkten kleiner Ansiedelungen, die man bei den Kalmyken in größerer Zahl trifft, als bei ihren nomadisierenden Nachbarn. — 217 — Auch in Bezug auf ihre Sprache sind die Kalmyken isoliert unter den benachbarten Stämmen. Diese ist eine Mundart des Mongolischen von hohem Alter, aber sehr arm und mit keinem Idiom in der Nähe verwandt. Der Kalmyk ist lebhaft und munter, freundlich und dienstfertig, aber auch neugierig und mistrauisch, hat wenig Ausdauer und betrügt gern. Beide Geschlechter sind treffliche und kühne Nciter und außer ihrer Gewandtheit und Erfahrung in der Viehzucht haben sie große Geschicklichkcit in Jagd und Fischfang. Das Zelt des Kalmyken ist rund mit stumpf kegelförmigem Dach. Das ganze zu seinem Aufbau erforderliche Material besteht aus ciucr Anzahl von Staugen, starkcu Ncifcn, Stricken, und braunschwarzen, groben Filzdeckcn. Aus den ersteren fertigt man das Gerüst, mit den Filzdcckcn wird dasselbe bekleidet. Oben bleibt eine runde Öffnung zum Abzug des Rauchs, an der Seite eine andere als Thür. Diese Wohnuug ist ebenso schnell abgetragen, als aufgebaut, und bildet in ihrem Innern ein einziges, kreis-rnndcs, oben gewölbtes Gemach. In der Mitte befindet sich die Feucrstellc, über welcher der Kessel hängt, unbestritten das wichtigste Gerät in der nomadischen Haushaltung, deren jede nur einen einzigen besitzt. Wie im übrigen Europa die Anzahl der Familien in den Dörfern nach Fcucrstcllen oder Schornsteinen berechnet wird, so zählt man bei den Kalmyken nach Kesseln. Alles übrige Hausgcrät, mit Ausnahme des kupfernen Wasserkrugs, besteht aus Holz und ist von primitivster Gestalt. Einige auf dem Erdboden ausgebreitete Decken dienen als Sitz- und Schlafstättc. Zum Brennmaterial wird getrockneter Mist verwendet. Die Kalmyken genießen dieselbe Nahrung, wie die benachbarten mohammedanischen Völker. Dem Branntwein, dessen Genuß vom Buddhismus nicht untersagt ist, sind sie leidenschaftlich ergeben und bereiten eine eigentümliche Art desselben, Arsä, in einfachster Weise aus Stutenmilch, Schaf- oder Kuh- — 218 — milch. Auch für den Thee haben sie eine große Vorliebe. Sie bedienen sich des sogenannten Ziegel- oder Backstein thccs, den sie mit Milch, Butter nnd Salz bereiten; eine Mischung, die nicht so schlecht schmeckt, als sie klingt. Pferdefleisch essen alle Kalmyken mit Ansnahmc ihrer Priester. Von Schweinefleisch sind sie große Verehrer, doch gestattet ihnen das Nomadenleben nicht, Borstenvieh in größerer Menge zu ziehen. Einen eigentümlichen Anblick gewährt das Kalmykenlagcr, (Fig. 65) dessen Zelte sich auf eine Strecke von mehreren Kilometern ausbreiten. Ringsumher Herde an Herde, bei denen die Männer beschäftigt sind. Die Weiber bereiten Vnttcr oder fertigen Filz ans Kamel- oder Kuhhaaren. Die Kinder, bis zu den Jahren der Mannbarkeit, sind völlig nackt. Aber alles, alle Altersstufen und Geschlechter, von den greisen Urahnen bis zu den dreijährigen Kindern, alles hat die brennende knrze Tabakspfeife eigenen kalmykischen Fabrikats im Munde. Die Kalmyken nomadisieren in derselben Weise wie die Kirgisen, indem sie im Winter an Ort und Stelle bleiben, mit dem Frühling sich auf die Wanderschaft begeben, bis zum Herbst die Weideplätze alle 5 bis 10 Tage wechseln und dann langsam wieder zur Winterhcimat zurückkehren. Jeder Choton*), jede Familie cirkuliert dabei Jahr für Jahr auf denselben Lagcrstellen. Woher der Name Kalmyk stammt, hat man bis heute nicht enträtselt. Das Volk selbst nennt sich Eluth und bestand in früheren Zeiten aus einer geschlossenen Horde von vier Mongolcn-stämmen, einem Vicrbündnis, wie sie sich selbst ausdrücken. Diese vier Stämme heißen Dsungarcn, Tergcten oder Torgouten, Choschouten und Choiten. Jetzt zerfallcu die Kalmyken der Wolga in verschiedene Grnppcn, deren jede uutcr der Bezcich-uung „Ulüss" ein Ganzes für sich bildet, im übrigen aber aus den erwähnten vier Stämmen bunt zusammengesetzt ist. ')Der kalmykische Choton entspricht dem tatarischen ?lul und bezeichnet eine Gruppe vun Familien, die durch Verwandtschaft oder andere Verhältnisse sich nahe stehen. Fig. 65, Klllmykcnlllgei am Unken u ^ ^i ^iolga. — 22U — Unter diesem Volke giebt es drei Stände, die vom russischen Gesetz anerkannt sind. Den ersten Stand oder Adel bilden die Noioueu, den zweiten die Saissangm, die etwa den russischen Ehrenbürgern entsprechen, den dritten die gemeinen Kalmyken. Die Geistlichen werden, je nach ihrem Range, den ersten beiden Ständen zugezählt. N. Finischc Gruppe. Es wird angenommen, daß die Völker der finischen Gruppe in früheren Zeiten sich weiter über Eurupa verbreitet hatten, als gegenwärtig nachzuweisen ist, nnd daß sie von den später einwandernden indogermanischen Stämmen in den Norden und Nordosten gedrängt wurden, wo sie noch heute ihre Wohnsitze inne haben. Man unterscheidet bei den Völkern dieser Gruppe vier Familien: I. Die tschudischc oder finische Familie im engeren Sinne, zu welcher die folgenden Volksstämme gehören: a. die eigentlichen oder baltischen Finen. Sie bilden den Kern der Bevölkerung (etwa 84 Prozent) des Großfürstcn-tums Finland, wohnen aber auch in den Gouvernements St. Petersburg, Twcr, Nuwgorod, Oloncz und Archangelsk, im ganzen etwa anderthalb Millionen start. Kräftig und gut gebaut, von mittlerer Größe, hager und muskulös, sind die Finen ausdauernd im Ertragen aller körperlichen Beschwerden. Sie haben ziemlich flache Gesichter, hervorstehende Backenknochen, kleine Augen, blonde ins Gelbe oder Note spielende Haare, schwachen Bartwuchs und eine schmutzig bräunliche Gesichtsfarbe. Mit geringen Allsnahmen sind sie lutherischer Konfession nnd hegen eine hohe Achtung vor ihren Pastoren, die häufig zugleich Lehrer, Ärzte, Advokaten und Richter des Volkes sind, in jeder Lage des Lebens aber seine treuen Berater. Die Tracht der Finen ähnelt der des schwedischen Bauern; ihr Obcrklcid besteht gewöhnlich in einer grauen Tuchjackc mit Mctallknöpfcn. Dic Weiber lieben grelle Farbcn, putzen sich gern mit allerlei Ringen, Buckeln und Zie-ratcu und tragen an vielen Orten um dic Stirn cinen Lcder-riemen mit gelben Knöpfen. Die Bräute werden mit einer zahl- — 221 — losen Menge von Schmuck, Bändern, Nadeln, Perlen u. dgl. behängt, besteckt und beladen. Der Fine ist ernst, schweigsam und ungesellig, liebt die Abgeschlossenheit, haßt alle Neuerungen, ist mistrauisch gegen Fremde, so gastfrcnndlich er sie aufnimmt, heftig und aufbrausend, wenn er gereizt wird, und besitzt einen maßlosen Eigensinn. Er ist mäßig, obwol er der Versuchung zu starken Getränken nicht leicht widersteht. Bei alledem sind die Finen ein frommes, arbeitsames, treues und ehrliches Volk, nur muß man sie nicht nach den Bewohnern der finischen Dörfer in der Umgebung St. Petersburgs beurteilen. Diese sind selbstverständlich durch die Nähe der Metropole verdorben und entartet. Achtung vor fremdem Eigentum ist ein Hauptzug des finischen Charakters und Dicbstahl bei ihnen eine der seltensten Erscheinungen. Die Nordsincn werden als besonders schlan geschildert und von den Südfincn für große Zauberer augeschcn. In: ganzen finischen Lande erblickt man weder Betrunkene, noch Bettler oder Krüppel. Der Fine ernährt sich hauptsächlich von Waldarbeit, Fischfang, Ackerbau, der jedoch uuter den wenig günstigen klimatischen Verhältnissen zu leiden hat, und Viehzucht. Beide Geschlechter gehören zu den typischen Erscheinungen des St. Petersburger Lebens. Die Männer verkaufen auf den Straßen Holz, Teer, Fische; die Frauen, Körbe, Milch, Bnttcr. Häusig verdingen sie sich in der Residenz als Dienstboten uud sind fleißige tüchtige Arbeiter; nur bildet ihr störrisches, jähzorniges Wesen einen auffallenden Gegensatz gegen den freundlich-demütigen Russen. Die Frauen sind vortreffliche Köchinnen und werden in dieser Funktion häusig in Petersburger Familien angetroffen. Die gewöhnliche Nahrung des Finen besteht in Butter, Milch, Kartoffeln und gesalzenen Fischen; dazu genießt er selten frisches Brot. Man backt nnr einmal im Jahre eine Art harten Zwiebacks, der auf eine Schnur gereiht, au der Decke der Wohnung aufgehängt wird. Das Tabakrauchen ist allgemein verbreitet. Die Finen haben gegenwärtig fast durchgängig ordent- — 222 — liche, aus Holz gebaute Wohnungen mit Fenstern und Schorn^ steinen, bei denen die Vadstubc niemals fehlen darf. Dieselbe' gleicht dcm russischen Dampfbad und peitscht sich anch der badende Fine mit belaubten Birkenzweiqen und übergießt sich vor dcm Ankleiden mit kaltem Wasser oder wälzt sich im Schnee. Die fimschc Sprache ist sehr wollautend; sie hat beständig trocha'ischcn Tonfall und ist das Verhältnis des Konsonantismus zum Vokalismus ein angenehmes. Der Fine hat Geschick zu allerlei Fertigkeiten, ohne es jedoch in irgend einem Gewerbe besonders weit zu bringen. Eine große Liebe und nicht unbedeutende Vegabung hat er zur Poesie. Seine epischen und lyrischen Nationalgcsä'uge (Runen) sind teilweise gesammelt und bilden einen reichen Schatz ursprünglicher Volksdichtung. Das Wort Fine ist deutschen Ursprungs; bei den Russen heißen diese Nachbarn, Tschuchöuzy oder Tschuden, sich selbst nennen sie Suomalaisct, d. h. Volk des Landes Suomi. l,. die Karaten. Sie bewohnen zumeist die nördlichen und östlichen Ufer des Ladogasees in Finland und den Gonvcr-' nements St. Petersburg, Olüncz uud Nowgorod, finden sich aber auch in Twer und Archangelsk. Ihre Kopfzahl mag wol 300 000 erreichen. Den Finen nahe verwandt, sind sie fast gänzlich russificicrt, bekennen sich der Mehrzahl nach zur ortho doxen Kirche und sprechen russisch. Ackerbau, Fischfang und Jagd sind ihre Hauptcrwcrbszweigc; es giebt unter ihnen jedoch auch zahlreiche Handwerker, namentlich Tischler, Glaser und Stcinhaucr, welche den Summer über in St. Petersburg arbeiten, den Winter im heimatlichen Dorfe zubringen. In den nördlicheren Gegenden bauen sie Schiffsboote, die in gutem Nufe stehen. 