Kant in praktischer Absicht Rado Riha Ein beliebtes Vorgehen zahlreicher politischen Analyse und theoretischen Reflexion der gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozesse im östlichen Mitteluropa liegt darin, die sog. demokratischen »Revolutionen 1989« mit der Französischen Revolution in Verbindung zu setzen. Eine solche Verbindung macht es natürlich auch möglich, die osteuropäischen Ereignisse in »kantischer Absicht« zu betrachten, wie wir hier eine sich auf den kantischen Kritizismus stützende Reflexion des Historisch-Politischen benennen wollen. Für die Analyse der aktuellen osteuropäischen Geschehnisse scheint dabei besonders jener Gesichtspunkt dieser »kantischen Absicht« geeignet zu sein, den uns Foucaults Lektüre Kants und seiner Bestimmung der Französischen Revolution wieder in Erinnerung gerufen hat.1 Foucault ist bekannterweise bei seinem Lesen dieser Kantischen Schrift vor allem auf den Sachverhalt aufmerksam, daß für Kant das französische Revolutionsgeschehen die Bedeutung eines geschichtlichen Ereignisses erst durch die Art und Weise erhält, auf die es von seinem »äußeren zuschauendem Publikum« aufgenommen wurde, das an den Revolutionsereignissen nicht unmittelbar teilnahm, sondern sie »ohne die mindeste Absicht der Mitwirkung«2 mitverfolgte und mit ihnen öffentlich sympathisierte. Kants Überlegungen lernen uns, meint Foucault, daß in der Geschichte eigentlich nicht sog. »große« geschichtliche Ereignisse - wir werden sagen: das reale Geschehen selbst - wirklich von Bedeutung seien, sondern etwas ganz anderes, auf den ersten Anblick viel unbedeutenderes und zweitrangigeres. Die Begeisterung, mit der die Revolution von einem breiten Kreis des Publikums aufgenommen wurde, seine »Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt«,3 spricht davon, so Foucault, daß viel bedeutender, als das große und lärmende revolutionäre Drama selbst, das sei, was in den »Köpfen« der Zuschauer vorgehe, die »Art und Weise, wie sich die Revolution darstellt«4. 1. Cf. M. Foucault, »Kant. Was ist Aufklärung«, in: Magazine Littéraire, Paris 1984; ders., »What is Enlightement«, in: Foucault Reader, London 1985; ders., »La vie: L'experience et la science«, in: Revue de Métaphysique et de Moral, No.l, Paris 1985; I. Kant, Streit der Fakultäten (Streit) (1798), in: I. Kant, Theorie-Werkausgabe, hrsg. v. W Weischedel, Bd. XI, S. 265-393. 2 . I. Kant, Streit, op. cit., S. 358 u. 360. 3 . Ibid., S. 358. 4 . M. Foucault, »Kant. Was ist Aufklärung«, in: Magazine Littéraire, Paris 1984, S. 38 152 Rado Riha Das Urteil von der Geschichtlichkeit eines realen Geschehens wird also, so legt uns Foucaults Kant-Interpretation nahe, nicht auf der Ebene des unmittelbaren Handelns und des innerlich-erlebten Verhältnisses zum Geschehen gefällt, sondern auf der Ebene des äußeren Verhältnisses eines bloß betrachtenden Zuschauers: die »wirkliche« geschichtliche Bedeutung des Geschehens ist das Produkt einer nachträglichen Interpretation. Eine solche Überweisung der Geschichtlichkeit auf ein äußeres Verhältnis der geschichtlichen Subjekte zum realen geschichtlichen Geschehen, versetzt uns nun unserer Meinung nach einerseits in den Mittelpunkt der mit der osteuropäischen demokratischen Neuerfindung verbundenen Probleme. Andererseits kann vermittelst der »Revolutionen 1989« das Phänomen erklärt werden, das, wie wir glauben, von Foucaults Analyse zwar blendend vorgeführt, nicht aber begründet worden ist: daß nämlich der Enthusiasmus der Zuschauer, ihre sich in der bloßen »Denkungsart«5 ausdrückende Unterstützung für die »Sache der Revolution« von weit größerem geschicht- lichen Gewicht sei als die wirklichen Handlungen der Revolutionsakteure, daß die wirklich geschichtsbildende Tat in der Passivität der Unbeteiligten liegt, in ihrer bloß gedanklichen Aneignung des realen geschichtlichen Geschehens. Ein Lösungsansatz für dieses Problem der »aktiven Passivität« der geschichtsbildenden Tat läßt sich unserer Meinung nach in Kants Begriff des erhabenen Gefühls in der dritten Kritik finden. Durch diesen Begriff kann gezeigt werden, wie das distanzierte, bloß betrachtende Verhalten in das unmittelbare innergechichtliche Handeln selbst entritt, wie die Passivität in der Aktivität als ihr wesentliches Moment reflektiert wird. Wir werden im ersten Teil des Beitrages diese Problematik anhand der aktuellen politischen Geschehnisse einführen, um uns dann im zweiten Teil näher mit Kants Auffassung des Enthusiasmus in der dritten Kritik zu befassen. / Die »reinvention démocratique« des Jahres 1989 scheint, was die Rollenverteilung auf »Handelnde« und »Zuschauende« anbetrifft, wirklich die l'invention démocratique (Cl. Lefort) von 1789 zu wiederholen. Einerseits gilt es für die tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Osten zweifelsohne, daß sie von den osteuropäischen Akteuren selbst vorbereitet und von ihnen auch vollbracht wurden. Andererseits waren die osteuropäischen Kämpfe um Demokratie seitens des westlichen Publikum einer ungeteilten, von Links bis Rechts reichenden und wirklich fast schon an Enthusiasmus grenzenden Unterstützung teilhaftig. Und schließlich: von wie schwerwiegender Bedeutung für aktuelle politische Verhältnisse in Europa und in der Welt überhaupt das Tun und Lassen der osteuropäischen Akteure auch war, als wahres geschichtliche Tat existierte es nur in dem Maße, als es von 5 . I. Kant, Streit, op. cit., S. 357. Kant in praktischer A bsicht 153 den »Zuschauern« in seiner Wahrheit - und das heißt in diesem Fall, als Rückkehr zu den idealen und materialen Grundlagen der westlichen demokratischen Erfahrung, als eine in der westlichen Alltagspraxis schon verwirklichte Antwort auf die Frage der Demokratie - anerkannt wurde. Die osteuropäischen Akteure haben zwar wirklich aus eigener Kraft ihre demokratischen Revolutionen vollbracht, aber die geschichtliche Wahrheit des Vollbrachten gehört, wie es scheint, nicht ihnen, sie gehört vielmehr den Zuschauern an. Auf den ersten Blick bestätigen also die »demokratischen Revolutionen 1989« Foucaults Interpretation der »kantischen Absicht«: die Geschichtlichkeit des realen Geschehnisses ist einer diesem Geschehnis selbst vollkommen äußeren, kontingenten Weise seiner Symbolisierung-Histori- sierung, seiner nachträglichen Einschreibung in das Netz der diskursiven Praktiken überantwortet. Wenn wir uns aber die mit den »demokratischen Revolutionen 1989« verbundenen Probleme etwas näher ansehen, dann zeigt es sich bald, daß es sich in ihrem Fall nicht mehr so eindeutig feststellen läßt, wem eigentlich die geschichtliche Wahrheit des Geschehens angehört, den im Innern handelnden Akteuren oder den von Außen distanziert betrachtenden Zuschauern, dem inneren oder dem äußerem Verhältnis zur Geschichte. Das westliche Publikum hat lange, wie schon gesagt, die Revolutionen 1989 mit Enthusiasmus verfolgt, die osteuropäischen Geschehnisse waren während einer lange Zeit das Objekt seines faszinierten Blickes. Das Objekt dieser Faszination war aber, wie S. Žižek zu Recht hervorhebt6, keineswegs eine bloße Rückkehr zu demokratischen Ideen und Institutionen. Der Westen kennt nur all zu gut alle