Borut Loparnik Die Kommunikation im Schatten der Unersichtlichkeit Eine Frage des Expressionismus Eines der künstlerischen Kriterien für das Verstehen der Musik als Sprache ist die semantische Ebene der klanglichen Vorrstellung. Da ihre metaphorische Textur nur in den psychologisch sensitiven Dimensionen des menschlichen Fassungsvermögens ablesbar ist, stellt der Bereich der inten- dierten als auch der unvorhersehbaren Bedeutungen des symbolischen musikalischen Inhalts den einzigen maßgebenden Raum der kommunika- tiven Präsenz und Reichweite dar. Exempla docent, daß un te r der Oberflä- che der Geschichtsschreibung zahlreiche palimpsestartige Spuren vorliegen, die auf diesen Einfluß hinweisen. Mehr noch, sie weisen auf die Prädomi- nanz der semantischen Ersichtlichkeit bezüglich der Genese der schöpferi- schen Intent ionen hin, obwohl diese in der esoterischen Geborgenhei t der musicae reservatae ruhen. Diese Erscheinung ist nicht digressiv u n d bekun- det die Art der Autor-Zuhörer-Relation. Sie umreißt insbesondere den Rah- men ihrer möglichen Identifikation mit dem Werk, oder, um es zu verein- fachen, die Grenze des ästhetisch Annehmbaren . Jede Abweichung über diesen Rahmen hinaus ist ein Risiko für die optimale Kommunikation. Es ist also kein Zufall, daß der Gegenstand der Geschichte auch die Rolle betrifft, - obwohl diese bislang soziologisch und ästhetisch keinen wesentlichen Teil spielte - die die Reaktion auf die Semantik im Laufe der sog. Musikentwicklung spielt.1 Dem Anschein nach paradox ist dabei nur der Umstand, daß die musikalische Bedeutung bzw. das hermeneutisch tie- fere Verhältnis zum Inhalt für die Rezeption der klanglichen Ausdrucksweise in concreto evident als ein sekundäres und unklares Kriterium anzusehen ist. Das künstlerische Fazit, an dem die zeitliche Distanz u n d aposteriorische Erklärungen noch keinen Anteil haben, zeigt sich als eine unklare, unbe- wußte Form der psychischen Genugtuung oder Störung, die j edoch in die Domäne des Geschmacks gehören. Die Reaktion auf die Intent ionen des Komponisten ist daher nicht das analytische Urteil, sondern die Feststellung des Erfolgs bzw. des Mißerfolgs, des »Guten« bzw. des »Schlechten«. Diese beiden Kategorien sind weder ästhetisch noch hermeneut isch, u n d sind Über das jetzige Verständnis des Begriffs Entwicklung siehe: Was heißt Fortschritt?, Musik- Konzepte Nr. 100, München 1998. Filozofski vestnik, XX (2/1999 - XIVICA Supplement), pp. 361-200 191 Borut Loparnik auch nicht poetologisch gemeint. Sie bestimmen lediglich den Charakter u n d die Ebene der Interaktion, die das Kunstwerk erreicht hat. Das durchschnittliche Rezeptionsinstrumentarium (und darum geht es in concreto, bevor das Geschehen in die historische Observation und der Inhalt in axiologische Parameter übersetzt werden), bleibt immer nu r die Funktion der semantisch unklaren Wahrnehmung. Was es schafft, ist nur eine Annäherung - zum einen an den Kern des parabelförmig ausgedrück- ten Eindrucks, zum anderen an die metaphorische Textur der Musik, oder zumindest der Sprache, in der diese zugänglich ist. Die Indirektheit dieses Verhältnisses wird sehr treffend durch das gängige, in der Umgangssprache gebräuchliche Syntagma »die Musik verstehen« definiert. Demnach wird die Musik als ein Kommunikationsmittel aufgefaßt, also als Klangsprache, wo- bei ihre Beherrschung, alias die Ersichtlichkeit des erfassten Inhalts, die Bedingung für die kommunikative Präsenz des Werkes darstellt. Mit anderen Worten - die Rezeption in concreto ist die instinktive Suche nach dem Verstehen und den Möglichkeiten