CJI o
cr> cn

56803  '

<y


j

Das Darferwesen

der

Slaven in Bohmen.

Safes

Betrachfef an der Hand der Versammlung des prager
altcechischen Parteitages.

Yon einem osterreichischen Patrioten.


Laibach.

Vei’legt von Karl Hribar. — Druck del* „Narodna Tiskama"

1889.

Das Parteiwesen der Slaven in
Bohmen.

Verlauf

nnd Ergebniss der zu Prag am 16. September 1888
abgehaltenen Beratbung der altcechischen Partei Bohmens, wie
sie auf Grand stenographischer Aufzeichnungen veroffentlicht
wurden, baben unter den Slaven unserer Monarckie im Allge-
meinen, insbesondere aber bei uns in Miihren, Enttauschung her-
vorgerafen und ein unheimliches Gefiihl geweckt, dessen sicli,
wie ich aus glanbwurdiger Quelle vernehme, auch unsere Stammes-
genossen in Bbhmen, bei welcken das slavisclie Gefiihl dureh das
specifische Ceebenthum noch nicht erdruckt ist, nickt erwehren
konnen. Und es hat leider seine guten Griinde.

Sehon der Umstand, dass der in deutscher Spraehe erschei-
nende altcechische Moniteur (Politik) so weit geht, der berathen-
den Versammlung die hochtonende Benennung und Bedeutung
eines Nationalcongresses beizulegen hat allgemein verletzt, da es
ja bekannt ist, auch nicht bestritten wird, dass die Versammlung
ausschliesslich von den Fiihrern der altcechischen Partei Bohmens,
behufs ihrer Rechtfertigung, also im eigenen Interesse einberufen’
und folgerichtig von der im starken Aufnehmen begrilfenen Gegen-
partei ebensowenig besucht wurde und verniinftigerweise besucht
werden konnte, wie von den Slaven Mahrens und Schlesiens.
Derartige Ueberhebungen der Altcechen und ihrer Pressorgane
sind allerdings nichts Neues; allein dieser Umstand ist mit ein
Grand, der uns nothigt, gegen dieselben endlich einmal offen
Stellung zu nehmen und die einschlagige altcechische Taktik,
bevor wir noch in das Meritum eingehen, zu beleuchten.

Die Slaven Mahrens, ob sie nun zu den Hanaken, Wlachen
oder Slovaken zahlen, werden ebenso wie unsere schlesisehen
Stammesgenossen und selbst die Slovaken Ungarns, eben von den
Altcechen Bohmens nicht nur zu den fiechoslaven, was sie sind,
sondern sogar zu den sich von den Slaven allmalig absondernden

4

Cechen reinsten Wassers, was sie nicht sind,*) gezahlt, so oft es
sich um die Fvihrung des Beweises handelt, dass die Cechen,
mit Hinblick auf ihre Zahl, naturliche Begabnng und Entwicke-
lung den, Deutschen und Magyaren nicht nachstehen, den ubrigen
Volksstammen der Monarohie aber sogar voranstehen; daher in
Anbetracht dieser wesentlichen Umstande, sowie mit Rucksicht
auf ihre bewahrte Treue dem Thron und Reich einerseits und -
ihre riesigen Leistungen an Blut- und Geldsteuer andererseits,
eine ausnahmsweise Beriicksichtigung, insbesondere eine ihrei
historischen Vergangenheit entsprechende staatsrechtliche Sonder-
stellung zu beanspruchen wol berechtigt seien.

Diese Ansprtiche in der Oeffentlichkeit, insbesondere im
Reichsrathe zu unterstiitzen, sind die Abgeordneten Mahrens gut .
gemrg, weil sie ja hier als echte unverfalschte Cechen zu figu-
riren ausersehen, dem altcechischen Klub angehoren miissen und
als Mitglieder desselben, vor Allem die auf Bohmen beschrankten
specifiseh cechisehen Anspriiche zu fordern haben, also nur
nebenbei, selbstverstandlich nach vorlaufig, eingeholter Genehmi-
gung der altcechischen Majoritat des Cesky' klub, auch den
mahrischen Aggelegenheiten einige Auimerksamkeit zuwenden
diirfen. Die Altcechen gehen in dieser Richtung bereits so weit,
dass sie die aus der Zeit des Bach’schen Regimes stammende
Bezeichnung der Olmutzer Mittelschule als „slavisches Gymna- * -
sium“ formlich perhorresciren und folgerichtig bei neu entstehen-
den Mittelschulen, selbst wenn diese, wie beispielsweise die Un-
gar'sch-Hradischer mitten unter den Slovaken nicht vom Staate
gegriindet werden, Alles daran setzen, um sie entgegen dem
Wunsche der Bevolkerung nicht als slavische, sondern als ceehische
Lehranstalten zu bezeichnen. Auch hervorragende Manner, wie
beispielsweise der vielfach mit der ungarischen Slovakei verwach-
, sene Miihrer Palacky und die der ungarischen Slovakei entspros-
senen Safafik und Kollar, werden von den Altcechen als unver-
fiilschte Cechen gerne hingenommen, ja mit Vorliebe hingestellt;
weil sie sich sammtlich um das Slaventhum im Allgemeinen und
um das cechoslavische Volk insbesondere unsterbliche Verdienste,

*) Unter dem Worte „Cechen“ versteht man bekanntlich mil- die
Slaven Bohmens, und hiilt an dieser Bezeichnung nicht nur unsere, sondern
selbst die slavische Bevolkeruug Bohmens so test, dass in ihren Mundarten
sogar das Land Bohmen „<5echy“ heisst, und folgerichtig auch der Ausdruck
„in Bohmen” nicht anders als mit n v  Cechach” wiedergegehen wird. Weil
jedoch die Mundarten der Slaven Mahrens, sowie der an diese grenzenden
Schlesier und ungarischen Slovaken mit den Cechischen niiher, als mit
anderen slavischen Dialecten verwandt sind: so werden von den Slavisten alle
diese Mundarten als zu einer, speciell zur Cechoslavischen Qruppe gehih’ig
betrachtet, und stehen sonach die Cechoslaven zu den Cechen, Hanaken,
Wlachen und Slovaken im Verhiiltnisse des Genus zur Species.

5

zugleich als Gelehrte einen europaischen Ruf erworben haben, daher
das specifische Cechenthum zu verherrlichen geeignet erscheinen.

Kurz, die mahrischen und schlesischen Slaven, ja selbst die
Slovaken Ungarns, werden seitens der Altcechen als echte Cechen,
so sehr sie sich auch dagegen strauben mogen, der Welt vor-
gefiihrt und auch behandelt, soweit sie zur Hebung des unver-
fiilschten Cechenthums und zur Fbrderung der specifischen Inter-
essen desselben dienen. Wenn es sich jedoch um eine Unter-
stutzung der Slovaken Ungarns sowie der Slaven Mahrens und
Schlesiens in dem ihnen aufgezwungenen schweren Kampfe um
ihre gefahrdete Nationalitat bandelt: dann — ja dann werden
Alle, die als ledigliche Cechoslaven weit unter den unverfalschten
Cechen zu stehen das Ungliick haben, mit Entschuldigungen oder
Vertrostungen auf eine feme Zukunft abgespeist. An die Slovaken
Ungarns, die sich, so gut sie konnen, selbst helfen mogen, wagen
die Altcechen gar nicht zu denken, da jeder ihrerseits zu Gun-
sten Angehorigen der siidbstlichen Reichshalfte zu unternehmende
Schritt als ein die herrschende liberale Partei der Magyaren ver-
letzendes Rutteln am Dualismus gedeutet werden, daher den
Aspirationen des specifischen Cechenthumes Nachtheil bringen
kbnnte. Zu Gunsten der Slaven Mahrens und Schlesiens werde
zwar, wie die Altcechen versichern, in unauffiilliger Weise fort-
gewirkt, allein eine wesentliche Aenderung ihrer Lage sei vor-
litufig nicht zu erzielen, da man selbstverstiindlich alle Krafte zu
dem Zwecke concentriren miisse, um den specifisch cechischen
Aspirationen innerhalb des Koingreiches Bohmen Geltung zu ver-
schaft'en, wodann sich die Frage, was in der Markgrafschaft
Miihren und im Herzogthum Schlesien zu geschehen habe, von
selbst ergeben werde.

So steht unser Verhaltnis zu den Altcechen, welchen wir vor
Kurzem noch slavisches Gefiihl und slavische Ausdauer, also den
besten Willen uud die erforderliche Kraft zumutheten, um nicht nur
den Slaven Bohmens, Mahrens und Schlesiens, sondern alien Slaven
Oesterreichs die staatsgrundgesetzlich verbiirgte nationale Gleich-
berechtigung zu erkiimpfen. Die einem systemlosen Herumtappen
sowie dem Streben nach unnatiirlichen parlamentarischen Alli-
ancen und deren noch unnaturlicheren Festigung zu dankenden
Misserfolge haben uns eines anderen belehrt. Wir sind mit der
uns von den Altcechen zugetheilten Rolle von Handlangern bei den
zur Yerherrlichung des spcifischen Cechenthumes in Angriff ge-
nommenen, wenngleich unseres Eraehtens erfolglosen Arbeiten
bereits im Reinen; uns hat daher auch die in der Bezeichnung
eines altcechischen Parteitages als „Nationalcongress“ liegende
Anmassung, um nicht zu sagen, Herausfoderung keineswegs
ixberrascht.

Dies, um Allen verstandlich zu sein, vorangeschickt, gehe
ich zur Besprechung der am Parteitage gehaltenen wjchtigeren
Reden und des Endergebnisses der Berathung fiber.

*

* *

Die Rede des hochbegabten, hochgebildeten und, ungeachtet
Seines in neuester Zeit bemerkbaren Wankens, hochverdienten
Dr. Rieger, mit welcher er als Vorsitzender den Parteitag eroffnepe,.
war den Gefuhlen sowie der Auffassung der versammelten Partei-
genossen so ganz und gar angepasst, dass sie ihren Zweck, im
Auditorium eine giinstige und gehobene Stimmung zu erzeugen,
vollkommen erreicht hat. Dass die Rede den Stempel der Rede
Cicero's „pro domo sua“ an sich tragt, ist natiirlieh und thut ihr
keinen Eintrag, ja dir Wert wird durch das oflVne Bekenntniss,
dass es sich zunachst um die Selbsterhaltung der altcechischen
Abgeordneten, also der Fuhrer der Parted, handle, nur erhoht.*)
Vermindert wird jedoch bei alien Nichtparteigenossen die Wirkung
der Rede durch den dieselbe, gleich einem rothen Faden, durch-
ziehende allzu schroffen Standpunkt des sich seiner AutorRiit
bewussten Parteifuhrers, der sich soweit versteigt, den bohtni-
schen Landtag mit der Nation zu identificiren.

