Original scientific paper Izvirni znanstveni članek DOI: 10.32022/PHI31.2022.122-123.5 UDC: 111.1 Tag, Nacht, Zwielicht Eine Annäherung an Fink und Levinas Lutz Niemann Faculty of Humanities, Charles University, Patkova 2137/5, 182 00 Praha 8 - Liben, Czech Republic niemannlutz@web.de Day, Night, Twilight. An Approach to Fink and Levinas Abstract This contribution presents Eugen Fink's and Emmanuel Levinas's thought along the metaphors of day and night. Both Fink's cosmology and the philosophy Levinas developed in Totality and Infinity are read as locating the human being between day (light) and night. The present discussion of their philosophies is guided by the Phainomena 31 | 122-123 | 2022 question of how Fink and Levinas, who share the criticism of the metaphysics of light, try to overcome it. Special emphasis is put on the notions of unity and difference as well as the notion of totality. Further, both try to break the totalizing tendency of light by radically thinking the infinite. First, Fink's cosmology is presented. In a second step, Levinas's thinking from Totality and Infinity is discussed. A juxtaposition of both attempts marks the conclusion of the paper. Keywords: ontology, difference, alterity, infinity, cosmology, metaphysics. Dan, noč, somrak. Približanje k Finku in Levinasu Povzetek Pričujoči prispevek predstavlja misel Eugena Finka in Emmanuela Levinasa z vidika metafore dneva in noči. Tako Finko vo kozmologijo kot filozofijo, kakršno je Levinas razvil v delu Totaliteta in neskončnost, razbiramo kot poskusa opredelitve kraja človeškega bitja med dnevom (lučjo) in nočjo. Obravnavo njunih filozofij zasnavljamo 94 na podlagi vprašanja, kako Fink in Levinas skušata preseči metafiziko luči, glede kritike katere se sicer strinjata. Posebno pozornost posvetimo idejam enotnosti in diference ter ideji totalitete. Oba tudi, nadalje, želita zaprečiti totalizirajočo tendenco luči, tako da radikalno mislita tisto neskončno. Najprej predstavimo Finkovo kozmologijo. V drugem koraku obravnavamo Levinasovo misel iz knjige Totaliteta in neskončnost. Sopostavitev obeh poskusov predstavlja zaključek članka. Ključne besede: ontologija, diferenca, drugost, neskončnost, kozmologija, metafizika. Lutz Niemann 1. Einleitung: Das Erbe der Lichtmetaphysik Mit Eugen Fink und Emmanuel Levinas bringen wir in diesem Beitrag zwei Denker miteinander in den Dialog, welche beide das Erbe der Lichtmetaphysik auf sich genommen und sich an einer Kurskorrektur versucht haben. Dabei, so unsere Hypothese, denken beide die Verortung des Menschen in einem Zwischenfeld von Tag bzw. Licht und Nacht bzw. Dunkelheit. Tag (Licht) und Nacht (Dunkel) scheinen bei beiden als - mit Blumenberg gesprochen - Metaphern für die formellen Konzepte „Einheit und Vielheit, Absolute[s] und Bedingte[s]" (Blumenberg 2011, 140) zu stehen, worin sich ihrer beider „Treue" gegenüber dem lichtmetaphysischen Erbe zum ersten Mal andeutet. Darin, wie sie die Verortung im Zwischenfeld denken, unterscheiden sich beide Ansätze jedoch. Eine Rezeption des je anderen scheint kaum stattgefunden zu haben. Lediglich bei Levinas finden sich im Zuge zweier unter dem Titel God, Death and Time in englischer Übersetzung veröffentlichten Vorlesungszyklen einige explizite Hinweise auf Fink, wobei er dessen Analyse des Todes gar eine ganze Sitzung widmet (Levinas 2000, 67, 75, 88-92, 174f.). Gemein ist beiden ihre 95 kritische Rezeption des Denkens Heideggers. Während sie zum einen von ihm wichtige Motive für ihr Denken erhalten, erkennen beide in ihm eine der Lichtmetaphysik innewohnende Tendenz zur Totalisierung der Transparenz (Sprache, Innen).1 Umso reizvoller erscheint uns daher ein Vergleich dieser in ihrer Problemdiagnose so ähnlichen, im Lösungsweg dabei so verschiedenen Denker. Wir beginnen mit einer kurzen Darstellung der Kosmologie Eugen Finks entlang des Leitfadens der Motive Tag und Nacht. Anschließend wird entlang des Paares Licht und Nacht Levinas' erstes Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit (TU) aufgeschlossen, bevor in einer ausgedehnten Konklusion ein Vergleich der Ansätze formuliert wird. 1 Die Schärfe und Polemik, mit der diese Kritik formuliert ist, variiert jedoch stark. Diese Publikation wurde im Rahmen des von der GACR und der DFG geförderten Forschungsprojektes Eugen Fink and French Phenomenology realisiert. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 2. Eugen Fink 2.1. Im liebenden Streit von Tag und Nacht Betrachten wir die Verortung des Menschen zwischen Tag und Nacht zunächst mit Finks Kosmologie. Korrigieren wir das „zwischen Tag und Nacht" zu einem „Zwischen-Tag-und-Nacht" (Fink und Heidegger 1970, 211), dann sehen wir uns mit Finks Bestimmung des Menschen als eines Weltverhältnisses konfrontiert. Aus dieser Bestimmung wird bereits ersichtlich, dass es Fink zentral um ein Überdenken des Begriffs des Ganzen geht,2 wobei er dieses nicht - wie Levinas - unter dem Titel Totalität, sondern unter dem der Welt denkt. Finks Kosmologie, welche entscheidende Impulse zum Denken der Welt von Kant erfuhr (ebd., 176), wird zugleich in kritischer Auseinandersetzung mit der Ontologie Heideggers entwickelt;3 im Gegensatz zu Levinas sucht sie ihre Abgrenzung von dieser allerdings nicht über eine Konzeption der 96 Absolutheit des Einzelnen, sondern verfolgt ein Durchdenken des Bezugs des endlichen Menschen zum Allumfassenden bzw. Ganzen, das alles Seiende umfasst. Für Fink ist alles Seiende, zu dem auch der Mensch zählt, Teil der Welt. Es ist Gewächs der Physis, Trümmerstück des Seins oder auch Fragment. Dem Menschen kommt zwar eine Sonderrolle zu, indem er als Weltverhältnis der Mittler ist, in welchem sich das Spiel der Welt spiegelt, seine Differenz zum nichtmenschlichen Seienden ist allerdings nicht in der Schärfe formuliert, wie es bei Levinas der Fall ist. 2 Dies betrifft auch das Ganze in seinem Bezug zum Einzelnen. Die Problematik des Ganzen motiviert Finks Einführung des Begriffs der „kosmologischen Differenz" (Fink und Heidegger 1970, 176f.). 3 Fink weist wiederholt kritisch auf den Zug zur Priorisierung der Sprache im Heidegger'schen Denken hin. Dies führt Fink zufolge unter anderem zu einer Überbetonung des Moments der Offenheit/Lichtung vor dem der Verschlossenheit und somit zu einer abstrakt (formal, leer) bleibenden Fassung von Dasein und Sein (Fink 1976, 176f.; Fink und Heidegger 1970, 209; EFGA 7, 210). Zu einer ausführlichen Darstellung und kritischen Diskussion dieser Kritik siehe Takeuchi 2011. Zum Moment der Verbergung bei Heidegger im Hinblick auf das Motiv der Irre siehe Trawny 2014. Lutz Niemann Finks Ansatz zur Korrektur der Totalität der Transparenz liegt vielmehr darin, die Welt, das heißt die kosmologische Bewegung des Erscheinens, als unaufhebbare Spannung zweier Seinsmächte zu denken: Offenheit (aletheia) und Verschlossenheit (lethe). Auch wenn er die Begrifflichkeit, mit der er dies tut, hauptsächlich bei Heidegger entlehnt, grenzt er sich doch dadurch von diesem ab, dass er auf der Gleichrangigkeit der Seinsmächte von Offenheit und Verschlossenheit beharrt (Fink 1977, 254). Diese Seinsmächte spricht Fink wahlweise mit den Metaphern von Tag und Nacht oder Himmel und Erde an: „[D]as Spiel der Welt muß, wenn es überhaupt einen denkbaren Sinn haben kann, begriffen werden als das Verhältnis der Weltnacht zum Welttag" (Fink, EFGA 7, 223). Dieses Verhältnis wiederum denkt Fink vermehrt auch unter dem Modell des Streits, wobei dieser als unversöhnlicher Streit zweier liebender Partner gedacht ist: „Der Streit von Lichtung und Verbergung ist die Urzwietracht des Seins, ist das Walten der Welt." (Fink 1977, 217.)4 Versuchen wir uns an einem Gang durch Finks reiches Denken, indem wir zuerst mit diesem die binnenweltliche5 Verortung des Menschen in der phänomenalen Welt zwischen Tag und Nacht betrachten. 