5. die Ingrcr, von den Nnsscn IstX»ren genannt, die nr-sprünglichcn Einwohner von Ingermanland, dcm heutigen Gouvernement St. Petersburg. Sie sind fast gänzlich in der russischen Nationalität aufgegangen. — 223 — - ä. die Tschudcn, auch Wessen genannt, einst cm weitverbreiteter Volksstamm, von dem jetzt nur geringe Überreste die Gouvernements Olonez und Nowgorod bewohnen. «. die Esten, deren Zahl ans etwa 8W900 geschätzt wird, bewohnen in ihrer Hauptmasse das nach ihnen benannte Estland mit den zugehörigen Inseln, sowie das nördliche Liulaud. Die Grenzlinie, welche sie von den Letten scheidet, zieht sich von der Südspitze des Peipussees an den Städten Wcrro und Walk vorüber zum Niga'schen Mccrbnscn. Sporadisch findet man sie in den benachbarten Gouvernements. Als den Finen nahe verwandt, heißen auch sie bei den Nüssen Tschuch6nzi, während sie selbst sich Tallofto^g (Söhne der Erde) nennen. Die Esten sind mittleren Wuchses, die Strandbauern am Mcercsnfer größer und kräftiger. Ihre Gesichtszügc, den finischcn ähnlich, lassen den mongolischen Typus deutlich wahrnehmen. Die tiefliegenden blauen Nugen sind cnggcschlitzt und von buschigen Brauen überdacht, das Nnlitz breit, die Backenknochen hervorstehend. Die Haltung des Esten ist nachlässig, der Gang schleppend. Das blonde, meist goldgelbe Haupthaar hängt bei Männern wie Frauen ungeschoren, in langen Strähnen, herab. Während ihre Nachbarn, die Letten, mit Vorliebe helle Kleider tragen, gehen die Esten nur in Dunkelbraun oder Schwarz. Beide Geschlechter verfertigen ihre Anzüge aus Wadman oder Wadmal, einem selbstcrzeugten Stoffe, den sie aus der Wolle schwarzer Schafe weben. Unter dem langen dunklen Rock tragen sie ein kurzes Tuchwams, dazu kurze Hosen, lange wollene Strümpfe und an den Füßen Pastcln, Sandalen aus ungegerbtcr Niudshaut, die mit Schnüren an den Füßen befestigt wcrdcu. Den Kopf bedeckt im Summer ein niedriger runder Hut, im Winter die Pelzmütze. Die Frauen tragen über ihren buntgestreiften wollenen Röcken ein enganschließendes dunkles Oberkleid, verstehen es übrigens recht wol, dnrch farbige Schnüre die düstere Tracht zu beleben, und schmückeu sich gern. Das Haupt der verheirateten Frauen umschließt eine anliegende Haube, das Haar der Mädchen — 224 — ' in einzelnen Gegenden ein kleidsames Kopfband in der Art des russischen KMschnik. Ein beliebter Schmuck für alle Weiber ist eine Art konischer silberner Spange, welche mit allerlei Vcrloaucs behängt und vor der Brust getragen wird. Die Esten gehören in der großen Mehrzahl zur lutherischen Kirche; in Livland gingen einzelne Familien in den vierziger Jahren zum orthodoxen Bekenntnis über. Ihre Sprache, außerordentlich reich an Vokalen, erinnert an die italienische und ist um so woltöncnder, als die Esten nieist ein schönes, klangreiches Organ besitzen. Obgleich sie, seit Jahrhunderten Knechte der deutschen Ritter, in bestandiger Berührung mit ihren Hcrrcu lebten, haben die Esten ihre Nationalität, ihren Charakter, Sprache, Sitte und Gewohnheiten so intakt erhalten, wie wenige Völker außer ihnen. Der Lette war stets zum Germanisiertwcrdcn geneigt, der Este nie. So außerordentlich verschieden beide Völker in Typus und Charakter sind, nur in einem stimmen sie völlig übcrein, in dem Mistrauen gegen den Deutschen. Zieht man in Betracht, daß die Herren der Esten und Letten selbst einer cmdcreu Nationalität unterthänig siud, so erklärt sich die Komplikation der dortigen Verhältnisse, die zu den verschiedenartigsten Agitationen Veranlassung bietet. Der Este ist von Natur gntmütig, zärtlich gegen seine Angehörigen, sinnig in seiner Naturbetrachtung; er ist gelehrig, gewandt und von schneller Auffassung. Erscheint er honte rauh und schroff, verschlossen, träge, falsch, widerspenstig selbst gegen das Bessere, so konnte man von dem Jahrhunderte hindurch lastenden Druck der Leibeigenschaft keine günstigeren Erziehungs-rcsultate erwarten. ' Ackerbau, Viehzucht und Fischfang bildendicHaupbeschäftigung der Esten; sie eignen sich trefflich zum Seedicnst und werden in Nussland gern als Dienstboten gebraucht. Im Gegensatz zu den Letten wohnen die Esten in Dörfern, wenn man einen planlos zerstreuten Haufen elender Hütten uud — 225 - Gehöfte so nennen mag. Den Häusern, aus behanencn Baumstämmen plump und roh zusammengefügt, mangeln häufig die Schornsteine nnd die Bewohner schlafen meist ohne Unterschied des Alters und Geschlechts in demselben engen, unordentlichen, unsauberen Naume. Seit Jahrhunderten in beständigem Verkehr mit den benachbarten Russen und Letten, haben die Esten im Ganzen nur wenig von deren Lebensweise angenommen. Im Gegenteil — ihre Sitten und Gebräuche zeigen viel mehr Ähnlichkeit mit fernwohnenden finischen Stämmen, als mit den Völkern, die an ihrer Schwelle ansässig sind. Für die Poesie hat der Este die lebhafteste Neigung nnd nngewühnliche Bcgabnng. Im Gegensatz zur friedlich idyllischen Lyrik der Letten, ist die estnischc Dichtung kräftiger epifcher Natnr. Wie ihre nächsten Verwandten, die Finen, haben sie einen unschätzbaren Rcichtnm an Volksliedern und Sagen, die neuer dings von verständnisvollen gelehrten Männern gesammelt und veröffentlicht sind. Dem großen Natioualcpos der Finen, der Kal'wala, entspricht der cstnischc Kalcwipoög. f. die Liven, der Volksstamm, welcher dem hcntigen Liv-land den Namen gegeben. In früheren Zeiten dort uud in Kurland zu Hause, ist ihr Volkstmn unter Letten und Esten verschwunden. Nur anf der nördlichsten Landspitze Vorlands finden sich noch einige tausend Köpfe, deren Nationalität sich erkennen läßt. Auch in den bei dem kurischcn Städtchen Banste lebenden Kreewingen (svr. M'äwingen) sollen sich, nach glaubwürdigen gelehrten Untersuchungen, Liven erkennen lassen. Die sogenannten „tnrischen Könige" dagegen, welche in der Nähe von Goldingen ihre Wohnsitze haben, sind Letten, welche aus unbekannten Gründen von der Leibeigenschaft verschollt blieben, F. die Lappländer oder Lappen. Sie bewohnen das nördliche Finland sowie die Gouvernements Olunez und Archangelsk und man unterscheidet ihrer Heimat nach finischc nnd russische Lappen oder Lapurcn. Die ersteren haben viel von den M cyc r, Nusslaud, 1, 15 — 226 — Fincn, die letzteren von den Rnssen angenommen. Ihre Gcsamt-kopfzahl übersteigt kaum 7500, von denen etwa 3000 auf die russischen Gouvernements kommen. Das Volk selbst nennt sich Sams oder Samelad. Ihrer Lebensweise nach zerfallen diese Bewohner des hohen Nordens in Berg- oder Wänderlavvcn, welche nomadisierend von dem Ertrage ihrer Nentierherden leben, nnd in See- over Küstcnlappcn, welche an den Ufern der kleineren Wasserbecken oder der Meeresküste in festen Wohnsitzen hausen und sich hauptsächlich vom Fischfang ernähren. Abarten beider sind die Wald-lappcn, welche sich meist in den Wäldern aufhalten, im Sommer Fischfang, im Winter Rentierzucht treiben, die Fischcrlappen, welche vorzugsweise an den Ufern einsamer Seen und Flüsse hausen, und die Flußlappcn, welche sich mehr an den unteren Läufen der Ströme angesiedelt haben und sich von den Seelavfteu wenig oder gar nicht unterscheiden. Die Lappen sind klein von Wuchs; ihre durchschnittliche Höhe übersteigt kaum anderthalb Meter. Sie haben eine niedrige Stirn, hervorstehende Backenknochen, kleine enggcschlitzte Augen, spitzes Kinn und großen Mund. Bei den Frauen tritt der mongolische Typus weniger auffallend zu Tage. Die Haare sind schlicht und straff, meist kastanienbranu mit rötlichem Schimmer bei dunklen Augen; es findeu sich aber auch blondhaarige mit blauer Iris. Die Nase ist breit, gewö'hulich aufwärts gebogen, die Gesichtsfarbe gelblich, bei den blondcu heller als bei den brünetten. Die Züge der Frauen werden bei ihrem beständigen Aufenthalt im Freien und der harten Lebensweise mit den Jahren sehr grob und man unterscheidet sie dann schwer von den Männern. . Im Sommer sind beide Geschlechter nur mit einem langen, ineist lose herabhängendem Hemde aus gegerbten Rcntierfclleu oder Wadmal bekleidet, dessen Ärmel bis zu den Handgelenken reichen. Der letztgenannte grobe Stoff, schwärzlich oder gran, unterscheidet sich wenig von dem, mit welchem die Bcrglappen Fig. ss. Lappländer, 15°" — 228 — ihre Zelte bedecken. (Fig. 66 unten, Fig. 68.) Die Männer tragen dazu eine grellfarbige wollene Mütze. (Fig. 66 oberes nnd mittleres Bild.) Während des Winters sind die Gewandstücke für Männer und Frauen gleichmäßig ans Nenticrfellcn, mit den Haaren nach innen, gefertigt. Die wärmere Kopfbedeckung der Männer besteht aus einer großen viereckigen Mütze, die der Frauen, über ein hölzernes Gestell gespannt, hat beinahe die Form eines bairischen Kavalleriehelms. (Fig. 66 unten, Fig 69.) Zu festlichen Gelegenheiten tragen die Weiber über dem langen Kleide ein Mieder und um den Hals einen leinenen Kragen, dessen lange Zipfel auf die Brust herabhäugen und dort eine Art Tasche bilden. Beide Geschlechter legen dann mit messingenen oder silbernen Spangen geschmückte Gürtel an. Männer und Frauen tragen Beinkleider und Schuhwerk aus weichem Rentierleder ohne Haar. Reinlichkeit gehört nicht zu den Vorzügen der Lappen; sie starren gewöhnlich von Schmutz, und Kleider wie Haare wimmeln von Ungeziefer. Die finischcn Lappen bekennen sich zur lutherischen, die russischen zur griechisch-katholischen Kirche. Ihre Sprache ist ein Mittelglied zwischen den Mundarten der baltischen und Wolga-Finen und steht unter den letzteren der mordwinischen am nächsten. Der Lappe ist still, freundlich, nachgiebig; den Frieden liebt er über alles. Aller cdlcreu Genüsse des Lebeus beraubt, von einer kargen, starren Natur umgeben, arm und abgesondert, erträgt er alle Mühseligkeiten des Daseins mit unerschütterlicher Ruhe. Als einzige Bedingung seines Nolscius verlangt er nur, in dem Genuß seines geringen Besitzes, in seinen alten Sitten nnd Gebräuchen nicht gestört zu werden. Religiös und sittlich stehen die Fischcrlaftpen höher als die Bcrglappen; abcrauch die letzteren sind fromm und gutmütig uud der Vater unterrichtet seine Kinder sorgfältig in allem, was er selbst weiß. Rührend ist die Liebe und Zärtlichkeit des Lappen für seine Familie, selbst für seine Dienstboten. Der berühmte finländischc Gelehrte Fig. 67. Hütte ^Vjäiya) der Lappen ,nn der Halbuiiel N>'»!ll. — 230 — Castr^n kannte einen Lappen, der in dreißigjähriger Ehe kem böses Wort mit seiner Frau gewechselt hatte. Aus warmen, vollem Herzen liebkost der Mann, der von der Herde zurückkehrt, Frau und Kinder. Ist der Vcrglappc sonst derb, plump und geneigt, seinen Willen mit der Faust durchzusetzen, so gehören doch gröbere Verbrechen bei ihm wie bei dem Fischcr-lappen zu den Seltenheiten. Alle sind wolwollend, dienstfertig und gastfrei; man wirft ihnen aber auch Nuvcrsöhnlichkeit, Mißgunst und Neid vor und tadelt sie wegen ihrer Verschlagenheit und mancher mit derselben zusammenhängenden bösen Eigenschaften. Die Rentierherden, mit denen er von Ort zu Ort nomadisiert, bilden den ganzen Reichtum des Vcrglappcn. Sie gewähren ihm, was er zum Leben bedarf, Nahrung und Kleidung. Aber keine gcringe Zahl dieser Tiere ist notwendig, um eine Familie ausgiebig zu ernähren. Zu ciucr gewissen Wolhabenheit gehören 300—500 Stück. Mit dem Beginn der wärmeren Jahreszeit zieht der Bcrglappe nach den höher gelegenen Gegenden und kehrt im Herbst mit seinen Herden in das flachere, waldreiche Land zurück. Dabei ist seine Ausdauer im Ertragen körperlicher Anstrengungen bewunderungswürdig. Unausgesetzt muß er seiner Herde