Im bohmischen Landtage habcn heute allerdings die Alt-
Sechen die Majoritat, allein diese repriisentieren noch keineswegs
die Nation, sondern nur eine Partei, also einen Bruchteil der-
selben, der, wie der Zweck und Verlauf des Parteitages unwider-
leglich darthat, eben jetzt zu aussergewohnlichen Mitteln greift,
um sich bei der slavischen Bevblkerung Bdhmens zu rehabilitiren ;
dessen Bedeutung daher als unbestimmte schwankende Grosse in
Betracht kommt. Nun wollen wir freilich hoffen, dass die der
guten Sache abtriiglichen Fehden unter den Slaven Bohmens bald
aufhoren, und folgerichtig die Majoritat des bohmischen Landtages
sich thatsachlieh in den Hiinden der gesetzlichen Vertreter der
mindestens in nationalen Angelegenheiten wie ein Mann zusam-
menstehenden Slaven oder, wenn es besser gefallt, Cechen Boh¬
mens befmden werde. Allein selbst in diesem, erst anzuhoffenden
gliicklichen Falle wird sich der bohmische Landtag durchaus nicht
mit der Nation identificiren lassen, ob nun die slavische Bevdl-
kerung Bdhmens, was jedenfalls ihrem Belieben anheim fallt, sich
als hochvorragenden Theil des cecho-slavischen Volksstammes zu
betrachten fortfahrt, oder in Hinkunft, wie es den Anschein hat,
als eigene cechische Nation aufzutreten gewillt ist.

*)  Der einschlagige, wortgetreu dem stenograph]schen Protokolle ent-
nommene Passus lautet: „Ihnen im Interesse der Selbsterhaltung
zu sagen, was wir erlangt haben."

7

Im esteren Falle ist eine Identificirung der Nation rait dem
bohmischen Landtage selbstverstandlich ganz und gar ausge-
schlossen; aber selbst im letzteren Falle erseheint uns die Iden¬
tificirung der cechischen Nation mit einer autonomen Korper-
schaft unmoglich, an deren Berathungen und Besehlussen ver-
fassungsmassig auch die Yertreter der Deutschen Bohmens und
zwar in solcher Anzahl theilzunehmen berulen sind, dass ohne
deren Zuthun die bei der Fassung wichtiger Beschlfisse erforder-
!:che Zweidrittelmajoritat nicht aufzubringen ist. Uebrigens darf
selbst eine weit geringere Minoritat, wenn man nicht nach pol-
nischem oder magyarischem Muster vorgehen will, nicht als Nulle
angesehen und behandelt. auch darf der wesentliche Umstand
nicht fibersehen werden, dass im bohmischen Landtage nebst der
deutschen Minoritat auch der in gewissen Angelegenheiten an
die Cechen durchaus nicht gebundene Grossgrundbesitz Sitz und
Stimme hat ; dieser aber gegebenen Falles nur dem Beispiele des
miihrischen Grossgrundbesitzes zu folgen braucht, um der deu
tschen Minoritat sogar zur Majoritat zu verhelfen.

Angesichts dieser Sachlage ware eine Identificirung des
bohmischen Landtages auch nur mit der cechischen Nation,
selbst wenn sie ebenso moglich ware, wie sie mit Hinblick auf
die alien Volksstiimmen grundgesetzlich verbfirgte Gleichberechti-
gung unmoglich ist, vom Uebel, da sie im gfinstigsten Falle als
ein zweisclineidiges, nach Belieben gegen eines der beiden ha-
dernden Volker erfolgreich zu benutzendes Schwert in Betracht
gezogen werden mfisste. Und hierin liegt der Grand, warum die-
selbe Bevolkerung Bohmens, welche bei Erlassung der dermalen
in Kraft stehenden Schulgesetze klagte, dass das Schulwessen den
Hiinden der Nation entwunden wurde, sich heute auch gegen die
Absicht wehrt, dasselbe Schulwesen dem Landtage und anderen
nicht nationalen Korperschaften zu unterstellen. Nicht Incon-
sequenz und boser Wille, wie Dr. Rieger in seiner Eroffnungsrede
betonte, bilden hiebei die Triebfedern, sondern Consequenz und
das aufrichtige Streben, das Recht der Wahrung und Pflege der
Nationalitiit und Sprache, gemiiss dem Sinne und Wortlaute des
Artikels XIX, des Staatsgrundgesetzes fiber die Rechte der Staats-
bfirger auf jedem Gebiete, daher insbesondere auf dem der Schule,
dem Volksstamme unversehrt zu erlialten und f-lgerichtig an
keine nichtnationalen Organe zu ubertragen.

Dr. Rieger ist in neuester Zeit viel zu sehr mit specifisch
cechischen Angelegenkeiten beschiiftigt, um Mahren und Schle-
sien sowie der Zusdinmensetzung der Landtage dieser beiden
Schwesterlander seine Aufmerksamkeit zuwenden zu konnen; fiber-
raschen wird ihn jedoch die Thathsache nicht, dass es unter den
Slaven der gedachten Liinder und, wie ich anzunehmen Grand habe,

8

auch der Steiermark, Karntens, Gorica’s und Gradisca’s, Triest’s
und Istriens keine Fartei gibt und geben kann, welche nicht das
Schulwesen weit lieber in den Handen der Regierung als der
Landtage zu sehen wiinschte. Dagegen gibt es allerdings eine
nicht zu unterschatzende Partei, zu welcher zu zahlen auch ich
die Ebre habe, die den Einfluss der Geistlichkeit auf das Schul¬
wesen fur erspriesslich, ja nothwendig halt. Allein selbst diese
Partei will das grundgesetzlich dem Volksstaname zustehende Recht
wahren, daher dem einschlagigen Staatsgrundgesetze in keiner
Weise prajudiciren; hegt vielmehr den Wunsch, dass bis zur
Durchfiihrung dieses Staatsgrundgesetzes, beziehungsweise bis zur
Activirung der von demselben vorausgesetzten autonomen natio-
nalen Organe, keine Aenderung platzgreife und erst von einem
solchen den Volksstamm als jurist.ische Person gesetzlich vertre-
tenden Organe der Geistlichkeit auf das Schulwesen ein ange-
messener Einfluss eingeraumt, werde. Wir konnen uns dessen
riihmen, dass bei uns auch die Geistlichkeit, so weit dies ihre
Stellung gestattet, patriotisch fuhlt.

Ich glaubte mich mit diesem Theile der Rieger’schen Er-
offnungsrede eingehender befassen zu sollen, da er mil- an Wichtig-
keit die ubrigen Theile weit zu iiberragen scheint, ich iiberdies
die Ueberzeugung hege, dass die bei dieser Gelegenheit gestreifte
ganz unslavische Sucht der Altcechen, den unverwustlichen, weil
naturwiichsigen Organismus des Volksstammes*) oder, wenn es
besser gefallt, der Nation, selbst des den Volksstammen durch
ein Staatsgrundgesetz ausdriicklich und ausschliesslich zuerkannten
Rechtes der Wahrung und Pfiege der Nationalitat und Sprache
im Allgemeinen, also auch in der Schule, zu entkleiden, um alle
seine Functionen an veriinderliche, weil kunstlich oft sogar ge-
waltthatig gebildete und erhaltene politische Organismen zu tiber-
tragen, jene Missverstandnisse und Fehden hervorgerufen hat,
welche wir heute v  unter den Slaven Bohmens zu beklagen haben.

Hatte der Cesky klub im Abgeordnetenhause des Reichs-
rathes, wo er unter die zahlreichsten gehort und auch hin-
sichtlich der Befahigung und Thatkraft seiner Mitglieder minde-
stens keinem anderen nachsteht, nicht darin seine Hauptaufgabe
gesucht, fiir Bohmen eine besondere, den Rahmen der Verfassung
tiberschreitende staatsrechtliche Stellung zu erwirken und fiir die
Liinderautonomie oder den sogenannten Landerfoderalismus im
Allgemeinen einzustehen: so hatte er sich gleich nach seiner
Bildung, also nach dem Wiedereintritte der slavischen Abgeord-

*) Die Naturwuchsigkeit des Organismus der Volksstiimme veranschau-
lichen in sehr belehrender Weise die reichsrathlichen IClubs, in welchen wir
in der Rogel nicht die Angehorigen eines Landes, sondern die Stammesge-
nossen verschiedener Lander vereinigt finden.

9

neten Bohmens in das Abgeordnetenhaus, oder doch seit dem
Erscheinen der Beust’schen Memoiren, welche den Erfolg seiner
obigen Bemiihungen mindestens als hoehst zweifelhaft erscheinen
Hessen, ernstlich und vor Allem fiir die Durchfiihrung des Arti-
kels XIX des Staatsgrundgesetzes ixber die Rechte der Staats-
biirger einsetzen konnen. Dies hatte dem Klub die serbocroati-
schen und slovenischen, wahrscheinlich aucb die rumanischen Ab-
geordneten zugefiihrt, was sein Ansehen, seinen Einfluss vermehrt
und seine Mitglieder vor jenen Widerspriichen bewahrt haben
wiirde, welche sie sieh dureh die mitunter vorgekommene cumu¬
lative Betonung sowol der Landesautonomie als der nationalen
Gleichberechtigung insoferne schuldig machten, als sich Beides
sehon in der Theorie, noch mehr aber in der Prax, sobald man
Lander mit gemischter Nationalitat vor Augen hat, schwer ver-
einigen liisst.

Der Erfolg, das heisst die Errichtung und Activirung auto-
nomer nationaler Organe fiir jeden Volksstamm, ware angesichts
des Wolwollens, welches die dermalige vielvermogende Regierung
schon vermoge ihres Programmes alien Volkern Oesterreichs gleich-
miissig zuwendet, kaum ausgeblieben, und die heute gegen die
altcechischen Fiihrer selbst innerhalb der eigenen Partei sich
vielfach erhebenden Anschuldigungen, deren Dr. Rieger in seiner
Eroffnungsrede gedacht, hatten gar nie auftauchen konnen. Wie
hatte es Jemand auch nur wagen diirfen, angesichts einer solchen
Errungenschaft, welche die Wahrung und Pflege der Nationalitat
und Sprache, also der kostbarsten Gliter dem Volksstamme er-
moglichend, zugleich den nationalen Frieden nachhaltig einzubur-
gern allein geeignet ist, mit Anschuldigungeij gegen Diejenigen
aufzutreten, deren muthigem und erfolgreichem Auftreten diese
Errungenschaft in erster Linie zuzuschreiben gewesen ware ? Die
Activirung der autonomen nationalen Organe hatte ja den ge-
sammten Volksstamm zu unbeschreiblicher Begeisterung und zur
Entfaltung einer Thatigkeit hingerissen, welche nicht nur Partei-
gegnern, sondern selbst personlichen unversohnlichen Feinden der
altcechischen Fiihrer den Mund nachhaltig gestopft haben wiirde.
Heute stehen die Sachen ganz anders.

