SYNTAX IN ANTIQUITY, edd. P. Swiggers -A Wouters; Louvain 2003, Peeters (Orbis -Supplementa t. 23) Es ist sicherlich kein Geheimnis, dass in der griechisch-romischen Grammatik der Antike die Syntax -nach heutiger Auffassung -oft oder sogar in der Regel zu kurz kommt. Dies bringt jeden, der sich mit antiker Grammatik befasst, in Verlegen­heit, denn die Syntax gilt in der Sprachwisenschaft der Neuzeit als die produktivste der Sprachebenen und damit als der wichtigste Teil der Sprachforschung. Da die Syntax in heutigem Sinne bekannterweise erst in der Spatantike zu einem integralen Teil einer grammatischen Techne geworden ist, iiberkommen einen fast schon Minderwertigkeitsgefiihle, wenn man zugeben muss, dass man sich eine Sprachtheo­rie zum Objekt seiner Forschung gemacht hat, die sich "nur" mit Laut-und Formen­lehre befasst. Es stellt sich dazu selbstverstandlich die Prage: Wie konnte eine Sprachlehre so lange ohne Syntax bestehen? Die Antwort ist einfach: gar nicht. Wenn sich die alten Romer und Griechen mit der Sprache befassten, hatten sie Sprachelemente, die wir heute als syntaktisch bezeichnen, nicht auBer Acht gelassen. Wenn man jedoch in einer griechischen oder romischen Grammatik bliittert, bekommt man den Ein­druck, es gebe bis Apollonios Dyskolos bzw. Priscian iiberhaupt keine Syntax. Dabei verhalt man sich oft, als ware heutzutage die Prage nach der Definition der Syntax restlos gekliirt. Dass die Wirklichkeit jedoch anders aussieht, zeigen schon ver­schiedene Definitionen, die in diesem Sammelband vorkommen: in den meisten Beitragen wird keine ausdriickliche Definition angegeben, was man dadurch erklii­ren konnte, dass dariiber, was Syntax sein sollte, wohl eine stillschweigende Uber­einkunft besteht und dass die meisten Beitrage von diesem stillschweigenden Uber­einkommen ausgehen. Die Definitionen jedoch, die immerhin angegeben werden, unterscheiden sich betrachtlich, und zwar nicht nur im Wortlaut: • Swiggers -Wouters (S. 26): "analyse de la structure interne des enonces" • Basset (S. 43): "un effort d'abstraction pour decrire la structure des phrases" • Hyman (S. 179): "combination ofwords into sentences (and, usually intermediate subsentential structures)" • Biville (S. 227): "Son objectif est d'identifier les mecanismes linguistiques qui con­courent ala cohesion formelle et ala coherence semantique de l'enonce, et de de­gager les formes." Wie man daraus schlieBen konnte, handelt es sich dabei zweifellos um Untersu­chungen der Ordnungsprinzipien, die in Einheiten bestehen, die liber das einzelne Wort hinausgehen (Wortgruppe, Satz, Text). Dieser Vorgang kannjedoch in zwei ent­gegengesetzte Richtungen verlaufen: vom einzelnen Bestandteil auf das Ganze (syn­thetisch) oder vom Ganzen auf die Bestandteile (analytisch) zu. Da heutzutage das analytische Verfahren Vorrang hat, verliert man sich in den Werken der antiken Grammatiker allzu leicht, denn die antike Grammatik (genauso wie die Rhetorik) bevorzugte das synthetische Verfahren. Bine Erklarung dafiir ware, dass weder Grammatik noch Rhetorik als eine selbstandige (also sich selbst zum Zweck dien­ende) Wissenschaft galten, sondern man sah in ihnen nur einen Teil der allgemein­en Bildung, die eine weltgestaltende (und nicht nur -beobachtende) Personlichkeit zu schaffen hatte. Wie die Herausgeber im Vorwort verdeutlichen, kann die Hauptursache fiir eine aus unserer Sicht unvollstandige Behandlung der Syntax darin liegen, dass die antike Sprachauffassung nicht derartig von einer Vorstellung von mehr oder weniger auto­nomen Sprachebenen gepragt wurde (dies heilltjedoch langst nicht, dass man sich die Sprache als etwas aus mehreren Ebenen Bestehendes nicht hatte vorstellen konnen), sondern man behandelte die Kombinierungsmoglichkeiten und -probleme zusammen mit einzelnen Elementen. Ein Grund dafiir war zweifellos die von den Herausgebern angesprochene 'hypertrophie de la morphologie' in den klassischen Sprachen (S. 36). Der rezensierte, Jean Lallot zum Anlass seines 65. Geburtstags gewidmete Sam­melband enthalt demnach Beitrage, die auf der Tagung Syntax in Antiquity (Leuven, 27. 