MUZIKOLOŠKI ZBORNIK — MUSICOLOGICAL ANNUAL XV, LJUBUANA 1979 UDK 78 Schubert F. FRANZ SCHUBERT UND DIE TRADITION Hellmut Feder h o fer (Mainz) Wer das Wort Tradition in den Mund nimmt, setzt sich leicht dem Verdacht aus, reaktionär zu denken und sich dem Fortschritt entgegenzustellen. Die Empfindlichkeit gegenüber dieser Vokabel ist nicht zufällig. Unsere heutige Musikkultur wird trotz grösster Anstrengung, Neues zu schaffen und diesem durch Presse, Rundfunk und offizielle Förderung zu Ansehen zu verhelfen, im öffentlichen und privaten Bereich selbst dort massgeblich von der Tradition geprägt, wo klassische Vorbilder verjazzt und verpopt werden. Der Fortschritt scheint durch die Tradition gehemmt, was P. Boulez halb missgelaunt, halb ironisch vor einigen Jahren zu dem Ausruf »Sprengt die Opernhäuser in die Luft« hinreissen liess.1 Dennoch verschmähte er es nicht, als Bayreuther Wagner-Dirigent in Erscheinung zu treten. Das gestörte Verhältnis zur musikalischen Überlieferung, an deren Stelle absichtsvoll etwas Neues gesetzt wird, dem die Anerkennung nicht — wie in früheren Jahrhunderten — durch gesellschaftliche Resonanz zuteil wird, wirft die Frage auf, wie im dynamischen Entwicklungsprozess der abendländischen Musik das jeweils Alte, aus dem sich Neues entwickelte, empfunden und gedeutet worden ist. Im Rahmen solcher Überlegungen gewinnen Franz Schuberts Kunstanschauung und Schaffen einen einmalig geschichtlichen Stellenwert. Während nach den Stilzäsuren um 1403, 1600 und 1705 ältere Kulturschichten der Vergessenheit anheimfallen oder aber ihre Kunstprodukte zum Lehrstil erstarren, das jeweils Neue hingegen den Bedarf an Musik fast zur Gänze allein deckt, beginnt sich mit dem Aufkommen der Romantik dieses Verhältnis grundlegend zu ändern. Der Übergang von einer zur anderen Kuiturschicht vollzieht sich in der abendländischen Musikgeschichte nirgends so bruchlos wie von der Klassik zur Romantik. Mit defn neuen Stil ist keine Kampfansage an den vorhergegangenen verbunden. Die romantischen Künstler wollen vielmehr den Reichtum einer überlieferten, hochentwickelten Kultur, in die sie »hineingeboren und hineinerzogen« sind,2 getreulich bewahren. Ein Gegensatz wird anfänglich nicht einmal wahrgenommen. Für Schubert ist das Schaffen der klassischen Trias —Haydn, Mozart, Beethoven — zeitlebens Vorbild. So schreibt er, noch nicht zwanzigjährig, am 13. Juni 1816 nach der Aufführung eines Streichquintetts von Mozart in sein Tagebuch: 1 Pierre Boulez, Sprengt die Opernhäuser in die Luft!, in: Melos 34, 1967, S. 429 ff. 2 Rudolf Unger, Vorn Sturm und Drang zur Romantik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2, 1924, S. 618. 62 »Ein heller, lichter, schöner Tag wird dieser durch mein ganzes Leben bleiben. Wie von ferne leise hallen mir noch die Zaubertöne von Mozarts Musik.«3 Und aus einem mit 21. November 1828, also zwei Tage nach Schuberts Ableben, datierten Brief seines Bruders Ferdinand an den Vater erfahren wir, dass dem Meister noch auf dem Totenbett im Fieberwahn der Name Beethovens in den Sinn kommt, an dessen Seite er wunschgemäss seine letzte Ruhestatt findet.4 Der Musikschriftstelier Johann Friedrich Rochlitz (1769—1842) bezeichnet Schubert als »enthusiastischen Verehrer Beethovens«. Schon zu Lebzeiten Schuberts wird dessen innere Verwandtschaft zu den Meistern der Klassik erkannt. In der Leipziger Allgemeinen Zeitung vom 1. März 1826 erscheint eine Rezension über Schuberts knapp vorher von A. Pennauer in Wien gedruckte Klaviersonate a-moll (op. 42). Der Rezensent gelangt zur Überzeugung, dass dieses Werk »wohl nur mit den grossen und freiesten Sonaten Beethovens verglichen werden« kann, während namentlich der 2. Satz »in der Erfindung, dem Ausdrucke und der Bearbeitung den variierten Andantes J. Haydns in seinen Quartetten aus späterer Zeit« an die Seite gestellt wird.5 — Unter den Dichtern hat vor allem J. W. von Goethe in Schubert den Liederkomponisten geweckt. Zeugnis hierfür sind seine frühen,, rasch berühmt gewordenen Lieder Gretchen am Spinnrade (D 118) von 1814, Heidenröslein (D 257) und Erlkönig (D 328) von 1815. Damit komme ich zur Kernfrage meines Themas: wie wirkt sich Schuberts Bindung an die Tradition im eigenen Werk aus? Walther Vetter charakterisiert in seiner zweibändigen Schubert-Biographie den Meister als »Künder zwischen den Zeiten, als Wanderer zwischen den Welten«; über dessen Verhältnis zu Beethoven schreibt er: »Genies pflegen im allgemeinen nicht Umstürzler noch Pfadfinder, sondern Erfüller zu sein; die Wegbahnung überlässt die Geschichte in der Regel den grossen Talenten. Schubert, das geborene Genie, fühlte sich zwangvoll in Beethovens Kreise gebannt, aber diesem gegenüber gab es für ihn nichts die Tragik dieser musikgeschichtlichen Konstellation!.«6 Aber lässt sie sich wirklich als tragisch bezeichnen? Ist die Entfaltung von Schuberts Genie durch Beethoven tatsächlich gehemmt worden? Bei Beantwortung dieser Frage wird man zweckmässig zwischen Schubert einerseits als Vokal, andererseits als Instrumentalkomponisten unterscheiden. In der Klassik hatte eindeutig das instrumentale Schaffen Priorität vor dem Lied, wenngleich Mozart und Beethoven auch auf diesem Gebiet Spitzenleistungen gelingen. In Schuberts Schaffen jedoch nimmt, es eine zentrale Stellung ein, indem es — wohl erstmals in der Musikgeschichte — den schöpferischen Mittelpunkt im Werk eines Grossmeisters bildet, von dem über 600 Lieder überliefert sind. Seine Originalität auf diesem Feld der Komposition offenbart sich bereits im Alter von 17 und 18 Jahren. In der Verbindung Wort-Ton eröffnet sich ihm und durch ihn zugleich aber auch seinem Zeit ein gänzlich neuer, künstlerischer Ausdrucksbereich. Er wurzelt in der romantischen Idee einer Vereinigung und Durchdringung von Poesie und Musik. Schubert vertont das Gedicht nicht schlechthin, sondern es 3 Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Gesammelt und erläutert von Otto Erich Deutsch, Kassel (etc.) 1964, S. 42 f. 4 a. a. O., S. 550. 5 a. a. O., S. 349. 6 Walther Vetter, Der Klassiker Schubert, 1, Leipzig (1953), S. 73. 63 wird durch seine Musik neu geschaffen, gleichsam ein zweitesmal gedichtet, aber nun in Tönen. Der Text geht in die Musik ein und zugleich in ihr auf. Das war wohl das Neue im Schubert-Lied, dem Goethe allerdings kritiscb gegenübersteht. Er lässt des jungen Meisters devotes Schreiben vom Juni 1825 unbeantwortet. Eines der damals übersandten Widmungsexemplare mit von Schubert vertonten Goethe-Liedern wird heute in der Landesbibliothek Weimar als wertvolles Andenken an diese Begebenheit verwahrt.7 Der Dichterfürst seinerseits steht ganz unter dem Einfluss seines Freundes und musikalischen Beraters Carl Friedrich Zelter (1758—1832). Der Dichter will — ganz im Sinn der jüngeren Berliner Liederschule — die Aufgabe der Musik auf Verdeutlichung des Stimmungsgehaltes der Textvorlage beschränkt wissen. Eine Beeinträchtigung der Dichtung durch Musik lehnt Goethe grundsätzlich ab. Aber eben sie tritt im Lied Schuberts mit dem in dieser Gattung bisher unbekannten Anspruch hervor, Mittelpunkt zu sein. Nur unter solcher Voraussetzung gelingen Schubert meisterhafte