97 2.2. Zwischen Tag und Nacht: Das Leben auf der Erde Wir beginnen bei der Erfahrung von Tag und Nacht, wie sie sich für ein Leben darstellt, das sich immer schon innerhalb des ewigen Kreisens dieser Partner wiederfindet. Solange wir uns hier auf dem Boden und somit zwischen Himmel und Erde bewegen, gibt es für uns kein Entkommen aus dem endlos rollenden Rad von Licht und Dunkel. Folgen wir dem Faden der Selbstverständlichkeit weiter, so sehen wir, dass wir unser Leben hauptsächlich am Tage vollziehen. Gewiss hat auch das Nachtleben seinen Reiz, doch haben das Abenteuerliche der Nacht und der Reiz des Verbotenen ihre Kehrseite in der „Urangst", die wir spüren, wenn wir uns in ihrer Finsternis wiederfinden. 4 Stellenweise scheint es, als tendiere Fink dazu, selbst diese Gegenspannung noch einmal in eine ursprünglichere Nacht einzulassen (Fink und Heidegger 1970, 90f.). 5 Finks Begriff „binnenweltlich" dient zur Abgrenzung der phänomenalen Situation innerhalb der Welt von der Welt selbst. Er reflektiert den für das Spätwerk zentralen methodischen Begriff der kosmologischen Differenz (vgl. EFGA 5.2, 207). Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Nächtliche Gassen, pechschwarze Wälder und lichtlose Zimmer können Orte des Unbehagens, ja des Schreckens sein. Fast instinktiv spüren wir, dass wir in ihrem Dunkel kein ständiges Heim finden können. Wirklich heimisch fühlen wir uns nur am Tag. Aber stimmt das? Spricht hier nicht ein natürliches Vorurteil? Um diese Frage zu beantworten, werden wir in einem ersten Schritt schauen, wie sich menschliches Leben im Zwischen von Tag und Nacht einrichtet und stabilisiert. Beginnen wir mit dem Sonnenaufgang. Sobald die ersten Sonnenstrahlen die tiefe Schwärze, die uns und die Dinge in ein differenzloses Einerlei getaucht hat, durchbrechen, beginnt sich zunächst schemenhaft, dann jedoch stärker und stärker eine Welt farbiger Dinge vor unseren Augen zu erheben. Das Licht gebiert die Vielfalt aus dem differenzlosen Eins der Nacht, indem es die Fülle des Schwarzen, welche uns bedrängte, vertreibt und zugleich mit den durch die Grenze ihrer Farben bestimmten Dingen eine Leere um uns herum auffaltet: Das Licht läßt aufscheinen und leuchten, bringt Klarheit und Helle, 98 hebt hervor und stellt Gestalten, Anblicke, Figuren im scharfen Schnitt ihres Gepräges heraus, akzentuiert die Grenzen der Einzeldinge, verleiht ihnen umrissenen, fixen Selbststand. Das Licht erhellt aber auch die Zusammenhänge der Dinge, die Dingfelder und Dingwandlungen - es setzt auseinander und versammelt zugleich das scharf und klar getrennte in seiner umfangenden Helle. (Fink 1976, 270 f.) So ermöglicht es nicht nur ein Ansprechen und Benennen des durch es Vereinzelten, sondern (damit einhergehend) auch eine Bestimmung von deren Verhältnissen untereinander. Fink macht dies besonders anhand der aristotelischen Kategorien einsichtig (vgl. ebd., 268-270). Mittels des Bildes der Sonne, der im Licht sichtbaren Quelle des Lichts, könne zudem, wie Fink u. a. mit Platon aufzeigt, eine Richtung der Transzendenz vorgezeichnet werden (ebd., 271); gemeint ist eine Hierarchisierung mit der Vernunft als Spitze und herabscheinenden Quelle allen Lichts. Lichtmetaphysik und Dingontologie gehen für Fink Hand in Hand.6 6 Ihren Ursprung haben sie für Fink allerdings bei Parmenides (vgl. Fink, EFGA 6, 55, 87). Lutz Niemann Allerdings scheint uns in all diesen Beschreibungen versteckt das Sehen mitzuwirken als eine Form des Weltbezuges, welche dem Licht korrespondiert. Licht ist das Medium des Sehens. Der Sehsinn präsentiert uns in sich stehendes Seiendes, an dem und zwischen dem die oben genannten Vorgänge beobachtet werden können. Dabei zeigt uns schon der Fokus des Auges an, dass das Sehen ein Sinn ist, der die Dinge auf Distanz hält. Fink kennzeichnet das Sehen folglich als „ein abständiges Sein bei den Dingen" (Fink und Heidegger 1970, 224). Es drückt dem Seienden seine Form auf, weshalb „der Mensch [...] seine herrische Stellung gegenüber allen nichtmenschlichen Dingen" dadurch „dokumentiert", dass er sie „anblickt" (Fink 2010, 151). Die Dominanz der phänomenalen Situation des Sehens scheint uns ein Grund dafür zu sein, dass der Mensch sich Fink zufolge zunächst selbst „im Rückblick aus den Dingen sieht" (vgl. Fink 1976, 277). Das Sehen zeichnet die natürliche Tendenz des Verstehens vor, sich zunächst bei den Dingen aufzuhalten und erst von dort auf sich sowie den Bezug zu den Dingen zurückzukommen. Das Hereinbrechen der Nacht ist - wie Fink im Zuge seiner Heraklit- 99 Auslegung anmerkt - mit dem Versinken der Sonne ein prägendes Bild für die Endlichkeit der Herrschaft des Lichts (Fink und Heidegger 1970, 71). Aus der Nacht erhebt sich das Licht, in die Nacht sinkt es zurück. Mit dem Versinken des Lichts endet auch die distanzierende Herrschaft des Sehens.7 Die Nacht rückt auf den Leib und rührt uns distanzlos an. Bald schon ist wieder nichts als Schwärze. Im künstlichen Zünden von Licht gelingt es dem Menschen allerdings, aus eigener Macht das Dunkel, das ihn umgibt, zu lichten und die Herrschaft seines Sehens durch die Helle des Scheins in die Nacht zu tragen (vgl. Fink und Heidegger 1970, 228f.). Lagerfeuer-, Fackel-, Kerzen- oder Taschenlampenschein sind, da in ihrer Helle deren Quelle als sichtbare erscheint, „bestimmte Medien" (Fink 1977, 266).8 Auch ihr Scheinen ist jedoch durch den Ring der Nacht begrenzt. 7 Das Sehen bleibt dabei als Potenz aktiv, wie sehen in das Dunkel hinein, ohne dort etwas zu entdecken (vgl. Fink und Heidegger 1970, 205). 8 Zur Differenz zwischen bestimmten (relativen bzw. ontischen) Medien und absolutem Medium siehe auch Fink, EFGA 6, 300f. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 2.3. Von den Phänomenen zur Welt Wie die kosmologische Differenz Finks lehrt, müssen Welttag und Weltnacht in ihrem Verhältnis anders bestimmt werden als der phänomenale Tag und die phänomenale Nacht. Die Sonnenhelle des Tages ist, wie die Helle einer Kerze oder einer elektrischen Lichtquelle, ein bestimmtes Medium. Die zyklische Abfolge, die sich zwischen Tag und Nacht beobachten lässt, beschreibt eine Bewegungsform, die der Beobachtung von Gesehenem und somit dem endlich Seienden bzw. den Phänomenen entnommen ist: „Die Seinslichtung ist nicht wie der Tag der Sonne in ständigem Wechsel mit der Nacht des Seins. Erde und Himmel sind zusammen im gemeinsamen Streit; die Verbergung währt, während die Lichtung geschieht." (Fink 1977, 300.) Weder die Welt noch die Seinsmächte, deren liebender Ur-Streit die Welt in ihrer unendlichen Bewegtheit ist, dürfen ontifiziert werden. „Himmel und Erde gibt es nirgends." (Ebd., 266.) Es scheint, dass Fink bewusst auf Metaphern zur Bezeichnung der kosmischen Seinsmächte zurückgreift, da er sich der Unzulänglichkeit der 100 Sprache, welche als Zeichensystem stets ein System endlicher Begriffe ist, die nach dinghafter Erfahrung modelliert sind, bewusst ist.9 Tag und Nacht sind rein anzeigende, vorläufige Begriffe, die auf etwas verweisen, das selbst nie positiv gegeben sein kann. Um die Welt angemessen zu denken, ist also die natürliche Position des Denkens quasi auf den Kopf zu stellen. Während es für den Menschen kein „Zugleich" von Tag und Nacht geben kann, ist die Welt, soll sie das Allumfassende sein, gerade diese „Gleichzeitigkeit". Die Verbergung währt, während die Lichtung geschieht. Der Welttag zerbricht die Weltnacht, entreißt ihr die Vielfalt des Seienden, und zugleich verbirgt die Weltnacht, entzieht sich dem Zugriff des Tages und reißt das Seiende zurück in ihren Schoß. Auf diese Weise bilden „Himmel und Erde [...] den ungelösten Widerspruch des Seins" (Fink 1977, 219). Hier zeigt sich, dass Fink die lethe nicht als „aufgehobenes" Moment im Aufgehen des Seins, sondern als gleichrangige Seinsmacht denkt, die der aletheia widersteht: „Erde ist nur als streitend gegen Licht und Himmel 9 Diese Thematik treibt schon den frühen Fink um; vgl. z. B. § 10 der VI. Cartesianischen Meditation. Lutz Niemann nur als streitend gegen Verbergung [...]