9 -29. 9. 2001; von den Herausgebern witzigerweise als a three-day meeting ona topic nai"vely assumed to be "non-existent" bezeichnet) vorgestellt wurden. Sie befassen sich vor allem mit Schwierigkeiten, die aus der besonderen Stellung der Syntax her­vorgehen. Die veroffentlichten Beitrage sind in vier Abteilungen geordnet und zwar nach einem Prinzip, das man 'konzentrisch' nennen konnte. l.) Die erste Abteilung (Syntactic Description and Reflection in Antiquity: Status, Bound­aries, and Connections) enthalt Beitrage, die sich mit dem Kernproblem befassen: -P. SWIGGERS -A. WOUTERS begriinden in ihrem Beitrag Reflexions a propos de (l'absence de?) la syntaxe dans la grammaire greco-latine die Feststellung, dass die oft gehorte Meinung, nach der es in der antiken Grammatik keine eigentliche Syntax gegeben habe, jeglicher Grundlage entbehrt. Es ist wirklich iiberraschend, dass man von ''Abwesenheit" der Syntax in der antiken Grammatik spricht, wo doch die ganze Grammatik (und mit ihr die eigentliche Sprachwissenschaft) mit einer durchaus syntaktischen Feststellung iiber ovoµa. und p"Yjµa. begann. -Louis BLASSET stellt im Beitrag mit dem TitelAristote et la syntaxe eine sehr genaue und detaillierte Stellenanalyse aus Aristoteles' De interpretatione und Poetik dar. -Wolfram AX befasst sich im Beitrag Texlinguistische Ansi:itze in der antiken Gram­matik mit den Ausfiihrungen der antiken Grammatiker iiber das Pronomen und den Artikel, wo es sich zeigt, dass antike Grammatiker auch zu 'Textlinguistik' griffen, wenn es ihnen notwendig erschien. Es ware vielleicht noch einleuchten­der, wenn der letzte Absatz des Beitrags (iiber das Verhaltnis der Textlinguistik zur antiken Rhetorik) sich am Anfang des Beitrags befinden wiirde. So ware eine verfehlte Annahme beseitigt, nach der sich antike Grammatiker nicht bewusst gewesen waren, dass die ganze 'Textlinguistik' eine Aufgabe der Rhetorik ist. Hierzu ware auch zu bemerken, dass jede Beschaftigung mit 'Textlinguistik' fiir einen antiken Grammatiker (und einen Grammatiklehrer) bedeutet hiitte, dass er sich bewusst in den Bereich der Rhetorik (und des Rhetoriklehrers) begibt. Etwas Derartiges zu tun, wiirde bedeuten, ins Territorium der Rhetorik vorzu­dringen, was auf einen heftigen Widerstand bei den Rhetoriklehrern gestossen wiire (und auch tatsiichlich stieB, z. B. bei Quintilian II, 1, 3). -Johannes M. VAN OPHUIJSEN (Parts ojwhat Speech? Stoic Notions ojStatement and Sentence, or: How the Dialectician Knew Voice and Begat Syntax) versucht, auf­grund einiger kiihnen Deutungen von Myw -Myoc, und npcxyµix -npcX.nw (ohne jedoch die jeweiligen Synonyme mit ihren semantischen Komponenten und den damaligen Sprachgebrauch in Betracht zu ziehen) seine Uberlegungen iiber den Ursprung der Syntax aus der Logik herzuleiten. Bei diesem Text kann man nicht umhin zu bemerken, dass er (wenigstens fiir einen Laien) recht schwer ver­stiindlich ist, auch die Beweisfiihrung erscheint stellenweise wenig deutlich und sehr verwickelt. Es ist auch nicht ganz klar, wem die Zitaten in transliterierter Form niitzen konnten -wer nicht einmal griechische Buchstaben lesen kann, wird auch mit einem transliterierten griechischen Textabschnitt wenig anfangen konnen. 