Die Art und Weise der heftigen und riicksichtslosen An-
griffe, welchen dje Mitglieder des Cesky klub seitens einiger Jung-
cechen ausgesetzt sind, findet zwar im Allgemeinen keine Billi-
gung und ware liingst der allgemeinen Verurtheilung anheim ge-
fallen, wenn nicht auch die altcechische Partei sich leider der-
selben Kampfesweise b’ediente, wie denn auch am altcechischen
Parteitage bei Bezugnahme der Redner auf das Vorgehen der
Gegner sich sofort Rufe „hanba“ (Schande) und dergleichen horen
Hessen, welche die gegenseitige Erbitterung der Parteien selbst-

10

verstandlich steigern und schon aus Rucksichten des Anstandes
gemieden warden sollten. Allein hievon abgesehen, lasst es sich
nicht leugnen, dass diese Angriffe als unmittelbare Folge des mehr-
jabrigen ungliicklichen Vorgehens des Cesky klub in Betraeht
kommen, daher ihrem Wessen nach nicht unberechtigt erscheinen,
zumal Abgeordnete als Mandatare der Bevolkerung, dieser ihre
Ansichten aufzudringen in keiner Weise berechtigt sind.

Dass aber die Ansichten eines sebr nambaften Theiles der
slavischen Bevolkerung nicht nur Mabrens und Schlesiens, son-
dern selbst Bohmens von jenen des Cesky klub abweichen, wurde
durch Dr. Rieger und andere Parteiflihrer ausdrueklich anerkannt,
ist uberdies schon durch die Einberufung des Parteitages ausser
Zweifel gestellt. Ob die Ansichten der Mandanten riehtiger seien
als die ihrer Mandatare, ist eine andere Frage; allein das Recht
der Mandanten ihre Ansichten fur die wichtigeren zu halten,
steht meines Erachtens ebenso unanfechtbar da, wie das Recht
eines Theiles der cechischen Abgeordneten Bohmens, seine von
jenen des anderen Theiles abweiehende Ansichten zu vertreten
und zu verbreiten. Man kann ja doch liber den Wert der das
sociale Gebiet streifenden Gesetze und selbst liber das wtinschens-
wiirte Verhaltniss der Abgeordneten Bohmens zur Regierung ver-
schiedener Ansicht sein *) Man kann die Ausdehnung des Wirkungs-
kreises nicht nationaler Organe auf das Schulwesen, wie bereits
eben erortert wurde, gefahrlich, ja verderblich und den durch
ein Staatsgrundgesetz verbiirgten Rechten des Volksstammes priiju-
dicirlich finden. Man kann selbst einer gegen die Branntweinpest
gerichteten Flugschrift, mit Hinblick auf den Zeitpunkt ihres Er-
scheinens oder anderer Umstiinde, mancherleirMotive zuschreiben;
man kann sogar die Projectirung und Forderung nicht natio¬
naler Banken, iiberhaupt nichtnationaler Landesinstitutionen durch
cechische Abgeordnete als abtraglich bezeichnen, ohne dass die
Letzteren berechtigt waren, dariiber auch nur die Nase zu
riimpfen.

Die dem gegeniiber von Dr. Rieger an zwei Stellen seiner
Eroffnungsrede aufgestellten und von der Versammlung mit stiir-
misehem Applaus aufgenommenen B' hauptungen sind nicht nur
unbegriindet, sondern stellen das Verhaltniss der Abgeordneten zu
der von denselb n n vertretenen Bevolkerung und das ganze Wesen

*) Bei uns findet die Ansicht der jungCechischen Partei, dass der
Regierung Opposition zu machen sei, keinen Anldang, und dies setze ich
auch von den Ceehen Bohmens voraus, zumal auch diese nicht verkennen
durften, dass die dermalige Regierung von den besten Absichten beseelt sei.
Das Treiben zur Opposition schadet daher nur der jungCechischen Partei,
welcher es jedoch ebenso wie das Vertreten jeder anderen Ansicht unbe-
nommen bleiben muss.

11

unserer Constitution so auf den Kopf. dass sie besser unterblieben
waren. Ware eine dieser Behauptungen, wornach angesichts ernster
Fragen und verwickelter Situationen zur Bcurtheilung der Tha-
tigkeit der Abgeordneten, die Kenntniss nicht nur der Verhaltnisse
Bohmens und Oesterreiciis im Allgemeinen, sondern auch der
Verhaltnisse im Reichsrnthe erforderlich sei, stichhaltig: dann
diirfte sich liber das Thun und Lassen der Abgeordneten iiber-
haupt kein Niehtabgeordneter ein UrtheiJ zu bilden erlauben,
zumal der wichtigste Theil der Abgeordnetenthatigkeit, wie Dr.
Rieger ausfuhrte, in die commissionellen Verhandlungen und in
die Berathungen mit den Ministern verlegt ist. iiber welche die
Geschichte sehweigt, das heisst, kein Uneingeweihter, kein Nicht-
abgeordneter Etwas erfahrt.*)

Ware die ande.re dieser Behauptungen auch nur halbwegs be-
griindet: dann miisste schon gar jede, wie immer geartete Kritik der
Abgeordnetenthatigkeit fiir immer verstummen. Dr. Rieger behanptet
niimlich, dass es ganz unstatthaft sei, wenn die Nation, insbe-
sondere die sich als Patrioten gerirenden Angehorigen derselben,
den Abgeordneten das Handeln und Arbeiten als Pflicht zumu-
then, fur sich aber das Reclit der Kritik in Anspruch nehmen;
da dies gleich bedeutend ware mit einem an den Abgeordneten
gerichteten Zurufe: „Du wirst den schweren Pflug der nationalen
Arbeit schlepen und icli — ich werde dich peitschen."

Sonderbave Auffassung! Ist sich denn nicht jeder Candidat
eines Abgeordnetenmandates dessen bewusst, dass es seine Pflicht
sein werde, zu handeln und zu arbeiten? Wird denn irgend Je-
mand zum Abgeordneten gewahlt, ohne ihm die Pflicht des Han-
delns und Arbeitens zuzumufhen? Oder liegt etwa darin eine
Herabsetzung der Stellung des Abgeordneten, wenn man sein
Handeln und Arbeiten als Pflicht ansieht und bezeichnet? Oder
sichert irgend Jemanden das ihm durch die Wahl zutheilgewor-
dene Abgeordnetenmandat den Vorzug einer jede Kitik ausscldies-
senden Unfehlbarkeit?

Allerdings ware die Stellung eines Abgeordneten angenehmer,
wenn er statt hinsichtlich seiner Wirksamkeit eine Kritik be-
fiirchten zu mtissen, vielmehr berufen ware, am Verhalten und
sogar an den Ansichten seiner Mandanten so unnachsichtige Kritik
zu iiben, wie sie am Parteitage in der That geiibt wurde; vor-
laufig jedoch sind wir noch nicht so weit. Das Recht der Volker
an der Wirksamkeit ihrer Abgeordneten Kritik zu iiben, von diesen
sogar Rechenschaftsbericbt entgegenzunehmen, kann als sebst-

*) Man konnte hier leicht zu der Annahme verleitet werden, dass
Dr. Rieger vielleieht die Kritik der jungfiechischen Abgeordneten far zulassig
erachte. Dem ist jedoch nicht so, wie dies der ganze Verlauf des Partei-
tages ausser Zweifel stellt.

12

verstandlich ebenso wenig einem Zweifel unterliegen, wie die
Pfiicht der Abgeordneten, im Geiste und Interesse der sie wah-
lenden Volker zu handeln and zu arbeiten. Wer sich mit diesen
naturgemassen Rechten und Pfiichten nicht zu befreunden ver-
mag, dem stehen die Reihen der Kritiker, in welche er jeden
Augenbliek zuruektreten kann, offen, und werden sich hoffentiich
Andere bnden, die den schweren Pflug der nationalen Arbeit zu
ziehen bereit sind, ohne sich die Kritik ilirer Committenten zu
verbitten.

*

* *

Der Eroffnungsrede des Dr. Rieger folgte eine eingehende
Schilderung der Entwicklung des eeehischen Unterrichtswesens
im letzten Decennium durch Profesor Kvicala, der des Congresses,
zu welchem die Vertreter der autonomen Organe der Nation ein-
berufen wurden, gedenkend, sofort sein specifisches Cechenthum
documentirte, welches durch das, was ausserhalb der Grenzen
Bohmens vorgeht, kaum beriihrt wird.

In der That bat er in seiner Rede Schlesiens mit keiner
Silbe gedacht, die Verhaltnisse Mahrens aber nur insoferne ge-
streift, als ihm selbst die leider allzugeringen Fortschritte unseres
slavischen Schulwesens geeignet schienen, die Wirksamkeit des
Cesky klub, welchem bekanntlich auch die slavischen Abgeord¬
neten Mahrens angehoren, zu verherrlichen.*) Und diese Rede
enthalt viele statistische Daten und Ausziige aus den Staats-
voranschliigen, war dalier wol durchdacht, sorgfaltig ausgearbeitet
und ist von solchem Umfange, dass der Mangel einer etwas ein-
dringlicheren Schilderung der Verhaltnisse des mahrischen Schul¬
wesens sowie das ganzliche Todtscliweigen dieser Verhaltnisse
im Schwesterlande Schlesien nicht als zufallig in Betracht ge-
zogen werden kiinnen. Diese Behandlung der Slaven Miihrens
und Schlesiens ist, wie schon oben ausgefiihrt wurde, allerdings
nichts Neues, wie denn die Rede tiberhaupt nicht viel Neues
bietet; sie ist jedoch interessant durch das, was sie im Interesse
der Partei todtschweigt, sowie durch manche Bekenntnisse,
welche sie enthalt.

Die Rede kehrt sich vor Allem v gegen die Anschuldigungen,
welche die Gegenpartei gegen den Cesky klub erhebt, als ob
dieser im Laufe eines Decenniums, wo er die festeste Stutze des

*) Andererseits entfaltet jedoch Profesor Kvidala uns gegeniiber, was
nicht verschwiegen werden darf, eine besondere Liebenswiirdigkeit, indem er
uns ausdriicklich der Bezeichnung als „bohmische Briider in Mahren“ wiir-
digt. De verbis quantum vis; freilich ist die, wortgetreu dem von der Po-
litik gebrachten stenographischen Protokolle entnommene Bezeichnung zwei-
deutig, und diirfte manchen slavischen Miihrer sogar hochst unangenehm
beriihren.

13

dermaligen Regierungssystemes bildete und schwere Opfer bi^chte,
Nichts oder doch kaum Etwas erreieht und dadurch den sicht-
baren Niedergang der cechischen Bevolkerung Bdhmens verschuldet
hatte. Die tiefgehende Beunruhigung der cechischen Bevolkerung
sei allerdings eine Thatsache, diese jedoch entquille den leidigen
volkswirtschaftlichen Verhaltnissen, von welchen nicht nur die
bohmische,  sondern die Gesammtbevolkerung des Landes (Bob-
men)*) gleichmessig betroffen werde, an welcher daher der
Oesky klub keine Schuld trage. Debrigens sei es von dieser* nicht
zuleugnenden Calamilat noch weit zum Zugrundegehen des cechi¬
schen Volkes; das unmannliche, unn’utze und hochst schadliche
Gewinsel, sowie die darauf fussenden Mahnrufe der Gegenpartei
zur Umkehr auf dem vom Cesky klub bisher verfolgten Wege
entbehren daher jeder haltbaren Grundlage und kommen lediglich
als eine unritterliche AngriffsWaffe in Betracht.