folgen, welche während des Sommers, wenn die Tiere nicht genötigt sind, ihre Nahrung unter dem Schnee hervorzuscharren, sich beständig auf der Wanderung befindet. Dabei watet er durch Sümpfe und weichen Schnee, schwimmt durch angeschwollene Flüsse nnd hat keine andere Nahruug, als einen Trunk Nenticrmilch. Im Winter muß er dazu uoch Schnccstürme und eisige Kälte ertragen, und kehrt er erschöpft ill sein Zelt znrück, wird ihm häufig nicht einmal die nötige Rast vergönnt. Ein Lärmzeichen rnft ihn von neuem hinaus, um den Kampf mit seinen schlimmsteu Feinden, den Bären lind Wölfen aufzunehmen. Gelingt es diesen, die Herde auseinander zu sprengen, so ist der Ärmste nicht selten mit einem Schlage seines ganzen Vermögens beraubt. Das Gebiet, welches Fig. 68. Sommer-Zelt (KuwHss) der Laphen an der noiwegisch-nnlänbischen Grenze. — 232 — der Berglappe mit seinen Tieren durchstreift, umfaßt häufig mehr als ein halbes Tausend .Alometer. Drei bis vier Tage bleibt er in demselben Bezirk nnd wandert dann 40 bis 50 Kilometer weiter. Auch der Seclappe bleibt nicht an demselben Orte. Im Frühjahr bezieht er sein Heini in der Nähe der Wasserbecken oder der Küste, um dasselbe znr Sommerszeit gegen den Aufenthalt ili einem anderen Fischercibezirk zu vertauschen. Im August begiebt er sich nach dem Hcrbstwohnsitz. Dort betreibt er neben dem Fischfang die Jagd auf Marder, Eichhörnchen, Fischottern, Bären, wilde Rentiere und allerlei Flngwild. Um Weihnachten sucht er sein Winterquartier in einem der kleinen Dörfer anf. Die Sorge für Haus und Hof bleibt den Frauen überlassen, zu deren Obliegenheiten noch das Ausbessern der Netze, das Befestigen des Köders an den Angelschnüren, das Ausnchmen und Trocknen der Fische gehört. Sie verfertigen Zwirn ans den Sehneu der Rentiere, stricken Handschuhe, weben Wollenzcng zu Anzügen und Zeltdccken, und verfertigen die Kleider der ganzen Familie, während die Männer Häute gerben, hölzerne Geräte und Werkzeuge anfertigen, Schlitten und Kähne bauen. Die Lebensweise beider Lappengruppen fordert eine leicht bewegliche Sommerwohnnng und eine solidere, stärkere nnd wärmere Hütte für den Winter. Das Sommerzclt (Fig. l!«; nnten, Fig. 68) hat bei allen Lappländern dieselbe Gestalt nnd Einrichtung. Stangen werden in die Erde getrieben nnd bilden das Gerüst, welches man nut wollenem Stoffe bedeckt. Oben bleibt ein Zugloch für deu Rauch, an der Seite eine Öffnung für die Thüre, die mit einem Zipfel der wollenen Docke geschlossen werden kann. Einige Steine, die in der Mitte anf der Erde liegen, bilden den Feuerherd. Der Boden wird mit Tannen-reifer« bestreut uud Renticrhäute darüber gedeckt. Ein solches Zelt bildet sozusagen das Hautquarticr des Berglappen, in welchem Frauen, Kinder und Greise Wuhnen, Er selbst mit — 233 — semen Dienstboten fulgt der Herde und kampiert im Freien oder unter einem noch leichteren nnd mangelhafteren Obdach. Die Winterhütte, von den Lappen Gamme genannt, ist von festerer Konstruktion. Sie hat ein Fundament von Stein oder Holz. ans welchem der konische oder Pyramidale hölzerne Ober^ bau ruht. Die Wohnstättcn der Ärmeren werden aus Erde aufgeführt, Die Gamme oder Wjäsha (Fig. 6ü Mitte, Fig. l>7) Fig. L9. Lappländische Wiege. wird von anßen mit Nasen bedeckt, im Innern mit Rentierfellen bekleidet. Die Dörfer der Lappen, deren es nicht viele giebt bestehen ans solchen Gammen, welche die hölzerne Kirche nm-geben. Die Wohnung des Lappen ist nicht größer, als notwendig, mn die Familie nnd einige Schafe aufzunehmen, welche letztere gewöhnlich in einem Verschlag unter dem Bette liegen. Zuweilen bildet der Schafstall einen besonderen Nebenranm. In den Gammen der Wolhabendcn ist die Küche von dem Wohn räum getrennt. Der Feuerherd wird in die Erde gegraben nud der Ranch entweicht durch eine Offnnng im Dache. Tische uud Stühle sind im Hause des Lappen seltene Erscheinungen. Selbst Löffel sind nicht allgemein und die Familie bedient sich bei der Snppc gemeinschaftlich der Kochkclle. — 234 — Die Säuglinge werden von den Müttern in ähnlichen Wiegen getragen, wie man sie bei den Indianern findet. Sie bestehen aus hölzernen, schuhartigen Gestellen, die mit Moos gepolstert, mit Fell oder Zeug bedeckt und an Riemen aufgehängt werden, (Fig. 69.) Der Seclappc nährt sich im Sommer hauptsächlich von Fischen. Der Ertrag des Fanges, welchen er nicht verzehrt, wird getrocknet und für deu Winter bewahrt. Doch begnügt er sich in der kälteren Jahreszeit nicht gern mit dieser leichten Speise. Er hält täglich eine Hauptmahlzeit und zwar am Abend. Sie besteht dann zumeist aus Fleisch, das er durch Jagd auf wilde Rentiere, von seinen eigenen kleinen Herden und von den Verglappen der Umgegend erhält. Am Morgen verzehrt er die Neste des vergangenen Tages oder begnügt sich mit getrocknetem Fisch. Übrigens findet man bei vielen Fischcrlappen Vorräte von Brot, Käse aus Rentier-, Kuh- und Schafmilch, gefrorene Nentiermilch und Beeren aller Art. Iu der Not nimmt er seine Zuflucht zur Baumrinde, aus der eine Art Gebäck be-reitet wird. Der Bcrglappe ist keineswegs nur auf die Produkte feiner Herde angewiesen. Zur Abendmahlzeit verzehrt er freilich eine kräftige Flcifchsuppe, die er im Gegensatz zum Fischerlappen ohne Salz genießt, aber auch gesalzene Fische uud manche andere Nahrungsmittel weiß er zu erwerben. Er ist in seiner Art reich und das ist sein einziger Vorzug vor dem Fischerlappcn. 2. Die Familie der vermischen oder nordischenFinen. a. die Pcrmier, PcrmM'n oder Viarmier bewohnen die Gouvernements Perm und WMka und werden, so weit sie noch nicht russifieiert sind, auf etwa 67 500 Köpfe geschätzt, von denen 5>9 000 auf das Gouvernement Perm kommen. Das Wort Perm bedeutet bei den Uralfinen Höhcnzug oder Wasserscheide; sie selbst nennen sich Kami-Utir (au der Kama wohnende) oder Sudas. Sie tragen meist weiße oder rote Kleider, sind arm und beschäftigen sich mit Jagd und Viehzucht. Ihve Sprache ist mit — 235 — russischen Wörtern stark vermischt. Sie bekennen sich zur griechischkatholischen Kirche. d. die Syrjänen sind in einer Stärke von 85—90000 im Südostcn des Gouvernements Archangelsk nnd in der eigentlichen Waldrcgion des Gouvernements W6logda ansässig. Sie sind sehr kräftig nnd muskulös gebaut, von auschnlichem Wuchs und ihre Gesichtszüge tragen den unverkennbaren Charakter der mongolischen Rasse. Ihre Sprache, obwol stark mit russischen Wörtern durchsetzt, haben sie erhalten; seit dem 14. Jahrhundert sind sie Christen und gehören dem griechisch-orthodoxen Bekenntnis an. Auch der Name Syrjänc ist, wie viele Völkerbezeichnungen, ein von Fremden gegebener; sie selbst nennen sich Mini oder Komiass, was auf ihrm Ursprung von den Ufern der Kama hinzudeuten scheint. Der Syrjäne ist in seinem Wesen rauh, rachsüchtig, wenn er gekränkt wird, dabei aber sorgsam in dem, was er thut, treu und redlich. Er trinkt gern, ohne dem Trunk zu fröhnen. Die Ehrlichkeit der Syrjänen war früher sprüchwörtlich. Verließ er sein Haus, so sperrte er dasselbe mit einem Holzspan; dies Zeichen genügte zum Schutze des Eigentums. Aber diese Zeiten sind nicht mehr; mit der Kultur-Erkenntnis sind auch Schloß und Niegel bei dem Syrjänen eingezogen. Von den russischen Handelsleuten hänfig übervorteilt, sind auch sie mistrauisch und schlau gewordeu und machen sich kein Gewissen daraus, ihrerseits den leichtgläubigen SsamoDcn zu betrügen. So vernünftig der Syrjäne sonst ist und so überlegen an Verstand seinem Nachbar, dem Ssamoj6den, so ist er doch der Natur gegeuüber vou Aberglauben und alten heidnischen Anschauungen erfüllt. Jedes Naturereignis hat seine geheimnisvolle Bedeutung. Die Tiefe des Wassers bevölkert er mit Nixen, die nachts im Mondschein spielen; in den Wäldern wandeln Elfcngcstalten in langen Gewändern, Espe und Tanne flüstern ihm eine verstand liche Sprache. Nach dem Großrusfen gehören die Syrjänen zu den intelligentesten und nnternchmendsten Volksstämmen Nnsslands. Sie — 236 — haben feste Wohnsitze und erfreuen sich eiues gewissen Wolstandes. Ihre Hauptbeschäftigungen sind die Jagd- auf Pelztiere, Fisch-fang und Rentierzucht. Mit Ackerbau und Handel beschäftigen sie sich nur in so weit, als die Verhältnisse es gebieten. Sobald im Herbst die Ernte beendigt ist, ziehen die Syr-jäncu auf die Jagd. In Gesellschaften von zehn bis zwanzig Mann unternehmen sie ihre Beutezüge iu die malischen und sibirischen Wälder. Vom Fleisch der erlegten Tiere ernähren sie sich, die Felle bringen sie als gesuchten Handelsartikel auf ihreu Schlitten in die Heimat. Unterwegs kampieren sie in Hütten (Schalasch) ans Tanuenreisig, die sie mit Birkenrinde bedecken. Oft bedürfen sie der Schneeschuhe, deren Sohlen sie mit kurzhaarigem Fell benähen. Bären, Lnchse, Wölfe und Füchse, Fielfras, Marder und Hermelin, graue und bunte Eichhörnchen sind hauptsächlich das Wild, auf dcsscu Pelze es abgesehen ist. Anch eine Menge von eßbaren Tieren wird zum Verkaufe erlegt; namentlich Rentiere, Auerhähue, Virk-, Hasel-und Schneehühner u. dgl., die gefroren dnrch ganz Nnsfland. neuerdings auch ins Ausland versandt werden. Die Zahl der erlegten Hühner grenzt ans Unglaubliche. Man schätzt die Summe der allein in St. Petersburg jedeu Winter verzehrten auf vier bis sechs Millionen. Die Syrjäncn vertanfcn iu Ja-rßnst jährlich über hunderttausend Haselhühner, vierzigtausend Eichhörnchen, tausend Marder und zweitausend Elcnticrc. Im Kreise Ustsyss<»lsk sollen jährlich bis 600 000 graue Eichhörnchen lGranwerk) geschossen werden. Beim Erlegen der Pelztiere, namentlich der weniger häufigen, wie der Hermeline, Zobel und Silberfüchse, kommt es damns an, das kostbare Fell nicht zu verletzeil, man fängt sie in Fallen oder schießt sie mit Armbrüsten nnd stumpfen Bolzen. Wenige Felle dieser gesuchten Vierfüßler machen den Jäger wolhabend. Die unglaubliche Sicherheit des Syrjänen in der Handhabung des Schießgewehrs ist um so auffallender, als seine Waffe zur unvollkommensten ihrer Art gehört. Die Flinten haben Rohre von anderthalb bis zwei Meter Länge — 237 — mit sehr kleinem Kaliber und rohem Feuerschloß. Statt Kugel und Schrot laden die Syrjäuen kleine Stückchen Blei, denen sie mit den Zähnen eine annähernd runde Form geben. Auf jede mögliche Distanz treffen sie den Vogel oder das Eichhörnchen durch den Koftf und wifsen sofort aus der Bewegnng des getroffenen, wo es niederfallen wird. Sind die Jäger im Frühjahr mit der Beute heimgekehrt, so bestellen sie den Acker, vernachlässigen aber dabei keineswegs das Waidwerk. Nuscr Bild stellt einen solchen jagdgerüsteten Syr-jäncn dar, der sich von der treuen, emsigen Gattin verabschiedet. (Fig. 70). Die Frauen sorgen inzwischen für alles und verrichten