. Der Streit [...] ist ebenso ursprünglich wie die Streitenden selbst." (Ebd., 217.) Diese „unversöhnbare Zwietracht" (ebd., 237) der Seinsmächte kann so als ziellose Bewegung, die die Welt ist, angesprochen werden. Als ziellose Bewegung ist Welt zugleich grundlos, da Ziele stets Gründe implizieren. In der ziel- und grundlosen Kreativität des Menschenspiels wiederum „scheint das Weltganze in sich selbst zurück" (Fink, EFGA 7, 214): „[D]as menschliche Spielen ist eine Weise, wie inmitten der durchgängigen Gegründetheit der innerweltlichen Dinge ein grundloses Insichselberschwingen des Lebensvollzugs als Symbol der waltenden Welt aufscheint" (ebd., 221). Während Bewegung, an Dingen betrachtet, als ein (gerichtetes) Voranschreiten von Jetzt zu Jetzt erscheint, wobei jedes Jetzt zugleich ein Hier impliziert, ist mit Fink gesprochen damit nicht die Bewegung selbst, sondern der Anschein einer Bewegung für Betrachtende beschrieben. Bewegung sei vielmehr als ein „weder jetzt, noch jetzt in einer Lage ankommen" (Fink, EFGA 6, 122) zu denken. Dieses Weder-noch ist in seiner puren Negativität für menschliche Beobachtende allerdings niemals sichtbar, es verbirgt sich hinter seiner ontischen Erscheinung. Und so erstaunt 101 es nicht, dass Fink auch das kosmische Jetzt, „das weltweite Anwesen, das alles umspannt" (ebd., 121), nach dem so gewonnenen Bewegungskonzept denkt. Dieses Jetzt ist als „Riss" und „Zwischen" reine Bewegung, das Weder-noch, aus dem alle bestimmten „Jetzt" und „Hier" hervorgehen (ebd.).10 Mit dem Weder-noch findet Fink eine Formel für das Denken einer Unendlichkeit, welche weder im infiniten Regress einer unendlichen Teilung von Seiendem noch in einer unendlichen Addition besteht, zugleich aber auch nicht teloshaft gedacht ist. Die Unendlichkeit ist vielmehr in ihrem tiefsten Sinne „die waltende Welt, [...] der Zeit-Raum des Seins" (ebd., 123). In-Sein in der Welt ist folglich nicht In-Sein in einem Container oder einem Totalhorizont, sondern ein Sein in der Bewegung einer unendlichen Negativität, welche den Dingen Raum und Zeit und somit einen Ort für ihr Entstehen und Vergehen gibt. 10 Fink denkt auch hier zwischen kosmischem Jetzt und dem jeweiligen Hier und Jetzt eine komplexe Staffelung von Zeit- und Räumlichkeiten, die hier allerdings nicht wiedergegeben werden kann. Zu Ansätzen dazu siehe Fink, EFGA 5.2, 388-394; Fink, EFGA 7, Kap. 3 und S. 74f. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Die Diskussion der ziel- und grundlosen Bewegung führt uns das für die Welt stilprägende Schema einer Meontik vor Augen.11 Die Welt in ihrer medialen Bewegung fasst Fink aufgrund ihres me-ontischen Charakters in Anlehnung an Heraklit auch als Physis: „[D]as Ganze von Verbergung und Lichtung, das Ganze des gegensätzlichen Spiels nennen wir Physis" (Fink 1977, 300). 2.4. Das Binnenweltliche: Im Zwischen Den Ort, den die Dinge in der Physis bevölkern, nennt Fink das Zwischen.12 Als Mittler bewohnt der Mensch das Zwischen, welches Tag und Nacht in der unaufhebbaren Negativität ihres Streites auffalten. Alles, was in diesem Zwischen erscheint, trägt Fink zufolge die Struktur dieses Ur-Streites in sich. Jedes Ding, jedes binnenweltlich Seiende, ist eine Wiederholung des Urstreits (Fink 1977, 303f.). Folglich kennzeichnet Fink das vereinzelte Seiende, die Bruchstücke oder Trümmer der Welt auch als Zwischen-Dinge (ebd., 303). Zwischen-Dinge sind ein Zugleich von Entbergung und Verbergung; jegliches Seiende existiert für Fink in all seinen Modalitäten als diese unaufhebbare Spannung zwischen dem Aus-sich-Heraustreten und Sichdarstellen und dem Sichverschließen. Zwischen dem Menschen, „[dem] zwielichtige[n], Feuer zündende[n] Wesen im Gegenspiel von Tag und Nacht" (Fink und Heidegger 1970, 214), und dem anderen Seienden macht Fink einen fundamentalen Unterschied aus. Die Sonderstellung des Menschen zeige sich darin, dass er sich zu sich selbst, den Dingen sowie zu der Bewegung der Welt im Ganzen verhält und dabei binnenweltlicher Reflexionspunkt der Welt auf sich werden kann.13 Der Mensch ist Weltverhältnis. Als „Mittler, der denkend in den Abgrund reicht und in die lichte Helle" (Fink 1977, 249), partizipiert er am unversöhnlichen Widerspruch von Tag und Nacht. Seine verstehende Erstreckung in Tag 11 Zum Begriff der Meontik siehe Sepp 2012, 85. 12 Im Gegensatz zur Heidegger'schen Mitte verweist dieser Begriff auf die Dynamik und Unabgeschlossenheit dieses Feldes (Nielsen und Sepp 2011, 11). 13 So sei beispielsweise das Spiel des Menschen als ein „Rückschein" der Welt in sich aufzufassen (Fink und Heidegger 1970). Siehe zum Menschen als Mittler auch Nitta 2006. Lutz Niemann und Nacht zeigt sich Fink zufolge besonders deutlich anhand verschiedener Grundphänomene, die er als wesentliche Strukturmerkmale des menschlichen Wohnens einer ausgiebigen Analyse unterzieht. Vor allem in Liebe und Tod wird deutlich, dass es eine Engführung ist, das Wohnen primär als lichthaftes, sprachlich verfasstes Verhältnis aufzufassen (vgl. auch Fink, EFGA 16, 150-152; Takeuchi 2011, 83). In Weisen des dunklen, leiblichen Verstehens bewohnt der Mensch in einem „distanzlosen Anrühren" (Fink und Heidegger 1970, 235) die „mütterliche [...] Nacht, die keine Unterschiede kennt" (Fink, EFGA 16, 243). In der „schattenlosen Klarheit" (Fink, EFGA 6, 224) hingegen vermag der Mensch nicht heimisch zu werden; Verbergung, Heimlichkeit, aber auch das Nicht-Wissen sind notwendig für ihn. Wir brauchen, so könnte man eine Konsequenz für das mundane Leben ausdrücken, Privatsphäre, das Recht und die Fähigkeit, sich dem Anderen und der Gesellschaft, aber auch im Vergessen vor sich selbst zu verschließen. „Wir weben und leben und sind im Zwielicht eines zugleich von Vergessen und Erinnerung durchwalteten Seinsverstehens." (Ebd.). 103 Das Im-Zwielicht-Sein des Menschen bedingt auch seinen Anspruch auf Erkenntnis. Aus Finks Begriff von Welt ergibt sich eine komplexe Staffelung des Erscheinens, welche die konstituierende Subjektivität in einer a-subjektiven Bewegung des Erscheinens verortet (vgl. Nielsen und Sepp 2011, 15). Erscheinen für den Menschen denkt Fink als Zusammenspiel von Erscheinen (kosmisch), Vorschein/Zum-Vorschein-Kommen, sich Darstellen des Zum-Vorschein-Gekommenen und Anschein (vgl. Fink 1976, 148).14 Der Mensch scheint mit seinem zwielichten Licht das Zum-Vorschein-Gekommene und Sich-Darstellende an, kann dieses jedoch aufgrund der Begrenztheit seines Lichtes sowie der Verbergung, welche zugleich mit der Entbergung im Zum-Vorschein-Gekommenen waltet, niemals ganz ausleuchten, sondern gewinnt immer nur relative Objekte (vgl. Fink, EFGA 6, 286-288). Die Nacht, welche 14 Finks Versuch, das Erscheinen zu denken, scheint zugleich ein Versuch zu sein, sowohl die antike (Vorschein) als auch die neuzeitliche (Anschein) Erfahrung des Erscheinens in ihrem Recht zu belassen, wobei beide „in ein echtes Spannungsgefüge zueinander" gebracht werden sollen (Fink, EFGA 6, 298). Für eine ausführliche Besprechung von Finks Konzept des Erscheinens siehe Stenger 2011. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 als liebende Antagonistin des Tages die Bewegung des Erscheinens trägt, wirkt auch in jedem Ding, in jedem Vollzug, der sich im Zwischen abspielt. Die Nacht als Seinsmacht der Verbergung und Verschlossenheit, die jeden Begriff von sich weist, verhindert die totale Transparenz der Welt für sich und dadurch die totale Transparenz der Dinge für den Menschen. Der Mensch weiß jedoch zugleich um die Beschränktheit seines Objekte konstituierenden Erkenntnislichtes, da er stets mit einem Wissen um die Bedingungen der Erfahrung lebt. Apriori gibt es ein ungegenständliches Wissen um die Bedingungen des Anscheins sowie das Ganze des Erscheinens. „Gerade sofern wir um die Begrenztheit unseres Erfahrungsfeldes wissen, wissen wir auch um die Weltweite des Seins von Dingen." (Ebd., 294.) Im Welttiefwerden, wenn die Dinge zu Symbolen werden, da die Welt als das niemals positiv gegebene Bedingende an ihnen aufleuchtet (Fink, EFGA 16, 127; 161; sowie Fink, EFGA 7, 123), durchschwingt den Menschen eine Ahnung des Ganzen. In dieser Stimmung wird die Selbstverständlichkeit des Dahinlebens durchbrochen, der Impuls zum „[H]eim-denken in den 104 Ursprung" (Fink, EFGA 5.2, 395) treibt den Menschen über sich hinaus zurück in die Tiefe der Welt. Finks Kosmologie fordert uns zu einem tiefgreifenden Durchdenken unserer phänomenalen Situation auf. Die Wahl einer okularzentrischen Metaphorik für die Welt (Tag und Nacht) zwingt uns zu einem Durchgang durch das Sehen sowie die von ihm präsentierte Phänomenalität, um im Kontrast zur kosmologischen Begrifflichkeit schlussendlich die Enge lichtmetaphysischer Ansätze einzusehen. Hierin reflektiert sich Finks phänomenologische Schulung. Schon in der VI. Cartesianischen Meditation macht er die angemessene Beschreibung des Feldes der Gegebenheit zur Voraussetzung für den spekulativen Abstoß von dieser (vgl. Fink 1988, 7f.). 3. Emmanuel Levinas Mit Emmanuel Levinas wenden wir uns nun einem weiteren Versuch des Abstoßes von Husserl und Heidegger zu. In Totalität und Unendlichkeit (TU), so wollen wir hier zunächst behaupten, verortet auch Levinas den Menschen im Spannungsfeld von Licht und Nacht. Die nächsten Seiten dieses Beitrags Lutz Niemann widmen wir der existenziellen Bewegung eines Seienden, welches, sich im Licht über der Nacht haltend, einem Ort jenseits des Lichtes zustrebt. 3.1. Nacht Die fundamentale Bewegungstendenz menschlicher Existenz fasst Levinas schon in seinem Frühwerk De l'évasion (Ausweg aus dem Sein) als Suche nach einem Ausweg. Was er später als Begehren fasst, exemplifiziert somit das Alibi der Metaphysik: „,das wahre Leben ist abwesend"' (Levinas 2014, 35). Das Leben begehrt, so könnte man sagen, die Transzendenz. Die Suche nach einem Ausweg als fundamentale Bewegungstendenz zu fassen, impliziert, dass die faktische Situation des Menschen als Einsperrung begriffen wird. Sobald er ist, muss der Mensch sein. Er hat zu sein und geht mit dieser Vorgabe um. Bei dieser Ähnlichkeit zu Heidegger ist Levinas schon früh darum bemüht, sich von diesem abzugrenzen. Ein „früher" Versuch dieser Abgrenzung ist die implizite Kritik des Daseins als Schlaflosigkeit. Wie Levinas darlegt, ist die Schlaflosigkeit die „Erfahrung" eines Kontrollverlustes. In der Schlaflosigkeit wird das Ich vom Brausen der Gedanken und Eindrücke übermannt und findet keinen Ausweg aus dieser Aktivität. Es verliert die Fähigkeit, einen Anfang zu setzen (ergo einzuschlafen), was den Verlust der Fähigkeit impliziert, Ziele zu setzen (Levinas 2003, 23f.). Da das Anfang-Sein für Levinas das definitorische Merkmal des Subjektes ist (Levinas 2003, 24; sowie Levinas 1997, 23, 89-94), ist Schlaflosigkeit somit eine Grenzerfahrung, in der das Subjekt versinkt. Das, worin das Subjekt im Wachen der Schlaflosigkeit versinkt, ist die Nacht.15 Es ist die Nacht, die Schlaflosen mit ihrer Dichte und Schwärze auf die Haut rückt und alle Gegenstände (Seienden) verschluckt. Die Nacht wird hier zum Emblem der Auflösung aller Differenzen. In ihr versinken mit dem Subjekt die Unterschiede und mit ihnen die Welt, die als relatives Gewebe dieser gesetzten Differenzen bezogen auf das herrschende Subjekt aufgefaltet wurde. Wie die „Metapher" der Nacht andeutet, versinkt das Subjekt allerdings nicht in einem Nichts. „Unter" dem Subjekt befindet sich kein Abgrund, kein 15 Man bemerke hier das Spiel mit der Mehrdeutigkeit, die zwischen konkretsinnlicher und metaphorischer Lesart oszilliert. Dies wird uns noch öfter begegnen. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Nichts der Angst, sondern das nackte Sein in seiner ent-setzenden Dichte: il y a (vgl. Levinas 1997, 69ff.). Dieses nackte Sein ist kein Seiendes, nichts, das irgendwie objektiv gegeben wäre. Es ist eine Grenzerfahrung, die wir mit Petr Kouba als „Erfahrung ohne Erfahrenden" (Kouba 2009) fassen können, wobei diese als „unpersönlicher, anonymer, dennoch unauslöschlicher ,Verzehr' des Seins" (Levinas 1997, 69) einen dynamischen Charakter hat. Die Nacht markiert somit den „untersten" Rand der Erfahrung, in welchem sich die Eingeschlossenheit ins Sein in der Erfahrung einer ent-setzenden Fremdheit manifestiert. Die Verwendung der Metaphorik der Nacht für die Ränder der Differenzen erlebenden und setzenden Erfahrung wird Levinas auch in Totalität und Unendlichkeit beibehalten. Da unser Fokus auf diesem Werk liegen soll, verzichten wir hier auf eine Widergabe der an Lichtmetaphorik reichen Ausführungen aus dem Frühwerk. 3.2. Über der Nacht: Die Sinnlichkeit und das Element Denkt Levinas das Geschehen der Vereinzelung/Trennung im Frühwerk noch im Sinne einer unmittelbaren Einbettung in die Nacht, so vollzieht sich die sich je neu vollziehende „Geburt" des Subjekts in TU in einer assimilatorischen Verwobenheit mit dem milieu, in dem es badet (Levinas 2014, 84-86). Das individuelle Leben ist Genuss, das heißt eine in seinem Kern unteilbare und absolut einzigartige Weise leiblichen Spürens, welches sich sowohl vom anderen als auch von seiner eigenen Aktivität ernährt (ebd., 153f.). Genuss ist somit für Levinas auf grundlegender Ebene Sinnlichkeit (ebd., 190). Das Subjekt vereinzelt sich als affektive Fülle, indem es von den Mitteln (aliments) lebt,16 welche ihm sein milieu bereitstellt. Dieses „Aliment" bezeichnet Levinas als das Elementale, „Inhalt ohne Form" (ebd., 185), womit er darauf hinzuweisen scheint, dass auf der Ebene der Identität, die er hier analysiert, noch keinerlei Wahrnehmung oder Deutung dessen, wovon gelebt wird, vorgenommen wird. Die Sinnlichkeit assimiliert allerdings die Andersartigkeit dessen, was 16 „Aliment" (Nahrung) ist keineswegs nur im Sinne von Äpfeln, Pommes und Burgern zu denken. Auch Sonnenstrahlen, Wind und die Härte eines Stuhls sind Aliment. Sie füllen die affektive Fülle, den Genuss. Lutz Niemann sie