Es ist das eine vielfache schwere Anschuldigung, welche
Professor Kvicala der Gegenpartei ins Gesicht schleuderte, allein
die Berechtigung derselben zu erweisen hat er unterlassen, was
jedem Nichtparteimanne nur auffallen kann. Es mag sein, dass
er als speciell zur Nachweisung der Errungenschaften auf dem
Gebiete des offentlichen Unterrichts ausersehen, sich nicht berufen
fuhlte seine Anschuldigungen zu begriinden; allein diesen Fall
vorausgesetzt, ware es wol kliiger gewesen sich zu demselben
tiberhaupt nicht hinreissen zu lassen. Unerwiesene Anschuldi¬
gungen des Gegners in einer offentlichen Bede bringen einen
peinlichen Eindruck hervor und erwecken den Verdaeht, dass
der Redner, besonders wenn er vor seinen Parteigenossen spricht,
der Herabsetzung des gemeinsamen Gegners nicht entbehren
konne, um dem Auditorium den Kern seiner Rede, welcher ihm
selbst keine besondere Zuversicbt einflosst, annebmbar erscheinen
zu lassen. Ich werde auf diesen Gegenstand bei einem anderen
Anlasse noch zuruckkommen und wende mich der Besprechung
des weiteren Inbaltes der Rede zu, zumal dieser den Kern der¬
selben bildet und fur uns Mahrer von ganz besonderem Inte-
resse ist.

Den offentlichen Unterricht betreffend, wird in der Rede
besonders hervorgebioben, dass naeh dem vor nahezu einem De-
cennium stattgehabten Wiedereintritte der cechischen Abgeord-
neten Bdhmens in das Abgeordnetenhaus des Reichsrathes, von
denselben ein umfassendes Promemoria uberreicht wurde, „welches
die Wiinsche der Nation in Betreff der Universitat, der Mittel

*) Ja ist denn nicht die gesammte Bevolkerung Bohmens eine boh-
misclie? Ich habe das stenographische Protokoll der Zeitsehrift „Politik“
vor mir und schreibe diese absonderliche Ausdrucksweise einem Verstosse
derselben zu.

14

und §nderer Sehulen enthielt*; und er kdnne nach wiederholtem
gewissenhaften und griindlichen Priifen behaupten, dass der grosste
Theil dieser Wiinsche, welche in jenem Promemoria enthalten
sind, schon erfiillt worden ist.“ Wir gratuliren aus vollem Herzen
zu den glanzenden Erfolgen des specifischen Cechenthumes und
finden es bei den Eingangs geschilderten Verhaltnissen desselben
zu den Slaven im Allgemeinen, daher aueli zu den Ceehoslaven
erklarlich, dass in einem die Wiinsche der Nation  in Betreff
des Sfehulwesens enthaltenden Programme, die Wiinsche der Slaven
Mahrens und Schlesiens keinen Platz finden konnten. Wir ver-
argen es auch dem Professor Kvicala und den ihm zustimmenden
Parteigenossen durchaus nicht, wenn sie die, auf das Schulwesen
gerichteten Wiinsche der cechischen Nation bereits als erfiillt
ansehen und angesehen wissen wollen, ohne bei diesem wichtig-
sten Passus der ganzen Rede des Schulwesens der Slaven Mah¬
rens und Schlesiens, die hier als Stallage schlechterdings nicht
zu beniitzen waren, auch nur mit einem Wortchen zu gedenken.

Debergehend auf das im Jahre 1882 erlassene Gesetz, dem-
gemass die Prager Carolo-Ferdinandaische Universitat in zwei
Theile getheilt wurde, fand Professor Kricala einerseits die hohe
Wichtigkeit dieser Errungenschaft, anderseits die iiberaus grossen
Schwierigkeiten, mit welchen die Erkiimpfung derselben verbunden
war, hervorzuheben, um die Verdienste des Cesky klub, welchem
die Errungenschaft vorzugsweise zu danken sei, in das gehorige
Licht zu stellen. Er bekennt jedoch zugleich, dass es dem Cesky
klub nicht gelungen sei, seinen, eigentlich auf die Durchfiihrung der
vollen nationalen Gleichberechtigung an der einheitlich zu belassen-
den Universitat gerichteten Anspriichen Geltung zu verschaffen, da
die deutschen Abgeordneten, die am liebsten Alles beim Alten
gelassen haben wiirden, sich ftir eine zu Prag neu zu errichtende
fiechische Universitat ausprachen, und auch die Regierung con¬
stant den Standpunct vertrat, dass von dem Postulate der zu
erhaltenden Einheit der Universitat abzusehen sei, da auch ohne
diese den Wiinschen der Cechen Rechnung getragen werden
konne.

Hiernach_ betraf der Unterschied zwischen den von den
Gegnern des Cesky klub  vertretenen und den von der Regierung
festgehaltenen Standpunkten weniger das Wesen als die Form;
wenn sich daher der Cesky klub schliesslich, wie Kvicala zugibt,
den Anschauungen der Regierung, welche liber eine Majoritat
verfugen konnte, fugte: so ist es kaum zu begreifen, worm die
iiberaus grossen Schwierigkeiten bestanden haben mogen, welche
dem Zustandekommen des bezogenen Universitiitsgesetzes an-
geblich entgegenstanden. Uebrigens hat der Cesky klub die Auf-
rechthaltung der Einheit der Universitat, an welcher ihm aus

15

nationalen Riicksichten zumeist gelegen sein musste, nicht durch-
gesetzt; vieimelir durch die acceptirte Theilung der alten Univer¬
sitat die sonst kaum denkbare Begrundung einer reindeutschen
Hochschule in der Hauptstadt Bohmens, wie sie zur Zeit der
Theilung lange nicht mehr bestand, ermoglicht. Wenn hiebei der
Cesky klub, was _ihm in der Rede als besonderes Verdienst an-
* gerecbnet wird, „den Standpunkt vertheidigt und denselben auch
siegreich  gewahrt hat, dass die altehrwurdige Carolo-Ferdinan-
dai’sche Universitat in zwei gleich alte und gleich neue
und g leichberechtigte Theile getrennt  werden soil:"
so ist das insoferne ein schwacher Trost, weil ja gerade die
Theilung zu beklagen ist; die Gleichberechtigung der cechischen
mit der deutschen Hochschule aber, wie Professor Kvicala selbst
gesteht, noch immer unter die frommen Wunsche gehort, da die
erstere der theologischer Facultat ermangelt und bezuglich der
Priifungen an der juridischen Facultat einseitig zum Schaden
der cechischen Studenten an driickende Normen gebunden ist.

Wie bei so bewandten Umstanden die thatsachlich durch-
gesetzte Theilung der Prager Universitat in eine cechische und
deutsche als grossartige Errungenschaft der Nation hingestellt
werden kann: ist schwer zu begreifen, zumal die Begriffe „gross“
und „klein“, „grossartig“ und ! ,kleinlich“ zu den relativen zahlen,
und in der diesseitigen Reichshalfte ein Volksstamm nur zu be-
kannt ist, der selbst dem specifisch cechischen an JZahl, Ent-
wicklung, Steuerfahigkeit, Verdiensten, kurz in jeder Hinsicht
weit nachsteht und dennoch sogar mit zwei, anderen Hochschulen
ganz ebenburtigen Universitaten bedacht ist. Aber selbst ab-
gesehen von dieser ausnahmsweisen, wir wollen hoffen, voruber-
gehenden Begiinstigung eines Volksstammes, hatten die ! Cecho-
slaven unserer Reichshalfte, *) wol Anspruch auf eine eigene natio-
nale Universitat. Die beiden grosseren Volksstamme der dies¬
seitigen Reichshalfte, der deutsche namlieh und der cechoslavische
halten sich ja, wenn von der, alien Volksstammen gemeinsamen
Reichs-Haupt- und Residenzstadt abgesehen wird, an Kopfzahl nicht
minder als an den zu tragenden Lasten so ziemlich das Gleich-
gewicht und verhalten sich, selbst mit Einrechnung Wiens, also
im ungunstigsten Falle, zu einander wie 100 zu 75. Wenn daher
die deutsche Sprache thatsachlich an fiinf Universitaten unbedingt
herrscht: so kann dock in einem Rechtsstaate, dessen Grund-
gesetze die nationale und sprachliehe Gleichberechtigung alien
Volksstammen in gleicher Weise gewiihrleisten, das Zugestandniss

*) Die specifischen Cechen mogen es nail -  nicht yeriibeln, wenn ich
hier, wo von Hohenschulen die Eede ist, cumulativ von Cechoslaven spreche
and zu diesen und zwar ersten Orts auch die reinen unverfillschten Cechen
Bohmens zu zahlen mil -  erlaube.

16

einer einzigen Universitat mit cechoslavischer Sprache wol kauni
unter die grossartigen Errungenschaften geziihlt werden.

Ausserdem wird in der Rede auf die Fortschritte in den
mittleren und sonstigen Lehranstalten hingewiesen, und liisst es
sicli nicht leugnen, dass diese, wenn man, gleich Kvieala Miihren
nur streifend, von Schlesien aber ganz absebend, sich lediglicli
auf Bbhmen beschriinkt und sich auf diesem Gebiete mit Ziffern
iiberhaupt begnilgt, sehr erfreulieh sind. \Venn aber in einer den
Beweis der segensreichen Wirksamkeit des Cesky klub anstrebe 2 nden
Rede auch auf die, zunachst dem lobenswerten Eifer ein^ einer
Gemeinden oder Privatvereine zu dankenden gunstigen Erge fnisse
* auf diesem Felde, besonderes Gewicht gelegt wird: J so is dies
des Guten wol zu viel und erweckt den Verdaeht, als ob auch
in dieser Richtung die Bemiihungen des Cesky klub nicht iiber-
massig gewesen wiiren. Gesteigert wird dieser Verdaeht durch
das ganzliche Verschweigen des wesentlichen Umstandes, dass
das Schulwesen, Dank der Regierung und ihren Organen, auch
in anderen Landern Oesterreichs erfreuliche, mitunter rapide Fort¬
schritte wahrnehmen liisst, dass es daher nicht auffallen konnte,
wenn auf diesem Gebiete die allseitig hochentwickelte slavische
Bevolkerung Bohmens auch ohne eine aussergewohnliche An-
strengung seiner Abgeordneten, sogar mehr als andere fortschreitet.
Es ware nur zu wiinschen, dass auch die Richtung der geistigen
Bildung in den Schulen eine den nationalen Anforderungen ent-
sprechende sei, damit die Jugend nicht etwa der Ideale entkleidet,
dem Materialismus und Socialismus in die Arme getrieben werde ;
allein iiber diese, ein vitales Interesse des iibervdlkerten Bohmens
tief beiiihrende Richtung, da sie sich nicht mit Ziffern, wie sie
den Voranschliigen entnommen werden kdnnen, ausdriicken lasst,
Hess Professor Kvieala kein Wortcben fallen. *)

Geendigt hat Professor Kvieala seinen Vortrag liber den
Aufschwung des cechischen Schulwesens mit der Hinweisung

*) Der Abgeordnete Tonner war in seiner gleichfalls am alKechischen
Parteitage gehaltenen Rede, auf welche ich zuruckkommen werde, offener,
indem er es sogar ganz besonders betonte, dass die in den so gelobten
dermaligen Schulen erzogene Jngend nicht einmal die Geschichte Bohmens
kenne. Ich finde das natiirlich, wenn man die Absicht hat, der Jugend
specifisch Cechische Gefiihle einzuimpfen; da man beim Studium der Ge¬
schichte Bohmens die Geschicbfe des Grossmahrischen Reiches und die
darauf folgende alte Geschichte Bohmens nicht fuglich libergehen kann, in
jener Zeit aber, so viel man auch in der Chronik des Cosmas herum-
blattern mag, noch keine Spur einer eigenen Cechischen Sprache, um so
weniger eines specifischen Cechenthumes zu fmden ist. Man kannte nur die
„lingua slavica“, welche sich in den Kirchenbiichern erhalten hat. Dieser
Umstand ware geeignet das in neuester Zeit gepflegte Gefiihl des specifischen
Cechenthumes abzuschwachen, was noch mehr von den neuesten Forschungen
auf dem Gebiete der Geschichte gilt.