für eine assoziative Iden- tifikation mit dem Kunstwerk mittels Sprache. Das bedeutet, daß sie von der musikalischen Poetik geleitet wird, ihrer Lexik und Struktur, und noch mehr von ihrer Syntax und Morphologie: von der individuellen Poetik als Totali- tät der kompositorischen Mutationen des Allgemeinen. Da sie am eviden- testen durch Sprache oder Aussprache kategorisiert wird, entscheidet in erster Linie die »Orthophonie«, wie und wie viel der sensus communis wahr- n e h m e n wird, daß die Sprache die semantische Substanz des Werkes wider- spiegelt. Ob er sie (approximativ) auch begreifen wird, ist zwar eine aposterio- rische, j e d o c h zugleich eine neue Frage, die in die an thropologischen Schichten des Phänomens Sprache hineinreicht. Sein Ausgangspunkt sind die grundlegenden Züge des Musikdenkens, mit denen die Ästhetik den Stil definiert und die Musikgeschichte die Perioden zwischen einzelnen tekto- nischen Verschiebungen der poetologischen Konstanten klassifiziert. In diesen verhältnismäßig langen zeitlichen Segmenten paßt sich nämlich das Rezept ionsinstrumentar ium allmählich die zentralen Eigenschaften des Denkens bis zu Stereotypen an, die das triviale Kodesystem der Bedeutungs- werte aufrechterhalten. Dieser Prozeß ist zweifelsohne eine instinktive Kor- rektur hoher ästhetischer Maßstäbe, doch hat das Resultat eine tiefere Kon- notation. Das jeweilige Abweichung von artistischen Ansprüchen stellt die im Grunde unberühr te , ahistorische, gegen die inhaltlichen Metamorpho- sen resistente Verflechtung eindimensionaler psychologisch-phänomenolo- gischen Konvergenzen wieder her, die die Natur des »herkömmlichen Ge- schmacks« sind u n d außerhalb des Geschehens gelten, auf das sich die 362 Die Kommunikation im Schatten der Unersichtlichkeit. Eine Frage . Geschichte stützt. Daß es sich um ein geistig rudimentäres System handelt , läßt sich am besten an den Modalitäten der U-Musik ablesen, in der perma- nente Innovationen im Bereich des Scheins nie den Inhalt erreichen. Das, was die Ablehnung des Kunstwerkes auslöst, ist demnach nicht eine unge- wöhnliche Lexik oder eine schlechtere Ersichtlichkeit der Bedeutungen in einer individuell profilierten Sprache. Der ausschlaggebende Impuls ist die instinktive Wahrnehmung dessen, daß die Musik anerkannte Werte reinter- pretiert, sie möglicherweise zerstört oder sogar ihren Sinn negiert. Anders ausgedrückt, das Kodesystem, das sich auf das Unbewußte stützt, ist das Maß für die assoziative semantische Identifikation, und damit das Maß für das ästhetisch Akzeptable, das den Wechsel und die Exzesse in der »Orthopho- nie« erklärt. Die Musikwissenschaft, vornehmlich die Musikgeschichte, stößt ange- sichts des Unbewußten, insbesondere wenn dieses latent existiert, also ohne den artikulierten Hintergrund, auf bestimmte Schwierigkeiten. Da es einer methodologischen Analyse nicht zugänglich ist, dienen seine Rolle und seine Reichweite lediglich der Illustration des sprachlichen, höchstens stilisüschen Unverständnisses, also der Gegensätze oder Unterschiede zwischen dem Autor und dem Publikum. Die Logik des Andersartigen wird in Anbetracht des real Beweisbaren in den Bereich der selbstverständlichen Regressionen verdrängt, die zumeist durch die Auffassung der sog. Entwicklung bzw. des Fortschrittes evoziert werden. Daß sie trotzdem aus dem Hintergrund des Geschehens reflektiert, ist also nicht das Verdienst der heutigen Theorie, sondern der Praxis, die der enigmatischen Idiomatik des Unbewußten vol- le Geltung verschafft. In der Rezeption, obwohl sie res secreta zu sein