umgibt. Sie ist Egoismus, konstante Bewegung des sich selbst Setzens in affektiver Erfüllung. Als Sinnlichkeit hält sich das Subjekt so im Elementalen, es nimmt in seiner Leib-Körperlichkeit eine Position ein (ebd., 196), die sich so lange hält, wie es vom Elementalen, in das es eingelassen ist, lebt. In dieser Einbettung ist das Individuum total erfüllt, zugleich jedoch total eingesperrt. Als bloßes Spüren, welches in der augenblickshaften Fülle des Genusses selbstgenügsam lebt, kennt es keinerlei Voraussicht. Wie die Metapher des „Badens" andeutet, kennt die Sinnlichkeit in ihrem eigentlichsten Sinne keinen Abstand zwischen sich und dem Element (ebd., 186). Die Nahrung kommt dem Genuss „wie durch ein Wunder" aus einer chaotischen Bewegtheit zu; zur Beschreibung von deren Fremdheit greift Levinas erneut auf das Bild der Nacht als Emblem von il y a zurück. „Das Element, in dem ich wohne, grenzt an eine Nacht." (Ebd., 202.) Das aus der Nacht kommende und in diese verschwindende Element ist für die Sinnlichkeit aber nicht nur Nahrung. Aufgrund der fehlenden Distanz kann es „über die Ufer der Empfindung [treten]" (ebd., 200). Diese Gefahr sowie die Ungewissheit des Kommens der Nahrung belasten die Sinnlichkeit mit Unsicherheit (ebd., 201). Ihre 107 Autonomie „korreliert" mit Einschluss und Abhängigkeit und bleibt dadurch grundsätzlich fragil. Das Subjekt bleibt aufgrund seiner leib-körperlichen Einflechtung in das Sein mit der Möglichkeit seines eigenen Zusammenbruchs belastet. 3.3. Die Ökonomie: Stabilisierung im Licht Mit dem Rückzug und der Sammlung in eine/r Bleibe ist dem Subjekt allerdings ein Weg gegeben, seine Herrschaft über das Sein zu stabilisieren und zu erweitern. Die Bleibe nimmt hierbei nicht (allein) die Rolle eines durch Arbeit und Vorstellen hervorgebrachten Ortes ein. Während sie in ihrer materiellen Ausprägung als oikos durch Arbeit und Vorstellung errichtet und erhalten wird, stellt sie tatsächlich die Bedingung der Arbeit und der Vorstellung dar (Levinas 2014, 216). Versuchen wir uns im Folgenden an einer knappen Darstellung der Ökonomie und ihrer zentralen Merkmale: Bleibe, Arbeit und Vorstellung. Dabei werden wir ein besonderes Augenmerk darauflegen, wie Levinas die Ökonomie als lichthaftes Feld der Stabilisierung über der Nacht Phainomena 31 | 122-123 | 2022 denkt, wobei das ökonomische Subjekt dennoch - frei gesprochen - stets mit den Füßen in der Nacht stecken bleibt.17 Beginnen wir unseren Husarenritt durch die Ökonomie mit der Bleibe. Levinas zufolge wird das Haus durch die spezifische Bewegung der Sammlung zur Bleibe (Levinas 2014, 220). Die Bleibe stiftet durch ihr Bleiben Dauer, indem sie ein Irgendwo inmitten des Elementalen eröffnet. Als Form raumzeitlicher Ausdehnung ermöglicht sie es dem Subjekt, das sich in der Sinnlichkeit lediglich augenblickshaft zu halten vermochte, sich vor dem Element, dessen Zudrang es in der Sinnlichkeit distanzlos ausgesetzt ist, in ein geschütztes Inneres zurückzuziehen (ebd., 190; 215) und dem Tod ein Noch-nicht entgegenzusetzen (siehe dazu auch ebd., 325). So ist dem Subjekt mit der Bleibe ein Ort gegeben, an dem es das, was es im milieu dem Element über die Arbeit entringt, für zukünftigen Genuss sammeln kann. Die Bleibe ermöglicht also Besitz sowie dessen Akkumulation: die Bewegung der Ökonomie. Aus der Warte dieses geschützten Inneren, dieses Bereichs einer Intimität, ist zudem eine Beobachtung des dort draußen Befindlichen durch das Fenster möglich: 108 Vorstellung/Intentionalität und Theorie (Levinas 2014, 224-226). Allerdings setzen all diese Bezüge etwas voraus, was der autonome Genuss nicht aus sich selbst haben kann: Zeit und Sprache. Wir werden uns dieser bekannten Problematik über den Umweg der Betrachtung der Rolle des Lichtes für die Ökonomie annähern. Die Ökonomie scheint uns in zweifacher Hinsicht eine Form der existenziellen Stabilisierung im Licht zu sein. Sowohl das tatsächliche Licht, dessen Quelle Levinas nicht weiter spezifiziert, als auch ein metaphorisches Licht, dessen Quelle Levinas im Anderen verortet, tragen die Ökonomie. Beginnen wir mit dem tatsächlichen Licht. Levinas kommt auf das tatsächliche Licht im Zuge seiner Kritik des Sehens zu sprechen, die dazu dient, die Epiphanie von Sinnlichkeit, Wahrnehmung und Vorstellung abzugrenzen. Mit Platon weist er darauf hin, dass das Sehen als Bezug, welcher uns Seiendes als fest fixierte Gegenstände präsentiert, mit dem Licht ein Medium voraussetzt, welches selbst nicht sichtbar ist (Levinas 17 Diese „Verortung" der Ökonomie stützt sich auf Levinas' Beschreibung der ökonomischen Subjektivität sowie ihres Umschlages im Eros (vgl. Levinas 2014, 396). Lutz Niemann 2014, 271). Die Leistung des Lichtes wiederum besteht darin, das Dunkel zu vertreiben und damit den Raum, die lichte Offenheit, in und aus welcher dem Sehen die Dinge „wie von einem Ursprung her" (ebd.) erscheinen, überhaupt erst zu eröffnen. Es scheint einsichtig, dass Levinas' Widergabe der Leistung des Lichtes und des Sehens zugleich ein subtiler Verweis auf Husserls und Heideggers Verhaftung in lichtmetaphysischen Denkmustern ist. Levinas setzt der traditionellen Auffassung entgegen, dass der leere Raum, den das Licht hervorbringt, keineswegs ein Nichts oder ein Ungegenständliches, Unbedingtes ist. Vielmehr ist auch die Leere oder die Offenheit selbst noch etwas Gesehenes, welches im Kontrast zu den Dingen aufscheint (Levinas 2014, 272). Der vom Licht hervorgebrachte Raum ist nicht die Offenheit, die Anschauung keine Transzendenz, sondern zunächst eine Weise, im Licht dem Schrecken des Es gibt, welches sich hinter der Leere verbirgt, standzuhalten. Weit davon entfernt, eine Transzendenz zu ermöglichen, vertreibt das Licht mit dem Dunkel und der Antlitz- und Differenzlosigkeit der Nacht zunächst einfach den Schrecken des Es gibt (ebd., 272-273). Es vollbringt diese Leistung in seiner Bindung an das Sehen, welches laut Levinas, bevor es als Wahrnehmung 109 oder Intentionalität interpretiert werden kann, zunächst schlicht Sinnlichkeit, Genuss ist (ebd., 267-269). Im Sehen hält sich der Genuss über dem Es gibt, weshalb die Leere des Raumes als „Modalität des Genusses und der Trennung" (ebd., 273) zu bestimmen sei, die nicht aus dem Selben - dem Bereichs der Herrschaft des Genusses - hinausweise. In seiner Kritik legt Levinas somit die affektive Erfüllung, die reine Gegenwärtigkeit des Sehens frei, ohne das Sehen darauf zu reduzieren. Diese affektive Erfüllung scheint uns die Grundlage für die höherstufigen Funktionen des Sehens zu bilden, welche in der Koordinierung menschlicher Tätigkeit, speziell der Arbeit, besteht. In allen seinen Ausformungen bleibt das Sehen aber doch Genuss und somit Egoismus. So durchwandert das Sehen den leeren Raum und entdeckt in ihm Dinge, die es immer schon mit einer Form bekleidet. Es nimmt Dinge in einer Form und Gestalt wahr, wobei es selbst ihnen diese Form aufdrückt (ebd., 275-276); es ist als Form der Sinngebung „wesentlich eine Adäquation der Exteriorität an das Innen" (ebd., 427). In ihrer Form wiederum rufen die Dinge nach der Hand (ebd., 274). Hiermit scheint uns Levinas die Einsichten Heideggers und Merleau-Pontys aufzugreifen, nach Phainomena 31 | 122-123 | 2022 welchen das Gesehene immer schon über sich hinausverweist. Lingis bringt dies wie folgt auf den Punkt: „[T]o see something is to see what it is for; we see not shapes but possibilities" (Lingis 1996, 14). Das Sehen