2.) In der zweiten Abteilung (Alexandrian .Grammarians and Syntax) erfiihrt der Leser Einleuchtendes vor allem iiber den ersten antiken "Syntaktiker" Apollonios Dyskolos. -Stephanos MATTHAIOS (Tryphon aus Alexandria: der erste Syntaxtheoretiker vor Apollonios Dyskolos?) versucht, eine fast allgemein akzeptierte Theorie zu wider­legen. Solche Beitriige sind immer von groBer Bedeutung, denn sie verhindern eine automatische Ubernahme, nach der uniiberpriifte Behauptungen zu 'Tatsachen' werden konnen. Jedenfalls gelingt es dem Verfasser glaubwiirdig zu machen, dass Tryphon kein selbstiindiges Werk Ile:pt cruv'"t"cX.~e:wc, verfasste. Einer zusiitzlichen Erkliirung bediirfte jedoch das Kriterium der 'Richtigkeit', das der Verfasser als ein Haupkriterium dafiir verwendet, ob eine Deutung 'syntaktisch' ist oder nicht. -Frecteric LAMBERT wiihlte sich (wie er selbst zugibt) in seinem Beitrag Apollo­nios Dyscole: la syntaxe et l'esprit einen modernen Sichtpunkt, bei dem semantisch­pragmatische Ansiitze im Vordergrund stehen. Die Beweisfiihrung des Apollonios Dyskolos wird unter verschiedenen kognitiven Aspekten behandelt. -Jean LALLOT ( Considerations intempestives sur la nature des rapports syntaxiques se/on Apollonius Dyscole) stellt interessante Uberlegungen iiber Apollonios Dysko­los' Behandlung der Syntax dar. Der Verfasser -selbst ein Apollonios-Ubersetzer, deshalb ein guter Kenner der Materie -vertiefte sich in Apollonios' syntaktische Terminologie und entdeckte dabei eine bemerkenswerte Metaphorik, welche die Beziehungen der Worter zueinander den zwischenmenschlichen Beziehungen gleichstellt. 3.) Die dritte Gruppe (Syntax and Rhetoric: Virtues and Vices oj Speech) behandelt Probleme, die nach heutiger Ansicht in den Bereich der Sprachwissenschaft, in der Antike jedoch tiberwiegend in den rhetorischen Bereich gehoren. -Toivo VlLJAMAA (Colon and Comma. Dionysius ofHalicarnassus on the Sentence Structure) zeigt, wie sehr Dionysios Abhandlung nicht nur auf lautliche Effekte, sondern auch auf die Stilistik gerichtet ist. Es ist jedoch in der Tat nicht klar, ob der Unterschied zwischen xw"Aov und x.6µµo:. von vorwiegend phonetisch-stilis­tischer oder eher textuell-syntaktischer Naturist. Noch schwieriger ist die Lage, weil die Bedeutung dieser zwei Termini von Autor zu Autor variiert, denn diese zwei Worter wurden als Fachausdrticke in verschiedenen Fachgebieten verwendet (Musik, Rhetorik, Grammatik), und man kann nicht davon ausgehen, dass sich die bei verschiedenen Autoren angeftihrten Definitionen auf denselben Gegen­stand beziehen. Man mtiBte zu diesem Beitrag jedenfalls bemerken, dass einige Stellen aus dem Griechischen nicht ganz genau tibersetzt zu sein scheinen. -Die Beitrage von Malcolm D. HYMAN (One Word Solecisms and the Limits of Syntax) und Raija VAINIO (Borderline Cases between Barbarism and Solecism) haben nicht nur inhaltliche Bertihrungspunkte, sondern auch ein gemeinsames Motiv: beide sind mit der Absicht entstanden, an die Syntax der antiken Gram­matiker "von hinten" heranzukommen. Sie befassen sich namlich mit dem Gegen­satz Barbarismus: Sol6zismus, der in den meisten antiken Handbtichern mehr oder weniger ausftihrlich dargestellt wird. Da die Behandlung dieser Grammatik­fehler sich an der Stelle eines Handbuches befindet, wo man die Syntax erwartet hatte, liegt die Annahme nahe, dieses Kapitel sei auch funktionell der Syntax gleichgestellt. Es sind vor allem diejenigen Stellen aus den antiken Grammati­kern interessant, in denen Beispiele besprochen werden, die als Grenzfalle gal­ten. Da gilt es zu versuchen, (obwohl dies, wie J. Lallot in seinem Beitrag erwahnt, schon mehrmals getan wurde), eine 'negative' Syntax zu entdecken, also eine Syntaxtheorie aufgrund dessen, was getadelt wird. Ansonsten war damals der Unterschied zwischen Barbarismus und Sol6zismus wohl ebenso schwierig zu ermitteln wie etwa der heutige Unterschied zwischen Morphosyntax und Syntax. 