scheint, in der Interpretation, für die sie das existenzielle Medium darstellt, und im Schaffensprozeß, dem sie punktum saliens ist. Die Musikgeschichte bringt diese indikatorischen Erscheinungen also selten und nur durch Hypothesen zur Sprache - hört aber auch schnell auf, sich damit zu befassen, wenn das Unbewußte zum entscheidenden Agens auf beiden Seiten des Kommunikationsverhältnisses wird, d.h. beim Kom- ponisten u n d bei den Zuhörern. In einer solchen Dichotomie werden Ur- sachen und Wirkungen nicht nur durch verschiedene Ebenen der Wahrneh- mung und Reaktionen verwickelt, sondern auch durch die Kontrastmodi, in denen sich Ursachen und Wirkungen beider Entitäten manifestieren bzw. aufeinanderprallen. Dieser Antagonismus ist nicht aufzulösen, da er von der Unvereinbarkeit der psychologischen Prädestination beherrscht wird, gül- tig in concreto als auch danach. Das belegt im 20. J ah rhunde r t das Schick- sal des Expressionismus vielleicht noch mehr als f rühere Abschnitte der Musikgeschichte. 363 Borut Loparnik Aus der Distanz des kompositorischen Repertoriums der Nachfolger ist seine stilistische Gestalt selbstverständlich der natürliche Gipfel des ro- mantischen Modernismus. Die Ansätze avantgardistischer Elemente, die später von Revolutionären und Revisionisten entwickelt werden, sind somit nach historischen Maßstäben die Fortsetzung und nicht der Bruch, d.h., sie sind die extreme morphologisch-syntaktische Mutation des Erbes u n d nicht - um es abstrakter auszudrücken - die Aufhebung des Essentiellen. Solche Momente bezeichnet die Geschichte als Ubergänge, die Musikwissenschaft hat sie auch kritische Jah re genannt.2 Beide sehen das zentrale Problem dieses chaotischen Geschehens einstimmig in der plötzlichen und radika- len Destruktion der Sprache bzw. der Grundsätze, die sie konstituieren. Die Folgen dessen nimmt die Öffentlichkeit vornehmlich als irritierendes Ent- stellen des Materials auf, eventuell als ästhetisch subversive Axiologie und gewiß als die terminologische Verwirrung, die zwischen den Autoren u n d Referenten herrscht.3 Von der Ebene ihrer Betrachtung her müssen wir ihr zustimmen, daß die Ubergänge immer das Sterben des Existierenden dar- stellen. Doch ist der Blick auf der Ebene, die abgelehnt wird, d.h. in den Augen des Komponisten, umgekehrt . Da geht es nämlich um die Fortset- zung und Verteidigung, genauer gesagt, um die Wiederaufnahme u n d Er- neue rung der banalisierten und deformierten Postulate der ausgehenden Epoche. Die Expressionisten negieren keineswegs die innere Freiheit, im Ge- genteil, sie potenzieren die Realität des geistig Autonomen, Unbewußten u n d Arationalen, was dem einsamen romatischen Subjekt die Distanz zur Welt gewährt. Mit dem Neuen in der Sprache versuchen sie den Inhalt und die semantische Substanz seiner Herkunf t zu retten, was besagt, daß die Veränderungen die Reinterpretation und nicht die Elimination des Vererb- ten betreffen. Wie immer sie schon entstehen mögen und wieweit sie auch von den Determinanten des 19. Jahrhunderts entfernt zu sein scheinen, ihre Anlehnung an die Tradition ist der einzige, obwohl häufig schwer nachzu- weisende Zug, der den Expressionismus von der sog. historischen Avantgar- de unterscheidet - und selbstverständlich von der Romantik.4 2 Vgl. Report of the Tenth Congress [of] International Musicological Society Ljubljana 1967 (ed. byD. Cvetko), Kassel [etc.], Ljubljana 1970, besonders S. 216-247 (Critical Years in European Musical History 1915-1925). 3 Für den Gebrauch des Begriffs Expressionismus siehe: Troschke, M. v., Expressionismus, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie (1988). 