jede Arbeit. Rndcr nnd Zügel führen sie mit gleicher Kraft und Geschicklichkeit. Da man bei der Unwcgsamtcit des Landes meistens die Flüsse als Fahrstraßen benutzt, sieht man dort häufig Kähne, in denen zwei bis vier Frauen rudern und eine das Steuer lenkt. Als Ncbenzwcig der Jagd wird das Aufsuchen der Eier des wilden Waldgeflngcls in großein Maßstab betrieben. Eine andere Einnahmequelle bilden die sogenannten Cedcruüsse, die von den Nüssen gern gegessenen Früchte der Zirbelkiefer spinn« ^mn^nl), von denen ein fleißiger Meusch in eiucm ergiebigen Jahre 160 bis ^X) Kilo zu sammeln vermag. Die syrjänischeu Fischer wandern im Frühjahr mit Mundvorrat und allerlei Werkzeug versehen auf den Fang. Wo sie gute Beute erhoffen dürfen, bauen sie Hütten, von denen aus sie ihr Geschäft betreiben. In den Pausen des Fischfangs verfertigen sie an Ort lind Stelle Fäßchen aus Fichten- oder Tannenholz zur Versendung ihrer Ware. Im Herbst kehren sie heim. Iu neuerer Zeit sind die Syrjäncn treffliche Rentierzüchter geworden. Sie nehmen dabei nicht feltcn Ssamoj^den als Hirteil au' zuweilen solche, die sie selbst um ihre Herdeu betrogen haben, vertrauen ihnen aber nur bei gutem Wetter die Hut ihrer Tiere. Bei Sturm und Schneetreiben übernehmen sie selbst den Schuh der Herde gegell Wetter und Wölfe und selten geht ihnen ein — 238 — Tier verloren. Es giebt Syrjäncn, welche Herden von 5 bis 6000 Stück besitzen, die im Jahre etwa 6000 Rubel einbringen. Unter diesem rührigen Volke giebt es anch nicht wenige, F'ss. 70. Syrjänen. — 239 - welche die Heimat verlassen, um ihr Glück anderweitig zu ver-sucheu. Als verständige, gewandte und zuverlässige Leute sind sie überall gern gesehen und finden in Moskau und St. Petersburg leicht Stellen als Markthelfer, Verkäufer u. dgl. Auch bei ihnen ist das russische Acterbauprinzip des Gemeindebesitzes eingebürgert, duch haben sie eine vernünftigere Art. den Grund und Boden nach Billigkeit uud nicht nach Willkür zu verteilen. Große Familien erhalten mehr Feld als kleinere uud die Abgaben werdeu nach dem Verhältnis des Ackerlandes repartiert. Eine Eigentümlichkeit des Syrjäneulaudes, den Cantonieras dcr Alpen verwandt, sind die Zufluchtshütten, Simuwäja, die wegen der übergroßen Entfernung der Ortschaften von einander, hier nnd dort errichtet sind, um den Neiscndeu im Notfall Schutz und Obdach zu gewähren. Bei denselben befindet sich in der Negel ein gesicherter Naum, welcher von den umwohnenden Jägern und Bauern mit Wild aller Art gefüllt wird, um die Reiscndeu mit willkommenen Vorräten zu versorgen. Letztere dürfen davon nehmen, so viel sie wollen, müsseu aber den landesüblichen Preis in dem Aufbewahrungsraum zurücklassen. Fälle, daß dies nicht geschehen oder die Zufluchtshütten gar geplündert worden, sind uucrhört. «. die Wutjükcn oder Woten haben ihre Wohusitzc hauptsächlich in den Gouvernements Perm, Kasan und VMtka, vornehmlich aber im letzteren. Sie scheinen ursprünglich an der Kasauka gehaust zu haben und von den Tataren nach Norden und Osten über die Wjätka und an die Kama gedrängt zu sein. Wenigstens finden sich im Gouvernement Kastln noch einige Neste dort ansässiger Wotjäkeu. Ihre Kopfzahl wird auf 240 000 geschätzt. In ihrer eigenen Sprache nennen sie sich Utmurdi d. h. Menschen. Sie sind klein von Wuchs, breitschulterig, stark, und neigen zur Fettleibigkeit. Ihre Gesichtszüge erinnern an die eigentlichen Finen. Sie haben hänfig feuerrotes, zuweilen auch dunkelbraunes und schwärzliches Haar. Die Männer kleiden — 240 — sich russisch. Die Oberröcke der Weiber aus Leinwand oder Tuch haben langaufgeschlitzte Ärmel, deren Zipfel in den Gürtel gesteckt werden. Kleider und Hemden sind mit Stickerei und aufgenähten Zeugstttcken verziert. Die Mädchen tragen runde mit Kupfermünzen besetzte Mützen, das Haar hinten zusammengeflochten und in die Kleider gesteckt. Der Kopfputz der Frauen ist eine Art Grenadiermützc aus Birkenrinde, die sie fast niemals ablegen, mit verschiedenfarbigem Tuch überzogen und mit Metallstücken besetzt, Das Haar ist dabei an der Seite über den Ohren geflochten nnd in einen dicken Knoten geschürzt. Die WotMen bekennen sich teils zur griechischen Kirche, teils haben sie ihre alte heidnische Religion beibehalten, die jedoch mit mancherlei fremden, auch mit islamitischeu und christlichen Anschauungen durchsetzt ist. Sie glaubcu an ein höchstes Wesen, das in der Sonne wohnt, an gute und böse Geister, ein Leben nach dem Tode mit Paradies und Hölle und bringen ihren Göttern an geweihten Orten im Walde Opfer von allerlei Viktualien, die teils verbrannt, teils verzehrt, teils anf die Äcker gestreut werden. Die WotjrUen sind arbeitsam, haben viel natürlichen Verstand und im Gegensatz zu den übrigen Finen einen trotzigen Charakter. Sie sind jähzornig bis zmn Morde des Gegners nnd es sollen Fälle vorkommen, daß der WotMc sich im Hanse seines Feindes selbst entleibt, um denselben in eine schwere llnter^ suchung zu verwickeln. Die Hcmdgeschicklichkeit des Volkes im Weben, Drechseln:c. wird gerühmt; seine Haupterwerbsquelleu sind Ackerbau und Viehzucht. Die Wohnungen der WotMen sind dürftig nnd unreinlich. Was ihre Nahrung betrifft, so genießen sie außer Brot und Feldfrüchten alle Arten von Fleisch, auch das von Pferden, Äärm uud Eichhörnchen. Eine ausgesprochene Vorliebe haben sie für Lauch- und Zwicbelartcn. Ihr Nationalgetrnnk ist Sntas, cine Art Quass aus Hafermehl. Bei den heidnischen WotMn ist die Vielweiberei gestattet. Franen und Mädchen, welche die Keuschheit nicht zu den Weib' lichen Tugenden rechnen, werden in Ehren gehalten, selbst wenn sic nut den Männern trinken und sich berauschen. Den Wert der Fran schätzt der WotMe nach ihrer Arbeitskraft. Trotzdem wird sic nnr selten gescholten, sie zu schlagen, gilt für ciu Verbrechen. Nach der Geburt eines Kindes findet eine gewisse Festlichkeit statt; der Neugeborene erhält den Namen dessen, welchem der Vater außerhalb des Hauses zuerst begegnet. Vei den Heiraten wird das Mädchen vom Freier heimlich geraubt. Hit er mit ihr das Weichbild des Dorfes glücklich hinter sich, so ist sie seine Frau. Dann finden die eigentlichen Hochzeitsfestlichkeiteu statt, die oft wochenlang dauern, Unter den Nichtchristcn wird die Ehe sanktioniert, indem man das Brautpaar geheiligten Wein trinken läßt. Der junge Ehemann zahlt ein Kaufgeld für die Gattin und erhält dagegen eine Mitgift, die gewöhnlich in Vieh besteht. Der Verstorbene wird mit allen Dingen, die er im Leben zu gebrauchen pflegte, anch nut Geld, Speise und Trauk. schleunig beerdigt. Was er sonst besaß, mit Nusuahmc von Hans und Vieh, wird in den Wald hinausgefahren. / Bei der Schlichtung uon Streitigkeiten, Zeugeuoerhöreu und der Erforschung unbekannter Thäter gesetzwidriger Handlungen werden von den WotMen eine Menge Zaubereien nnd abergläubischer Gebräuche iu Anwendung gebracht. ä. die Ssamoj^den. Diese ursvrüuglich russische Bezeichnung des Volksstammcs bedeutet „Selbstesscr", und mau hat ans derselben folgern wollen, daß die harmlosen Nordfincu, welchen sie gegeben wurde, früher Anthropophageu gcwcfcn. Das ist jedoch keineswegs der Fall und der jetzt allgemein gebräuchliche Name ist schwerlich etwas anderes, als die Korruption der russischen Übersetzung eines mißverstandenen ssamoj^dischen Wortes. Sie selbst nennen sich Ehasowu (Männer) oder Ninetschi (Menschen). Sie nomadisieren iu den Tundren des Eismeers vom östlichen Ufer des weißen Meeres beginnend bis weit nach M l'l, l'r, R>,ss!linv, >. it! ^- 242 — Sibirien hineil,, zur Chatangabucht, vorzüglich aber an den lütteren Stromläufcn der Pctsch. Ssamoj,6dl'i!fanu!üv — 2^5 — ständig Äöses zufügen können. Diese werden ill incnschenahnlichen Götzenbildern, Chal, versinnlicht ^ meist kolossale unförmliche Stcinfigurcn, mit Rcltticrfellcn bekleidet und mit glänzenden Victallstücken geschmückt —, die sie nach Anweisung ihrer Zauberer oder Priester, der Schamanen oder Tadibs, anfertigen. An diese Idole richten sie ihre Gebete und bringen ihnen Opfer, und zwar jede Familie für sich, vor ihren eigenen Vildern, an be sonderen Altären. Gemeinsam opfern sie den Göttern nnr auf der Insel Waigatsch, ihrem Wallfahrtsorte, die sie in ihrer Sprache „Heiliges Land" nennen. Die Tadibs werden als Ver mittler zwischen den Menschen und den göttlichen Wesen betrachtet und üben als solche den größten Einfluß aus. Ihre Beschwörungen verrichten sie in besonderen wunderlichen Anzügen, indem sie eine Trommel rühren, um die Geister zu wecken. Der Tadib ist zugleich Arzt, doch besteht sciue ganze Knust uur in der Anwendung von allerlei Zanbergebräuchen. Wic alle Völker des hohen Nordens halten auch die SsamoMcn den Bär für eine mächtige Gottheit und sprechen von ihm mit dem ehrfurchtsvollsten Respekt. — Ihre Sprache ist eine eigentümliche finischc Mnndart, die jedoch wegen ihrer Armut an Begriffen eine große Menge russischer Wörter aufgenommen hat. Der Ssamojsde ist melancholisch wie die Tundra, seine Heimat, trübselig, wie das Leben in den Sümpfen und Einöden, die er durchwandert. Aber bei aller Roheit uud Unkultur ist er friedlich und sauft, wie die Rentiere, die Gesellen seines ärmlichen Daseins. Um ihn vorübergehend fröhlich zn stimmen, bedarf es starker Mittel. Streit herrscht nie unter den Ssamo-j«den, Dicbstahl ist bei ihnen unbekannt. Jeder vertrant dem andern; sorglos lassen sie ihre Vorräte ohne Aufsicht am Ufer des Meeres nud entfernen sich anf Monate, bis sie dieselben bequem in ihr Standquartier bringen können. Mißtrauen hegen sie nnr gegen ihre überlegenen Nachbarn, die Eyrjäncn. Die Ssamoj«den existieren nnr von ihren Renticrherden, die ihnen alles in allem sind. Die reicheren besitzen deren von einigen — 246 — wllsend Stück. An den Staat entrichten sie den sogenannten Iassäk, eine Abgabe in Ticrfellen. Dem Vordringen der Syr-jänen, welche die Leidenschaft der Ssamo^den für den Branntwein habgierig ausnutzten, ist durch die Maßregel der Regierung Schranken gesetzt, daß den Ssamojsden für jeden Kopf ein gewisses Maß von Tundra-Weideland als unveräußerliches Eigentum zugesprochen wurde. Auch die Jagd wird von den Ssamo-Men ausgeübt und das wilde Geflügel der Tundra, Enten, Gänse und Schwäne, sowie rote, schwarzbraune und Steinfüchsc werden nicht selten ihre Beute. Fischfang treiben sie meist nnr an den Seeen der Tundra, selten am Meere. Die Wohnung des Ssamojsdcn ist, wie die lappländische Sommcrhütte, ein rnndes kegelförmiges Zelt, aus langen Stangen bestehend, die im Sommer mit Bastmatten, im Winter mit Nen-tierfellcn bedeckt werden. Oben befindet sich die Öffnnng zum Ab-zug des Rauches (Fig. 71 und 72). Die Stelle der Thür gegenüber ist heilig; hier werden