Vertonungen von Texten auch minderer Qualität. Die Neuschöpfung der Dichtung durch Musik, die Musikalisierung der Poesie, ist ein Grundanliegen der Romantik, die sich von allen Stilepochen am stärksten zur Musik hingezogen fühlt. Ihr vorrangige Stellung wird im Lied Schuberts, mit dem eine Neue Kunstgattung einsetzt, greifbar. Die gesamte Entwicklung des deutschen Liedes im 19. Jahrhundert und darüber hinaus geht auf Schubert als Neuerer und Vorbild zurück. Kann er sich im Lied völlig frei entfalten, so schliesst seine Instrumentalmusik hingegen — wie jene der gesamten Romantik — an die auf diesem Gebiet erreichten Leistungen der Klassik an. Haydn, Mozart und Beethoven hatten mit ihren Symphonien, ihrer Kammermusik und ihren Solosonaten Standardwerke geschaffen, an denen die Nachwelt weder vorbeigehen konnte noch wollte. Im Gegenteil. Kaum hat es je ein Zeitalter gegeben, das so wie die Romantik eigenes Fühlen und Denken mit dem des vorhergegangenen verbindet. Weit entfernt, sich oppositionell zu gebärden, begegnen die Romantiker den Meistern der Klassik mit Ehrfurcht; sie betrachten deren Werke — vor allem jene Mozarts und Beethovens — als ihr Vorbild. Auch Schubert macht hiervon keine Ausnahme. Aufgewachsen in einem von Musik gesättigten Milieu, sucht er, sich den klassischen Formenkanon anzueignen, wie seine zahlreichen unvollendeten und vollendeten Instrumentalwerke der Jugendzeit erkennen lassen, so auch seine zwischen 1813 und 1818 entstandenen sechs Jugendsymphonien, bei denen zumeist Beethoven, in der V. Symphonie hingegen Mozart Pate steht. Allerdings vermag er seinen frühen meisterhaften Schöpfungen auf dem Gebiet des Liedes zunächst nichts ebenbürtig Originelles auf jenem der Instrumentalmusik an die Seite zu setzen. Aber es fällt.auf, dass Schubert auch später, als er bereits zu einer ihm wesensgemässen Formgestaltung gelangt war, sich mehrmals an klassische Vorbilder — namentlich an Beethoven — anlehnt. Insbesondere die Gattung der Klaviersonate liefert hierfür Beispiele, wie etwa bereits erwähnte in a-moll (op. 42; D 537), deren Hauptsatz die konzentrierte Thematik und unerbittliche Zielstrebigkeit Beethovens widerspiegelt. Dieses Werk schreibt der Meister 1825, obwohl schon 1822 mit der Wandererfantasie (D 760) und der Symphonie h-mojl, der Unvollendeten (D 759), Werke 7 wie Anm. 3, S. 288. 64 entstanden sind, die seine eigene, vom Lied her befruchtete instrumentale Formkonzeption unübertroffen zum Ausdruck bringen. Aber noch die drei letzten Klaviersonaten, vor allem jene in c-moll (D 958) — alle d ei erst zwei Monate vor seinem Tod komponiert — lassen Beethovens geistige Nähe unverkennbar spüren, so dass geradezu die Absicht einer geheimen Nachahmung von dessen drei Klaviersonaten op. 109—111 vermutet worden ist.8 Werke dieser Prägung könnten den Verdacht erwecken, als fühle sich der Genius durch Beethoven, von dem er sich immer wieder inspirieren lässt, beengt und bedrängt. Eine negative Auswirkung solcher Abhängigkeit von der Tradition sollte allerdings nur dort geltend gemacht werden, wo Schubert an Pathos und innerer Dynamik dem Beet-hoven'schen Vorbild zwar nachstrebt, ohne es aber zu erreichen. In der Sonate a-moll (D 537) von 1825 hingegen ist die geistige Annäherung auch formal geglückt. Es ist bezeichnend, dass dieses Werk — wie erwähnt — bereits von der zeitgenössischen Kritik mit Beethovens Sonaten und Haydns Streichquartetten verglichen wird. Indessen weicht die typische Schubert'sche Formgestaltung von jener der Klassiker entschieden ab. Durch ständige Auseinandersetzung mit klassischen