4.) Die letzte Abteilung stellt uns Beitrage vor, die -wie schon ihr Titel andeutet (Syntax, and Beyond: The Latin and Byzantine Heritage) -liber die antike Grammatik im strikten Sinne hinausgehen. -Anneli LUHTALA (Syntax and Dialectic in Late Antiquity) befasst sich mit zwei wichtigen Richtungen in der antiken Syntaxauffassung. Dies kann zweifellos als ein bedeutender Gesichtspunkt gelten, denn hier wird die antike "Syntaxfor­schung" in zwei Richtungen aufgeteilt: Die erste, die ihre Ursprtinge in Aristo­teles' Schriften, vor allem De interpretatione hat, und die zweite, die aus der stoi­schen Satzlehre hervorgeht. Der Hauptunterschied liegt im Grundbegriff des Satzes, der nach aristotelischer Auffassung ausschlieBlich zweiteilig ist (die casus obliqui werden nicht als vollwertige Satzkomponenten anerkannt), wahrend in der stoischen Tradition die Zweiteilung der intransitiven und transitiven Pradi­ kate auch andere Satzstrukturen zulaBt. Dieser Vergleich ist zweifellos aufschluss­reich, denn er macht tatsachlich verschiedene Richtungen sichtbar. -Frecterique BIVILLE (La syntaxe aux confins de la semantique et de la phonologie: les interjections vues par les grammairiens latins) stellt dem Leser zuerst eine um­fassende Ubersicht der lateinischen Grammatikterminologie dar, um sich an­schlieBend mit dem Problem der Interjektion als Wortart zu befassen. Diese ist schon deshalb interessant, weil sie als eine originelle Entdeckung der romischen Grammatiker gelten kann und weil sie -wie schon ihr Name zeigt -nicht als eine bloBe Wortart vom Text getrennt behandelt werden kann. Die letzten zwei Beitrage erweitern den Blick des Lesers noch weiter, denn sie haben vor allem mittelalterliche Quellen zum Thema. Dies ermoglicht dem Leser, Proble­ me in einer ein wenig veranderter Perspektive zu betrachten. Die Fragestellung be­ trifft weniger ihre Quellen als den lnhalt, vor allem syntaktische Aspekte. -Die Beitrage von Mariarosaria PUGLIARELLO (La sintassi di Arusiano Messio) behandelt Arusianus Messius, der als ein Vorganger der sogenannten Regulae­Grammatik gelten kann. Die Verfasserin analysiert sehr genau die Struktur sein­er Beispiele ( denn es handelt sich um eine Sammlung von Beispielen, die elocu­tiones genannt werden) sowie versucht festzustellen, was elocutio in diesem Autor (im Vergleich mit anderen Autoren) eigentlich heiBt: nicht 'Wendung' oder 'abweichende Ausdrucksart' (wie bei Servius), sondern einfach 'Redensart' oder 'Phrase'. -Massimo PICCIARELLI weist in seinem Beitrag Les reflexions sur les cas chez les grammairiens byzantins auf einen verhaltnismaBig wenig erforschten Bereich hin, namlich byzantinische Grammatiker und ihre Werke. Da eine allgemeine Unter­suchung sehr umfangreich gewesen ware (und z. T. auch anderswo durchgefiihrt wurde), stellt der Verfasser nur die Theorie des Kasus bei Choiroboskos, Sophro­nios, Heliodor, Michael Synkellos, Gregor aus Korinth, Joannes Glykys, Maximos Planudes, Manuel Chrysoloras, Konstantin Lascaris und Theodor aus Gaza dar. Er folgt in seiner Ausfiihrung L. Hjelmslev, der -wie in diesem Beitrag hervorge­hoben wird -in seiner Abhandlung La categorie des cas (1935) als erster neuzeit­licher Sprachwissenschaftler die diesbeziigliche Leistung der byzantinischen Grammatiker ausreichend gewiirdigt hat. Bine aus.fiihrliche Besprechung dieses hinsichtlich dem Material und den Ideen so reichen Sammelbandes wiirde fast genausoviele Seiten beanspruchen wie das Buch selbst. Man kann nur hoffen, dass weitere detaillierte Forschungen nicht aus­bleiben. Matjaž Babič