zeichnet auf diese Weise der Hand ihren Weg vor, die in ihrem Zugriff diesem vorgezeichneten Weg folgt. Wie Levinas an früherer Stelle anmerkt, bleibt trotz der lichthaften Vorzeichnung des Weges durch das Sehen doch stets ein Moment der Dunkelheit im Tasten. Das Tasten, traditionell als Nahsinn und blinder Sinn bestimmt, ergreift die Materialität des Dinges. Diese hat für Levinas bekanntlich kein Antlitz. Sie ist nächtlich: „Besitz vollzieht sich in der gewissermaßen wunderbaren Ergreifung eines Dinges in der Nacht, im Apeiron der ersten Materie. Das Ergreifen eines Dinges erhellt die eigentliche Nacht des Apeiron, es ist nicht die Welt, die die Dinge möglich macht." (Levinas 2014, 235.) Es scheint evident, dass Levinas Sehen und Greifen nicht nur im buchstäblichen Sinne nimmt, sondern uns darauf aufmerksam macht, dass zwischen Sehen und Berühren, Vorstellung und Arbeit ein enges Band besteht (ebd., 273).18 Die Arbeit, welche die Dinge in der Bleibe sammelt und so 110 die Zukunft des Elements bändigt, kann ihre eigentümliche Leistung, dem Tod ein Noch-nicht entgegenzuschleudern, nur als konkret leib-körperliche Tätigkeit vollbringen, welche von der Vorstellung Richtung und Maßgabe erhält. Levinas scheint somit die im Zuge seiner Beschreibung des reinen Bewusstseins getroffene Aussage nicht zu verwerfen, wonach sich „für die Hand [...] wenigstens der Blick auf das Ziel den Weg gebahnt [hat], der Blick ist schon entwerfend vorausgegangen. Die Vorstellung ist dieser Entwurf selbst." (Ebd., 175.) Das Beispiel der Theorie zeigt, wie in der Vorstellung das Element einerseits auf maximale Distanz gehalten wird, auf diese Weise jedoch zugleich Wege der Aneignung erschlossen werden, welche sich in konkret leib-körperlicher Tätigkeit niederschlagen können. Diese erhalten wiederum in Arbeit und Konstitution einer Welt des Eigentums die leib-körperlich gebundene Vorstellung, das sinngebende Bewusstsein, welches sich stets durch diese Welt vollzieht. 18 Dieses Band zeigt sich auch in seiner in From Existence to Ethics formulierten Kritik des Wissens bzw. der Vernunft: „Auffassen (understanding) is also, and has always been, a Fassen (gripping)." (1990, 76.) Lutz Niemann Zu all diesen Leistungen reicht das Licht der Sonne oder einer Lampe nicht aus. Sicherlich ist Licht notwendige Bedingung der Stabilisierung des Genusses im Elementalen. Das Licht trägt die koordinierte menschliche Tätigkeit. Allerdings schafft das Licht allein keine Differenzen, es bringt keine Unterschiede in das Sein (ebd., 273). Die Unterschiede zwischen Dingen, welche es uns ermöglichen, über Sinnlichkeit und Arbeit den Raum zu bewohnen, werden von einem anderen Licht gestiftet. Dieses Licht ist das Licht der Sprache und der Zeit, welches dem Selben vom Anderen in der Rede zukommt:19 „[D]ie vom Licht erzeugte Leere bleibt eine unbestimmte Dichte, die keinen Sinn in sich hat, solange es keine Rede gibt" (ebd., 273). Der Andere steht als Quelle des Lichts somit am Anfang der Bleibe, ist sogar Bedingung der Trennung selbst; „so fordert die Idee des Unendlichen -die sich im Antlitz offenbart - nicht nur ein getrenntes Seiendes. Das Licht des Antlitzes ist notwendig für diese Trennung." (Ebd., 216.)20 Allerdings dürfe dieses Licht, soll sich das Selbe in der Bleibe sammeln können, nicht aus der Schärfe der Transzendenz scheinen, wie es sich im „hohen Anderen" ereignet. Eine „Dimmung" des Lichtes ist notwendig, um die Intimität aufzufalten, 111 welche die Bleibe erst für den Empfang des Antlitzes (des neuen Selben) öffnet. Dieses diskrete Antlitz, in dessen Milde sich die Trennung vollziehen kann, ist die Frau, das Weibliche. Sie ist in ihrer Milde „Bedingung für die Sammlung, für die Innerlichkeit des Hauses und das Wohnen" (ebd., 222). Die Bleibe setzt in ihrer Extraterritorialität sowohl den Anderen als auch die Andere voraus. Schon jedes Haus ist in seiner Intimität ein geteilter Bereich, welcher von jeweils durch ihre leib-körperliche Verfasstheit als Genuss absolut getrennten Einzelnen bewohnt wird. Folglich ist die „Innerlichkeit der Sammlung [...] eine Einsamkeit in einer Welt, die schon menschlich ist" (ebd., 221). Wie Hanson anmerkt, ist der/die heranwachsende Eigentümerin somit „a guest in the home that he or she is ordinarily pleased to call his or her own" (Hanson 2014, 78). 19 Siehe 2004, 303: „Die Zeit kann ein ,Noch nicht' [und damit Selbstbewusstsein sowie Arbeit] nur bezeichnen, weil sie die unerschöpfliche Zukunft des Unendlichen ist, d. h. dasjenige, was sich in der eigentlichen Beziehung der Sprache ereignet." 20 Auch hier zeigt sich, dass Levinas die Trennung des „Selben" vom „Anderen" nicht in einem rein dualistischen Sinne denkt. Wir werden später darauf zurückkommen. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Das Drama des Egoismus besteht mit Levinas nun darin, dass er seine Herkunft aus dem Anderen bzw. der Anderen vergisst. Da er durch seine Leib-Körperlichkeit schon auf basaler Ebene ein zur Sorge um sich selbst verdammtes Assimilationsverhältnis ist, tendiert er zum Einschluss in die Totalität des Selben. 3.4. Der „hohe Andere" Dieser Einschlusstendenz wirkt jedoch stets die Epiphanie des Anderen entgegen. Wie Levinas nicht müde wird zu betonen, widersetzt sich der Andere jeder Angleichung durch das Selbe, vollziehe sich diese nun in Sinngebung oder Sinnlichkeit. Aus dem Antlitz des Anderen „spricht" der Appell auf Verzicht auf den Mord. Der Mord, die ultimative Assimilation der Andersartigkeit des Anderen, wird durch den Anderen als ethische Unmöglichkeit aufgezeigt. Dies ist die eigentliche Bedeutung, die das Antlitz aus sich selbst heraus gibt. „[Diese] Bedeutung geht der Sinngebung21 voraus, ein sinnvolles Verhalten entsteht im schon gegebenen Lichte des Antlitzes" (Levinas 2014, 381). Es kann diese Bedeutung geben, da es als Unendlichkeit ein uneinholbarer Überschuss über jede Form ist, welcher sich jedoch stets in der Immanenz des Selben ereignet, ohne in dieser aufzugehen. Die „Vision" eines Antlitzes „ist eine gewisse Weise, ein Haus zu bewohnen [...] [,] sie ist eine gewisse Form ökonomischen Lebens" (ebd., 250), und zwar eine solche, die die Selbstverständlichkeit des Egoismus durch den Imperativ: „Du sollst nicht töten", infrage stellt und an die Güte des Selben appelliert. Vor allem das Von-Angesicht-zu-Angesicht, die Situation des Gesprächs oder der Rede offenbart, dass der Andere ein Ort ist, zu dem ich keinen Zugang habe. Er ist für das Selbe Nicht-Ort, Utopie und entzündet gerade aufgrund dieser absoluten Transzendenz das Begehren nach diesem Unerreichbaren. Die Richtung dieses Begehrens liegt dabei für Levinas nicht in der Horizontalen, sondern in der Vertikalen. Der Andere, der sich in der Nacktheit und Schutzlosigkeit seines Antlitzes ereignet, ist zugleich der hohe Andere (ebd., 383), der das Selbe 21 Sinngebung meint hier die auf das Subjekt relative Konstitution von Objekten. Lutz Niemann aus einer unerreichbaren (unsichtbaren) Warte heraus unterweist. Diese Unterweisung ereignet sich in der Rede. Die Rede bewahrt den Abstand zwischen mir und dem Anderen; sie hält an der radikalen Trennung fest, welche die Wiederaufrichtung der Totalität verhindert und in der Transzendenz vorausgesetzt ist; aber gerade dadurch kann die Rede nicht auf den Egoismus ihrer Existenz verzichten; die Tatsache, Teilnehmer einer Rede zu sein, besteht indes gerade darin, dem Anderen ein Recht über diesen Egoismus einzuräumen