Meisterwerken gelangt Schubert dahin, seine, in reichem Masse ihm zufliessen-den lyrischen Eingebungen in die Sonatenform zu integrieren. Darin besteht für ihn der überwiegend positive Wert der Tradition. Er vermag, seine inhaltich und formal so neuartigen Kammermusik- und Orchesterwerke trotz manchmal »himmlischer Länge«, die R. Schumann in seiner Besprechung (1840) der grossen C-Dur-Symphonie (D 944) erwähnt, nur deshalb bruchlos zu gestalten, weil er sich der klassischen, in der Dur-Moll-Tonalität wurzelnden Formidee versichert, die ihm Geborgenheit für seine Eingebungen bietet. Sie bewahrt ihn vor einer potpourriartigen Aneinanderreihung einzelner Teile und Gedanken, auch dort, wo die Sonate sich zur Phantasie verwandelt. Die Entwicklung zeichnet sich am deutlichsten am Kopfsatz der zyklischen Form ab. Hier verändert und erweitert Schubert im Rahmen des übernommenen tonalen Grundschemas das Innengefüge in charakteristischer Weise zugunsten liedhaft-lyrischer Gedanken. Der Klassiker verschmäht zwar solche nicht, rückt aber ihre Funktion im Dienst der Form in den Vordergrund. Es wird darauf Bedacht genommen, durch Abwechslung mit improvisatorischen Gedanken allzu starker liedhafter Geschlossenheit auszuweichen. Schubert weitet nicht selten Haupt- und Seitensatz zu einem in sich geschlossenen melodisch-harmonischen Gebilde lyrischen Charakters aus. Hingegen tritt die Modulationspartie der Exposition, der die Klassiker grösste Aufmerksamkeit schenken, um den zweiten Gedanken als logische Folge des ersten erscheinen zu lassen, an Bedeutung zurück oder schrumpft zur tonartlichen Umdeutung von Akkorden und Akkordtönen zusammen, um die neue Tonart zu gewinnen. Auf eine der Klassik fremde Anlage der Exposition des Sonatenhauptsatzes bei Schubert macht Felix Salzer aufmerksam.9 Er bezeichnet sie als Dreitonartensystem, das seine formale Ge- 8 Hans Költzsch, Franz Schubert in seinen Klaviersonaten, Leipzig 1927 («Sammlung musikwissenschaftlicher Einzeldarstellungen 7), S. 19. 9 Felix Salzer, Die Sonatenform bei Franz Schubert, in: Studien zur Musikwissenschaft 15, 1928, S. 102 ff. 65 staltung in der Gliederung des Seitensatzes in zwei Teile erfährt. Als charakteristisches Beispiel kann der erste Satz der grossen C-Dur-Symphonie (D 944) dienen. Sie ist — nach jüngsten erst auf dem diesjährigen Schubert-Kongress in Wien vorgelegten Forschungsergebnissen — schon in März 1825 begonnen worden. Der erste Teil des Seitengedankens steht in e-moll, das auf kürzestem Weg erreicht wird. Darauf folgt eine breite Modulationspartie nach G-Dur, an dem sich das Bläsermotiv und das Begleitungsmotiv der Streicher beteiligen. Was sich in der Klassik zwischen Haupt- und Seitengedanken ereignet, als dessen Ziel die Modulationspartie erscheint, verlagert Schubert in den Seitengedanken. Drei Tonarten anstelle von zwei in der Sonaten-Exposition der Klassiker verwendet Schubert häufig, und zwar schon sehr früh, so erstmals im ersten Satz der II. Symphonie (B-Dur; D 125) von 1814/15 und in der H-Dur-Klaviersonate (D 575) von 1817. In der starken Ausdehnung und relativen Selbständigkeit der einzelnen Teile wirkt sich das lyrische Element und Festhalten an prägnanten Motiven aus. Jedoch selbst hierin ist eine Bindung an die Klassik zu erkennen. Ihr ist der Liedsatz durchaus nicht fremd. Neu ist nur die Bedeutung, die er nunmehr innerhalb der Sonate gewinnt. Hiervon ist auch die Durchführung betroffen. Während sich in der klassischen Symphonie- und Sonatendurchführung das dramatisch-dvnamische Moment, in thematisch-motivischer Arbeit am reinsten entfaltet, räumt