Mängel und Sackgassen der real existierenden liberalen Demokratie, um von ihr selbst noch fasziniert werden zu können. In seiner spontanen Ideologie nimmt der westliche Akteur gegenüber verschiedenen rechtlichen sozialen und politischen Praktiken des demokratischen Sozialsta- ates eher eine zynisch-ironische Haltung ein. Das Objekt des faszinierten Blickes war deshalb auch nicht die Reinvention der Demokratie als solche, was die westlichen »Zuschauern« wirklich faszinierte, war vielmehr eine unterstellte vorbehaltslose Faszinierung der osteuropäischen Akteure mit der westlichen Demokratie, ihr naiver, sozusagen blinder Glauben an sie. Der Westen hat somit im Osten sich selbst, die Bestätigung seiner eigenen Wahrheit gesehen. Aber er hat sich auf eine ganz bestimmte Weise gesehen. Über das imaginäre Spiel der faszinierten Blicke konnte der westliche Zuschauer den Punkt eines sich sehenden Sehens erreichen, den Punkt der Selbstidentität eines sich selbst vollkommen durchauschaubaren, sich in sich selbst spiegelnden Subjekts. In der unterstellten Faszination des Ostler von der 6 . Cf. S. Žižek, »Geniesse deine Nation wie dich selbst!«, in: Lettre international. Europas Kulturzeitung, Heft 18, Berlin 1992. 154 Rado Riha Demokratie konnte er sich selbst in seiner »reinen«, von empirischen Desillusionnen und Fehlschritten noch nicht verunstalteten demokratischen Gestalt sehen, sich sozusagen am unbefleckten Ursprung seines demokrati- schen Seins fassen. Mit der Konstruktion dieses harmonischen Bildes konnte somit der Punkt jener Störrung, jenes blinden Flecks im betrachteten Bild umgangen werden, der gerade das Eingeschriebensein des Subjekts in dem von ihm Betrachteten, seine Anwesenheit im Bild bezeichnet.7 In einer bestimmten Phase der östlichen demokratischen Revolutionen, meistens zum Zeitpunkt, wo sie schon erfolgreich abgeschlossen zu sein schienen, kam es aber zu einer unangenehmen, peinlichen Unterbrechung dieses wechselseitigen Spiels der faszinierten Blicke, in dem der Westler sich selbst sehend und der östliche Akteur sich idealisiert als kompromißlosen Kämpfer für die Demokratie sehen konnte. Das ursprünglich harmonische Bild der östlichen demokratischen Neuerfindung wurde allmächlich von der neuen, langsam zum Vorschein kommenden Realität in den ehemaligen kommunisti- schen Staaten getrübt: einerseits nationalistischer Populismus, Fremdenhaß und rassistische Ausbrüche, andererseits Verfall von Demokratiebewußtsein, Toleranz und liberaler politischer Kultur. Daß die westlichen Zuschauer, als Erben und Träger der kosmopolitischen und universalistischen Tradition der Aufklärung, diese Erscheinungen bald als geschichtlich regressive Tendenzen ablehnten überrascht nicht. Die Reaktion der Zuschauer bekräftigt in dieser Hinsicht nur noch um ein weiteres die geschichtsbildende Funktion des »zuschauenden Publikums«. Das osteuropäische Geschehen scheint genau in dem Maße geschichtlich zu sein, in dem es nicht Sache seiner Akteure, sondern seines ihm wohlgesinnten Publiklum ist. Und umgekehrt: im Moment, in dem die Ereignisse wortwörtlich zur Sache der Akteure selbst - zur nationalen Sache - werden, verlieren sie ihren geschichtlichen Charakter. Bei den Geschehnissen im ehemaligen Jugoslawien wird aber diese geschichtsbildende Funktion der bloßen »Denkungsart« - die Funktion des Symbolisierungsprozesses als eines (immer) nachträglichen, kontingenten und in sich offenen Sinngebungsprozesses - etwas problematischer. Die jugoslawischen Geschehnisse, den »slowenischen Frühling« als eine Art Musterbeispiel der jugoslawischen Demokratieprozesse mit einbegriffen, haben das westliche Publikum nie dermassen fasziniert wie etwa die Kämpfe und Forderungen ungarischer und polnischer Oppositioneller, der Fall der Berliner 7 . Es handelt sich, um mit Lacan zu sprechen, um den Punkt des Blickes als Objektes, um einen Punkt, wo das sehende Subjekt schon im voraus vom Objekt angeschaut wird: »Auf dem Feld des Sehens gliedert sich alles zwischen zwei Polen, die in einem antinomischem Verhältnis zueinander stehen - auf Seiten der Dinge gibt es den Blick, das heißt, die Sachen blicken mich/gehen mich an, und ich wiederum sehe sie. In diesem Sinne ist das Wort des Evangelium aufzufassen - Sie haben Augen und sehen nicht. Und sehen was nicht - eben dies: daß die Dinge sie anblicken/ angehen«, J. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar. Buch XI, übers, von N. Haas, Quadriga Verlag, Weinheim, Berlin 1987, S. 115/6. Kant in praktischer A bsicht 155 Mauer oder die tschechoslowakische »Samtrevolution«. Sie begannen vielmehr schon bald den Inbegriff von allem Negativen, die Reinform aller Mängel und Schattenseiten der osteuropäischen Emanzipationsbewegung zu represäntieren: »Jugoslawien« wurde sozusagen zum Synonym der Störrung im harmonischen Bild der östlichen demokratischen Neuerfindung. Was aber Jugoslawien wirklich zum exemplarischen negativen Beispiel stempelt, ist unserer Meinung noch nicht das am diesem Beispiel Augenfälligste, d.h. der Ausbruch des Krieges zwischen den einst »brüderlichen« vereinten Völkern. Es ist vielmehr etwas, das auf den ersten Blick eher von sekundärer Bedeutung, mit Foucault gesprochen, »unbedeutend und wertlos« erscheint: der Umstand daß es im Fall Jugoslawiens zu einem offenem Zwiespalt zwischen dem Selbstverständnis der Akteure und der Weise, wie die Ereignisse vom Publikum interpretiert wurden, kam. Das gleiche Phänomen - eine starke national(istisch)e Mobilisation in allen Teilen Ex-Jugoslawiens - wurde auf zwei völlig unvereinbarere Weisen erklärt. Der von Außen Zuschauende deutete sie als Ausbrüche des Nationalismus, der von dieser Mobilisation Ergriffene verstand sie als einen im Recht jedes Volkes auf Selbstbestimmung begründeten Kampf um Unabhängigkeit8. Das, was sowohl von der offiziellen europäischen Politik wie auch von breiten Kreisen der europäischen linken Öffentlichkeit als partikularistischer, geschichtlich aufs Mißlingen verurteilter »Verkürzungsweg« interpretiert wurde, haben z.B. die Akteure in Slowenien als einen wesentlichen Bestandteil ihrer universalistischen Existenz, ihrer Existenz als »Europäer« verstanden. Im »jugoslawischen Beispiel« tritt die doppelte Störrung in den anfänglich harmonischen osteuropäischen Demokratiekämpfe - die Störrung auf der Ebene des »objektiven« Bildes der Geschehnisse, die Störrung auf der Ebene des »subjektiven« Verständnisses und Selbstverständnisses - sozusagen in Reinform auf. Und das heißt, daß sich an den jugoslawischen Vorkommnissen - für die fast schon von Anbeginn an die Diagnose «akuter Nationalismus« gestellt wurde - exemplarisch zeigt, wie es dort, wo die Faszination im Blick des »äußeren zuschauenden Publikums« erlischt, zur Umbesetzung der ursprünglichen Rollen vom »Akteur« und »Zuschauer« kommt. Wir wollen in zwei Schritten vorgehen. Im ersten gehen wir von der, auf den ersten Anblick gewiß problematischen Behauptung aus, daß die Nationalismus-Diagnose, die für die jugoslawischen Geschehnisse von einem breitem Publikum aufgestellt wurde, eine unangemessene, der »Sache selbst« nicht entsprechende »Denkungsart« war. Wenn wir das sagen, dann heben wir gleichzeitig hervor, daß wir keineswegs 8 . Wir stützen uns hier auf die Analyse, die von Jelica Sumii-Riha in ihrem Vortrag »Nationalism and the Desintegration of Jugoslavia«« auf dem Kolloquium »States, Nations, and Ethnic Identies«, European University Institute, Florence, 8.