die Kostbarkeiten der Familie aufbewahrt. Die gewöhnliche Nahrung dicfcr hartgewöhnten Nomaden besteht in Nentiermilch, Rcnticrfctt, Geflügel, frischgesal-zcncn Fischen, Brot und Beeren. Ihr größter Leckerbissen ist das rohe Fleisch, besonders der inneren Teile, des frisch geschlachteten Rentiers, das sie in das warme Blut des Tieres tunken. Tabak, in Blättern und zerrieben, rauchen, schnupfen und kaneli sie; der Branntwein ist ihre Leidenschaft nnd ihr Verderben. Das Los der ssamojödischen Francn ist das denkbar traurigste. Sie werden von den Männern barbarisch behandelt, müssen die niedrigste Arbeit verrichten und gelten sogar für unrein, so daß sie die heilige Stelle des Zeltes nicht betreten dürfen. Geschieht dies dennoch, so muß der Platz wieder durch Feuer gereinigt werden. Bei den Heiraten wird die Braut für einen bestimmten Preis gckanft, den der Vater des Mädchens im Verein mit dem Frei^ Werber des Bräutigams festsetzt. Die üblichen Festlichkeiten be- > — 347 — stehen hauptsächlich in verschiedenem Hin- und Herfahren zwischen den Zelten des Arantvaters nnd des künftigen Gatten, die der Rentierschlitten bei seiner Ankunft stets dreimal umkreisen muß, und bis zur Tierhcit übermäßigem Essen lind Branntweintrinken. Slamojsben aus der Gegend uo» Mcs^n, Die Kinder erhalten Namen von Tieren, Pflanzen, Kleidungsstücken u.dgl. Erwachsene reden sich nicht mit ihren Namen an. sondern bedienen sich statt derselben im Gespräche der allge* meinen Ausdrücke „Mann" nnd „Weib". Die Toten werden bei den SsamoMen bald beerdigt und giebt mail ihnen Waffen nnd Geräte mit ills Grab. Die Rentiere, welche die deiche zum Begräbnisplatze brachten, werden getötet und bleiben im Geschirr auf dem Grabe liegen. Das Andenken der Verstorbenen wird noch lange Zeit durch Opfer nnd andere Ceremonien geehrt. Der Inhalt der ssamojödischen Lieder wurde von dem Gelehrten Castrcn schön gefunden, die Melodie aber klang ihm wie Froschmusik. 3. Die Familie der ngrischen Fincn. Zu derselben gehört das herrschende Volk der ungarischen Monarchie, die Magyaren, wie die in Sibirien am nntercn Lanfe des Ob und Ie-uissci wohnenden Ostjliken. Im europäischen Rnssland ist sie nur mit einem einzigen Volksstamme vertreten, den Wogulen oder Wogulitschen, die sich in ihrer eigenen Sprache Mansi und Mansch-Kum nennen. Sie bewohnen das nördliche Uralgcbirge, in Europa vorzugsweise das Gouvernement Perm, breiten sich jedoch im asiatischen Nnssland weit nach Osten au5, so daß man ihre Zahl in Sibirien auf 3^ OOl) Köpfe schätzt, während diesseits des UnU uur etwa 2 bis 3000 Wogulen wohnen. Sie sind von mittlerer Größe, lrästignn Wuchs, haben braune oder schwarze Haare, wenig Bart, tiefliegende Augenhöhlen, einen eigentümlichen finsteren Blick nnd sind Fremden gegenüber wenig schcn, säst trotzig. Das Haupthaar tragen Män-ncr nud Frauen lang über die Schultern herabhängend oder in Zöpfe geflochten. Den Bart reißen sie aus, sobald er zu wachsen beginnt, da er ihnen lästig wird, wenn er im Winter auf der Jagd sich mit Reif und Eis bedcctt. Die Kleidnng der nicht russificierten Wogulen besteht in der kalten Jahreszeit aus eine»' laugen hemdartigcn liberwurf von Ticrfcllcn mit den Haaren nach innen; dcn Stoff ihrer Sommeranzüge liefert der im September gesamnicltc Bast der Brennessel. Die Weiber tragen Ohr-und Armringe, halten aber die Reinlichkeit für kein wesentliches Erfordernis ihres Dafeins. Nur ein kleiner Teil der Wogulen bekennt sich zum Christen-!nm; die übrigen sind Heiden. Ihre Götzenbilder von verschiedener Gestalt ans Holz odcr Stein verehren sie in Felsenhöhlen oder anf hohen Bergwänden, daher in den Gegenden, die sie bewohnen, viele Flüsse, Verge und Plätze von den Nüssen Schai-tänta oder Schaitlinskaja *) genannt werden. Eine gewisse Anzahl wognlischer Familien hat sich an festen Wohnplätzen angesiedelt, lebt vom Ackerban nnd ist russificiert. Die übrigen führen ein unstätes Iägerlebcn und ernähren sich hauptsächlich von der Jagd anf Pelztiere, nebenbei auch von Fischfang. Da das Haar der Pelztiere im Winter weit dichter, das Fell weit geschätzter ist als im Sommer, ziehen dic Wogule«: hauptsächlich in der kalten Jahreszeit auf den Erwerb aus und leben im Sommer müßig vom Ertrage der harten Wintcr-arbeit. Zur Erlegnug des Wildes bedienen sie sich der alten Feuerschloßfliuten, mit denen sie jedoch selten ihr Ziel verfehlen. Nach zuverlässigen Mitteilungen sollen sich im Gouvernement Perm sechstanscnd Jäger mit dem Fangen uud Todten wilder Tiere beschäftigen. Im Iahrc 1882 erlegten sie 265 Bären, 575 Wölfe, 300 Luchse, 130 Elentiere, <>50 Füchse. N50 Marder, 1700 Hermeline, 129 000 Eichhörnchen, 3U000 Hasen, 258 000 Haselhühner nnd etwa 27,000 Birkhühner, Aucrhähnc und anderes Flngwild. Der Fischfang wird mit Netzen betrieben. Es ist ein beliebter Sport bei dcn jungen Wogulen, die Fische im Wasser vom Ufer aus zu schießen. Im Winter wohnen sic in einfachen, kastcnför migen, von Holzftämmcn gezimmerten Blockhäusern (Inrtcn) oder ") V>.m Schmlan, nn! wachem awbischl'il Wort im Mlam dcr Tawn d^richnel wnd. Die Russen halxu l» von drn Tataren. — 250 — in Erdhütten, die teilweise in den Buden eingegraben sind; im Sommer in Zelten oder Hütten, die sie mit Tierfcllen, Baumrinde oder Reisig decken. Nächst Wild und Fischen besteht ihre gewöhnliche Nahrung in Mehlbrei ohne Salz oder anderes Gewürz Den Tabak rauchen sie nicht, schnupfen ihn aber mit Vorliebe, wovon ihre gedunsenen, schmutzigen Nasen beständig Zeugnis ab^ legen. Alles Hansgerät und Geschirr besteht in Trögen und Fässern von ausgehöhlten Virkenstämmcn oder Birkenrinde, welche letztere sie geschickt zu behandeln wissen. Anch ihre Wiegen verfertigen die Weiber aus diesem Material. Sie hängen dieselben an Baststricken in den Jurten auf oder tragen sie auf dem Rücken. Sein Weib kauft der Wogule von deu Eltern, wobei die Korpulenz den Preis bestimmt. Ein mageres Nräutchen kann man für fünf Rubel erhalten, ciu recht feistes kommt wol auf fünfundzwanzig zu stehen. Hat der Wogule sein^ Lebensgefährtin bezahlt, so führt er sie in sein Zelt, und von diesem Augenblicke an sind sie rechtmäßige Gatten, die mit exemplarischer Treue au einander hängen. Ceremonien nnd Festlichkeiten finden dabei nicht statt; letztere würden auch nüchtern genug ausfallen, da der Wogule geistige Getränke meidet. Dafür erfreut er sich aber der trefflichsten Gesundheit nnd chronische Üoel sind ihm unbekannt. Trotz scmer leiblichen Armut und Einfachheit liebt und pflegt der Wogule die Musik. Er spielt eiuc Art Harfe, die er Schongurt nennt. Dieselbe hat die Gestalt eines kleinen gedeckten Kahns, auf dessen Verdeck über einen Steg sechs Darmsaiten gespannt sind. Der Spieler nimmt das Instrument zwischen die Kniee, und während die Finger der rechten Hand die Melodie angeben, spielt die linke den Baß. 4. Die Familie der Wolga-Finen, deren Stämme, wie der Name sagt, sämtlich an Russlands Riesenstromc ansässig sind. So bewohnen u. die Tschercmissen die Gouvernements Wjätka, Ssiin- — 251 ^ birst, Orenburg, Kasnn und Nlshni Nowgorod und »verden ans etwa 290 000 Köpfe geschätzt. Sic gehören zu den ältesten In^ sassen dieser Gegenden und sind ihre Wohnsitze heute noch, wie die ihrer Vorfahren, nicht Städte oder geschlossene Dörfer, sondern vereinzelte Häusergruftpcn in den endlosen Urwäldern des, Wolgalandcs. Sie sind dun schwächlicherem und zarterem Körperbau als die Nüssen und ihre Physiognomie hat den schüchternen Ausdruck der baltischen Finen. Das schwarze Haar lassen sie in der Negel lang und ungeordnet herabhängen. In der Kleidung haben sie inaliches von den Russen angenommen. Die eigentliche tschermlsstsche Tracht besteht aus einem weißen Hemd artigen Oberkleidc, im Winter von Wolle, im Sommer von deinen, das um die Hüften gegürtet wird, bei Männern und Frauen fast von gleichem Schnitte. Dazu kommen Beinkleider von demselben Stoff und der nämlichen Farbe. Die Zeugstrcifcn dagegen, mit denen sie sich die Beine nmwickeln, sind schwarz. Die weißen Kleider werden mit Stickerei von roter Wolle verziert. Die Frauen tragen eine eigentümliche, hohe, pelzvcrbrämtc Kopfbedeckung, schmücken sich gern mit Glasperlen, Münzen, Ringen und Armbändern von Messing und auf der Brust häugt ihnen ein viereckiges mit Silbermünzen verziertes Stück Lcder. Die männlichen Vertreter dieses Volksstammes auf unserem Bilde sind, wie der Leser bemerkt, vielfach von der beschriebenen Nationaltracht abgewichen, dagegen die drei tscheremissischcn Damen, die durch ihre blendend weißen Obcrtleider sofort ins Angc fallen derselben treu geblieben (Fig. 73). Die Tscheremisscn bekennen sich zwar zur orthodoxen Kirche, haben jedoch eine gewaltige Menge von Überresten alten Heidentums beibehaltet«. Ob sie noch hellte ihren böfeu Göttern blutige Opfer in den Wäldern, den gnten Geistern vegetabilische Gaben anf freiem Felde darbringen, will ich nicht behaupten. Unmöglich ist es nicht. Den Freitag halten sie heiliger als den Sonntag. Ihre Sprache ist mit zahllosen rnssischcn und tatarischen Fic,. 73. Tscheremissen aus der Gegend von Enmt'i — 253 — Ausdrücken gemischt. Der Charakter der Tscherenttsscn wird nicht gelobt, Ihre Nachbarn schelten sie ranh und störrisch und zum Betrüge geneigt. Man unterscheidet Berg und Wiesentscheremissen, von denen die ersteren in den gebirgigen Gegenden wohnen und meist der Jagd obliege!,, die letzteren in der Ebene sich mit Ackerbau und Viehzucht ernähren. Auch Fischfang und Bienenzucht werden gern von ihuen betrieben nnd die Holzindustrie gewährt vielen einträgliche Beschäftigung. Ihre Verstorbenen begraben die Tschcrnussen schon am Todestage. Mall giebt ihnen Geld und verschiedene Gerätschaften mit ins Grab, setzt Kerzen auf dasselbe für jeden verstorbenen Frennd uud ruft ihnen nach: „Lebt verträglich!" Kommen die Trancrn den nach Hause, so badeu sie sich und wechseln die Kleider. I). die Mordwinen siud an der mittleren Wolga, hauptsächlich in den Gouvernements Pmlsa, Ssimblrsk und Ssamüra ansässig, und werden ihre Wohnsitze östlich vom südlichen Nrälgc-birge, westlich vom Flusse Mokscha begrenzt. Ihre Zahl ist mit 775 ()l)() nicht zu hoch gegriffen. Sie haben sich vielfach nn't den Russen vermischt und hier und dort sogar ihre nationale finischc Sprache vergessen. Die Mordwinen sind ein schöner triftiger Menschenschlag, meist blond, mit heller Gesichtsfarbe und blauen oder grauen Augeu. Die Männer tragen die Kleidung der russischen Landleute, die Frauen haben ihre reiche Nationaltracht behalten. Auf dem Kopfe tragen sie eine niedrige Mütze von weißer Leinwand mit bunter Stickerei, von der ein ähulicher breiter Streifen weit herabhängt. Das hemdartigc