und sich so zu rechtfertigen. (Ebd., 46.) Die Sprache als geschichtliches Zeichensystem gründet in dieser Epiphanie. Ohne die Rede gäbe es keine Sprache: „Die Sprache, der Quell aller Bedeutung, entsteht in dem Schwindel des Unendlichen, von dem man vor der Geradheit des Antlitzes ergriffen wird." (Ebd., 383.)22 Jeder Gesprächsteilnehmer bewohnt so seine Ökonomie, d. h. seine sprachlich strukturierte Phänomenalität. Er gibt in der Rede dem je Anderen, 113 transzendenten, seinen zeichenhaften Besitz als Gabe dar: „Eine menschliche oder zwischenmenschliche Beziehung vermag sich nicht außerhalb der Ökonomie abzuspielen, man kann ein Antlitz nicht mit leeren Händen und geschlossenem Haus ansprechen." (Ebd., 250.) Diese Figur der „Gleichzeitigkeit" von Selbem (Ökonomie) und Anderem (Antlitz) im Von-Angesicht-zu-Angesicht scheint uns der Fink'schen Formel des liebenden Ur-Streits von Tag und Nacht formal verwandt zu sein, beschreiben doch beide den Versuch, eine fundamentale Spannung zu denken, welche nicht in einem Dritten aufgehoben wird. Wie schon der Titel Totalität und Unendlichkeit andeutet, scheint es Levinas um das Denken dieses „und" zu gehen: „[T]he ultimate is not Being but the relation of the Same and the Other" (Peperzak 1993, 160). Genuss und der Andere - nicht im Sinne einer Addition, sondern eines Zugleich. Ohne die sich progressiv ausdehnende Vereinzelung, das Werk der Identität, gäbe es keinen Ort, an dem sich die 22 Siehe auch: „Der Symbolismus des Zeichens setzt schon die Bedeutung des Ausdrucks, das Antlitz, voraus." (Levinas 2014, 383.) Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Epiphanie des Anderen ereignen könnte. Ohne den Anderen und die Andere gäbe es umgekehrt kein Selbes und keine Bleibe. Die Transzendenz „versetzt [zwar] das Gravitationszentrum eines Seienden außerhalb dieses Seienden" (Levinas 2014, 266), kann dieses jedoch niemals vollständig aus sich herauslösen. Eine unio mystica mit dem Anderen liegt somit außerhalb der Reichweite. Das Selbe bleibt das Selbe, erfährt jedoch in jeder Begegnung mit dem Anderen eine Befreiung aus seiner Einsperrung in sich. Auf seiner unaufhörlichen Suche nach einem Ausweg aus dem Sein entzündet sich das Begehren am Anderen immer wieder neu. So ist jede Begegnung mit dem Anderen „Ereignis von Sinn" (ebd., 88), welches dem Leben eine Orientierung jenseits des Seins schenkt und somit den „ongoing process of totalization" durch einen „counter-process of excedence" (Waldenfels 2004, 66) ausgleicht. Auf seiner Suche nach einem Ausweg aus dem Sein, so könnten wir festhalten, bleibt das sich im Licht haltende Selbe auf die Quelle dieses Lichtes ausgerichtet. 3.5. Die Nacht des Erotischen Die Bedeutung der Lichtmetaphorik für das Denken Levinas' zeigt sich besonders im Zuge seiner Beschreibung des Eros. Wie Fink verortet auch Levinas den Eros nicht im Lichte des Tages, denkt ihn folglich nicht als (primär) sprachliches Verhalten. Im Eros verlässt der Liebende, „das männliche und heroische Ich", das Licht, in welchem das Spiel seiner Möglichkeiten stattfindet (Levinas 2014, 396) und in welchem es, Odysseus gleich, durch all seine Abenteuer hindurch nur wieder beim Selben ankommt. Im Abstieg in die Nacht des Erotischen findet ein Umschlag in der männlichen Subjektivität, diesem Ich, das durch sich selbst belastet ist, statt: „Der Eros befreit von dieser Belastung, er setzt der Rückkehr des Ich zu sich ein Ende". (Ebd.) Neben der Nacht im Sinne des anonymen Brausens des es gibt erstreckt sich die Nacht des Erotischen, hinter der Nacht der Schlaflosigkeit die Nacht des Versteckten, des Heimlichen, des Geheimnisvollen, das Vaterland des Jungfräulichen, das gleichzeitig vom Eros entdeckt ist und Lutz Niemann sich dem Eros verweigert - was eine andere Weise ist, die Profanation zu beschreiben. (Ebd., 377.) Wie sich andeutet, ist Levinas' Phänomenologie des Eros eine männliche und heteronormative Phänomenologie.23 Sie erfüllt in seinem Werk eine fundamentale Funktion, da Eros auch und vor allem in seiner Geschlechtlichkeit sowie sozialitätstragenden Funktion24 gelesen wird; Eros hält die Suche nach einem Ausweg am Leben. In der Liebe zeigt sich mit Levinas zudem eine Spielart der formellen Struktur, die uns aus dem Von-Angesicht-zu-Angesicht bekannt ist. Die Begegnung mit einer Alterität hat hier allerdings keinen Appell- oder Unterweisungscharakter, ihr entfließt kein Licht; die Andere bleibt stumm, als „das Weibliche ist [sie] Antlitz, dessen Helle von der Trübung bedroht und schon ergriffen wird" (Levinas 2014, 384). Diese Trübung ist die der Wollust korrelierende Weise der Anwesenheit des Antlitzes. Die Wollust profaniert das Antlitz, sie lässt die Andere nicht allein als Andere erscheinen, sondern ist stets auch darauf gerichtet, sie zu genießen. Das weibliche Antlitz kann die Maske seiner Schönheit nicht ablegen, es geht 115 jedoch auch niemals ganz im Genuss auf.25 In seiner viel besprochenen26 Phänomenologie der Liebkosung, besonders in seiner Kennzeichnung der Liebkosung als Genuss des Transzendenten, welcher sich aufgrund der Fragilität, des Flüchtigen des Weiblichen niemals im Greifen und Besitzen der Hand vollziehe, sondern immer dem sich im Moment seiner Präsentation schon entziehenden Begehrten auf der Spur bleibe, zeigt sich neben der Auflösung der Differenz im Liebesakt doch zugleich, dass diese Auflösung niemals vollkommen sein kann. Das Weibliche „bietet ein Antlitz, das über das Antlitz hinausgeht" (ebd., 384), indem es Sinnlichkeit und Transzendenz zugleich ist, jedoch unter dem Antlitz zurückbleibt, indem es stumm bleibt und 23 Darauf wurde prominent von Irigaray 1993 aufmerksam gemacht. 24 Siehe dazu Mensch 2014. 25 Es scheint, als sei es Levinas zufolge unmöglich, dass eine Frau einem Mann als Anderer erscheinen könne. Die Macht der Sexualität „beschmutzt" die Reinheit ihres Antlitzes, weder der Mann noch die Frau können sich dieser Macht entziehen (vgl. u. a. Levinas 2014, 386). 26 Siehe dazu z. B. Mensch 2015, aber auch Irigaray 1993 und Vasseleu 1998. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 das Geheimnis, das die Wollust profaniert, nicht ausdrückt: „[D]as Versteckte enthüllt sich nicht, die Nacht zerstreut sich nicht" (ebd., 379). Die Assoziation der Nacht mit dem Heimlichen, Verborgenen, dem Anrüchigen und Reizvollen scheint auch für Levinas in der Wahl der Metaphorik eine Rolle zu spielen. Die Nacht des Erotischen ist der Ort, an dem sich Selbes und Anderes ineinander verschlingen, ohne miteinander zu verschmelzen (ebd., 389-390), ohne dass jedoch das Weibliche als „Korrelat" je im Genuss aufgehen könnte. Diese Dynamik endet allerdings nicht im Geliebten: Aber die Liebe geht auch über das Geliebte hinaus. Darum dringt durch das Antlitz das dunkle Licht, das von jenseits des Antlitzes kommt, das dunkle Licht dessen, was noch nicht ist, einer Zukunft, die niemals genügend Zukunft ist, entfernter als das Mögliche. (Ebd., 372.) In der Trans-Substantiation (ebd., 390) des Liebesaktes wird das Kind 116 gezeugt und mit ihm eine brüderliche Zukunft, die noch entfernter ist als mein Tod. Das Kind ist das mein Können und meinen Entwurf transzendierende Noch-nicht. Erst in der Fruchtbarkeit, über welche die Zärtlichkeit immer über die erfüllende Gegenwart des Liebesspiels hinausweist, verwirklicht sich das höchste Potenzial des Eros: die Überwindung des Todes. In der Fruchtbarkeit transzendiert das Ich die Welt des Lichtes. Nicht, um sich in der Anonymität des es gibt aufzulösen, sondern um weiter zu gehen als das Licht, um woanders hinzugehen. Sich im Licht zu halten, sehen - erfassen vor dem Erfassen - bedeutet noch nicht, „ins Unendliche zu sein", es bedeutet, dass man älter, mit sich belastet, zu sich zurückkommt. Ins Unendliche zu sein bedeutet, dass man sich in der Gestalt eines Ich ereignet, das immer am Ursprung ist [...]