-10. May 1992, entwickelt wurde. 156 Rado Riha die Existenz von nationalistischen politischen und gesellschaftlichen Strömungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens ableugnen wollen. Auch demokratische politische Verhältnisse in Slowenien waren und sind immer noch stark von einer »nationalen Anrufung« geprägt, die sowohl nationalistisch profilierte politische Parteien umfaßt als auch - um einen verschönernden Ausdruck für Fremdenhaß und latenten Rassismus zu gebrauchen - sog. »nationale Gefühle« des Alltagslebens. Trotz dieses real existierenden Nationalismus behaupten wir aber, daß der Nationalismus, den die westlichen Zuschauer, Jugoslawien betrachtend, sahen, nicht jener Nationalismus war, der in verschiedenen Teilen Jugoslawiens tatsächlich sein Unwesen trieb und treibt. Der Nationalismus, den der »westliche Zuschauer« in allen jugoslawischen politischen Konflikten als das Gemeinsame Jugoslawiens zu erkennen glaubte, war und ist ein Phänomen, das nur im europäischen Blick bestand und besteht. Als »Beispiel Jugoslawien« bestätigte sich einmal mehr die These Hegels, daß das Böse im Blicke liege\ Wenn wir also hier von einer Unangemessenheit der westlichen Darstellungsweise sprechen, dann haben wir nicht das Phänomen einer einfachen sachunadäquaten, verzerrten Darstellung des wirklichen Sachver- haltes im Sinn. Die »nationalistische« Darstellungsweise der jugoslawischen Ereignisse seitens der westlichen Zuschauer zeigt sich als unangemessen, insofern wir sie mit ihr selbst, mit ihrer eigenen Zielsetzung messen - ihr Erklärungsanspruch und ihr Ziel ist die »Sache selbst«, von der wir sprachen. Das westliche Publikum widersetzte sich dem Nationalismus und seinen Partikularismen im Namen universalistischer, fomaler demokratischer Werte - was es dadurch zustande brachte, war nicht nur die Stärkung von Partikularismen und gegendemokratischen Verhaltungsweisen, sondern das Aufblühen eines nationalsozialistischen Regims, der Zerfall Jugoslawiens und der heute noch immer tobende Krieg.10 9 . Die nationalistische Mobilisierung der Massen gehört ganz gewiß zu einem jener zahlreichen »Übel«, die das Resultat spezifischer innerjugoslawischer politischer Verhältnisse sind. Zum wirklich »Bösen« wurden aber diese Übel erst, als der sich als neutral ausgebende Blick der europäischen Politik in ihnen nichts anderes als den Nationalismus identifizieren konnte. Dieser Blick hat nicht den real bestehenden Nationalismus als eine diskursive politische Praktik erblickt, die erst durch ihre spezifische Eingliederung in das komplexe Geflecht von jeweiligen politischen und gesellschaftlchen Verhältnisse zu ihrer konkreten Bedeutung kommt - die also z.B. in einigen Teilen dominierend war und einen festen Bestandteil totalitärer politischer Verhältnisse bildete, in anderen Teilen wiederum mit ihrer volks-gemeinschaftlicher Anrufung zwar eine Bedrohung der erreichten demokratische Verfassung darstellte, aber politisch nicht vorherrschte... Der europäische Blick hat vielmehr etwas anderes getan - er hat ein diskursives Element des Politischen in eine substantielle Entität, in ein Sein umgewandelt: Slowene, Kroate, Serbe, kurz »Jugoslawe« sein bedeutete von nun an einfach - (ein) Nationalist-Sein. 10. Zugespitzt gesagt: die östlichen Demokratisiserungsprozesse haben die östliche Akteuere aus eigener Kraft bewirkt. Der Beitrag des Westens zu diesen Prozessen ist der blutige Zerfall Jugoslawiens. Die Krise in Jugoslawien war gewiß vor allem das Resultat der akkumlierten Kant in praktischer A bsicht 157 Insofern können wir sagen, daß die Figur des Nationalismus, diese offen zu Tage tretende Störrung in der anfänglichen Faszination des westlichen Blickes, gleichzeitig auch der Punkt ist, an dem es zu einer Umverteilung der Rollen zwischen dem Geschichte-machenden Akteur und dem Geschichte- -konstituierenden Zuschauer kommt. Aus dem bloß betrachtenden und beurteilenden, distanzierten westlichen Zuschauer wird im »jugoslawischen Beispiel« allmächlich ein Akteur im reinsten Sinne des Wortes: jemand, der zwar am historischen Drama aktiv teilnimmt, sich aber seiner wahren Bedeutung nicht bewußt ist und immer wieder erfahren muß, wie das, was er wirklich getan hat, nicht mit seinen proklamierten Absichten, mit dem, was er hat tun wollen, übereinstimmt. Und umgekehrt, der Akteur wird immer mehr zum eigentlichen Zuschauer, d.h. zu jemandem, der zwar nicht handelt, deshalb aber den Sinn des Geschehens erfassen kann, sozuagen als Statthalter der Geschichtlichkeit des Geschehens auftritt. Fällt heute nicht gerade den Moslems in Bosnien - ungeachtet ihre Verwicklung in den Krieg - die struturelle Rolle der »westlichen Zuschauer« zu: sie waren es, die bis zuletzt, als die jugoslawische Armee, das künftige Gemetzel vorbereitend, Sarajevo schon mit Panzern, Schützengräben und Artilleriestellungen umgab, noch immer an der Idee Jugoslawiens festhielten; sie waren es, die sich in Bosnien für eine pluralistische Demokratie von Staatsbürgern, nicht von völkischen Monaden einsetzten; sie waren es, die im Gegensatz zu allen anderen Völkern Jugoslawiens nicht im geheimen aufrüsteten, sondern angesichts der bewaffneten Serben auch weiterhin noch eine aktive Friedenspolitik betrieben. Kurz, wenn der westliche Zuschauer und seine »Denkugsart« von jemandem in ehemaligen Jugoslawien in Reinform verkörpert wird, dann sind bzw. waren das die bosnischen Moslems. Wir kommen so zu unserem zweiten Schritt. Die bekannte Formel aus Kants dritter Kritik übernehmend, werden wir sagen, daß gerade in ihrer Unangemessenheit die Darstellugsweise der Zuschauer auch wieder angemessen war. Sie war insoweit angemessen, als sie durchblicken ließ, auf welche Weise der angeblich distanzierte, bloß betrachtende Zuschauer in Wirklichkeit buchstäblich »dem Wunsche nach« schon in die betrachtete Szene eingeschrieben war, als Teil des neutral Betrachteten funktionierte. Gerade durch die »Störrungen im Bild« wurde es deutlich, inwiefern es sich für den Westen bei diesem Bild schon um eine Inszenierung, um eine spezifische gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und besonders politischen Widersprüche dieses Landes. Zur gewaltsamen Auflösung dieser Krise - und das heißt sowohl zum Zerfall dieses Staates als auch zum Beginn eines serbischen Erroberungskrieges - kam es aber nicht nur aus innerjugoslawischen Gründen. Die gewaltsame Krisenauflösung ist, um es in aller Klarheit zu sagen, ein mehr oder weniger unmittelbares Resultat von innereuropäischen Verhältnissen und der daraus resultierenden europäischen Politik gegnüber Jugoslawien - und zwar in einem für Jugoslawien außerordentlich empfindlichen Zeitpunkt, als sich nämlich dieser Staat aus einer totalitärem in eine demokratische Organisationsform des Gesellschaftichen umwandelte. 