17

auf die traurige Thatsaehe, dass ungeachtet dieses Aufsehwunges
die Verlasterung der'Wirksamkeit des Cesky klub nieht aufhore,
sicli vielmehr immer mehr verbreite. Die Ursache dieser Er-
scheinung liegt, wie in der Rede ausgefiihrt wird, in den
misslichen volkswirtschaftlicben Verhiiltnissen, welehe Niemand,
auch nicht die Gegen partei, giinstiger zu gestalten vermdclite, und
in der daraus entspringenden allgemeinen Unzufriedenheit; theil-
weise selbst im Benehmen der Regierung gegeniiber dem Cesky
klub; zumeist jedoch in der neuesten Zeit erschienenen bekannten
Verordnung des Unterriclitsministeriums. In dieser letzteren Be-
ziehung liefert die Rede den gelungenen Beweis, dass einerseits
die hochgradige Erregung, welehe aus Anlass der gedachten
Ministerial-Verordnung die Bevolkerung und zwar Zeuge des
damaligen Verhaltens aller altcecliischen Pressorgane einseliliesslich
der altcecliischen Abgeordneten, *) ergriffen hatte, sachlich nicht
genltgend begriindet war, und dass die „Massnahmeo, welehe
bezuglich der, durch diese Ministerial-Verordnung betroffenen Ge-
meinden seitdem erfqlgt sind, aber in der nachsten Zeit sicherlich
noch erfolgen werden, besser sind, als der friihere Zustand war".

Dieser Theil der Rede enthiilt wertvolle Bekentnisse, welehe,
von competentester Seite gemacht, urn so holier anzuschlagen sind.
Sie liefern ja den unwiderleglichen Beweis dafur, dass dies gegen
die Wirksamkeit der altcecliischen Abgeordneten immer mehr
hervortretende Misstrauen der Bevolkerung eine Thatsaehe sei,
welehe, auf sachlichen Grundlagen fussend, keineswegs als Folge
gegnerischer Agitationen in Betracht kommt, wie denn Agitationen
iiberhaupt kein nachhaltiges Misstrauen hervorzurufen, wol aber
der Aeusserung des durch sachliche Griinde bereits hervorgerufenen
Misstrauens zum Durchbruch zu verhelfen vermogen. Und selbst
an diesen, den Misstrauensausserungen zum Durchbruch ver-
helfenden Agitationen besonders anlasslich der gedachten Mini¬
sterial-Verordnung, gegen welehe das erregte Auftreten sachlich
nicht einrnal genugend begriindet war, also gerade in der be-
denklichsten Richtung hat sich die altcechisehe Partei sammt
ihren Fuhrern (den Abgeordneten) in gleicher Weise, ja wenn aus
der damaligen Stimmung der beiderseitigen Pressorgane einSchluss
zu ziehen erlaubt ist, noch mehr betheiligt als die jungeechische. An-
dererseits liegt in dem letzteren Umstande zugleich der schlagendste
Beweis dafiir, dass die altcecliischen Abgeordneten, obschon
deren Thiitigkeit nacli den gedachten Ausfiihrungen des Dr. Rieger
hauptsachlich in die commissionellen und in die Berathungen
mit den Ministern filtlt, von den Massnahmeii der Regierung nur

*) Das verschiimte Bekenntnis dieser Thatsaehe enthalien auch die
Worto der Redo „alle unsere Kreise ergriffen."

2

18

zu leicht iiberrascht werden konnen, und auch deren beanspruehte
Unfebibarkeit. kaum anf festeren Fiissen ru’ab, als die anderer
Sterblicben.

Den Schlnss del' Rede bildet eine gegen die jungcechische
Partei gerichtete Polemik, welche ich mit Hinbliek anf die obige
einschliigige Erorteiung iibergehen zu sollen erachte. Interessant
ist dagegen der Aufruf znr eifrigen nnd einmuthigen  Arbeit,
nacli dem bekannten Sprucbe „concordia res parvae crescunt,,
discordia maximae dilabuntur“, zumal dieser Anfruf in den Her¬
zen aller Patrioten widerhallen dtirfte. Allein das einmuthige
Zusammenwirken setzt eine Versbhnung der Parteien voraus, nnd
diese wird erleiehtert dureh Besclieidenbeit und die derselben
entspringendeNachgiebigkeit; erschwert, wenn nicbt unmoglicli ge-
macbt, durchSelbstiiberschiltzung und das von dieser unzertrennlicbe
Festbalt.en an dem einmal einigenommenen Standpunkte. Und
wenn man sich hente die Frage vorlegt, ob die beiden einander
befelidenden Parteien, insbesondere ihre Fiihrer, von welcben viel
abbiingt, bereits zur Erkenntnis gelangt seien, dass sie, als nicbt
unfehlbar, sich durch die vom patriotiscben Pflicbtgefuhle ge-
botene Uebung der Tugend der Bescheidenheit und Naebgiebigkeit
nichts vergeben? so muss diese Frage, so weit es sich um die
Fiihrer der altcecbiscben Partei handelt, schon an der Hand
der Rede des zur einmuthigen Arbeit auffordernden Professors
Kvicala leider verneint werden.

Der unmittelbar dem Aufrufe zur einmuthigen Arbeit voran-
gehende Absatz seiner Rede pracisirt ja den, im Laufe der ganzen
Berathung des Parteitages mehr oder weniger durchschimmernden
Anspruch der alfcechischen Abgeordneten auf Unfebibarkeit in sebr
priignanter Weise. Er stellt niimlich die Behauptung auf, dass,
wenn die zehnjahrige Wirksamkeit der altcechischen Abgeord¬
neten thatsachlich eine unfruchtbare gewesen ware: hieraus ge-
folgert werden mtisste, dass die Cecil en ein elendes, so zu sagen
zum Untergange priidestinirtes Yolk seien. Diese Behauptung
ware offenbar sinnlos, wenn ihr nicht die absonderliche Auffas-
sung zu Grunde liige, dass das gesammte Wissen, Konnen und
Wollen des cechischen Volksstammes sich ansschliesslich in den
altcechischen Abgeordneten .coneentrire. Und von dieser Auf-
fassung durchdrungen, spricht er es unmittelbar darauf ganz
offen aus, dass die altcechischen Abgeordneten ihren Gegnern
irgend eine Superioritiit im Wissen, in politischer Gescliicklich-
keit oder in der Vaterlandsliebe unmiiglich  zu gestehen konnen.
Solclie Ueberbebungen liisst sich einer der hervorragenden altce
chischen Fiihrer zu Schulden kommen, und diese wurden vom
Auditorium nicbt etwa stillschweigend bingenommen, sondern als
ausgezeichnet (vyborne) anerkannt, um gleicbsem die Ricbtigkeit

der Annahme, dass im cechischen Volke ausserhalb dev Abgeord-
netenkreise kein Wissen, Konnen und Wollen vorhanden sei, zu
documentiren.

*

* *

Nachdem die durcb die Rede des Professors Kvicala hervor-
gerufenen Beifallsausserungen verklungen waren, schritt der Yor-
sitzende Dr. Rieger vor Allem zur Yerlesung der fur ihn und seinen
Anbang scbmeichelhaften, zugleich zum einmiithigen Wirken auf-
fordernden Telegramme der Landtags-Abgeordneten von Mahren
und Krain, worauf er dem Professor Braf das Wort ertheilte,
damit dieser auseinandersetze, was die cechische Nation im Laufe
des letzten Decenniums, also seit dem Wiedereintritte der cechi-
selien Abgeordneten in den Reichsrath, auf dem volkswirtschaft-
licben, financiellen und socialen Gebiete errungen habe.

Um dieser Aufgabe zu geniigen, fand Professor Braf vor
Allem das Streben des Reichsrathes und des bohmischen Land-
tages, welches auf die Hebung der im derzeitigen Lebenskampfe
bedrohten Bevolkerungsclassen gerichtet sei, und den Umstand
hervorzuheben, dass dieses Streben in den gedachten legislativen
Kbrperscha'ften erst nacb den in deren Zusammensetzung er-
folgten wesentliclien Aenderungen zur vollen Geltung gelangte,
da „die Sorge um diese Classen die erste und eharakteristische
Seite der cechischen Delegation in der dermaligen Majoritiit“
des reichsrathlichen Abgeordnetenbauses bilde. Dieser Umkehr
von der verderblichen Richtung, auf weleher sicb das fruhere
verfassungstreue Regim bewegte, sei aber von hoehster Wicbtigkeit
fiir das nationale Leben des cechischen Volksstammes, da dieses
in grdsserem Masse, als dies bei anderen Volkern der Fall ist,
sich auf diese schwachen, in ihrer Existenz bedrohten Classen,
insbesondere der Landwirte, kleiner Gewerbsleute und Arbeiter
stiitzen miisse.

Nacb diesen Pramissen, welehen eine gedrangte, sehr rich-
tige und interessante Darstellung der Entwickelung, der Vorziige
und Miingel des sogenannten Liberalismus, sowie der, behufs
Bebebung der Letzteren ergriffenen Massregeln folgte, kann die
Scblussfolgerung nieht weiter auffallen, dass nicht nur der,
Bdhmen zugestandene Steuernachlass, der melir als zwei Millionen
Gulden betragt, sondern Alles, was wahrend des letzten Decenniums
einerseits der bomische Landtag durcbgesetzt hat oder nocb durcb-
zusetzen gedenkt, andererseits aber die Reicbsgesetzgebung ini
Interesse aller Lander und Yblker gescbaffen, eigentlicb den ceclii-
scben Abgeordneten zu danken sei. Die Relcbsgesetze, welcbe den
Schutz und die Versicberung der Arbeiter anstreben, die Gewerbe-
ordnung modificiren, den Bereich der Zuliissigkeit von Steuer-

20

naehlassbn bei eingetretenen Elementarschaden erweitern, den Vor-
schusskassen eine Steuererleiehterung gewiihren, oder die Einfiih-
rang von Getreidezollen, die Conversion von Hypothekarscliulden,
die Errichtung von Localbahnen und den Schutz des Schuldners
betreffen, warden ja sammtlich von der Majoritat des reiclisrath-
liclien Abgeordnetenhauses votirt, deren Bildung, wie gesagfc, erst
durch den Eintritt der cechischen Abgeordneten Bohmens in den
Reiehsrath ermdglicht war.