4 Vgl. Stephan, R., Expressionismus, in: MGG (2., neubearb. Ausg.), Sachteil 3, Kassel [etc.] 1995, Sp. 244-253; Mauser, S., Das expressionistische Musiktheater der Wiener Schule, Schriften der Hochschule für Musik München, Bd. 3, München 1982, S. 1-9. 364 Die Kommunikation im Schatten der Unersichtlichkeit. Eine Frage . Leider scheint das Letztere ein mehr oder minder marginales Phäno- men zu sein, das auch von der Musikgeschichte als unbrauchbares Kriteri- um angesehen wird. Der Blick auf das Geschehen, der im ästhetischen Sin- ne die fragliche Progression klassifiziert u n d relativiert, vernachlässigt nämlich die Tatsache, daß die Expressionisten vor allem durch ihr kritisches und nicht durch ein sinkretisches Verhältnis zur ästhetischen Lage, in der ihre Intent ionen exkommuniziert werden, mit der Tradition verbunden sind. Das, wonach sie streben, läßt sich nicht im Bereich der abstrakten sti- listischen Metaphysik verwirklichen, sondern auf dem realen Boden des Milieus, das sie gezeichnet hat und dem sie angehören. Allen gemeinsam ist die Negation der regionalen künstlerischen Situation, ihrer Mentalität und eine radikale Ablehnung adaptierter Werte, einer verknöcherten Spra- che u n d semantischer Stereotypen, mit denen ihr geografischer Raum lebt. Sie berufen sich nicht auf gemeinsame slilistische Tendenzen, suchen kei- ne Korrelate bei verwandten Rebellen anderwärts und verkünden nicht ihre Grundsätze in Manifesten, die zu ihrer Zeit und auch später Europa über- fluteten. Ihr Ausgangspunkt und Arbeitsraum ist die domus sua propria. Eine solche Haltung hebt mindestens dreierlei hervor. Zweifellos na- tionale, des öf teren nationalistische Vorurteile und Gegensätze, die den Expressionismus begleiteten und einschränkten.5 Nicht minder die psycho- logische Nähe und das ästhetische Bewußtsein, infolgedessen sich die expres- sionistischen Einzelgänger als geistige Nachfolger »ihrer« spätromantischen Modernisten fühlten; so war der Kreis um Schönberg z.B. an Mahler gebun- den, die russischen Symbolisten an Skrjabin.6 Am stärksten aber betonen die angeführ ten Züge eine Eigenschaft, die für das Verständnis dieses Ge- schehens als wesentlich und für die historische Interpretat ion als entschei- dend zu betrachten ist: trotz der einheitlichen Idee war der Expressionis- 5 Schönberg im Brief an Alma Mahler, 28. 8. 1914: »... ich konnte «¿«etwas anfangen mit aller ausländischen Musik. Mir kam sie immer schal, leer, widerlich, süsslich, verlogen und ungekonnt vor.« - Zit. nach: Nono-Schönberg, N. (Hrsg.), Arnold Schönberg 1874-1951. Lebengeschichte in Begegnungen, Klagenfurt und Wien 1998, S. 133. 6 Vgl. z.B. Nono-Schönberg, N. (Hrsg.), o.e., S. 50-53, 80-81, 101; Reich, W„ Arnold Schönberg oder Der konservative Revolutionär, Wien [etc.] 1974, S. 52-56; Lea, H. A., Gustav Mahler und der Expressionismus, in: Aspekte des Expressionismus. Periodisierung, Stil, Gedanke, Heidelberg 1968, S. 85-102; Sabanejev, L., Prometheus von Skrjabin, in: Der Blaue Reiter (dokumentarische Neuausg. von K Lankheit), München 1990, S. 107-124; Goldstein, M., Skrjabin und die Skrjabinisten, in: Aleksandr Skrjabin und die Skrjabinisten (1), Musik-Konzepte Nr. 32-33. München 1983, S. 178-190; J l e B a a , T., Pucckaa m y 3 M K a Hatana XX BeKa B xy ,a0>KecTBeHH0M KOHTeKCTe 3noxn / Russische Musik am Anfang des XX. Jahrhundert im künstlerischen Kontext der Epoche, MocKBa 1991. 