158 Rado Riha phantasmatische Organisation seines eigenen politischen Standpunktes handelte. Und es ist für den »westlichen Zuschauer« - mit anderen Worten, für das Subjekt der modernen formalen Demokratie - wesentlich, sich mit diesen Störrungen identifizieren zu können, in ihnen »sich selbst«, seine eigene Wahrheit zu erkennen. Es gilt, in diesen Störrungspunkten mehr als nur eine pathologische Erscheinung zu sehen, es gilt, sie als Anzeichen dafür zu verstehen, das im formalen demokratischen Diskurs ein »blinder Fleck« anwesend ist, der zur »normalen« Funktionsweise der Demokratie, zur Demokratie in actu gehört. Sich mit diesen Störrungen zu identifizieren bedeutet also für den westlichen Zuschauer bei weitem nicht, sich selbst eines »Nationalismus« bezichtigen zu müssen. So einfach ist das nicht. Bei der Nationalismus-Diagnose müssen wir vor allem darauf aufmerksam sein, wie sie wirkt - und sie wirkt als typisches Beispiel eines Ausgrenzungverfahrens, das dazu dient, die Identität des Diagnostizierenden zu konstituieren. Durch dieses Verfahren konnte z.B. einerseits die universelle, integrationisfähige europäische demokratische Kultur, andererseits das von den separatistischen, partikularistischen Nationalismusbewegungen in Jugoslawien repräsentierte Nicht-Europäische schlechthin gesetzt werden. Oben haben wir die die Faszinination im Blick des »westlichen Zuschauers« bzw. des demokratischen Subjekts als ein Verfahren bezeichnet, das es ihm möglich machte, der Auseinandersetzung mit seiner eigenen Anwesenheit im Bild auszuweichen. Die Funktionsweise der Nationalismus-Diagnose im westlichen Vorgehen hilft uns nun zu verstehen, warum gesagt werden kann, daß sich die Anwesenheit des Subjekts im Bild gerade durch und in den Störrungen, den »blinden Fleck« des Bildes kundtut. Das Subjekt befindet sich, wie im »jugoslawischen Beispiel«, genau dort, wo es nichts mehr sieht und nichts mehr versteht, dort, wo es sozusagen das Nichts selbst sieht: an der Stelle dieses Nichts. Die Faszination im Blick kann in dieser Hinsicht als Verfahren bezeichnet werden, wodurch das demokratische Subjekt versuchte, sich selbst als einem Nichts, d.h., seiner eigenen formal-demokratischen Leere aus dem Weg zu gehen. Das Phantasma des Nationalismus ist demgegenüber ein Verfahren, der Auseinandersetzung mit der Kehrseite dieser Substanzlosigkeit des demokratischen Subjekts aus dem Weg zu gehen, d.h. einem paradoxen inhaltlichen, nichtuniversalisierbaren Moment auszuweichen, daß mit der Existenz des substanz- und inhaltslosen demokratischen Subjekts notwendig einherzugehen scheint. Dieses Moment, das sich in den Unversalisierungsprozes, den Prozes der Auslöschung jeder substantiellen, inhaltlichen Bestimmung des formaldemokratischen Subjekts, nicht einbeziehen läßt, sondern immer wieder als partikulärer Rest übrigbleibt und von innen her das Dasein des Subjekts bestimmt, wird so umgangen, das es Kant in praktischer A bsicht 159 nach außen projiziert und in der Gestalt des entegengesetzten Anderen gedacht wird. Es ist jetzt wohl klar, warum die Identifizierung mit der Störrung, mit dem blinden Fleck des Nationalismus, für den westlichen Zuschauer keineswegs bedeutet, sich als Nationalisten anzuklagen. Es geht vielmehr um etwas anderes: wenn sich die demokratische politische Kultur nicht als ein Ausgrenzungs- und Ausschließungsverfahren definieren und konstituieren will - und das Verhalten des Westens im »jugoslawischen Beispiel« ist für eine solche Verhaltungsweise geradezu exemplarisch - dann ist es für sie wesentlich, anerkennen zu können, daß zu ihrem formalen, inhaltslosem Wesen, daß zur Demokratie als in sich »leerer Form«, immer auch etwas irreduzibel Partikuläres, ein unauflöslich »inhaltliches« Moment gehört. Es handelt sich um ein Moment des Realen, das vom modernen demokratischen Universalisierungsprozesses selbst hervorgebracht wird, das also nichts anderes als den »Namen«, die Positivierung und Vergegenwärtigung ihrer wesentlichen Zuges, der Negierung jedes traditionellen, substanziellen Moments des Gesellschaftlichen selbst darstellt11. Es genügt also nicht zu sagen, daß die »demokratische Erfindung« eine kontingente, von radikaler Negativität geprägte diskursive Konstruktion ist, daß die demokratische Erfahrung aus einer inneren Unmöglichkeit der demokratischen Kultur entspringt, sich als in sich geschloßenes und begründetes Geflecht diskursiver Praktiken auszubilden. Die Demokratie ist vielmehr auch die Erfahrung dieser Unmöglichkeit als einer positiven Gegebenheit - die Erfahrung, daß diese radikale Negativität von einem nicht-diskursiven, realen Moment verkörpert wird. Unser Beispiel, das Phantasma der »jugoslawischen Nationalismen«, ist nicht dieses Moment selbst. Insofern aber dieses Phantasma zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Bestandteil des westlichen demokratischen Selbstverständisses gebildet hat, ist es als ein Indiz aufzufassen. Und zwar als Indiz dafür, daß die demokratische Erfahrung nur dann auf der Ebene ihrer Aufgabe sein wird, wenn es ihr gelingt, das auf den formalen Diskurs der Demokratie Nicht-Reduzierbare nicht vermittelst eines Ausgrenzungsverfahren zu bestimmen, sondern es als ein unbestimmbares Heterogene in sich selber zu fassen. Eine Sache ist es zu sagen, wie etwa Lefort, daß die moderne Demokratie letztendlich unbestimmbar und ihr Wesen als leerer Ort der Macht unaussprechbar sei12. Etwas anderes ist es zu sagen, daß die Demokratie unbestimmbar und ihr Wesen unausprechbar sei, weil zu ihr immer schon ein 11. Ansätze zur Konzeptualisierung der für die moderne demokratische Organisationsform des Gesellschaftlichen konstitutiven radikalen Negativität sind in der politischen Philosophie Cl. Leforts zu finden; cf. vor allem die zwei Sani^ielbände L'invention démocratique, Fayard, Paris 1981 und Essais sur le politique (XIX'-XX' siècle), Seuil, Paris 1986. 12 . Cf. Cl. Lefort, Essais sur le politique (XIX'-XX'siècle), Seuil, Paris 1986. 160 Rado Riha Moment gehört, das nichts anderes ist als die Verkörperung dieser Unausprechbarkeit und Unbestimmtheit, die Vergegenwärtigung der radikalen Negativität der formalen Demokratie. Mit dieser zweiten Aussage kehrt die Unbestimmtheit der Demokratie aus einem, imaginären, unerreichbaren Jenseits zurück und erscheint als solche mitten im Diesseits. Genauso ist es eine Sache, dem demokratischen Gleichheitsprinzip die real real existierenden Ungleichheiten entgegenzuhalten, in ihnen die Lüge des demokratischen Prinzips, seine manifeste Unwahrheit zu erkennen13. Eine andere ist es wiederum, die Frage nach einem Moment des Realen, »Inhaltlichen« zu stellen, das vom universalistischen, jeden partikulären Inhalts entleerten Diskurs der Demokratie selbst hervorgebracht wird, gleichzeitig aber auf ihn nicht reduzierbar ist - einem Moment, das nicht die Unwahrheit der demokratischen Wahrheit, sondern nichts als diese Wahrheit selbst repräsentiert. Die Artikulation dieses Realen der symbolischen Demokratie- ordnung könnte unserer Meinung nach zum »Aufbruch« der demokratischen Kultur beitragen. Dazu also, daß im Augenblick eines alle Differenzen wieder einholenden Sieges der Demokratie die Frage