. (Ebd., 393.) Über die Zeugung eines Kindes entkommt die Subjektivität dem Zirkel des Egoismus. Das Kind öffnet für das Selbe eine Zukunft, die über es selbst hinausgeht und die noch andauern wird, wenn es bereits tot ist. Da auch Lutz Niemann das Kind fruchtbar ist, verlängert sich in ihm die Zukunft potenziell ins Unendliche. Levinas drückt diese Veränderung der Subjektivität in einem markanten Satz aus: „Ich habe nicht mein Kind, ich bin mein Kind." (Levinas 2014, 405) - und doch ist mein Kind nicht Ich. Durch die Nacht des Eros schlägt das Subjekt dem Tod ein Schnippchen. Das Bild der Nacht scheint uns hierbei vor allem der Abgrenzung von der Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht zu dienen. Ist sprachlicher Sinn das Licht, in dem sich Subjektivität über der Nacht des Es gibt hält und das Von-Angesicht-zu-Angesicht als Rede Quelle dieses Lichts,27 so ist das Erotische als stumme Beziehung in der Nacht angesiedelt. Diese Nacht ist jedoch trächtig. In ihr liegt die Quelle der Quelle des Lichtes, der kommende Andere, das „dunkle Licht". Der Abstieg in die Nacht des Erotischen gewährt auch für die Zukunft die Wirklichkeit des Begehrens, des unendlichen Aufstiegs zum Anderen. Was bleibt, ist Irigarays Frage: „But what of her own call to the divine?" (Irigaray 1993, 196.) 4. Konklusion Fink und Levinas teilen sowohl ihre Kritik am abendländischen Denken als auch die tiefe Wertschätzung, die sie ihm entgegenbringen. Beide bemängeln die Tendenz zur Totalisierung des Lichts, zur Totalisierung der entbergenden und vermittelnden Macht der Sprache und versuchen sich in ihren jeweiligen Ansätzen an der Betonung einer unaufhebbaren Alterität. Für Fink und Levinas ist neben dem Verhältnis von Einheit und Vielheit vor allem das von Einzelnem und Allgemeinem ein Kernproblem, das es neu zu denken gilt. In diesem Sinne legen beide den Fokus auf ein Umdenken des Begriffs des Unendlichen, da sie das Unendliche als Schlüssel zum Denken eines Konzeptes von Ganzheit und Einzelnem sehen. Sie vermeiden hierbei in ihren Konzepten der Unendlichkeit ein Drittes, welches als Vermittelndes fungiert (Von-Angesicht-zu-Angesicht; Tag - Nacht). Anders gewendet geht es sowohl Fink als auch Levinas um eine Begrenzung des totalen Anspruchs des Verstehens auf Durchleuchtung. Es geht ihnen um die Bewahrung einer 27 Eine Quelle, die - wie Levinas anmerkt - nicht im Bild der Sonne gedacht werden darf, da auch die Sonne als Quelle des Lichtes noch im Licht gesehen werde (Levinas 2014, 275). Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Unverfügbarkeit und Andersartigkeit, welche ihren Rang nicht aus ihrem Bezug zum Verfügbaren und Eigenen bezieht. Bei Levinas erfolgt die Kurskorrektur auf zweifache Weise: über ein Neudenken des Egoismus und ein Neudenken des Unendlichen. Das Unendliche, das Ziel des metaphysischen Begehrens, ist nicht mehr das Allgemeine, sei dies nun Nous, absoluter Geist oder das Sein, sondern der Andere als absolut Einzelner. Betrachten wir die Richtung der Bewegung der Transzendenz, so können wir mit Hans Blumenberg konstatieren, dass Levinas den vertikalen Zug der Transzendenz, welcher für die jüdisch-christliche Tradition stilprägend ist, beibehält. In Totalität und Unendlichkeit ist zudem die Bewegung des Ausflusses von oben nach unten weiterhin intakt, ist doch die Unterweisung - und somit die unendliche Dynamik des Sprechens - die Quelle sprachlichen Sinns. Folglich findet sich bei Levinas auch eine recht traditionelle Stufenordnung. Die Nacht bildet als das Es gibt den untersten Rand der „Erfahrung". Inmitten des Elements, jedoch stets vom Zudrang der Nacht bedroht, „erbebt" im 118 Genuss das Individuum, welches sich im Haus und in der Arbeit im Licht über der Nacht stabilisiert. Das Licht hingegen strahlt von oben, von jenseits des Lichtes, herab. Es schenkt dem Selben so sich selbst sowie den Ort, an dem es sich über instrumentelle Bezüge, welche ihm dienen, hält. Die profane Welt der Ökonomie ist bei Levinas ambig, da sie uns einerseits vor dem Versinken in der Nacht des il y a bewahrt, zugleich jedoch aufgrund ihrer Zentrierung im Egoismus die Tendenz zum Einschluss im Selben aufweist. Ihr Zweck ist das Selbe, während ihr Sinn der Andere ist, welcher in seiner Epiphanie den Egoismus infrage stellt und ihn im Begehren über das Selbe hinausweist. Epiphanie und Rede erwirken so eine radikale Re-Perspektivierung - permanent befreien können sie das Selbe von sich jedoch nicht. Erst der Abstieg in die fruchtbare Nacht des Erotischen befreit das Individuum über den Sohn, den kommenden Anderen, aus seiner durch den Tod begrenzten Immanenz. Bei Fink hingegen finden wir keinerlei Stufenordnung und es fällt schwerer, von der Art vertikaler Transzendenz zu sprechen, wie wir sie bei Levinas finden. So gibt es im Denken Finks keinen Ausfluss des Lichtes von oben, welcher das Individuum aus sich selbst herausreißt und sich so sich selbst schenkt. Zudem findet sich keine Hierarchisierung des Lichtes über das Lutz Niemann Dunkel, wie wir sie bei Levinas antreffen (und wie sie nur teilweise über den Eros relativiert wird). Tag und Nacht sind bei Fink vielmehr Metaphern für die Seinsmächte, deren unaufhebbare Grundspannung der konstant reißende Riss der Bewegung der Welt ist. Das Erscheinen ist das Zugleich bzw. Weder-noch von Entbergung, von Aus-sich-treten und Verbergung, In-sich-bleiben. Es ereignet sich als Raumgeben und Zeitlassen, welches die Auffaltung des Zwischen beschreibt. Die Welt erscheint so, indem sie sich hinter den Dingen verbirgt. Ihr Scheinen ist zugleich ihre Verbergung, Tag ist nie ohne Nacht, Nacht ist nie ohne Tag. Dieses Zugleich von Darstellung, Sichtbarkeit sowie Verbergung, Undurchdringbarkeit macht die Struktur eines jeden Dinges aus. Wie die Welt, das Ganze, uns nie positiv gegeben ist, ist auch das Ding, ihr Fragment, uns stets nur partiell gegeben. Hinter jeder Enthüllung lauert weitere Tiefe. Das Wissen mag zwar unendlich voranschreiten, es endet immer am Ring der Nacht. Auf diese Weise baut Fink ins Herz des Seins die Fremdheit ein und verhindert so jeglichen Anspruch auf Totalität, auf ultimativen Sinn. Durch das strenge spekulative Durchdenken des Ganzen versucht er, unsere Achtsamkeit 119 für die Fragmenthaftigkeit unseres Daseins zu schärfen. Die tiefste Einsicht, die dem Menschen zuteilwird, ist das Zurückdenken in die Welt. In dieser Rückkehr zum Ursprung verwirklicht er seine Rolle als Mittler und erfährt seine Aufspannung im Zwischen-Tag-und-Nacht. Bibliographie | Bibliografija Blumenberg, Hans. 2001. „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung (1957)." In Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, hrsg. von Anselm Haverkamp, 139-171. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fink, Eugen. 1976. „Die intentionale Analyse und das Problem des spekulativen Denkens." In Eugen Fink, Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hrsg. von Franz-Anton Schwarz, 139-157. 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