365 Borut Loparnik mus - insbesondere in bezug auf die Sprache - eine extrem variable Ant- wort auf unterschiedliche oder sogar ganz unvergleichbare Umstände. Mit ihm kam zum ersten Mal eine der zentralsten Modalitäten der zer- splitterten künstlerischen Welt des 20. Jahrhunder t s zum Vorschein: die Dispersität. Unbeständig, wie jeder historische oder persönliche Ubergang, entfaltete sich der Expressionismus nicht zu einem definierbaren Stil, er blieb eine Bewegung - j e d o c h auch als solcher ein Wegweiser zur Unruhe de r neuen Epoche. Unter dem Aspekt aller seiner Erscheinungsformen betrachtet, läßt sich behaupten, daß es sich um Expressionismen handelte, u n d nicht um den Expressionismus. Das bedeutet folglich, daß das Charak- teristikum Schönbergs, bzw. sein Einfluß auf den deutschsprachigen Raum, nicht der einzige Agens oder sogar das Muster der meisten Handlungen war, obwohl die heutige Musikwissenschaft dazu neigt, beides als Maßstab der Metamorphosen, zumindest im geistigen Kontext eines imaginären Mittel- europas, zu betrachten. Das bedeutet weiterhin auch, daß das Nationale - einschließlich folkloristischer Idiome - der grundlegende Impuls der expres- sionistischen Erneuerung überall dort war, wo der kulturimperialistische Druck besonders stark verspürt wurde. Und nichtzuletzt läßt sich behaup- ten, daß laut der Adornschen politisch-ideologischen Terminologie sich die »agraren«, alias nicht-historischen Länder, gerade durch dem Expressionis- mus einen Teil ihrer eigenen künstlerischen Identität erkämpfen konnten. Die Perspektive der historischen Verdienste t rugjedoch kaum zu einem besseren Verhältnis zwischen dem Publikum und den Schaffenden bei. Es war die Originalität dieser Bewegung, die dieses Verhältnis verwickelte u n d vereitelte, denn man wollte laut Hans Heinrich Eggebrecht »eine neue Wahrheit und Freiheit gewinnen aus den Kräften des Unbewußten, schöp- ferisch Triebhaften, Intuitiven.«7 Mit einem potenzierten Ego im Mittel- punkt und der Betonung des Unbewußten in seiner Erlebniswelt rief man eine kommunikative Blockade hervor. Nicht nur, daß die Lexik »abstoßend« wirkte, auch die Syntax und die Morphologie waren nicht klar artikuliert, n icht »orthophonisch« und daher unersichtlich.8 Daß sie Möglichkeiten einer semantischen Perzeption in sich bergen, zeigte sich, wie immer, erst später, j edoch mit überdurchschnittlich starker Distinktion des noch Akzep- tablen, was bis heute so geblieben ist. 7 Das grundsätzlich Neue der Neuen Musik, in: Eggebrecht, H. H., Musik in Abendland. Prozesse und Stationen von Mittelalter bis zur Gegenwart, München, Zürich 1991, S. 759. 8 Schul tz , W.-A., Die f r e i e F o r m e n in de r Musik des Express ion i smus u n d Impressionismus, Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 14, Hamburg 1974, S. 93-140. 366 Die Kommunikation im Schatten der Unersichtlichkeit. Eine Frage . Mit anderen Worten, das System der vereinfachten Werte fand keine gemeinsamen Anhaltspunkte, an denen sich die expressionistische Poetik und ihr Inhalt adaptieren ließen. Es half nicht, daß beide eigentlich nur auf zwei verschiede Arten die geistige und seelische Substanz des späten 19. Jahrhunderts beleuchteten. Auch die folkloristische Idiomatik brachte in der Regel kaum etwas. Beides weist d a r a u f h i n , daß die Wurzeln dieses Gegen- satzes vermutlich ins rein Triebhafte hineinreichten. Dorthin, wo sich die Funktionen des Individuellen und des Massenhaften auf den ursprünglichen Widerspruch zwischen dem Subjekt und der Umgebung reduzieren lassen, was im Hinblick auf unsere Fragestellung den Status des Unbewußten defi- niert. Das Unbewußte sublimiert sich beim Schaffenden instinktiv im