des Politischen als Frage nach einer unaufhebbaren Heterogenität aufrechterhalten bleibt. II Wie glauben, daß durch das Gesagte auch klar geworden ist, daß die Struktur der geschichtsbildenden Tat nicht durch die einfache Opposition zwischen »Außen« und »Innen«, »Interpretieren« und »Handeln«, »Passivität« und »Aktivität« zu erklären ist. So wie das demokratische Engagement heute die Auseinandersetzung mit einem Moment verlangt, der von innen her den Rahmen der formalen Demokratie transzendiert, das geregelte Spiel formal-demokratischer Verhaltensformen blockiert, so müssen wir auch beim Versuch, die Struktur der geschichtsbildenden Tat zu erklären, die einfache Opposition zwischen »Außen« und »Innen«, »Interpretieren« und »Handeln«, »Passivität« und »Aktivität« hinter uns lassen. Es gilt vielmehr festzumachen, wie das bloß betrachtende Verhältnis in das Innere des geschichtlichen Handelns selbst eintritt, wie die Passivität in der Aktivität als ihr wesentliches Moment reflektiert wird - die Geschichtlichkeit im wahren Sinne des Wortes muß genau in diesem Schnittpunkt des Innen und des Außen gesucht werden. Damit sind wird auch zum Kantischen Konzept des erhabenen Gefühl und zur Problematik des auf ihm begründeten historisch-politischen Urteils angelangt.14 Von ihm werden uns nämlich begriffliche Mittel zur Verfügung gestellt, die Struktur einer solchen Tat näher erklären zu können. Das Gefühl des Erhabenen wird im Gemüt des Subjekts bekannterweise dadurch bewirkt, daß die Einbildungskraft ihre Unangemessenheit und 13. Cf. zu diesem Thema J. Rancidrc, Au bord de lapolitique, Editions Osiris, Paris 1990. 14. Wir beziehen uns im folgendem auf die Ausgabe der Kritik der Urteilskraft (KdU) in: Theorie-Werkausgabe, hrsg. von W. Weischedel, Bd. X. Suhrkamp, Frankfurt/M 1968 ff. Kant in praktischer A bsicht 161 Unzulänglichkeit erfährt, in der ästhetischen Größenschätzung15 durch eigenen Kräfte zur Darstellung des Ganzen der Anschauung zu gelangen. Am Maximum ihres Zusammenfassunfsvermögens angelangt, sinkt die Ein- bildungskraft »bei der Bestrebung, es zu erweitern, in sich selbst zurück« und wird dadurch in ein »rührendes Wohlgefallen versetzt«.16 Es ist der Punkt, an dem sich die Unangemessenheit der ästhetischen Größenschätzung zur angemessenen Darstellungsform des übersinnlichen Vermögens des Subjekts verkehrt und als solche angmessene Unangemessenheit und zweckmäßige Zweckwidrigkeit gefühlt wird. Die Einbildungskraft beweist in ihrem unabläßigen Bestreben, das absolut Ganze zu erreichen, nicht nur ihre eigene Beschränktheit, sie zeugt dadurch auch von einer im Subjekt stets anwesenden »Stimme der Vernunft«17, jener Instanz, die von der Einbildungskraft den Akt der Totalisierung verlangt. Durch das Gefühl des Erhabenen wird die Überlegenheit der Vernunftideen über die Sinnlichkeit, wie Kant schreibt, anschaulich gemacht. Die ästhetische reflektierende Urteilskraft bezieht also, sobald sie über das Erhabene eines Gegenstandes reflektiert, das freie Spiel der Einbildungskraft mit den Vernunftideen - wie ist aber diese Beziehung zwischen dem sinnlichen Vermögen und der Vernunft zu denken? Einerseits wird das Scheitern der Einbildungskraft, die Reihe der Teilvorstellungen in eine Anschauung zu fassen, durch die von der Vernunft auferlegte Totalisierungs- aufgabe verursacht: durch die Vernunftideen wird das Urteil vom Erhabenen überhaupt erst möglich. Andererseits wird aber das Erhabene als Produkt eines innersinnlichen Gegensatzes hervorgebracht: wie Guillermit, auf dessen Analyse wir uns hier beziehen, sagt, »die Vernunft interveniert keineswegs in das, was das rein ästhetische Moment im Urteil vom Erhabenem konstituiert«,19 d.h. in die bloße Apprehension des Gegenstandes. Mit anderen Worten: Der Zusammenbruch der Sinnlichkeit steht zwar mit der Vernunft in Verbindung, doch nicht so, daß die Vernunft von Außen in die Sinnlichkeit eingreifen würde. Ebenso stellt auch die Einbildungskraft in ihrem Zusammenbruch nicht einfach die ihr äußeren, sie übersteigenden Vernunftideen dar, diese werden vielmehr, wie Kant schreibt,20 bloß in Form 15. Einer Größenschätzung, die ein in einer Anschauung unmittelbar zu fassendes Grundmaß erstellen soll. Als solches ist das Grundmaß in einer doppelten Weise ästhetisch-subjektiv bestimmt. Es bezieht sich auf keine der Einbildungskraft als sinnlichen Vermögen der Darstellung äußere Instanz, sondern stellt eine Größenschätzung in der »bloßen Anschauung (nach dem Augenmaße)« (Kant, KdU, § 26.) dar; und es ist das größte für das beurteilenede Subjekt (noch) mögliche Maß, eine für es absolute Größe. 16 . Kant, KdU, § 27. 17 . Ibid. 18. Ibid. 19. Cf. L. Guillermit, L'éludication critique du jugement de goût selon Kant, Editions du CNRS, Paris 1986, S. 107. 2 0 . Kant, KdU, § 26. 162 Rado Riha von sinnlicher Darstellung der notwendig immer unangemeßenen sinnlichen Darstellung der Ideen vergegenwärtigt. Wir haben es also nicht mit einer externen Beziehung von Vernunft und Sinnlichkeit zu tun, ihre Beziehung ist vielmehr als ein inneres Verhältnis zwischen ihnen zu denken. Und das heißt: das Gesetz, das der Sinnlichkeit von der Vernunft auferlegt wird, ist ein Gesetz, durch das sich die Sinnlichkeit überhaupt erst als Sinnlichkeit in ihrer reinen - vom Verstand und von der Vernunft unabhängigen, d.h. vom allen Empirisch-Pathologischen gereinigten - Form konstituiert. Die Vernunftideen ihrerseits sind keineswegs eine jeder sinnlichen Darstellung unerreichbare Transzendenz, das Scheitern der sinnlichen Vernunftdarstellung ist vielmehr die Art und Weise, wie die »buchstäblich genommen und logisch betrachtet«21 nicht darstellbare Idee trotzdem sinnlich dargestellt wird. Im Gefühl des Erhabenen kommt die Vernunftidee gerade in ihrer konstitutiven Undarstellbarkeit zur Darstellung, das Erhabene ist die Form, durch welche die undarstellbare Idee durch die Darstellung ihrer Undarstellbarkeit zur Darstellung kommt. Den Zusamenbruch der Sinnlichkeit, auf der sich das Gefühl der Lust im Urteil vom Erhabenen gründet - einer Lust, die sich an der Stelle der durch die Erfahrung der Unangemessenheit alles sinnlichen Maßstabes zur Großenschätzung des Ganzen verursachten Unlust zu Worte meldet - können wir insofern auch als Befreiung der Sinnlichkeit auffassen. Wir müssen uns dabei in Erinnerung rufen, daß die Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung nicht nur der Existenz des Objekts gegenüber indifferent ist, wie beim Urteil über das Schöne, sondern auch der Abhängigkeit von dessen Form entbunden ist. War schon im Geschmacksurteil die Sinnlichkeit von der Herrschaft des Verstandes befreit, dann erreicht sie durch diese Loslösung von der Form sozusagen eine »Freiheit auf zweite Potenz«.22 Diese Befreiung der Sinnlichkeit in der ästhehtischen Größenschätzung steht dabei in einer wesentlichen Korelation mit der Tätigkeit der Urteilskraft als eines freien, heautonomen Erkenntnisvermögens. Durch sie wird im höchstmöglichsten Masse die Vorschrift der Urteilskraft verwirklicht, daß es gelte, in der Anschauung darzustellen, »(mithin ästhetisch vorzustellen)«:23 als sinnliches Darstellungsvermögen ist die Einbildungkraft im Urteil vom Erhabenen im selbstgenügsamen Spiel tätig, bei dem das Objekt auf einen bloßen Anlaß für das Urteil und auf die subjektiven Bedingungen seiner Auffassung reduziert wird. Das, was wir hier die gleichzeitige Bewegung des Zusammenbruchs der Sinnlichkeit und ihrer Befreiung nennen, ist bei Kant in der Rede vom Erhabenen als eines »Gefühls der Beraubung der Freiheit der Einbildungskraft 2 1 . Ibid., Allg. Aura, zur Exposition... 