Kleid ist gleichfalls reich gestickt und wird am Busen durch mehrere Niuge zusammengehalten. Den Hals umschließt ein Netz von Glasperlen, von dem ein Streifen auf die Brust herabfällt. Über den Hüften wird das Gewand mit einem Gürtel befestigt, an dem rotwolleue Troddeln, Zahlpfeuuige, Glasperleu u. dgl. hängen. Eine Art Schurz mit langen Franzen von Wolle ist ähnlich verziert. Die Ohren werden besonders reich geschmückt und bei großer Gala — 254 — außer den Gehängen noch ein paar buntgefärbte Hasenschwänze an denselben befestigt. Vastschuhe, die mit ledernen Riemen ge-bnnden werden, vervollständigen den Anzug der mordwinischen Flg. 74. Mordwlncnfrau aus dl>r Gegrnd uon Nishni-Nüwgorod, — 255, — Schönen (Fig. 74). Die Mädchen flechten das Haar in meh rere Zöpfe nnd schmücken diese mit Bänderll nnd Mnnzen. Nur cill geringer Ärnchtcil der Mordwinen bekennt den Islcnn und ist überhaupt in Sprache nnd Sitten tatarisch geworden, bei weitem die Mehrzahl gehört der russischen Kirche an. In ihrem Wesen sind sie frenndlich nnd umgänglich nnd treiben vorzugsweise Ackerbau, Vieh- und Bienenzucht, im Winter Jagd. Sie werden als fleißige Landwirte und gnte Fnhrleute gepriesen. Auch die Mordwinen besitzen, wie ihre finischcn Stammes-genossen, Talent und Liebe zur Poesie nnd einen reichen Hort gedankenvoller Lieder und Märchen. (5. Die Tschuwaschen bewohnen vorzugsweise die Wolga-ufer in den Gouvernements Ssimbirst und Kasnn, in geringerer Dichtigkeit die Gouvernements Ssarutow, Ufa und Orenburg; ihre Gesamtzahl beträgt 570 000, von welchen etwa 300 000 nur ans das Gouvernement,^asnn kommen. Sie sind von mittlerem, zartem Wuchs, hager, schwächlich und von heller Gesichtsfarbe, Obwol der mongolische Typns bei ihnen nicht sehr in die Augen fällt, sind sie doch im allgemeinen ein häßlicher Menschenschlag, wenn man auch bei den jüngeren Weibern erträgliche Gesichts-zl'lgc findet. Sie haben durchgängig schwarzes Haar und gleichen in ihrer Tracht den Tschercnnsseu. Die Tschuwaschen sind größtenteils Christen, der Nest bekennt sich zum Islam; aber getaufte wie ungetanste halten fest an ihren alten heidnischen Gebräuchen. Dies Ncligiunsgemisch nimmt bei ihnen eine so naive Form an, daß sie zur Erntezeit mit gläubigem Gemüt ihre heidnischen Götter zugleich mit Nikolaus dem Wundcrthäter, dem Lieblings-heiligen des russischen Bauernstandes, anrufen. Wie ihre religiösen Anschauungen, so ist auch ihre Sprache ein buntes Gemisch aus finischcn, tatarischen und rnssischen Elementen, bei denen je doch die tatarischen überwiegen. Die Tschuwaschen sind friedlich und ehrlich, dabei träge nnd schmutzig. Sie lieben die Einsamkeit und Abgeschlosseuheit. Deshalb baucu sie ihre Dörfer am — 256 — liebsten in stillen Wälder» lind abgelegenen Schluchten. Acker-bau und Jagd sind ihre Erwerbsquellen. Ihre Wohnungen e«tt-behrcn in der Regel der sonst üblichen Ulnzännung; die Hausthür muß nach Osten gekehrt sein. Sie hat gewöhnlich eine Art Vordach, nnter welchem man im Sommer schläft. III. Der semitische Stamm ist in Russland nur dnrch ein einziges Volt, die Hebräer, vertreten, welche sich in zwei wesentlich verschiedene Abzweigungen unterscheiden lassen: die sogenannten polnischen Juden und die Karcnten oder Karäer. Die Zahl der russischen Hebräer beträgt 21/2 bis 3 Millionen, von denen höchstens li bis 70l)l) ans die Kara'ttcn kommen. I. Die polnischen Inden. Ich behalte diese wenig genaue Bezeichnung bei, weil sie für das westliche Europa allgemein verständlich ist und anch insoweit ihre Berechtigung hat, als die Hauptmasse der russischen Juden thatsächlich in Polen, uächstdem aber in den Polen benachbarten westlichen nnd südwestlichen Gouvernements ansässig ist. Der Ausdruck „russische Inden" deckt den Begriff ebensowenig, weil er die Karäer mit einschließen würde. Anßerdem entspricht die Gesamtheit der russischen Hebräer — nut Ausschluß der Karaite» — vollkommen der Vorstellung, die man außerhalb des Kaiserreichs mit der Benennung ..polnischer Jude" verbindet. Juden findet man in allen Gegenden des Reichs, vorzugsweise jedoch in Polen nnd den Gonvcrncmcnts Kijew, Podolicn und Wolynien, Chcrssün, Gwdno, K6wno, Wilna nnd Minst, wo sie die Städte und Flecken bevölkern. Die Gesichtszügc des polnischen Inden tragen die deutlichsten Merkmale seiner asiatischen Herkunft. Sie sind scharf, aber regelmäßig, die gebogene Nase tritt start hervor, dieAngen sind groß, dunkel und fcnrig, die Haare schwarz, selten rot, die Hantfarbe blaß, gelblich. Trotz des Schmutzes, der sie nie verläßt, sind die jüngeren Frauen nicht selten von auffallender Schönheit, — 257 — von jener erblichen, unvertilgbaren orientalischen Schönheit, welche selbst aus Elend und Lnmpcn hervorleuchtet. Während die Inden im übrigen Europa sich im äußeren Leben, in Tracht und Gewohnheit wenig oder gar nicht von den christlichen Nationen unterscheiden, haben sie in Rnfsland ihre Klcidnng, ihre Sitten, ihre Lebensweise seit Jahrhunderten unverändert beibehalten und bilden den schroffsten Gegensatz znr übrigen Bevölkerung. Die Männer tragen das Haar kurz geschoren, den Bart lang. Sie bedecken das Haupt mit einer schwarzen Kappe nnd tragen über derselben einen brcitträmpigen Hnt oder Mützen verschiedener Form, mit oder ohne Pelz. Früher ließen sie an den Schläfen zwei Haarlocken wachsen, die sogenannten P^ssi, welche über die Wangen herabfallend, sich mit dem Bart vereinigten (Fig. 75), die Regierung hat ihnen jedoch das Tragen derselben, wie den verheirateten Frauen den ehemals üblichen Tnrban, verboten. Sonst besteht die Klcidnng der Männer in einem langen, schwarzen Kaft-W, der von einem gleichfarbigen Gürtel zusammengehalten wird, an dessen Stelle anch hier nnd da ein schwarzer, schmntzglänzendcr Lastingrock mit Knöpfen tritt. Hosen und hohe Stiefel haben die früher gangbaren langen Strümpfe nnd Schuhe verdrängt. Die Frauen unterscheiden sich durch ihre Kleidung wenig von der Bevölkerung der Städte. Als Mädchen tragen sie das Haar in langen Flechten; sobald sie jedoch heiraten, wird ihnen der Kopf kahl geschoren, den sie dann mit häßlichen Haarpcrücken und Hanbcn bedecken. Eine große Vorliebe haben die Jüdinnen für jede Art von Schmuck. In der Ausübung ihrer religiösen Gebränchc find die polnischen Juden ganz besonders streng nnd gestatten sich keine der Freiheiten, die man bei ihren westeuropäischen Glaubensgenossen hänfia. bemerkt. Eine gesetzliche Bestimmung gestattet den Juden dauernden Aufenthalt nur in den Gouvernements West-nnd Neurusslands. In den übrigen Teilen des Reichs dürfen lediglich diejenigen ihrer Meyer, Russland. I. 17 — 25tt — Glaubensgenossen wohnen, welche sich gewisser Prärogative erfreuen, wie z. V. die, welche einen höheren Grad wissenschaftlicher oder künstlerischer Bildung nachweisen können, zu den Fi«. 75. Bettelnde russische Indcn, Kaufleuten erster Gilde gehören, sich mit bestimmten Berufs-zweigen beschäftigen u. dgl. m. Diese Maßregel hat die sehr fruchtbare jüdische Bevölkerung ans verhältnismäßig kleine Länderstrecken eingeschränkt, die ihrer starken Vermehrung nnd . — 259 — ihrem einseitigen Erwcrbstrieb nicht entsprechen, hat sie zu unsagbarem Elend verurteilt, hat sie demoralisiert und ihnen die Notwendigkeit, die christliche Bevölkerung durch ihren überlegenen Verstand ausznsangen nnd zu cxploitieren, fast aufgezwungen. In Polen bilden die Juden mehr als ein Fünftel der ganzen Bevölkerung; iu Litauen nicht viel weniger. Ganze Städte und Dörfer werden von ihnen allein bewohnt. In den Städten belagern sie die Thüren der Gasthöfc und verfolgen die Reisenden mit ihren Dienstanerbictungen. In den Dörfern treiben sie verschiedene Gewerbe und sind Schneider, Schreiner, Glaser, Tapezierer, Anstreicher, Blccharbeiter u. dgl. — niemals Ackerbauer. Sie pachten die Schenken und ruinieren den Bauer, indem sie denselben zur Trunksucht verleiten und ihm wucherischen Kredit geben, der sein Eigcutmu ihren habgierigen Händen überantwortet. Wv verschwenderische, sorglose, leichtsinnige Gnts-besitzer den Juden ihre Ländereicu verpachteten, wurden diese in kurzer Frist ausgemergelt, die Besitzer verarmten und gingen zn Grunde, die jüdischen Pächter wnrden reich. Es giebt Dörfer, wo infolge des unausgesctzteu Wuchers alles bewegliche und unbewegliche Vermögen den Juden verpfändet ist. Iu manchen Gegenden sind Geld und Kredit ausschließlich in ihren Händen, alles im Lande ist ihnen verschuldet und es kommt ohne ihre Vermittelung kein Geschäft zustande. Sie taufen das Getreide auf dem .^alm, machen Vorschüsse ans die grüne Saat nnd das ungeborene Kalb. Isoliert, verachtet, geschmäht, mit Füßen ge^ treten von jedermann — sind sie doch die Herren, denn sie haben das Geld, uud den Verstand, es festzuhalten nnd zn vermehren. Der Handel ist ihr Licblingsgewerbe, ihr Element. In ihm entfalten sie alle Mittel ihres scharfen und schlauen Geistes, ihrer rastlosen Thätigkeit. Wer von ihnen zu arm ist, um spekulieren zu können, befaßt sich lieber mit dem Zufallsschachcr, als daß er eine regelmäßige Beschäftigung wählte. In den kleineren Städten nnd Flecken der Iudenregion ist denn auch — 260 — fast aller Handel in ihre Hände übergegangen nnd es ist dort au jüdischen Feiertagen unmöglich, irgend etwas einzukaufen. Au der Grenze betreiben sie den Schmuggel in frechster Meise. Und doch sind es bei der Masse der zusammengepferchten jüdischen Bevölkerung uur einzelne wenige, die es zu einem gewissen Wolstaud bringen, die übrigen darben im entsetzlichsten Elend. So gehört nach offiziellen statistische« Berichten der größte Teil der jüdischen Einwohnerschaft im Guuvernemeut Grodno zur ärmstcu Volksschicht. In ewiger Not mühen sie sich um das tägliche Brot. Die mit zahlreicher Nachkommenschaft gesegneten Familien leben in unglaublicher Weise zusammengedrängt, oft drei bis vier Fanu'lieu in einem eiuzigen engen Zimmer ohne Bett. Jeder schläst auf dem Fußboden, wo er Platz findet. Eine ganze Familie beguügt sich deu Tag über mit einem Pfnnd Brot, einem Häring nnd einigen Zwiebeln, Für fünfzehn Kopeken*) ist ein jüdischer Kommissionär bereit, den ganzen Tag umherzulaufen. Es giebt im Gouvernement Kowno jüdische Handwerker, deren Angehörige den ganzeu Tag über huugern, bis der Vater am Abend einen Teil seines kärglichen Verdienstes heimbringt. In kleinen Städten mit unge-pflastertcn Straßen belagert die erwachsene hebräische Jugend bei Ncgenwettcr die Hausthüren der Offiziere und Veamteu, um diese bei Ausgängeu für wenige Kopeken auf dem Nucken durch den gruudloscu Schmutz zu tragen. Die russische Regierung hat den anerkcnucnswcrtcu Versuch gemacht, diesem Elend zu steuern. Sie hat wiederholt den Juden