Schubert auch hier dem lyrischen Element einen breiten Raum ein. Er formt aus Bestandteilen des Haupt- und Seitensatzes thematische Neubildungen, die — auf verschiedenen Stufen transponiert — Wiederholung finden. Für die Änderung der Binnenstruktur des Kopfsatzes ist nicht nur die zu lyrischen Eingebungen neigende Phantasie des Komponisten, sondern zugleich eine Erweiterung und Vertiefung der klanglichen Dimension massgebend. Die klassische Harmonik hat primär die Aufgabe, den modulatorischen Gesamptpian festzulegen. Sie bevorzugte daher ganz offensichtlich die harmonischen Hauptfunkti-onen der Tonart. Ausdrucksgesättigte Harmoniefolgen begegnen zwar auch in ihr, insbesondere beim späten Beethoven, ebenfalls schon im Barock. Stets sind es solche Stellen, die als romantische Anklänge empfunden werden. Jedoch erst in der Romantik wird der ästhetische Eigenwert des Klanglichen, der Klangverbin-dung und Klangfarbe zu einem stilbestimmenden Merkmal. Das Stimmungshaft-assoziative Moment wird in der Harmonik entdeckt. Hierin liegt zweifellos eine Gefahr für die Form, nämlich dort, wo jenes Moment so stark in den Vordergrund rückt, dass darüber die primäre Aufgabe der Harmonik, den Zusammenhang der Form zu gewährleisten, vernachlässigt erscheint. Insbesondere Terzbeziehungen lassen den gesteigerten Farbwert der Harmonik erkennen. Gerade sie prägen Schuberts Melodik und Harmonik am stärksten. Ernst Kurth betont, dass in der Romantik das Schwergewicht »vom Rundament- zum Spannungsempfinden, zu den Terzen als den Trägern der Energien in der Harmonik« rücke, so dass das Zeitalter der Romantik generalisierend geradezu als »das Zeitalter der Terzen« bezeichnet wird.10 Daher stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Terz- zur Quintverwandtschaft, deren Primat in der Klassik unangezweifelt ist. Sollte hier ein Bruch Schuberts mit der Klassik vorliegen? Diese Frage beantwortet im we- 10 Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners 'Tmtan'. Berlin 3/1923, Nachdruck Hildesheim 1968, S. 175, 178. 66 sentlichen bereits Gustav Becking. Er macht auf den Beginn des in A-Dur stehenden langsamen Satzes der Klaviersonate D-Dur (op.53; D850) aufmerksam. Die Periode ist normal achttaktig, aber die ausdrueksgeladene Tonikalisierung des cis-moll-Akkordes als III. Stufe im Nachsatz ist für die Klassik untypisch, weil das absichtsvolle Auskosten der Terzbeziehung keine formalen Konsequenzen zeitigt.11 Schubert schweift aus, unbekümmert um die Rückkehr, die er aber doch immer wieder findet. Eben letztgenannter Umstand charakterisiert seine Formgestaltung. Er verliert des schönen und ausdrucksvollen Details wegen das Ganze nicht aus dem Sinn. Er durchbricht die periodische Gliederung nicht, sondern schreitet vom cis-mol-Akkord zur V. Stufe weiter und wieder zur I. zurück. Die mediantische Ausweichung erweist sich nachträglich als harmonische Bereicherung, ohne die übergeordnete Quintbeziehung zwischen der I. und V. Stufe in Frage zu stellen. Cis im Bass unterteilt den Weg zwischen A un E. Die Möglichkeit, schon innerhalb kelinster Einheiten mediantische Beziehung gen zur Geltung zu bringen, scheint für Schubert unerschöpflich zu sein. Als Beispiel aus seinem Liedschaffen sei auf die Einschaltung eines c-moll-Akkordes in die Akkordfolge I-V in e-moll im Lied Aufenthalt (D 957,5) bei der letztmaligen Wiederholung des Textes »Starrender Fels« hingewiesen. Hier inspirierte der Text den Komponisten zu diesem einmaligen Einfall. Der tonale Rahmen Tonika-Dominante-Tonika, E-H-E, wird durch C, das die mediantische Beziehung