intelek- tuell kontroll ierten Ausdruck inhaltlich neuer Symbole, beim Publikum hingegen ist es auf die instinktive Suche nach der sensitiven Identifikation mit dem inhaltlich Bekannten ausgerichtet. Diese beiden Prozesse können nur dann mehr oder weniger übereinst immen, wenn die Kodes der meta- phorischen Textur und des rezeptiven Instrumentariums gegenseitig über- setzbar sind. Zumindest auf der ersten der drei Stufen der ästhetischen Kommunikation, bei ersichtlicher Sprache, wenn schon nicht in der Zugäng- lichkeit der semantischen Wahrnehmung und des inhaltlich Annehmbaren. Doch hier rückten die Expressionisten zu sehr in die Unendlichkeit der visionären Intime des Unbewußten, als daß ihnen die Umgebung hätte fol- gen können. Und zu weit in die Freiheit des sprachlichen Prunks, als daß sie ihn hätten beherrschen können. Es wurde zu einer verhexten Falle, aus der nur der Meister der Einschränkung - das System - herauszuhelfen ver- mochte. Fast alle suchten nach ihm, intuitiv oder intelektuell, systematisch oder unsicher, nach metaphysischen Mustern oder nach der musikalischen Transmutation, doch nur wenige erreichten das Ziel. Schönberg, an den wir uns beziehen, da er es schaffte, sein System durchzusetzten, ist demnach historischer pars pro toto für den Strom, von dem er weder die Quelle noch die Mündung war. In diesem Strom fanden sich (und er tranken größten- teils) viele, von Hauer, Eiurlionis oder Obuhov bis zu Kogoj und Slavenski.9 9 Vgl. z.B. Kalisch, V., Der unbekannte Bekannte. Der Komponist Josef Mathias Hauer, NZfM 149/1988, 3, S. 10-16; Crepaz, G.,Josef Mathias Hauers op. 1: Nomos, Melos 1988, 4, S. 20-44; Wehmeyer, G., Thema und sechs Variationen oder Variationen über das Thema »Sefaa Esec« für Klavier, op. 15 (1904) von Mikolajus Konstantinas Ciurlionis, Melos 1985, 1, S. 2-17; Lesle, L., Meeressonate und Tannenbaumfuge. Der litauische Maler-Musiker Mikolajus Konstantinas Eiurlionis, NZfM 154/1993, 6, S. 24-29; Eberle, G„ Klangkomplex, Trope, Reihe, Musica 34/1980, 2, S. 139-144; Schloezer, B. de, Nikolaj Obuchov, in: Aleksandr Skrjabin und die Skrjabinisten 2, Musik-Konzepte Nr. 37-38, München 1984, S. 107-121; Pericic, V., Josip Slavenski und seine Astroakustik, Musiktheorie 3/1988, 1, S. 55-69. 367 Borut Loparnik Sie zeugen noch für eine der expressionistischen Voraussagen des 20. Jahrhunder ts , nämlich für seinen Überfluss an Systemen und die Tyrannei des Systemhaften. Und sie waren Akteure in der letzten Szene der expres- sionistischen Parabel historischer Ubergänge, als das Denken aus dem Un- bewußten heraus nicht mehr in der Lage war, die regelgeleitete Destinati- on oder zumindest einen eingeschränkten sprachlichen Raum einzuhalten. Als Erneuerung des Gegebenen durch Verfall unterlag es der Konsolidati- on des Neuen durch Bauen oder mußte sich zurückziehen. Das Fazit war dasselbe: die triebhafte Spannung verlor an Intensität und die semantische Metaphorik verlor ihre Richtung. Was ents tanden war, hatte eine andere Substanz und andere kommunikative Absichten, es sprach eine neue Spra- che. Das bedeutet nicht, daß damit auch das historische Paradigma, besser gesagt, das Paradigma des intuitiv geformten Klanges, erloschen ist. Sollte es sich um Gesualdo oder Wolfgang Rihm handeln, es existiert immer im letzten Schritt zu dem äußersten Rand oder jenseits des Systems, wo sich das Weite der freien Auswahl öffnet. Und dort entscheidet das Unbewußte.10 (Ubersetzung Vanda Richter) 10 Danuser, H., Inspiration, Rationalität, Zufall. Über musikalische Poetik im 20. Jahrhunder t , AfMw 47/1990, 2, S. 95. 368