2 2 . L. Guillermit, op. cit., S. 117 f. 2 3 . Kant, KdU, § 25. Kant in praktischer A bsicht 163 durch sie selbst«24 zu finden. Wir verstehen diese wechselseitige Verbindung vom Zusammenbruch und Befreiung im Gefühl des Erhabenen als einen Prozeß, in dem es dazu kommt, daß die Sinnlichkeit zu ihrer Vollendung kommt, also endlich dem in der ersten Kritik gestellten Anspruch der transzendentalen Ästhethik, alle apriorische Prinzipien der Sinnlichkeit zu entwickeln25, entsprochen werden kann. Neben des objektivierbaren Teils der Sinnlichkeit, der Sinnlichkeit des Sinns, kommt durch diesen Prozeß auch ihr irreduzibel subjektiver Teil, die Sinnlichkeit des Gefühls, zum Worte: jenes an der Sinnlichkeit also, was nie »Erkenntnisstück« werden kann, d.h. »zu keinem Erkenntnisse, auch nicht zu demjenigen, wodurch sich das Subjekt selbst erkennt26 dienen kann. Diese irreduzibel subjektive Dimension der Sinnlichkeit können wir etwas näher bestimmen, wenn wir uns zunächst an jenes Merkmal erinnern, das für die Sinnlichkeit im allgemeinen charakteristisch ist: an ihre Blindheit. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffes sind blind, lautet Kants berühmter Satz in der ersten Kritik, und auch die Einbildungskraft wird als »eine blinde, obgleich unentbehrliche Wirkung der Seele«27 bezeichnet. In der dritten Kritik gelangt unserer Meinung nach diese Blindheits-Bestimmung der Sinnlichkeit, die sich noch mehr oder weniger auf einer empirisch-anthropolgischen Ebene bewegt, zu ihrer transzendentalen Bedeutung: die Blindheit wird zum Prinzip der Sinnlichkeit, das sie in ihrer reinsten, d.h., subjektivsten Dimension konstituiert. Sie ist sozusagen dasjenige, was in der Sinnlichkeit sinnlicher als sie selbst ist. Ästhehtisch ist jene Größenschätzung, die, wie Kant sagt, nach dem Augenmaß geschieht. Dieser Bestimmung können wir jetzt eine weitere hinzufügen, daß nämlich die transzendentale Ästhetik im Gefühl des Erhabenen jenem Moment begegnet, das sozusagen das Grundmaß diese Augenmasses ist. Dieses Grundmaß des sehend-messendenen Augens ist aber der Blick, und zwar jener Bedeutung, die dem Phänomen des Blicks von der Theorie Lacans gegeben wird: der Blick als Objekt. Es handelt sich um jenen Punkt in der angeschauten Szene, in dem das zusehende Subjekt selbst ins Betrachtete eingeschrieben ist, um jenen Punkt, in dem die »Dinge es schon anblicken«, sich ihm zeigen, einen Punkt, den das Subjekt, will es überhaupt was sehen, nie erblicken kann. Für das Subjekt besteht er bestenfalls als Punkt, an dem er nichts (mehr) sieht, als Störrung im Bild, die seinem Wieder- und Anerkennen des Gesehenen ein Ende macht. In dieser Bedeutung einer vorgängigen Einchreibung des Subjekts in das Betrachtete, die es seinem 2 4 . Cf. ibid., Allgemeine Anmerkung zur Exposition... 2 5 . Cf. I Kant, Kritik der reinen Vernunft, B36/A 21. 2 6 . Kant, KdU, 2. Einleitung, VII, u. § 3. 2 7 . I. Kant, KrV, B 105/A 78. 164 Rado Riha »Augenmaß« überhaupt möglich macht, vor sich eine »objektive Realität« zu sehen, verstehen wir hier auch die Blindheit der Sinnlichkeit: so wie das »Grundmaß« des Sehens der Blick als Objekt ist, so ist die Blindheit das »Grundmaß« der transzendental begründeten Sinnlichkeit. In der ästhetischen Größenschätzung scheitert das sinnliche Vermögen an seinem Versuche, seine Auffassungskraft in der Anschauung selbst zu totalisieren. Zum Zusammenbruch der Sinnlichkeit kommt es in ihrem Versuch, mit einem Blicke ihr potentialiter ins Unendliche gehendes Anschauen zu überschauen, um so endlich dasjenige erblicken zu können, worum es in dieser unendlichen An-Reihung von Vorstellungen augeschein- lich wirklich geht: nämlich jene immer wieder ins Jenseits der aktuellen Teilvorstellungen entgleitende, die Auffassung von einer Teilvorstellung zur anderen vorantreibende Vorstellung des Objekts in seiner Ganzheit. Die Befreiung der Sinnlichkeit besteht nun gerade darin, daß die Sinnlichkeit sich von dieser impliziten Voraussetzung von der das Fortrücken der Apprehension geleitet wird, lossagt: die Sinnlichkeit ist in dem Moment befreit, in dem das Subjekt die Illusion fallenläßt, es gäbe ein Jenseits der Teilvorstellungen, das erblickbar wäre. Dieser Illusion aber entsagt das Subjekt im Gefühl des Erhabenen. Im Erhabenen, einer doppelten Bewegung, in der einerseits die Sinnlichkeit schmerzend ihre eigene Unangmessenheit zur Darstellung des Ganzen erfährt und abdankt, andererseits aber in ihrem Abgang auf negative Weise die Vernunftideen lustvoll zur Darstellung bringt, wird das Subjekt damit konfrontiert, daß es nur deshalb die empirische Wirklichkeit sehen kann, weil er an einem bestimmten Punkt nichts Sinnliches sieht. Das Erhabene ist jenes Moment, in dem die Blindheit der Sinnlichkeit als solche zum Sehen kommt, d.h., sehbar wird und sehbar macht, der Punkt, in dem das Subjekt den Blick als ein für das Sehen konstitutives Verblendungs-Moment auf sich nimmt und dieses Verblendungs-Moment als Anwesenheit der Vernunftideen, als seine eigene »höchste Bestimmug« anerkennen lernt. Die Blindheit der Sinnlichkeit ist insofern jener bloß »negativen Darstellung« gleichzusetzen, die für das sublimste der Gefühle, den erhabenen Enthusiasmus, kennzeichnend ist. Der Enthusiasmus ist zwar ein Affekt, er ist aber, ästhetisch betrachtet, erhaben, weil er als Affekt der »wackern Art«28 im Subjekt die Bereitschaft zur Überwindung aller aüßeren, empirisch-sinnlichen Hindernisse stärkt. Im Enthusiasmus hat sich die Einbildungskraft vom Sinnlichen vollkommen abgewendet, sie wirkt »in Ansehung des Sinnlichen gänzlich negativ« und ist als solche eine »bloß negative Darstellung«29 des Unendlichen. Wenn also im Enthusiasmus zwar von allen empirischen Neigungen, Interessen..., kurz von allem Sinnlichen abstrahiert wird, dann ist 2 8 . I. Kant, KdU, Allg. Anm. zur Exposition... 