ermöglicht, unterteilt. Über ihm erscheint der erwähnte c-moll-Akkord. Aber der Melodieton es ist nur ein vorweggenommenes dis, in das er sich auch notenbildlich verwandelt, sobald der von E kommende Basston zu H weiterschreitet. Mediantische Beziehungen können — unbeschadet ihres Farbwertes — auch im grösseren Rahmen der Formgliederung dienen. Der Hauptgedanke der B-Dur Klaviersonate (D 960) ist dreiteilig. Der A-Teil komponiert die I. Stufe, den F-dur-Akkord, aus; der B-Teil die VI: Stufe, den Ges-Dur-Akkord, während der wiederkehrende A-Teil zunächst in die V. Stufe, den F-Dur-Akkord, mündet und dann zur I. Stufe zurückkehrt. Die V. Stufe bildet mit der I. den tonalen Rahmen, der die Mediante und damit die Terzbeziehung einschliesst. Selbst ein so ausgedehnter Komplex wie die Exposition der ersten Satzes der grossen C-Dur-Symphonie (D 944) beruht harmonisch auf einem mediantisch unterteilten Weg von der I. zur V. Stufe. Bevor die Dominante als Zeiltonart erreichtwird, berührt Schubert zu Beginn des zweiten Gedankens die tonikalisierte e-Stufe, die III. Stufe. Dadurch wird das vorhin genannte Dreitonartensystem in der Exposition verwirklicht. Aber auch dort, wo Gross- und Kleinterzbeziehungen nicht unmittelbar der Realisierung von Quintbeziehungen dienen, z. B. als Oktavteilungen, stellen sie deren Bedeutung für die tonale Einheit der Gesamtform nicht in Frage. Nähere Untersuchungen haben ergeben, dass die harmonische Formanlage im Grossen auch bei Schubert durch das dominantische Verhältnis bestimmt wird, dem sich die mannigfaltigen Terzbeziehungen als Struktur- und Farbwert fügen.12 Schu- 11 Gustav Becking, Zur musikalischen Romantik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift, op. cit., S. 603 f. — Zur Analyse vgl. F. Salzer, Strukturelles Hören, Wilhelmshaven 1960, Beispiel 294. 12 Hellmut Federhofer, Terzverwandte Akkorde und ihre Funktion in der Harmonik Franz Schuberts (im Druck). 67 berts Harmonik entfaltet sich — ebenso wie jene der Klassiker — im Rahmen der Quintverwandtschaft. Nichts ist daher unzutreffender, als Schubert »gesprengte« Formen anzudichten. Es gibt zwar Längen, aber keine Brüche in seiner Form. Die Verwandtschaft zwischen Klassik und Romantik, so dass Beethoven bisweilen als Romantiker, Schubert hingegen als Klassiker bezeichnet werden, beruht auf der Gemeinsamkeit ihrer in der harmonischen Tonalität wurzelnden Tonsprache. Deren Lebenskraft ermöglichte künstlerischen Ausdruck von konträren geistigen Grundhaltungen, wie sie etwa in der Eroica (op. 55) Beethovens und der Unvollendeten (D 759) Schuberts offenbar werden. Nur weil sie konträr sind, ist es überhaupt gerecht-fertigt, zwischen Klassik und Romantik zu unterscheiden, obwohl Zeitgenossen dieser beiden Meister einen solchen Unterschied nicht oder nur z.T. wahrhaben wollten. Es wäre gewiss zu einfach, ihn als Gegensatz von Optimismus und Pessimismus zu deuten. Man braucht nur an Beethovens Heiligenstädter Testament (1802) zu erinnern. Aber der Klassiker ist sich des sicheren Gelingens seines Werkes bewusst, auch, wenn er tum dessen endgültige Formung ringt. Er schafft im Bewusstsein der Einheit von Kunst und Leben. Anders Schubert. Sein erschütterndes vierstrophiges Gedicht von 1824 »Klage an das Volk« kommt einem verzweifelten Selbstbekenntnis gleich. Wenn es in der letzten Strophe heisst: »Nur Dir, o heilige Kunst ist's noch gegönnt Im Bild die Zeit der Kraft u. That zu schildern«,13 so wird das Kunstwerk aus der Realität des Daseins herausgehoben, mit dem es keine Versöhnung mehr gibt, und jzum einzigen Trost in einer Welt, in