Das Durchsetzen aller dieser Errungenschaften, deren Zu-
sammenfassen ein ganzes Programm bildet, war aber, wie Pro¬
fessor Braf bescheiden zugesteht, nur mit Hilfe der Majoritat des
reichsjathlicben Abgeordnetenhauses in ihrer dermaligen Zusam-
mensetzung miiglich; wer daher diese Majoritat durchbrechen und
vernichten will: der will auch, ob er sieh dazu bekennt oder
nicht, andere Elemente und Anschauungen mit anderen Rich-
tungen zur Herrschaft kommen lassen. Wer eine Aenderung in
der Vertretung des cechischen Volkes und somit ein Durchbre¬
chen der dermaligen Majoritat im Abgeordnetenhause des Reichs-
rathes herbeifiihren und dennoch das in demselben heute herr-
schende Programm der socialen Reform nicht preisgeben will:
der miisse fur dieselbe eine andere Majoritat gesichert haben,
widrigenfalls er, selbst abgesehen von dem seiner harrenden Ur-
theilsspruche der Geschichte, Zeuge des unsiiglichen Wehes sein
musste, welches er liber das cechische Volk fur lange Zeit ge-
bracht, wovor es Gott beschiitzen nidge. —

Die im Auszuge soeben wiedergegebene, an siclr meisterhafte
Rede macht uns mit einer ganzen Reihe von Erfolgen des Cesky
klub auf dem volkswirtschaftlichen, socialen und finanziellen
Gebiete beltannt und, wenn wir unsere mit jener des Volkes uber-
einstimmende Ueberzeugung, dass diese Erfolge in erster Linie
der ihre Aufgabe auffassenden Regierung zu danken seien, aus-
sprechen : so liegt hierin zugleich eine Billigung des Schaltens
der cechischen Abgeordneten, die als festeste Stiitze dieser Re¬
gierung in Betracht kommen. Es kann jedoch nur auffallen, wenn
Angesicbts soldier Erfolge Professor Kvicala in seiner oben be-
sprochenen Rede der leidigen volkswirtschaftlichen Yerhaltnisse,
von welchen die Bevdlkerung schwer betroffen wurde, gedaclde
und, im weiteren Verlaufe der Rede unter wiederholten Zustim-
mungszurufen des Auditoriums sogar als Drsache der Verdiichti-
gung der Wirksamkeit des Cesky klub die im Volke allgemeine
Dnzufriedenheit und Ueberdruss weckenden ungliicklichen volks¬
wirtschaftlichen Verhaltnisse hinstellte, welclie jedoch Niemand,
daher auch nicht die Gegenpartei abzuiindern vermochte. *)

*) Nach dem stenographischen Protokolle lautet der einschlagige Passns
der Rede des Professors KviCaia wortlich: „Warum flndet. also dennoch die

21

Allerdings war Professor Braf so vorsichtig, den von ilim
aufgeziihlten Erfolgen die Bemerkung vorangehen zu lassen, dass
hente noch niclit A lies in voller Bllite sein kiinne, da hiezu die
Zeit, die uns von der A era des verfassungstreuen Regime trennt,
welches sich noch in der vollen Erbschaft des alten Liberalismus
befand, viel zu kurz sei, und darauf hat er auch bei Erorterung
der einzelnen Errungenschaften hinzuweisen nicht unterlassen.
Die Abanderung der Gewerbeordnung ldinne, wie er ausfiihrt, nur
dann ihre Erudite tragen, wenn dem diesfiilligen Gesetze die
kleinen Gewerbsleute Leben einhauchend, sich insbesondere mit
der Erweiterung der Aufgaben der Gewerbsgenossenschaften be-
sebaftigen, welcbe sich zu grossen Landesorganismen erweitern
lassen. Die im Inieresse der Arbeiter erlassenen Gesetze seien
erst der Anfang dessen, was kommen soli. *) Die Aufgabe den
Landwirten aufzuhelfen, sei eine ausserst schwierige, da der
unsere Landwirtschaft wurgende Feind aus grosser Entfernung
liber den Ocean heriibergreife, demselben daher nicht beizukommen
sei; die eingefiihrten Schutzzolle aber sich gerade bei uns we~
niger bewahren, da unsere Monarchie auf die Getreideausfuhr an-
gewiesen sei.

Angesichts dieser Bemerkungen und mit Hinblick auf die
weiteren Umstiinde, dass namlich dem Landwirte bei unseren
Finanzverhaltnissen mit der blossen Erweiterung der Zulassig-
k e i t von Steuernaehlassen anlasslich elementarer Verheerungen
wenig geholfen sei; dass dasselbe bisher auch die giinstigen Folgen
der Reform der Bezirksvorschusskassen und deren an gewisse Be-
dingungen gekniipften Steuererleichterung kaum, oder hochstens
in homoopathiseher Gabe verspure; dass Bohmen der Grund-
steuernachlass von mehr als zwei Millionen Gulden deshalb zu-
gestanden wurde, weil es anderen Landern gegeniiber iiberlastet
war; dass eudlich mit der Zukunfrsmusik, so lieblich sie auch
geschildert wild, Niemanden, ain allerwenigsten den in materieller
Nothlage Befindlichen geholfen werden kann: ist es allerdings
leicht einzusehen, dass die socialen und volkswirtschaftlichen
Verhiiltnisse der cechisehen Bevolkerung Bomens im Allgemeinen
noch immer ungliicklieh zu nennen, insbesondere die Landwirte
in ihrem liarten Kampfe urn die Existenz zu bedauern seien.

Anschuldigung unseres Strebons Verbroitang? Daran sind, wie ich glaube,
vor Alleiu die unschuldigen (soil wol heissen die ungliicklichen) volkswirt¬
schaftlichen Verhiiltnisse Schuld, (Tak jest!) welche jedoch Jene, die sich
jctzt fur die Masse des -Voikos hallen, abznandern ebenfalls  nicht ver-
stiinden. (He'.terkeit,- Vybornfi). Zu dieser allgemeinen Unzufriedenheit irnd,
ich mochte sagen, Ueberdruss treten noch andere Grunde" u. s. w.

*) Nach dem stenographischen Protokolle: „Das ist der Grand und
der Anfang, auf dem wir weiter bauen wollen.“

• 22

Eine soartige, nach meinem Dafurhalten ganz riclitige Auf-
fassung der Nothlage ist wol geeignet, den Professor Kvicala,
der die ungliicklichen volkswirtschaftliehen Verhaltnisse wieder-
holt stark zu betonen fand, zu rechtfertigen; sie setzt jedocli die
vom Professor Braf hochgepriesenen Errungenschaften, welche sich
im Wesen als schiichterne Versuche auf einem allerdings wenig
gekannten Terrain entpuppen, beinahe auf Null herab, obne zur
Behebung der aus einem Entgegenhalten der Reden der Profes-
soren Braf und Kvicala sich ergebenden Widerspriiche auszu-
reichen, da Letzterer die Moglichkeit einer Aenderung der un¬
gliicklichen volkswirtschaftliehen Verhaltnisse leugnet, Ersterer
dagegen diese Aenderung von der dermaligen Reichsraths-Maj oritat
erhofft. Und dennoch glaube ich nicht an einen thatsachlichen
Widerspruch in der Auffassung der beiden Redner, da dieselben,
Avie Braf offen erklarte, als Parteimanner in einer Versammlung
eine und dieselbe Angelegenheit ihrer Parfei, obschon von ver-
schiedenem Standpunkte, zu verfechten ausersehen waren. Wol
aber glaube ich, dass beide Redner eine und dieselbe Sache, im
iibelverstandenen Interesse ihrer Partei, nicht einmal streifen,
sondern absolut todisehAveigen Avollten, was sie in nur scheinbare
Widerspriiche verwickelte.

Professor Kvicala gieng der Erorterung der leidigen volks-
wirtschaftliclien Verhaltnisse, obschon er sie als Ursache der
allgemeinen Uuzufriedenheit hinstellte, ganz aus dem Wege, da
die Aufgabe, diese Verhaltnisse zu beleuehten, dem Professor
Braf iibertragen war. Dieser erbrterte dieselben thatsachlich
jedoch einseitig nur insoferne, als dies zu der ihm iibertragenen
Beleuchtung der im Laufe des letzten Decenniums auf volkswirt-
schaftlichem Gebiete zu verzeiclmenden Errugenschaften uner-
liisslich schien, Avobei er diese Errungenschaften, Avie bereits aus-
gefiihrt wurde, ganz absehend vom reichsratlichen Herrenhause
und von der Regierung sowie von den Staatsexigenzen, welche
keine Partei ignoriren darf, aussc-hliesslich den altcechischen De-
putirten Bohmens, beziehungsweise der durcli diese ermoglichten
Majoritiit des Abgeordnetenhauses des Reichsrathes zum Verdienste
anzurechnen nicht unterliess; andererseits aber der durcli dieselbe
Majoritiit votirten Vermehrung der Lasten, welche die volks-
wirtschaftlichen Verhaltnisse so driickend gestalten, mit keiner
Silbe gedachte. Kvicala Avar daher berechtigt, die volkswirt-
schaftliche Lage der Beviilkerung in Anbetracht der dieselbe
driickenden Lasten als eine ungliickliche und leider nicht zu
iindernde zu bezeichnen, wiihrend Braf Angesichts der von ihm
hochgepriesenen Erfolge sich fur berechtigt hielt, eine giinstige
Gestaltung der volkswirtschaftliehen Verhaltnisse in Aussicht zu

stellen, da er hiebei von den offentlichen Listen der Bevolkerung
ganz absali:

Dieses Todtschweigen von Tliatsaclien, welchen jedes Volk
eine eminente Bedeutung beilegt, betrachte ich als einen bedenk-
lichen Missgriff, zumal in einer eigens behufs Aufklarung iiber
die ohnebin verdachtigfce Wirksamkeit der altcechischen Ab-
geordneten einberufenen Versammlung von Cechen, die sich be-
kanntlieh olme Unterschied der Partei stets als reichstreu, daher
im Interesse des Reiches opferwillig erwiesen haben und wissen,
dass auch die Landesbedtirfnisse gedeckt werden miissen. Ein
Hinweis anf die dermaligen internationalen Verwicldungen, welche
wahrend ihrer, voraussichtlich nicht allzu langen Dauer Oesterreich
nothigen, Behufs Erhaltung seiner Grossmachtstellung, alle Krafte
bis aufs Aeusserste anzuspannen, einerseits; sowie eine Aufzahlung
der Hauptgriinde, welche eine Einschrankung der Landesauslagen
nicht rathlich orscheinen lassen, andererseits, hiitte vollauf genugt,
um selbst scheinbare Widerspriiche zu meiden, besonders aber
dem in neuester Zeit auftauchenden Vorwurfe zu begegnen, dass die
altcechischen. Fiihrer selbst in einer, eigens zur Aufklarung iiber
ihr, im Laufe eines Decenniums bekundetes Verhalten einberufenen
Versammlung ihrer Parteigenossen, der Zunahme der Lasten des
Volkes gar nicht gedachten, weil sie fur dasselbe kein Herz haben.

