265 REZENSIONEN RÉCENSIONS OCENE W olfgang Fleischer/Irmhild Barz: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Berlin/Boston: De Gruyter , 2012. 484 S. ISBN 978-3-1 1-025663-5. Allem voran soll gesagt werden: Die zu besprechende Neuauflage der Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache ist leserfreundlich geschrieben. Es ist zugleich ein Lehrwerk, ein Studienbuch und ein Handbuch. Dazu tragen auch das übersichtlich und logisch aufgeschlüsselte Inhaltsverzeichnis, das umfangreiche Literaturverzeichnis, das Formenregister und das Sachregister sowie das Verzeichnis der Übersichten bei. Es handelt sich, wie schon in der 1. Auflage, um eine hauptsächlich synchrone Darstellung der Wortbildungserscheinungen. Besonders wertvoll ist, dass die Wortbildung nicht als eine isolierte Fachdisziplin vorgestellt wird, sondern als ein aufs Engste mit anderen linguistischen Disziplinen verwobenes „Schnittstellenphänomen“ (V; 1). Überschneidungen mit der Grammatik (Flexionsmorpholo gie und Syntax) sowie dem Lexikon und der Textlinguistik (text- konstitutive Funktion der Wortbildungsparadigmen) werden hervorgehoben. Auf die stilbildende Potenz der Wortbil dung und auf deren kognitiv-pragmatische Aspekte wird hingewiesen. Im Rahmen der Stilis tik werden u.a. Metaphorik, Phänomene der Ex- pressivität, Konnotationen, fachsprachliche Variation, stilschichtliche Markierungen, Kurzwortbildung und syntaktisch relevante Nomina lisierungsverfahren angesprochen. Im ersten Kapitel werden einige Grundsätze und Grundbegriffe der Wortbildung erläu tert, und zwar Motivation, Einheiten der Wortbildung, Modellierung, Klassifi- zierung und Spezifik der Fremdwortbildung. Auf diesem theoretischen Gerüst beruht die nach dem Wort artprinzip gereihte systematische Darstellung der Wortbildungs- prozesse im Bereich des Sub stantivs, Adjektivs, Adverbs und Verbs in den darauf folgenden Kapiteln 2–5. „Als wichtigstes methodisches Verfahren für die Beschreibung wird die Paraphra- sierung einer Wortbildung durch ein semantisch mehr oder weniger äquivalentes Syn- tagma (gelegentlich auch durch einen Satz) genutzt“ (7). Diese syntaktische Operation funktioniert nicht nur im Dienste semantischer Desambiguierungsprozesse (Wortbil- dungsbedeutungen), sondern ermöglicht auch die Einsicht in die stilistische Variabilität. Alternative Ausdrucksstrukturen kommen in verschiedenen Textsorten zum Tra- gen (textdistinktive Funktion der Wortbildung), das Wechselverhältnis zwischen ih- nen wird effektvoll als textkohäsives Prinzip genutzt (textkonstitutive Funktion der 266 Wortbildung). Diese stilbil denden Potenzen der Wortbildung werden im vorliegenden Buch sehr deutlich im Unterkapi tel „Wortbildung und Text“ (1.4) dargelegt. Hervorge- hoben wird auch, dass dabei nicht nur isolierte Einzeltexte in Frage kommen, sondern in intertextueller bzw. diskursiver Perspektive Texte als Module ganzer Textkomplexe. An einer konkreten (Zeitungs)textanalyse wird ver anschaulicht, wie die Wortbildungs- paradigmen textstiftend wirken. Wortfamilien (in der neu en Auflage nicht mehr Wort- bildungsnester) und Wortbildungssynonyme sowie -antonyme realisieren textkohäsive Potenz durch Rekurrenz identischer Grundmorpheme. Dadurch ent stehen Isotopieket- ten. Mehrgliedrige Wortbildungen können besonders in längeren Isoto piesträngen als Knotenpunkte fungieren, die das semantische Netz eines Textes noch zusätz lich kon- densieren. Auch auf identischen Wortbildungsmodellen beruhende Wortbildungsrei hen und auf identische Wortbildungs- bzw. Modellbedeutungen zurückgehende funktional- semantische Klassen (in der neuen Auflage nicht mehr Wortbildungsgruppen) zeichne- ten sich durch ihre Textgestaltungshilfe für den Autor und Lesehilfe für den Rezipienten aus. Auf die besondere textkohäsive Rolle, die die Kurzwortbildung in verschiedenen Textsorten spielt (Morphemrekurrenz), und die damit verbundenen stilistischen Effekte wird in Kapitel 2.7.5 hingewiesen. Syntagmen (syntaktische Fügungen, Wortgruppen, Phrasen) und