der sich seichte Unterhaltungsmusik immer stärker ihren Weg bahnt. Bezeichnend, dass der Komponist in dem gleichen Brief, der das zitierte Gedicht enthält, über gängige, aber musikalisch »miserable Mode-Waare« klagt. Der Bruch zwischeri E- und U-Musik, der das heutige Musikleben kennzeichnet, reicht bis tief in Schuberts Zeit zurück. Unter ihm leidet auch R. Schumann. Nicht in der Wirklichkeit, nur in der heiligen Kunst — wie es im Gedicht heisst — ist Versöhnung möglich. Das Kunstwerk wird autonom, dadurch zugleich sein sozialer Funktionswert geschmälert. In ihm breitet sich neben dem Schönen das Charakteristische aus. Die Schattenseiten des menschlichen Daseins bedrängen die Phantasie des Künstlers. Aus der Trauer und Todesahnung, die viele Werke Schuberts prägen, spricht der Schmerz des Romantikers um die verlorengegangene Einheit von Kunst und Leben, die dem Klassiker noch selbstverständlich war. Ein erschütterndes Beispiel hierfür ist der zweite Satz aus seiner wenige Wochen vor seinem Tod geschriebenen B-Dur-Sonate (D 960). Dieser Satz steht in cis-moll, endet zwar versöhnlich in Cis-Dur, jedoch nicht triumphierend im Forte oder Fortissimo, sondern ersterbend im Pianissimo. Schubert gelingt die Versöhnung im Kunstwerk, die er im Leben vermisst, auch, wenn sich der Schmerz über diese Entzweiung tief in seine Musik eingegraben hat. Ihn allein mit den ökonomischen und politischen Verhältnissen im Metternich-System erklären zu wollen, würde entschieden zu kurz greifen. »Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt«, sagt Friedrich Hegel.14 Ihre eigentliche Blütezeit ist mit der Romantik überschritten. 13 wie Anm. 3, S. 259. 14 Ästhetik I, Frankfurt a. M. (1955), S. 21. 68 Ludwig Klages spricht in seiner Lebensphilosophie von einem Widerstreit zwischen Geist und Seele.15 Beide Mächte treten im romantischen Künstler in Widerspruch. Aus diesem Zwiespalt resultiert die romantische Ironie. Der Künstler entflieht sich selbst und seiner Zeit. Nur in seiner Phantasie kann,er sich noch geborgen fühlen. Aber er benötigt einen sicheren Halt, um sich künstlerisch offenbaren zu können. Schubert findet einen solchen in der Klassik und ihren tonsprachlichen Mitteln, die er seinem eigenen Ausdrucksbedürfnis anpasst. Ohne dieses Vorbild wären seine Meisterwerke — mögen sie auch noch so weit in Neuland vorstossen — und deren Aussagekraft undenkbar. Sich die Tradition schöpferisch aneignen zu können, ohne mit ihrer Sprache deshalb in Widerspruch geraten zu müssen, erweist Schuberts wahrhafte Grösse. POVZETEK Prehod iz ene stilne epohe v drugo ni potekal v zgodovini evropske glasbe nikoli tako kontinuirano kot prehod iz klasike v romantiko, tako novi stil tudi ni napovedoval boja staremu. Romantièni umetniki hoèejo zvesto ohranjevati bogato kulturo, v kateri so bili rojeni. Nasprotja sprva sploh niso bila zaznavna. Ko razpravljamo o Schubertovi vezanoti na tradicijo klasike, se zdi primerno, da razloèujemo Schuberta kot vokalnega in instrumentalnega komponista. S Schubertom zavzame pesem v opusu velikega mojstra prviè osrednje mesto. V povezavi besede in tona se razkrije osemnajstletnemu skladatelju in hkrati tudi njegovemu èasu povsem novo izrazno obmoèje, ki izvira iz romantiènega naziranja o povezovanju in prepajanju poezije in glasbe. Schubert poezije ne komponira, marveè jo s svojo glasbo ustvarja na novo. Tako se glasba pri njem ne omejuje le na ponazarjanje razpoloženjske vsebine besedila, ampak se pomakne docela v središèe vsega. Samo na ta naèin Schubert tudi ustvari mojstrske uglasbitve tekstov slabše kvalitete. Èe