Auch sonst wurden von Professor Braf wichtige Angelegen-
heiten gleichsam nur nebenbei lediglich mit einigen Worten ge-
streift, daher so gut wie verscbwiegen. so oft dies das vermeint-
liche Interesse der Partei zu erheischen schien.

So wurde der ganz ungeniigende Schutz des cechischen
Landwirtes durch die Getreidezolle, wie erwahnt, einfach durch
den Umstand begriindet, dass auch unsere Monarchie auf den
Getreideexport‘angewiesen sei, ohne auch nur zu erwahnen, dass
insbesondere Ungarn des Getreideexportes nicht entbehren kbnne.
Hier ware es angezeigt gewesen auszufiihren, wie es komme, dass
das als selbsstandiger Staat, wo nicht gar als Grossstaat, sich ge-
riijende Ungarn ausnahmsweise gerade in Handels- und Zollan-
gelegenheiten mit unserer Reichshiilfte eine Einheit zu bilden
foitfiihrt, in ditsen sugar das grosse Wort zu fiihren sich lieraus-
nimmt, ohne von der mindestens gleichberechtigten Legislative
der mit 70"/o der gemeinschaftlichen Auslagen belasteten dies-
seitigen Reichshiilfte anliisslich des jedes Decennium zu erneuernden
Zoll- und Handelsbiindnisses damn gehindert zu werden.

So wurde, hinsichtlich des nur zu gerechtfertigten, leider
unberiicksichtigten alTgemtinen Wunsches, dem Texte der Bank¬
note!), wie dies zur Zeit des Bach’schen Regimes stets iiblich war,
auch einige AVorte in cechisclier Sprache beizufiigen, lediglich
der gate Wille, zugleich aber auch das Unvermbgen des von

24

seinen polnisclien Verbiindeten verlassenen Cesky klub eonstatirt;
wahrend es doch angezeigt gewesen ware, zu erorlern, wie es
komme, dass der Cesky klub, welcher die Absichten der Majo-
ritat des Abgeordnetenhauses, speciell auch die, das Mass der Be
scheidenbeit mitunter tiberschreitenden vielfachen Anforderungen
des Polenklubes mit wabrer Selbstverlaugnung zu unterstutzen
nicht aufhort, selbst in der einzigen, zur Verbandlung gelangten
nationalen Angelegenheit von so geringer Importanz, eine solcbe
Niederlage erleiden konnte ?

Das Verschweigen so hochinteressanter Umstande in Reden,
welche aufzuklaren und Licht zu verbreiten berufen sind, schadigt
die Stellung einer Partei ebenso sebr, wie das Einbezieben von
Angelegenheiten , deren Erorterung als nicht strenggenommen
zur Sache gehorig, mindestens iiberflussig erscheint. Solcbe Er-
orterungen finden sieh aber in der Rede gleichfalls vor.

So scbeint mir die Empfehlung der bereits gedacbten Landes •
organismen, zu welcben sich die Gewerbsgenossenschaften er-
weitern konnten, minder gliicklich und lediglicb dem, die alt-
Sechische Partei cbarakterisirenden Streben entsprungen zu sein,
den zu beseitigenden naturwiichsigen nationalen Organismen auf
jedem, also auch auf diesen Gebiete, kiinstliche Landes-Organismen
zu substituiren. Es ist aber leicht einzuseben, wie ungunstig
Zumuthungen dieser Art auf Menschen wirken mussen’ die es
wol wissen, dass selbst der sie stellende Abgeordnete im Reichs-
ratbe einem Klub angehort, zu welchem sich nicht etwa die Ab-
geordneten Bohmens im Allgemeinen, sondern lediglicb der slavische
Theil desselben mit dem gleichfalls slavischen Theile der Ab-
geordneten Mabrens vereinigt haben; wahrend die deutschen Ab~
geordneten sowol Bohmens als Mabrens den aus .deutschen Ab-
geordneten aller Lander gebildeten Klubs angehoren und hiebei
nicht selten sogar in die Lage kommen, dem Cesky klub ent-
gegenzuwirken

Nicht gliicklicher scheint mir jener Theil der Rede zu sein,
welcher gegen die Gegenpartei den Vorwurf erhebt, dass dieselbe
ihre Aufgabe, das, was das Freiheitsprineip in sich Gesundes
und Schones hat, zu cultiviren, insbesondere den Geist volks-
wirtschaftlicher Selbsthilfe systematisch zu pflegen, ausseracht-
lassend, ihre Pflicht nicht erfiille; dadurch ab ;r die als reactionar
verschriene altcechische Partei zu dem Aufrufe nothige: „Verlanget
doch nicht Alles von den Gesetzen und vom Staate: vergesset
nicht, dass es auch ein Princip gibt, ohne welches kein sociales
Wol erreicht werden kann; es ist das Princip der Selbsthilfe,
der, eigenen moralischen Vervollkommnung, des eigenen Strebens,
kurz der Wechselseitigkeit aller Schwacheren in den edelsten
Richtungen der Selbsthilfe . 11  Ja, mangelt es denn in der fiechischen

25

Bevolkerung Bohmens, fragt man sich allgemein, in tier That
ganz am Geiste der Selbsthilfe und, wenn dies wirklich der Pall
sein sollte, wie kommt es denn, dass ausschliesslich nur der Ge-
genpartei die Pfliclit obliege, diesen Geist system atisch zu
pflegen, wahrend die altceehische Partei diese von ihr als lioch-
wichtig anerkannte systematische  Pflege bis nun zu gleich-
falls ausseracht liess und selbst dermalen noeli, gleichsam noth-
gedrungen, scbon ein Uebriges gethan zu liaben glaubt, wenn sie
zu einer soartigen Pflege nur aufruft?

*

* *

Ich gelie zu der Bede des Abgeordneten Tonner uber, der
sich als grenzenloser Bewunderer des ihm als nacbahmungswertes
Vorbild vorleuchtenden polnischen Wesens vorstellend und die
Errungenschaften des eechischen Volkes, allerdings nicht wahrend
des letzten Decenniums sondern seit nahezu einem halben Jahr-
hunderte hervorhebend, vor Allem den Zwiespalt, die Aufregung.
Unzufriedenheit und Erbitterung im eechischen Volke Bohmens
constatirt, zugleich auf die ungliicklichen Folgen dieser leidigen
Zustilnde hinweist. Die Ursache dieser Zustande sucht Tonner,
wie bei den gleichfalls unzufriedenen Deutschen, so auch bei den
Cechen Bohmens, in der Agitation der Wahler, die beiden Volks-
stiimmen unaufhorlich einreden, dass ihnen unrecht geschehe und
ihre Nationalitat bedroht sei. Dass aber die Cechen solchen
Agitationen zuganglich seien, finde zum Theil auch darin seine
Erklarung, dass sie sich selbst, das heisst ihre Geschichte, Dank
dem vielfach gelobten dermaligen Schulunterrichte viel zu wenig
kennen, was insbesondere von der jiingeren Generation gelte. *)

Es werde ja damit agitirt, dass die eechischen Abgeordneten
im Laufe eines Decenniums Nichts erreicht haben, dass das ce-
chische Volk ganz herabgekommen und aller Be lingungen zur
gedeihlichen Entwickelung seiner Nationalitat entkleidet sei, sich
daher zum Dntergehen im Meere eines anderen Volkes bequemen

*) Es wurde auf diese Stelle dor Tonnev’schen Rede, da sie dem von
Professor KviSala hervorgehobenen Fortschritte im Dnterrichtswesen wider-
spricht, bereits oben liingewiesen; es kommt daher bier nur noch zu be-
merken, dass nach der von Niemanden angefoehtenen Angabe Toimers, die
Voi’naehlassigung der Geschichte in den Schulen auch beim Landtage bereits
zur Sprache kam. Der einschlagige Passus nach dem stenographischou Pro-
tokolto lautet: ,,Und da komfht es loider vor, und ich bin nicht allein, der
so spricht, auch im Landtage warden soicho Stimmen laut, dass die liisto-
rischen ICenntnisse in unserem Volke ungemein abnehmen und das jiingere
Geschlecht hinkt, wiewohl die gogen warti gen Schulen geiobt
werden,  elend hirtter denen nach, welche die Schule absolvirt haben zur
Zeit der verschrienen Systeme“ u. s. w.

26

miisse, was naturgemass Hoffnungdosigkeit und eine Unzufrie-
denlieit erzeuge, welche nach dem daran schuldtragenden' Opfer
fahndet. Dud doth sei Nichts unwalirer und unbegriindeter als
diese Hetzerei, wenn man sich nut- in der neueren Geschichte
Bohmens seit der allgemein beklagten Schlaclit am Weissen Berge
umsehe. Tonner schildert hierauf an der Hand der Geschichte die
furcbterliche Lage des cechischen Volkes nach der Schlacht am
Weissen Berge bis zum Ende des XVIII. Jahrhundertes, wo es so
zu sagen bereits zu den Todten gelegt ward; im laufenden Jahr¬
hunderte aber durch die von ehrlichen Sohnen des Vaterlandes
angewendeten zweckmassigen Mittel wieder zum Leben geweckt
und gekraftigt wurde. Die cechische Nation sei in Europa die
einzige, die im laufenden Jahrhunderte ihre Auferstehung von den
Todten aus eigener Kraft bewirkt habe; es sei daher ein Ab-
sprechen der Lebenskraft derselben, wie sich dies beliebige Fle-
dermause herausnehmen, lacherlich.

Es werde aber auch in gerade entgegengesetzter Weise agitirt,
indem man dem cechischen Volke schmeichelt, dass es gross
und machtig sei, daher nur ernstlich zu wollen brauche, urn
seine Wtinsche erfiillt zn sehen. In ihren Wirkungen sei diese
Art der Agitation gleich verderblich, weil im Falle der Niclit-
erfullung aller Wtinsche gleichfalls Jemand gefunden werden miisse,
dem ftir die Enttauschung die Verantwortung und Schuld auf-
gebiirdet werden kann; weil sie iiberdies selbst hievon abgesehen,
ganz geeignet sei, das Vertrauen des Volkes zu seinen Fiihrern zu
erschilttern und dasselbe zu unvorsichtigen Schritten zu verleiten.
Welche schreckliche Uebel aber Misstrauen und unvorsichtige
Schritte im Gefolge haben, zeige wieder die Geschichte und zwar
die alte Geschichte des cechischen Volkes, die Tonner dann von
der Griindung des grossmiihrischen Reiches angefangen bis zur
Katastrophe am Weissen Berge in grossen Ziigen aufrollt.