Gelegenheit gegeben, durch tüchtige Arbeit ein rechtschaffen Stück Brot zu verdieuen. Schon unter Alexander I. wurdeu 690 jüdische Familien im Süden Nusslands angesiedelt nnd denselben 80000 Dessjatineu Land zum Ackerbau angewiesen. Diese Operation wurde später wiederholt. Aber niemand kanu gegeu seine Natur, und den polnischen Juden, verkommen *) Nach jetzigem Kurs etwa 30 PfennM. , — 2t;i — wie er ist, kann keine lwch so wolgcmeintc Ncgicrnngsmaßregcl zuiu rüstigen Landwirt machen. Der Versnch mißlang total, wie auch die Kolonisation Palästinas nut jüdischen Acterbancrn mislungcn ist nnd stets mislingen wird. Jene jüdischen An-siedelltngell sind die jämmerlichsten in ganz Siidrnssland. Die Dörfer sehen ans, als ob sic von einem Erdbeben heimgesucht wären, die Häuser verfallen nnd zwischen ihnen schlottern dürre, Hagcrc Gestalten nmher, in fadenscheinigen schwarzen Nocken, mit dnrchlöchertcn Schuhen und kummervollem Antlitz, Bilder des leibhaftigen Hungers. Ein großer Teil des Landes bleibt unbebaut oder wird an benachbarte Kolonisten anderer Nationalität verpachtet. Die kleinen Einnahmen dieser jüdischen Bauern fließen meist aus heimlich betriebenem Handel. Wird man diese Ansiedelungen fortbestehen lassen, so werden sie mit der Zeit von selbst vom Erdboden verschwinden. Trotz aller Demoralisation und des unbeschreiblichen Elends, verleugnen die Juden auch in Nufslaud nicht die guten Eigenschaften, die sie überall vor anderen Volksstämmen auszeichnen. Ihrer Frömmigkeit habe ich gedacht. Pietätvoll halten sie an dem Herkommen, den Sitten nnd Gebräuchen ihrer Vorfahren. Bei keiner anderen Nation ist der Fmmliengcist so ans-gcbildct, als bei ihnen. Die Liebe der Eltern zu den Kindern, die Ehrerbietung der Kiudcr für ihre Erzeuger, die Anhänglichkeit der Verwandten nntcr einander verdienen Achtung nnd Be-wnndernng. Es ist ein treffendes Wort, das Gntzkow in seiner Tragödie den Arzt de Silva zu Uriel Aeosta sagen läßt: „Tief in uuserem Volke wnrzelt der Zauber der Familie." Und dieser Familiengeist wird bei den Juden znm Volksgeist, der dnrch Not, Elend nnd Verfolgung geläutert und gesteigert wird. Daher die schraukeulose Wolthätigkeit der Wolhabcndcn nnd Neichen für die Armen. Ihrer rastloseil Arbeit, ihrem unermüdlichen Fleiß in den Erwerbszweigcn, die ihnen sympathisch sind, steht eine beispiellose Mäßigkeit znr Seite. Einen be-truukeneu Juden hat schwerlich jemand gesehen. Die letzt — 262 — genannten beiden Eigenschaften sind es denn auch, die einzelne ans grenzenloser Armut herans zu reichen Leuten heranwachsen lassen; Schlauheit, scharfer Verstand, List, Verschlagenheit und Betrug würdeu für sich allein solche Erfolge nicht bewirken. Endlich besitzen die Juden noch einen ganz hervorragenden Drang nach Vildnng. Die Beispiele, daß die Söhne armer Hausierer sich zu geachteten Ärzten und Gelehrten durchgearbeitet haben, sind in Russland nicht selten. Der starke Prozentsatz jüdischer Knabcu in den mittleren Lehranstalteu des Neichs steht in keinerlei Verhältnis zur Bevölkcruugssumme. Mag dieser Draug zur Bildung auch nicht aus rciuer uucigcnuütziger Liebe zur Geistesarbeit entspringen, mag er größtenteils in der Überzeugung beruhcu, daß Bildung cbeusowol wie Reichtum Macht verleihe, su ist die Kultur des Geistes immer doch der ehrenvollste Weg, u»n den allgemein menschlichen Wunsch nach Ansehen und Wulstaud zu befriedigen. Bei der Armut der russischcu Iudcu und dem Elend, iu dem sie existieren, ist es nicht zu verwundern, daß die Ortschaften, iu denen sie leben, häufig von cpidemischeu Krankheiten heimgesucht werden, daß gewisse Krantheitszustä'ndc sich bei ihnen total eingebürgert haben und sie das Bild eines schwächlichen, verkommenen Menschenschlags darstellen. Zu letzterem Umstand haben auch die frühzeitigen Heiraten der polnischen Juden viel beigetragen, gegen welche die Ncgicrnng jetzt mit löblicher Energie einschreitet, Zehn bis zwölfjährige Ehegatten waren früher kein ungewöhnlicher Anblick. Das junge Ehepaar lebte bei den Eltern, bis es selbst etwas zu verdieuen im Stande war. Wie wenig ersprießlich für das Gedeihen Rnsslands die Beschränkung der Juden auf gewisse Gouvernements ist, ersieht man sofort aus dem Verhältnis der Stadt- zu den Landbewohnern, ein Verhältnis, das für den Nationalökonomcn eiueu uicht zu uutcrschä'tzendcu Maßstab für das gesuude und vernunftgemäße Leben des Staates abgiebt. Während das Verhältnis der Stadt- zn den Landbewohnern iu den Gouvernements, wo Fig. ?6. Russische Iudenfannlie in der Herbeige, — 264 — die Juden wohnen dürfen, 222,9 auf tausend beträgt, zählt man in dcn übrigen Teilen des Reichs nur 59,6 Stadt- auf tausend Landbewohner. Eine richtige Verteilung der Juden im Reiche würde zur Ausgleichung dieses Verhältnisses nicht unwesentlich beitragen. Unser zweites Bild jüdischer Typen (Fig. 76), nach dem trefflichen Gemälde von W. N. Beer, stellt die Rast einer reisenden wolhabenden Iudcnfamilie in einer rnfsischen Herberge dar. Die Großmutter am Feustcr im wärmenden Pelz, die verbrämte Mütze auf dem Haupte, die Brille auf der Nase, hält in der Rechten ein frommes Buch, in welchem sie liest, während sie mit der Linken die primitive Rciscwiege ihres jüngsten Enkels in Bewegung seht. Die junge hübsche Fran rnht im Hintergründe unter dem papierneu Hciligcnbildc anf mitgebrachten Pfühlen und Kissen, die man anf die hölzerne Pritsche gelegt, vom Schafpelz bedeckt, dcn zweiten Sproß ehelichen Glückes am Herzen. Der dritte nnd älteste, ein pfiffiges, lebendiges Vürschchcn, nähert sich mit verborgen gehaltener Nute dcm Hühncrtrio, welches arglos in der Mitte des Zimmers sein Futter fncht. Der Hahn ficht dcn kleinen Hebräer drohend an und scheint böse Absichten zn ahnen. Der Vater nud Gatte in Lastiugrock und Käppcheu schaut, in der Nähe der Thür, durch deren Spalte sich ein glotzender Hnndckopf drängt, glucklich nud bewundernd auf deu hoffnungsvollen Stammhalter. Links hat der Künstler die verschiedenen eingeborenen Insassen der Herberge gruppiert. Auf dem Häuge-bodcn, nicht weit von einem stauuenden Russeukopf, den: der Schlaf noch die Augeu trübt, die Kal.;c, die mit gekrümmtem Rücken die Gäste betrachtet. Auf deu Ofen gebcttct die russische Wirtin mit ihrem Knaben, die halb schläfrig, halb neugierig in das Treiben herabsehen. Hinter dem riesigen, kochenden Ssamo-wä.r der Wirt, der mit ernster Miene den Rauch seiucr Papicr-cigarrc durch den buschigen Bart bläst und dabei sinnend zn dcn Andersgläubigen hinüberblickt. Anf der Ofenbank endlich, dem Wirt zugewandt, im Pelz, mit der Knntc im Gürtel, der - 265 — halbwüchsige Kutscher, der die Reisenden fährt, ein derber, strupp-haariger, munterer russischer Bursche, das dampfende Theeglas vor sich auf der Bank, die gefüllte Untertasse anf dcu drei gespreizten Fingern der Linken, in der Rechten ein Stückchen Zucker, das er soeben zum wärmenden Trank anbeißt. Sein Gesicht verzieht sich zum Lachen. Offenbar amüsiert ihn der Umstand, daß das jugendliche Ferkel vor ihm stillvergnügt aus dem Troge frißt, ohne zu ahuen, daß Lcntc in der Nähe, welche das Borstenvieh gründlich verabscheuen. Z. Die Karaiteu oder Karäcr sind die Abkömmlinge einer jüdischen Sekte, welche im achten Jahrhundert entstand, die rabbinischc Tradition verwarf und zum Buchstaben des mosaischeu Gesetzes zurückkehrte.'") Ihr Znsammenhang mit den Sadducäern ist nachgewiesen. Von Anfang an gering an Zahl, wanderten sie nach der Einnahme Jerusalems durch die Kreuzfahrer aus, zerstreuten sich in verschiedene Weltgcgcnden und ein Brnchteil ließ sich am Nordufcr des Schwarzen Meeres nieder. Jetzt bewohnen sie vorzugsweise die Städte der Krym uud sind namentlich in Enpatoria, KosMw und Baktschissaräi ansässig. Im Gegensatz zu den polnischen Iudeu sind sie nicht allein ein sehr geachteter Bestandteil der Bevölkerung, sondern anch ein kräftiger, stattlicher Menschenschlag. Bei einem gewissen Rassentypus, der sich nicht verleugnet, sind sie meist bildschön, ihr Profil edel, ihre Züge vull Ausdruck. Wie Armenier und Tataren tragen sie lange, fließende Gewänder, bedecken das Haupt aber mit hohen Mützen oder europäischer Kopfbctleidung (Fig. 77). Die feinen, weißen Hände schmücken sie gern mit Ringen. Die Tracht der Frauen, die sich durch regelmäßige Züge uud schöne duuklc Augen auszeichnen, ist besonders an Festtagen reich und geschmackvoll. Die verheirateten tragen das Haar in einer Flechte um den Kopf gewunden, die Mädchen in einer Menge *) Kara bedeutet im Hebräischen das geschriebene Wort, davon ist ab-gleitet Kara'i, der Vewmer der heiligen Schrift, in der Mehrzahl Kamin,, wie diese Sekte, die znm eigentümlichen Volkszweig geworden, sich selbst nennt. — 266 — kleiner Zöpfc. Das Haupt bedeckt ein reich verzierter roter Fez. Die Gewänder sind kostbar und mit wertvollem Schmuck bedeckt. Vq, 77. Karaite. Ihr Bekenntnis enthält das Wesentliche des mosaischen Glaubens, sieht jedoch in der Schrift die alleinige Grundlage desselben und protestiert gegen den Talmud und jede Art der rabbinischen Überlieferung. So beanspruchen sie, nach ihren eigenen Wortm, im Judentum die Stellung, welche die Protestanten in der christlichen Religionsgemeinschaft oder die Schiiten ,— 267 — im Islain einnehmen. Die Kara'ttcn sind rein und einfach in ihren Sitten, friedfertig, wahrheitsliebend, fleißig und halten brüderlich zusammen. Sie sind deshalb überall gern gesehen und von der Regierung so hoch geachtet, daß sie sich größerer Vorrechte erfreuen, als irgend ein anderer nichtrussischcr Stamm unter den Bewohnern der Halbinsel. Ihre anerkannte Redlichkeit hat ihnen nicht mit Unrecht den Namen der jüdischen Herren-huter eingetragen. Sie sind gastfrei nnd bewirten den Fremden gern in orientalischer Weise. Ihre Gelehrten haben sich um die hebräische Schriftforschung, besonders um die Erhaltung guter und alter Bibeltexte, hochverdient gemacht. Sie erziehen mit größter Sorgfalt ihre Kinder, die alle ohne Ausnahme in der Synagoge unterrichtet werden. Für die Armen wird reichlich gesorgt. Die Kara'ücn treiben hauptsächlich Handel; großer nnd allgemeiner Wolstand ist die Frucht ihres Fleißes lind ihrer Redlichkeit. Vegister. Adelsfamilien, russische, von ausländischer Herkunft 103. Alexander N6>vski 9. Alexander I. 51. — II. 57. — III. 64. Alex«! Michculowitsch 26. — Sohn Peter des Gros;en 36. Anna Iol'mnowna 42. Armenier 194. Askold nnd Dir 4. Baschkiren 205. Bllty 7. Bevölkerung Anwachsen der 101. Bevölkeruugszahl, ietzige 100. Bi^rmier 234. Bohlen 20«. Bodenbeschaffenheit «8. Bons Gudun«'nu 20. Bulgaren 153. VurM 97. Ehuiten 218 Choschouten 218. Denkmal des tausendjährigen Bestehens des russischen Reichs 4. — Katharinas 1l. 50. — Peters des Großen 38. Deutsche Ackcrbaukulonien 175. I. Gruppe. Gouvernement St. Petersburg N7. II. Gruppe. Wolga-Kolonien 180. UI. Gruppe. Südrnssland 183. 