2 9 . Ibid. Kant in praktischer A bsicht 165 deshalb der Enthusiasmus in sich selbst noch bei weitem nicht ein Nichts - er ist gerade die Ver-Sinnlichung dieses Abstraktionsprozesses, ein Überschuß der reinen Sinnlichkeit, der vom Abstraktionsprozeß vom Sinnlichen selbst hervorgebracht wird. Gerade als sinnliche Vergegenwärtigung seiner absoluten sinnlichen Grundlosigkeit, Abgründigkeit, ist der Enthusiasmus für das Dasein des Subjekts in seiner »höheren«, »übersinnlichen« Bestimmung wesentlich: nur als dieses rein Sinnliche - als etwas, was nur da ist und was für Niemanden Nichts mehr repräsentiert, kommen die alle Sinnlichkeit übersteigenden Vernunftideen zu Worte. Sich mit dem Enthusiasmus befassend, schreibt Kant auch Folgendes: »Diese reine, seelenerhebende, bloß negative Darstellung der Sittlichkeit bringt dagegen keine Gefahr der Schwärmerei, welche ein Wahn ist, über alle Grenzen der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d.i. nach Grundsätzem träumen, (mit Vernunft rasen) zu wollenWas Kant hier als pathologisches Phänomen beschreibt, den Wahn, über alle Grenzen der Sinnlichkeit etwas sehen zu wollen, ist unserer Meinung nach ein fester Bestandteil der »normalen« Schematisierungsfunktion der Einbildungskraft. Ist nicht gerade in diesem Wahn jene »Triebfeder« zu finden, von der die Auffassungskraft zu ihrem unendlichen Unternehmen getrieben wird? Wird die Einbildungskraft nicht von einer Art Verstandes-Schwärmerei getrieben, von der Illusion, jenes, worum es eigentlich gehe, die ganzheitliche Vorstellung des Objektes, verharre irgendwo im Jenseits der Teilvorstellungen? Dieser Illusion kann das Subjekt nur so entgehen, daß es sich, wie im Enthusiasmus, auf die Erfahrung eines »da gibt es nichts zu sehen« stützt, auf den blinden Fleck im Bild als auf die positive Bedingung seines Sehens. Wie Lyotard sagt: »Der Enthusiamsus seinerseits sieht nichts, oder sieht vielmehr das Nichts und bezieht sich auf das Undarstellbare«.31 Als solcher ist zwar der Enthusiasmus in nichts »normaler« als die Schwärmerei: der Schwärmerei, nach Kant mit dem Wahnwitz vergleichbar, entgeht das Subjekt so, daß es in den Enthusiasmus flüchtet, der dem Wahnsinn32 ählich ist. Das einzige, was das Subjekt durch das erhabene Gefühl gewinnt, ist die Möglichkeit, sich selbst als Wesen der Freiheit durch ein Moment der Sinnlichkeit Dasein und Konsistenz zu verleihen. * Im erhabenen Gefühl können somit, wenn wir uns zum Schluß noch einmal unserer Anfangsfrage zuwenden, die Merkmale jener geschichtsbildenden Tat bei Kant gefunden werden, die nicht mehr durch die einfache Opposition zwischen »Außen« und »Innen«, »Interpretieren« und »Handeln«, »Passivität« und »Aktivität« zu erklären ist, sondern die Bestimmung einer Passivität, die inmmitten des Handelns selbst situiert ist und es trägt, verlangt. Der Träger des 30 . Ibid. 3 1 . J.-F. Lyotard, L'énthusiasme. La critique kantienne de l'histoire, Galilée, Paris 1986, S. 63 3 2 . I. Kant, KdU, Allg. Anm. zur Exposition... 166 Rado Riha historisch-politischen Urteils von der Geschichtlichkeit des Geschehens ist bei Kant das »äußere zuschauende Publikum«, sein Urteil selbst wird dabei vom Gefühl des Erhabenem getragen, vom Enthusiasmus, der vom allem Sinnlichen wegsieht. Aufgrund des bisher Gesagten ist es nicht schwer zu bestimmen, wie dieser rein ästhetische, abgründige Grund des Urteils wirkt: der Enthusiasmus beläßt weder den »Zuschauer« in der Rolle eines bloß neutral Betrachtenden noch schreibt er ihm ein wirkliches, d.h. ein in die Kette der realen Geschehnisse eingebundenes Handeln zu. Der kantische enthusiastisch urteilende »Zuschauer« ist eine Instanz, von der die realen Ereignisse nicht von einem neutralen, dem Geschehen vollkommen äußerlichen Anblicks-Punkt aus betrachtet werden. Der Enthusiasmus schreibt dieser zuschauendtätigen Instanz - der geschichtsbildenden Tat oder dem reflektierenden historisch-politischen Urteil - vielmehr eine Funktion zu, die mit der Funktion des Blickes als Objekts analog ist. Durch diese Funktion ist das tätig-zuschauende, das reflektierend beurteilende Subjekt schon im voraus, vor jeder wirklichen Tathandlung, in Betrachteten anwesend, an ihm, wie Kant so trefflich sagt, »seinem Wunsch nach« teilnehmend. Die Reinheit seines Blickes ist von Anfang an dadurch getrübt, daß im betrachteten Geschehen sein Blick als Element anwesend ist, das die Geschehnisse in der Art und Weise strukturiert, wie sie sich ihm dann als dem »bloß Betrachtendem« »objektiv« zeigen. Der Enthusiasmus ist in dieser Hinsicht nichts anderes als der Augenblick, in dem das zuschauende Subjekt sich damit befindet, daß »die Dinge es schon anblicken«. Er ist, mit Kants Worten, »die sinnliche Vorstellung des Zustandes /dieses/ Subjekts«,33 oder, mit unseren Worten, das Moment, vermittelst dessen sich das Subjekt mit seiner Anwesenheit im Betrachteten »dem Wunsch nach«, d.h., mit seinem Begehren auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung des Subjekts mit seinem Begehren, daß in seiner geschichstbildenden Tat, im reflektierenden, vermittels eines rein »sinnlichen« Moments wirkenden Urteilen vor sich geht, beinhaltet ein Zweifaches. Zunächst einmal ist sie die Bewußtmachung des Sachverhaltes, daß die betrachteteten Ereignisse, etwas zugespitzt gesagt, vom Anfang an nur für ihn, den historisch-politisch Urteilenden inszeniert sind. Mit anderen Worten: der reale, »objektive« Gehalt des geschichtlichen Geschehens hat als solcher für den Urteilenden keine Bedeutung bzw. ist nur insoweit von Bedeutung, als es als gegenständlicher Anlaß zur Erweckung des erhabenen, vermittels eines Moments des rein Sinnlichen wirkenden Urteils dient. Sowohl wirkliche Akteure wie wirkliche Geschehnisse sind in diesem Urteil nicht nur in Klammern gesetzt, sie sind buchstäblich ausgelöscht, ins jene Nichts verwandelt, in das sich im Vergleich mit der Macht der Vernunftideen Kant nach alles, was Teil der Natürlichen ist, mag es noch so ungeheuer und überwältigend erschienen, auflöst. Gerade durch dieses Nichts ist der 33. Ibid., 1. Einleitung, VIII. Kant in praktischer A bsicht 167 Urteilende im realen Geschehen anwesend, in ihm kann er in Reinform sein Begehren antreffen. Doch so wie sich schon bei Kant das Urteil vom Erhabenen nicht in der Funktion seiner bloß negativen Darstellungsweise ausschöpft, so werden auch wir sagen, daß sich die geschichtsbildende Tat, das reflektierende historische Urteil nicht zureichend bloß durch seine nichtende, nichts (Objektives) mehr sehende bzw. das Nichts selbst zum Vorschein bringende Funktion bestimmen läßt. Bei Kant wird ja bekannterweise der Enthusiasmus, den das Publikum angesichts der revolutionären Ereignisse bekundet, als »Geschichtszeichen« begriffen, das auf einen ständigen Fortschrit der Menschheit zum Besseren nicht nur hinweist, »sondern selbst schon ein solcher ist«.34 Das Urteil des Publikum von der Revolution beläuft sich deshalb nicht auf die Aussage über die Nichtigkeit dieses Formlosen und Ungeheuren der menschlichen Naturgeschichte: am Platz des Nichts ihrer bloß »negativen Darstellung« kommt vielmehr der Glauben an den Fortschritt der Menschheit zu Worte, die auf Nichts Empirischem gegründete, dennoch aber unbedingte Überzeugung, das revolutionäre Drama sei ein »Geschichtszeichen (Signum rememorativum, demonstrativum, prognosticum)«35 dafür, daß es möglich sei, das höchste Gut in der Welt zu verwirklichen. Als Geschichtszeichen funktioniert der Enthusiasmus sozusagen als Augenblick des reinen Entscheidung, einer Entscheidung, die in keinem Tatbestand der Wirklichkeit, sondern nur in sich selbst begründet ist. Der Ausdruck »Entscheidung« ist hier in gewisser Hinsicht problematisch, da es sich um keinen Akt handelt, der in einem bewußten Willen des Subjekts begründet wäre. Der Entscheidungs-Akt ist eine Entscheidung, die nie beschloßen wurde, sondern immer schon beschlossen gewesen sein wird, eine Entscheidung, die im Modus einer sinn- und bedeutungslosen Faktizität, als Faktum, daß sie da ist, weil sie da ist, festharrt. Es handelt sich um die Entscheidung »das ist es«, d.h., um eine Entscheidung, das jenes, was Nichts ist, etwa das revolutionäre Drama 1789, die »Revlutionen 1989«, dennoch Etwas, etwa die Errichtung des »bürgerlichen Gesellschaft«, den blinden Fleck der formalen westlichen Demokratie, darstelle. Diese Entscheidung wird nicht etwa von einem arbiträren, der Erkenntnis vorgängigen Willensakt getragen, einem Akt, der immer von der Erkenntis angeeignet werden kann, sondern von jener reinen Sinnlichkeit, wie sie im Gefühlsbegriff der dritten Kritik konzeptualisiert wird, einer irreduzibel subjektiven Dimension der Sinnlich- keit, die nie zum Gegenstand des Begriffes werden kann. Die Postulate der praktischen Vernunft sollen nach Kant die Möglichkeit des Endzweckes, des Weltbesten in der Welt gewährleisten. Sie sind keine Möglichkeitsbedingung des moralischen Gesetzes, sind aber in praktischer 34 . 