se je na podroèju pesmi lahko povsem neovirano razvil, se navezuje Schubert v instrumentalni glasbi, enako kot vsa romantika, na dosežke velikih klasikov Haydna, Mozarta in Beethovna. Skoro ni bilo epohe, ki bi povezovala tako moèno kot romantika, lastno èustvovanje in mišljenje s tistim prejšnjega obdobja. Seveda Schubert ne more svojim zgodnjim pesemskim mojstrovinam postaviti ob stran nièesar tako izvirnega na podroèju instrumentalne glasbe. Oèitno je, da se je Schubert tudi pozneje, ko je v instrumentalni kompoziciji že prišel do oblikovanja, ustreznega svojemu bistvu, še veèkrat naslonil na klasiène vzore, zlasti na Beethovna. Primere za to najdemo predvsem med klavirskimi sonatami. Tu mislimo na sonato v a-molu (op. 42; D 537), katere prvi stavek kaže Beethovnovo zgošèenost tematike in neizprosno težnjo k cilju, kakor tudi na njegove poslednje tri sonate, ki so nastale tik pred smrtjo. V zvezi s temi obstaja celo domneva o prikritem posnemanju Beethovnovih sonat op. 109—111. Nedvomno je važno, da je Schubert znal svoje bogate liriène domisleke integrirati v sonatno obliko. In prav v tem je zanj pretežno pozitivna vrednost tradicije, ki mu omogoèa, da brezhibno oblikuje, kljub tej ali oni »nebeški dolžini«, tudi vsebinsko in oblikovno nova komorna in orkestralna dela. Razvojno so najbolj znaèilni prvi stavki Schubertovih sonatnih ciklov, kjer je v okviru prevzete tonalne sheme spremenjen inrazširjen notranji ustroj v korist pesemsko liriènih misli, gre za zasnovo ekspozicije, ki je tuja klasiki in ki jo lahko oznaèujemo kot sistem treh tonalitet. Ta se odraža v razèlenitvi stranske teme v dva dela. Tipièni primer je prvi stavek velike simfonije v C-duru. Tu je prvi del stranske teme v e-molu, ki je dosežen po najkrajši poti, nakar sledi še širok.odsek z modulacijo v G-dur. Tako nastopajo v ekspoziciji 15 Der Geist als Widersacher der Seele, Bonn 3/1954. 69 tri tonalitete namesto nekdanjih dveh. Takšno pojavljanje treh tonalitet je pri Schubertu pogosto in ga sreèujemo že zgodaj. Z romantiko postane estetska vrednost zvoènosti in zvoène barve stilno odloèujoèa znaèilnost. Zvišana barvna vrednost harmonije se kaže posebno v terenih zvezah, ki so izrazita svojstvenost Schubertove melodije in harmonije. Ob tem se še postavlja vprašanje odnosa terènega sorodstva do kvintnega, katerega primat je v klasiki neosporavan. Vsekakor je važno, da je mediantni odklon le harmonska obogatitev, ki ne ogroža nadrejenega kvintnega odnosa med I. in V. stopnjo. JRazen tega so natanènejše raziskave pokazale, da tudi pri Schubertu doloèa harmonsko zasnovo v velikem dominantno razmerje, kateremu se podrejajo raznotere terene zveze kot strukturne in barvne vrednosti. Schubertova harmonija se torej v osnovi odvija, tako kot pri klasikih, v okviru kvintnega sorodstva. Sorodnost med klasiko in romantiko temelji na skupnosti njune tonske govorice, ki je zakoreninjena v har-monski tonalnosti. Njena življenjska moè pa omogoèa tako nasprotno izraznost, kot jo npr. manifestirata Beethovnova »Eroica« ali Schubertova »Nedokonèana«. Romantièni umetnik beži pred seboj in svojim èasom. Varno zatoèišèe najde le v svoji fantaziji. Da pa se lahko umetniško izraža in razodeva, mu je potrebna trdna opora. Schubert jo najde v klasiki in njenih izraznih sredstvih, ki jih prilagaja svojim potrebam izražanja. Brez tega vzora bi si njegovih mojstrovin, pa naj so prodrle še tako daleè v svet novega, ne mogli misliti. Sposobnost kreativnega prisvajanja tradicije, ne da bi pri tem prišel v protislovje z njeno govorico, izprièuje resnièno Schubertovo velièino. 70