1. Gebiet. Ufer des schwarzeu Meeres 183. 2. Gebiet. Sarepta 189. 3. Gebiet. Kaukasus. 191. Dentsche, in den baltischen Provinzen 159. — in den russischen Städten 160. — in Rnssland 158. -------politische nnd soziale SteNnng derselben 1«3. 172. — in St. Petersburg 181, Verufsarten 162. Einteilung 161. Kirchen 163. Lehranstalten 165. Musik 171. Poesie 170. Presse, politische 169. — wissenschaftliche 169. Theater 170. Wissenschaftliche Vereine 168. WohltlMigteitsattstalten 166. Zahl 1«,. Dimttri, der falsche 22. — Donskoi 9. Dünger, als Brennmaterial 98. Dsun'garen 218. Einförmigkeit des Volkes 69. Einteilung des asiatischen Russland 1. -------europäischen Nusstand 2. ---------russischen Reichs 1. Einwandenmg 103. Eisbär, der 78. Elisabeth Petniwna 43. Esten 223. Föodor Alcxöjewitsch 27. — I. Iwtmowitsch 20. Finen der Wolga 250. 269 — Finen, eigentliche oder baltische 220. — nordische 234. — pennische 234. — ugrische 248. Finischc Völkerfamilie im engern Sinne 220. — Völkergruppe 220. Flächeninhalt des russischen Reichs 1. Germanische Völkergrnppe 158. Goldene Horde ?. Gouvernements des europäischen Nussland 2. Gräko-rmnanische Vo'lkergruppe 157. Griechen 15?. Großfürstentitel 7. Großrussen 105. Gründung des russischen Neichs 2. Hebräer 256. Hermogen, Patriarch 23. Igor 6, Indogcrmaiuscher Völterstamm 104. Ingrer 2.^2. Ijh'üren 222. Iranische Vülkergruppc 194. Iwän Kalitii 9.' Iwan III. Wassiljewitsch 10. — IV. Wassiljewitsch, der Schreckliche 14. — VI, Antunowitsch 43. Iarossläw I. Wladiiniroloitsch (!. Iudeil, Pulnische oder russische 25«. Iungletten 156. Kaisertitcl, Annahme des 2ü. KalniMu 214. jkara'ini 2U5. Karaiten 265. Karäer 265. Karölcn 222. Katharina I. 3». ^ II. 46. KiPtsclK?. Kirgisen 209. Klemrussen 120. Klima «9. KolMn 151. Kosaken 17. 18. 26. 132 fs. uom Nnlur 148. Nsuwsche 144. Astrachünsche 143. Dl'msche 135, 137. Kaukasische >44. Kleinrnssische 136. vom Kublw 144. Linienkosaten 144. Saporuger I,i5. 136 ff. Ssemire'tsäMlstischc 148, Sibirische '47. Uom Teret 144. Transbaikali sche 148. Tschcrnom^rzcn 144. Ukrainische 136. 137. 142. UrÄische 143. Wolc,akosaten 143. 144. Krakowjütcu «52. Kreewingen 225. Kreml in Moskau, Erbauung des 9. Kriwitschen 150. Kurgaue 93. Kurlsche Köuige 225. Lapüren 225. Lappen -?25. Lappländer 225. Letten 155. Lettisch-litauische Völtergruppc 155. Limaus 92. »3. Litauer 15?.' Lmen 225. Masnren 152. Ä^eschtscherjaken 206. Metül 8,'. Äl'ichall ssödoroluitsch Ronü'moU' 21, Mluln, Kosml^ 24. Mongolischer Völkersta,Nüi 193. Mordwinen 253. NitoMi I. 54. Nogaier 205. Nordlicht 74. Mnvaja-SemM 80. ^ Nowgorod, Nchudlik 10. Ol«g 4. Panl l. 51. . Peruuer 234. Pennjäten 23^. Peter I., der Große 28. — II., Alexejewitsch 41. — III., Mdorowitsch 44. Polen 152. PoMrski, Fürst 24. Purga 84. Naswl 26. Robbenjagd 80. — 270 Nouumow, Stammtafel der Negeu- teil aus dem Hause 40. Njürik 3. Nuuläilen 158. Nuss, Warägerstannn 3. Russische Bevölkerung I05>. Salzge»viuuung in den Linmns 93. Samogiten 157. Schilfwälder 95. 98, Schlachtn 153. Schljachtüschen 153. Schneepflug 85. Schneeschuhe 80. Schuecsturm 84. Schmski, Wassili 22. Schuieden 193. Schwcrtorden 18. Semgallen 155. Semitischer Völkerstamm 25«. Serben is.3. Shmuden 157. Sibirieu, Erobcrunli uou 18. Sineus 3. Slawische Völkergrilpfte !04. Sophia Alex^jeluna 27. Sfainui^den 241. Steppe 90. Steppenbrand 98. Steppendistel 96. Strjelüzni 2?. Sumpfzone (Tundra) 82. SwjawMuu Orchucr H Echra,nm i» Loipzi». Im folgenden z»b«n »ir die Grundlüge der Einteilung und die Aus. slellung der Rhemata nach einem vorläufigen Plane, der indes auf wohl» motivierlen Wunsch der Autoren, sowie für den Fall, daß da« Interesse d« Publikum« ein» weiter gehende Detaillierung erwünscht erscheinen läßt, noch mannigfache Veränderungen, Erweiterungen und Ausfüllungen erfahren kann. Naturwissenschaften. Astronomie: Erde u. Mond. — Die Sonne, Planeten, Satelliten. — Kometen, Sternschnupften, Meteorschwiirme, Feuerkugeln :c. — Astrognosie und die Fixstern-Astronomie. Geologie, Geognosie u. Vergwesen: Die Erde als Weltkürper, das Relief der Erde, ihr Inneres, ihre Entstehung. — Die Niveauveranderungen der Erde. — Die Gebirge, ihr Bau und ihre Entstehung. — Die Erdbeben u. der Vulkanismus der Erde. — Die an der Veränderung der Erdoberfläche thätigen Kräfte (Quellen, Flüsse, Eisströ'me :c.), Ablagerung der Ierstörungs-produtte, Mitwirkung tierischen u. pflanzlichen Lebens.'— Die Versteinerungen. „Leitfossilien". — Die verschiedenen sedimentären Formationen.— Geologie von Österreich-Ungarn, Deutschland, England, Frankreich, Amerika. — Die Geologie und ihr Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften. — Die Geschichte der Geologie. — Der Ozean u. die Binnenmeere. — Die nutzbaren Mine» ralien u. ihre Gewinnung (Übersicht des Bergbaues). — Die fossilen Brennstoffe (Torf, Braunkohle, Steinkohle, Anthracit u. Kohlenbergbau). Physik, Chemie u. Meteorologie: Das Wesen der Körper (Gase, Flüssigkeiten, feste Kijrper, Krystalle u. die Gesetze der Bewegung, Massenanziehung, Bewegung). — Die Welt der Atome (Bau u. Wesen desStossS, Kohäsion, Adhäsion', chemische Anziehung). — Die Lust (Natur u. Eigenschaften der Luft, die Atmosphäre, Luftdruck, Windströmungcn, Principien der Ventilation, Luftschiffahrt), die Luft im Dienste der Technil (Pneumatische Apparate, Luftpumpen, atmosphärische Eisenbahnen). — Das Wasser (Eigenschaften, Quellen, Bäche, Flüsse, Nebel, Thau, Negcn, Schnee, Hagel, Gletscher, künstliches Eis). — Veleuchtunqsstoffe. — Das Eisen (Eisenerze, Geschichte der Gewinnung des Eisens, Eisenhüttenwesen, Verarbeitung des Eisens, Stahl). — Die edlen Metalle (Quecksilber, Silber, Gold, Platin u. a., Gewinnung u. Verwendung). — Die unedien Metalle (Kupfer, Wismut, Kadmium, Blei, Zinn, Hint, Antimon, Arsen, Kobalt, Nickel, Manaan, Aluminium :c.). — Das Glas (Geschichte, Eigenschaften, Fabrikation, Verwendung, Hartglas, optische Gläser, künstliche Edelsteine). — Thon u. Porzellau (das Ganze der Keramik). — Die Nichtmetalle (Schwefel, Phosphor, Selen, Tellur, Chlor, Jod, Brom, Fluor, Sauerstoff, Wasserstoff. Stickstoss, Kiesel, Kohlenstoff). — Salze u. Säuren (Inbegriff der chemischen Fabrikation, Salmcnwesen, Soda, Schwefelsäure :c.). — Die natürlichen und künstlichen Farbstoffe (Pssanzenfarbstoffe, tierische Farbstoffe, Mineralfarben, Teerfarben und Überblick über das Wesen der Färberei). — Die Vrodukte der Gährung (Wein, Bier, Branntwein, Essig, dann Fäulnis und Verwesung).— .Die Chemie des täglichen Lebens (Chemie der Ernährung, Nahrungsmittel, ihre,Wahl u. Zubereitung). — Pflanzen u. Ticrstoffe im Dienste des Kulturlebens (Faserstoffe, Gewebe, Zeuge und ihre Verarbeitung, tierische, Häute,. Lcder, Fette u. Öle und ihre Verwertung). — Elektrizität u. Magnetismus im Dienste des Verkehrs (Telegraphic, Telephonic, elektrische Eisenbahnen). — Das elelMche Licht. — Warme u. Licht (das Theoretische über Licht u. Wärme als Äewegungser-scheinungen u. ihre praktische Bedeutung).-? Photographie u. Lichtdruck (das Gesamte über die chemischen Wirkungen des Lichtes). — Das Reich der Tiine (derSchall u. seine Gesetze, musikalische Instrumente).—Die Witterungslunde. Zoslogle. Systematik. Reich der Protisten, Protoplasma, Schwämme, Protozoen. — Quallen. Radiata. — Arthropoda: llrustazea, Arachnida, Inselten. — Mollusken. — Fische.— Amphibien.— Vögel.— Mamalia. — Fauna von Deutschland. — Wichtigste Tiere der Polarländer. — Wichtigste Tiere der tropischen Länder. — Entstehung der Varietäten ?c. — Systeme. — Morphologie «.Physiologie: Entwicklungs-Geschichte, Funktionen der körperlichen Organe mit Rücksicht aus den Menschen, Stoffwechsel, Lebens-bedingungen, natürliches Ende. — Bedeutung der einzelnen Organe, Homologie, Generationswechsel, Ammcnzustände, Waffen und Schutzmittel. — Allgemeines: Tiere dcrVorwclt.— Entwicklung der jetzigen Fauna aus der früheren. — Tiergeographie. — Tierkunde der Alten und Entwicklung bis zur neuesten Zeit. — Wohnungen, Lebensweise der Tiere. — Tas Tierreich im Verhältnis zum Menschen u. den andern Naturreichen.—Dcr Mensch. Votanil. Systematik: Grenzen der Tier- u. Pflanzenwelt, Ncich der Prolisten, Pilze, Algen, Flechten, Moose; Beschreibung und Vorkommen der wichtigsten. — Gefäßpflanzen, systematische Beschreibung, Vorkommen der wichtigsten Pflanzen. — Nutzpflanzen dcr gemäßigten, kalten u. heißen Zone. — Flora bon Deutschland u. Deutschösterreich. — Entstehung der Varietäten, Allomodatton neuer Eigenschaften, Ausbildung der Varietäten, Anpasfen der morphol. Verhältnisse an die LebenZbedingungcn, Varietät, Nasse, Art, Gattung, Familie, Klasse, Ordnung, Systeme.— Morphologie u. Physiologie: Erste Zustände organisierter Gebilde. Pflanzennahrung u. Ausnahme derselben, Stoffwechsel, Lebensbcdinaungen, Schutzmittel, Alter.Feinde, natürliches Ende. — Wie wächst die Pflanze. — Wie bildet die Pflanze Blüte, Frucht, Blätter :c. — Vermehrung, Fortpflanzung, Sporenpflanzen, Samenpflanzen, Generationswechsel.— Allgemeines: Wanzen der Vorwell. — Entwicklung unserer jetzigen Flora. — Pflanzengeographie. — Pflanzenkunde der ältesten Zeit in ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart.— T as Pflanzenreich im Verhältnis zum Menschen u. zu den andern Naturreichen Illodizin. Gcjundheitslehre. — Anatomie und Physiologie (Grunbzüge). Historische Wissenschaften. Geschichte. Ägypten. — Assyrien. Medien. — Persien. — Griechenland. — Nom. — Alexander d. Gr. — Cäsar. — Mittelalter: Oströmiscycs(Byzantinisches) Ncich.— Deutschland bis zur Reformation.— Frankreich.— England. — Kreuzziige. — Kämpfe der Christen u. Muhamedaner. — Italien. — N cuzeit: Portugal u, Spanien (rückgreifend). — Frankreich. — England. — Holland. — Deutschland. — Polen. — Nußland. — Skandinavien. — O3-wanischesNcich. - Dreißigjähriger Krieg. — SiebenjährigerKrieg.—Luther.— Gustav Adolf. — Waldstein. — Friedrich d. Gr. — Kaiser Josef. — Napoleon, — Cromwell u. m. A. — Französische Revolution. — Gegenwart sXIX. Jahrh): Preußen, — Deutschland. — Frankreich. — Rußland. — England. — Schweiz (rückgreisend). — Skandinavien. — Italien. — Vereinigte Staaten (rückgreisend). -— Vallan-Haloinsel (christlich). — Ostindien.— Süd- u. Mittel-Amerika. — Osmanisches Reich. — Persien, Afghanistan u. Turan. — Spanien u. Portugal. — Österreich. lander« u. Völkerkunde. Europa: Portugal mit den Azoren. — Spanien. — Frankreich (Norden). — Frankreich (Suden). — England u. Schottland. — Irland, — Belgien, — Holland, — Schweiz. — Italien (Norden). — Italien (Lüt