1. Kant, Streit, S. 358. 3 5 . Ibid. 168 Rado Riha Absicht nötig, um dem moralischen Willen des Subjekts das ihm angemessene (nicht-empirische) Objekt zu geben. Die Möglichkeit des höchsten Guts ist als praktisches Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft gesetzt und die Verwirklichung dieses Objekts ist somit für das Subjekt unbedingte Pflicht. Nun, trotz ihrer objektgebenden Funktion sind die Postulate kaum etwas mehr als ein notdürftiges Behelfsmittel, ein keineswegs vollwertiger Ersatz für das konstitutive Unvermögen des Subjekts, das mögliche höchste Gut auch empirisch zu verwirklichen. Etwas vereinfacht gesagt: mit den Postulaten oder ohne sie, für das moralisch handelnde Subjekt gibt es keine Möglichkeit, durch sein wirkliches Handeln je das Objekt des moralischen Gesetzes zu erreichen. In der Sinnlichkeit des erhabenen Gefühls, wir haben sie in diesem Rahmen nur in ihrer Funktion eines abgründigen Grundes des historisch-politischen Urteils betrachtet, kann aber das Subjekt einen Modus finden, der es ihm möglich macht, das unmögliche Objekt des moralischen Handelns dennoch zu verwirklichen: das unmögliche, sich in seiner wahren, endgültigen Gestalt fortwährend entziehende Objekt, wird als unmögliches erreicht, indem es dem Subjekt gelingt, die Unmöglichkeit, es zu erreichen, selbst sinnlich zu vergegenwärtigen. Dieser Modus der Vergegenwärtigung eines unmöglichen Objekt wird von Kant in der Kritik der Urteilskraft im Rahmen der Bestimmung der Sinnlichkeit des Gefühls im erhabenen Gefühl entwickelt. Das erhabene Gefühl ist nämlich genau in dem Maße das Subjektiv-Sinnlichste der Sinnlichkeit, als es von einem Moment der Sinnlichkeit des Subjekts gebildet wird, das nie Erkenntnis-Objekt werden kann, das aber gerade in dieser Unerkennbarkeit der Reflexion zugänglich ist. Die Sinnlichkeit des erhabenen Gefühls ist nicht ein irgendwo in den »Tiefen der Subjektivität« vergrabener, sich jeder sprachlichen Äußerung sperrender inhaltliche Reichtum. Sie ist vielmehr nur in dem Maße das Subjektivste im Subjekt, in dem sie vom Subjekt als Etwas ihm absolut Fremdes, ihm Heterogenes anerkannt werden kann: als Etwas, was im Subjekt bloß da ist, bloß persistiert, aber gerade in diesem seinen bloßen Dasein für die Konsistenz des Subjekts, für sein Subjekt-Sein notwendig ist. Das erhabene Gefühl ist der Punkt, an dem der (ideale), bedeutungsvolle Sinn sich unmittelbar in den trägen, bloß daseienden, sinnentleerten (körperlichen) Sinn verkehrt, zu einem Moment wird, das nicht mehr etwas für ein anderes repräsentiert, sondern nur noch als Sinn ohne Bedeutung persistiert und als socher denkbar ist. Was dem historisch-politischen Urteil das Merkmal einer wirklichen geschichtlichen Tat gibt, ist das Vermögen des ästhetisch urteilenden Subjekts, sich mit einem objekthaften Moment auseinanderzusetzen, mit dem sich sein subjektives Urteil notwendig artikuliert, das aber im Urteil selbst nicht artikulierbar ist: das Vermögen des urteilenden Subjekts, sich selbst durch dieses Moment des Sinns ohne Bedeutung hindurch zu identifizieren. Wenn also das reflektierende Subjekt das reale geschichtliche Geschehen anhand Kant in praktischer A bsicht 169 eines realen Ereignisses ästhetisch beurteilt, etwa als »Fortschritt zum Besseren« oder als »demokratische Widerfindung«, dann greift es damit zwar in die Kette der Ereignisse ein. Aber indem es seinen Urteilsakt auf dem (kantisch verstandenen) »Gefühl«, dem Sinn ohne Bedeutung gründet, bleibt es dieser signifikanten Ereignis-Kette, in der jedes Ereignis nur existiert, insofern es etwas für ein anderes Ereignis repäsentiert, gleichzeitig äußerlich. Ästhetisch urteilend ist das Subjekt in der Verkettung der Ereignise nur als ihre Unterbrechung, als ihr radikaler Bruch anwesend. Seine Äußerlichkeit ist also keineswegs die Äußerlichkeit eines die realen Ereigisse immer schon »tragenden«, sie aber gleichzeitig transzendierenden, unerreichbaren SinnesHorizontes: das Subjekt macht sich in seinem Urteil nicht zum empirischen, unvollständigen Träger eines jedes empirische Urteil übersteigenden Allgemeinen, etwa der Fortschrittsidee, der Demokratie... Es ist nicht im Namen einer Idee tätig, es ist vielmehr, könnte man sagen, im Namen von etwas tätig, was nichts ist als sein eigener Namen: im Namen des Sinnes ohne Bedeutung, des abgründigen Grundes seiner Urteilskraft36. 36 . Und wenn die Zeitgenossen der Französischen Revolution fähig waren, sich durch die Wirnisse der revolutionären Ereignisse 1789, ja, durch den jakobinischen demokratischen Terror hindurch mit ihr als einem Punkt des »Fortschritts zum Besseren« zu identifiziren, dann kann angesichts des »jugoslawisches Beispiels«, einem festen Bestandteil der »demokratischen Revolutionen 1989« nur noch ein klägliches Versagen des westlichen Publikums festgestellt werden - ein Versagen sowohl der europäischen Realpolitik wie der europäischen Intelektuellen. Zehntausende mussten mit ihrem Leben die Unfähigkeit der westlichen Demokratie bezahlen, Unzählige bezahlen sie heute noch, in den jugoslawischen Geschehnissen ihr demokratisches Ereignis zu benennen, das politische Vorgehen des nördlichen Teiles des Landes, das dem sich universalistisch gebenden, aber nichts als selbstgenügsamen Blick Europas als prä-modern und un-europäisch erschien, als das zu beurteilen, zu was es schließlich von den Akteuren selbst gemacht wurde, als Demokratie in actu. Um Mißverständnissen vorzubeugen: das Vorgehen des Nordens als demokratisch anzuerkenennen bedeutet bei weitem nicht, den »demokratischen« Norden gegen den »totalitären« Süden, also den Konflikt zwischen der demokratischen Organisationsform des Gesellschaftlichen und der totalitären Organisationsform des Gesellschaftlichen, um den es in Jugoslawien vom Anfang an ging, auf einen einfachen Kampf zwischen Gut und Böse zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, daß durch eine solche Beurteilung die europäische Politik auch imstande wäre zu erkennen, daß sich und wie sich die Trennungslinie zwischen Demokratie und Totalitarismus auch in den vom Demokratisierungsprozes schon ergriffenen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens wiederholt.