Sätze treten als Konstituenten komplexer substantivischer und adjektivischer Lexeme auf oder wer- den zu solchen konvertiert. „Die Verschränkung von Wortbildungs- und syntaktischer Determination“ (129) zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch hindurch. Es wird darauf hingewiesen, dass die Lockerungserscheinungen in der Stabilität der kompositionellen Wortstruktur in der Regel textgebunden, also okkasionell sind. Der Unterschied zwischen Syntagmen (input) und Wortbildungsresultaten (out- put) wird im Buch jedoch nicht nur theoretisch erläutert, hingewiesen wird auch auf „eindeutig fassbare Unterschiede“ (13). Das bietet eine gute Grundlage für didaktische Überlegungen. Die Gegenüberstellung beider komplexer Zeichen ermöglicht syntakti- sche Transformationen, vor allem im Bereich der Attribuierung. In einer graduell an- setzbaren ausdrucksseitigen Reduktionskette von mehr oder weniger synonymen Aus- drucksvarianten (explizite verbale Prädikati onen, Infinitiv- und Partizipialkonstruktio- nen, Nominalisierungen, Attribuierungen) sind die Wortbildungen das letzte Glied mit der größten Komprimierung des Sprachmaterials, was auf der anderen Seite potentiell mehrere semantische Interpretationen bzw. Lesarten zulässt und dadurch beim Rezipi- enten auch mehr kognitiven Aufwand erfordert. (Vgl. die „Gewinn-Verlust-Relation“ in der Einführung in die Textlinguistik von de Beaugrande/Dressler.) Der Pragmatik wird auch im Bereich der Bildungsrestriktionen und Blockierungen Rechnung getragen. Modellgerechte und systemkonforme Wortbildungen sind nicht uneingeschränkt möglich, die Ergebnisse von Informantenbefragungen hätten ergeben, dass für die Akzeptanz nicht nur die sprachlichen (etwa paradigmatischen) Beziehun- gen im Text, sondern auch die außersprachlichen Voraussetzungen erforderlich sind, die sogar „revisionsfähige“ Urteile herbeiführen können. (Vgl. auch zu syntaktisch bedingten Mehrfachinterpretationen in 2.2.1.2 und 2.2.2.3, auch unter besonderer Be- rücksichtigung der Verbvalenz in 5.1.4.) 267 Das Buch stützt sich auf repräsentative Korpora (massenmediale und belletristische, gedruckte und elektronische Quellen), außerdem auf Hörbelege und Wörterbuchein- träge. Typographische Verbesserungen der V orauflagen (z.B. Längsstrich für die Seg- mentierung der unmittelbaren Konstituenten komplexer Wortbildungen) und sinnvolle Querverweise erleichtern die Lesbarkeit. Die verwendete Terminologie ist instruktiv, weil sie synonymische (und homonymische) Termini verwendet (Wortbildung als Leh- re, Prozess, Ergebnis, also Wortbildungserscheinung/output/Zieleinheit/sekundäres Lexem/sekundäres Wort/Bildungsprodukt gegenüber input/Ausgangseinheit/primäres Lexem/primäres Wort/Basis), ohne dass dadurch irgendwelche Verständnisschwierig- keiten entstehen. Auf die Termini Wortbildungsprodukt und Wortbildungskonstruktion aus früheren Auflagen wird verzichtet. Auch eine Formalisierung der Wortbildungsmo- delle kommt nicht vor, was übrigens überhaupt nicht vermisst wird. Viele Aspekte der Wortbildung werden neu diskutiert, so z.B. die Fremdwörter; die Problematik rund um die Suffixoide/Halbsuffixe wird in ein neues Licht gerückt; eine „ganz eigene Wortbildungsart“ (6) ist die sich an der Grenze zur Syntax befindliche Partikelverbbildung mit orthographischen und semantischen Reflexen. Nicht zuletzt sollte die Aufmachung gelobt werden. Ja, auch die Papierfarbe und -qualität, die freundliche Typographie, ein kompakt gebundenes Werk, das auch in die- ser Neuauflage mit Recht die Ambition hegt, ein Handbuch zu bleiben. Kurz und gut: Man nimmt es gern in die Hand. Mit dieser ertragreichen und gelungenen Überarbeitung durch Irmhild Barz unter Mitarbeit von Marianne Schröder hat das bereits bisher in fachlichen Kreisen weitest- gehend als die beste Einführung in die Wortbildung der deutschen Gegen wartssprache geltende Studienbuch eine Belebung erfahren, die nicht nur Germanistikstudie rende mit Interesse aufnehmen werden. Stojan Bračič Universität Ljubljana