Diese Geschichte zeige, nach der Ansicht Tonners, dass
dem cechischen Volke in alter Zeit wiederholt, speciell zur Zeit
des Bestandes des grossmahrischen Reiches, dann unter den ce¬
chischen Boleslaven, unter dem polnischen Boleslav dem Tapferen,
sowie unter Bfetislav und selbst unter Karl dem Luxemburger
die Mdglichkeit geboten war, in einem von zwei Meeren (dem
baltischen und schwarzen?) begrenzten, grossen mitteleuropaischen
Reiche zu herrschen, wenn es nur einig gewesen ware und seinen
Fiihrern gefolgt hiitte. Das cechische Volk habe selbst im XVI.
Jahrhunderte nebst Bohmen, zugleich Mahren, Schlesien und die
beiden Lausitze beherrscht,  es liess sich jedoch in seiner Un-
einigkeit zu unvorsichtigen Schritten verleiten, und hatte diesel ben
zwanzig Jalire nach der Thronbesteigung des zum erblichen Ko-
nige gewtihlten Erzherzoges Ferdinand, speciell am blutigen Land-

27

tage, auf dem Prager Schlosse im Jahre 1547 zu bereuen, zumal
dieser Landtag auch die Schlacbt am AVeissen Berge, und was
darauf folgte, naeli sicli zog, „Etwas, das kein Beispiel in der
Geschichte hat und das vielleicht, unter ahnlichen Verhiiltnissen,
nur die Polen  bis zum heutigen Tage erdulden miissen 11 . AViih-
rend die Deutschen, wie Abgeordneter Tonner weiter ausfiihrt,
ihren Fiihrern folgend, diesen opferwillig ihr Blut und Vermogen
zur Verfiigung stellten, daher v  Uebereilungen hintanhielten und
Erfolge errangen: hatten die Cechen, die ihren Fiihrern alle ma-
teriellen Mittel versagten, ja gegen dieselben conspirirten, dadurch
aber unvorsichtige Schritte hervorriefen, selbverstandlich Misser-
folge zu verzeichnen; mussten daher die Herrschaft anderer Volker
ertragen und diesen ihr Hab und Gut zur beliebigen Pliinderung
iiberlassen.

Angesichts dieser Lehren der Geschiehte warnt der Abge-
ordnete Tonner vor der bereits wahrnehmbaren Wiederholung der
in der Vorzeit begangenen Fehler und fordert, bei Einstellung
des Siindigens durch leeres Geschrei, zur erfoigreichen einmii-
thigen Arbeit auf, welche die Cechen unbesiegbar mache.

Analysirt man die so eben im Auszuge mitgetheilte Rede,
so gelangt man zur Ueberzeugung, dass sie im g'rossen Ganzen
Alles, was die Fiihrer der Gegenpartei unternehmen., ais unbe-
griindete, unehrliche und hochst verderbliche Agitation, also als
leeres, jedoch gefiihrlicbes Geschrei darzustellen bemiiht ist; da-
gegen fiir das Thun und Lassen der Fiihrer der altcechischen
Partei, zu welcher auch der Redner ziihlt, voiles unbedingtes
Vertrauen, ja behufs IJnterstiitzung desselben die unbegrenzte
Opferwilligkeit des Volkes in Anspruch nimmt, urn bei gleich-
zeitiger Beseitigung des thatsiichlich eingebiirgerten beklagens-
werten Zwiespaltes, einmiithig, daher erfolgreich im Interesse des
Volkes wirken zu konnen. Sie gleicht daher in dieser Hinsicht
alien iibrigen Reden der Parteifiihrer; sie weicht jedoch in den
Details wesentlich von den iibrigen Reden ab, und das macht
sie um so interessanter, als diese Details theilweise sehr richtige,
wenngleich einseitig ausgeniitzte Grundsatze und Behauptungen,
tiberdies wertvolle Aufklarungen bietende Bekenntnisse entbalten,
welchen Andere, sei es im Interesse der Partei, oder aus Griinden
der von Professor Kvicala hervorgehobenen sogenannten polit.ischen
Geschicklicbkeit, aus dem AVege gehen zu sollen erachteten.

Sehr treffend scheint mir die Behauptung Tonners, dass ein
Volk, dessen Dnzufriedenheit durch fortwahrendes Einre len, dass
ihm Unrecht geschehe, geweekt wurde, leicht verhangnissvolle Irr-
wege betreten kann, wenn es auch noch zur Dnterschatzung oder
Ueberschiitzung seiner Krafte verleitet wird. Es wird auch kau;n
Jemauden aus den Reihen der ausserhalb der Parteien Stehenden


einfallen, die Berechtigung des von Tonrnr den Jungc. chen ge-
maehten Vorwurfes ganz und gar zu Kugnen, da es ancli Jung-
eechen geben mag, die nach beiden Richtungen siindigend, im
Volke einerseits die alle Thatkraft lahmende Hoffnungslosigkeit,
wo nicht gar Verzweiflung, andererseits aber gefahrliche Tau-
schungen hervorrufen. Wenn wir uns jedocli die Frage vorlegen,
ob denn in diesen Richtungen nur die Jungcechen siindigen?
so miissen wir nach dem bekannten Hexameter „Iliaeos intra
muros peccatur et extra" gestehen, dass die Fiihrer der Alt-
cechen nach beiden Richtungen hin ebenso, ja noch weit mehr
gefehlt haben und fehlen, als ihre Gegner.

Liegt denn in dem am Parteitage wiederholt gemachten Ge-
stiindnisse der altcechischen Fiihrer, dass dtr ansehnliche, auch
die slavischen Abgeordneten Mahrens umfassende Cesky klub zu
Gunsten des, nach dem deutschen jedenfalls zahlreichsten, steuer-
fahigen und allseitig entwickelten eechoslavischen Volksstammes
ohne Zustimmung der Majoritat des reichsrahtlichen Abgeordneten-
liauses oder richtiger des in derselben massgebenden Poienklubes
absolut Nichts zu erreiehen vermag, nicht eine Unterschatzung
der Kriifte? Oder soli die fiirchterliche Lage, welche nach der
beschiimenden und das nationale Gefiihl verletzenden Behauptung
des Professors Braf fur lange lange Jahre des cechischen und
wol des gesammten dechoslavischen Volksstammes unausweihlich
harrt, falls auch nur an der dermaligen Zusammensetzung
der in alien Parlamenten hiiufig wechselnden, jedenfalls sebr ge-
brecldichen und in letzter Analyse wieder von der Gnade des
polnischen Klubs abluingigen Majoritat des Abgeordnetenhauses
geriittelt werden sollte, nicht Hoffnungslosigkeit erzeugen, nicht
alle Thatkraft lahmen? Es hisst sich nicht fiiglich annehmen,
dass irgend Jemand in der Unterschatzung der Krafte des
Yolkes mehr zu leisten vermochte; die altcechischen Fiihrer
stehen in dieser, aber auch in der entgegengesetzten Richtung,
namlich hinsiehtlich der Ueberschiitzung dieser Krafte uniiber-
troffen da.

Es ist ja, wenn man von einer ganzlichen Loslosung Bob-
mens aus dem durch die pragmatische Sanction unaufloslich ge-
schaffenen Verbande unserer Monarchie, selbstverstiindlich ab-
sieht, die Erkiimpfung des historischen Staatsrechtes fiir das
Konigreich Bohmen wol das hochste, was man der Kraft des
cechischen Yolkes zutrauen kann und, wenn man die Frage
stellte, wer es war, der dem Volke seit vielen Jahren, selbst
zur Zeit, wo es noch keine jungeechische Partei gab, bei jeder
gebotenen Gelegenheit unaufhorlich einredete, dass ihm durch die
Yorenthaltung dieser Sonderstellung Bohmens Unrecht geschelie;
dass es dieselbe jedoch, wenn es nur ausharre, erkiimpfen kiinne

29

und werde? so miissten selbst die Fiihrer der Altceehen einge-
stehen, dass sie es waren, die Jungcechen daher in dieser Rich-
tung nur ihrem Beispiele folgen. Der Parteitag selbst hat dies
in seiner Resolution, in welehe er ersten Orts dieses Staats-
rechtes, zu welchen er treu stehe, gedenkt, ausdriicklich anerkannt.
Und wozu soli denn die Behauptung in der Rede Tonners, dass
die Einmuthigkeit die Cechen uniiberwindlich mache, dienen?
Fine leere Schmeichelei darf hier gar nicht vorausgesetzt werden,
denn dieser bedienen sich nach den Ausfuhrungen eben des Ab-
geordneten Tonner Iediglieh die bosen Jungcechen; sie karin also
nur als Beweis einer Ueberschiitzung der Volkskraft in Betracht
kommen.

Ein kleines Volk in unserer Zeit, in welcher Maclit vor
Recht gelit, uniiberwindlich! Die von Meeren umgebenen und
selbststandige eigene Staaten bildenden Schweden, Norwegen und
Diinen, ja selbst die reichen Hollander mit ihrer zahlreichen
Flotte und mit ihren reichen iiberseeischen Colonien werden von
den angrenzenden grosseren Volkern, welchen sechs Millionen
Bajonette zur Verfiigung stehen, nur deshalb nicht annectirt, weil
diese grossen Voiker noeh keine diesfallige Vereinbarung getroffen
haben, daher einander iiberwachend, einseitige Annexionen behin-
dern. Die Memoiren des Grafen Beust sind auch in dieser Rich-
tung, insbesondere in Betreff der Absichten des neuen deutschen
Reiches lehrreich. Und der kleine, mit deutscher Cultur durcli-
trankte, im Westen, Siiden und Norden vom miichtigen deutschen
Volksstamme umschlnngene cechische Volksstarnm sollte in einern,
mindestens zu einem Drittheil mit Deutschen bevblkerten Lande,
obschon ihm keinerlei Rival it iit grosser Voiker oder Staaten zu
Gute kommen kann, unbesiegbar sein ? —

Aufkliirungen bietet die Rede Tonners in mancher Beziehung,
insbesondere auch binsichtlich des Verhiiltnisses der altcechischen
Fuhier zur Partei des reichsrathlichen Polenklubs. Tonner, wie er
A nfa ngs seiner Rede ausfiibrt, war bei seiner im Jahre 1845 er-
folgten Ruckkehr nach Bohinen aus Galizien, wo er als Studirender
drei ganze Jahre zugebracht hatte, begeistert durch die Erinnerung
an die von ihm hochgehaltenen Kundgebungen nationalen
Selbsbewustseins unter den Polen,  und an den wahr-
haft heroischen, keine Opfer scheuenden polnisehen
Patriotismus;  empfand daher Ang^sichts der damals in seinem
Vaterlande Bdhmen vorgefundenen gain verschiedenen Verhaltnisse
cin unheimliches Gefiihl. Die Bewunderung des polnisehen We-
sens hat seither beim Abgeordnden Tonner nicht ab-, sondern zu-
genommen, denn er anerkennt die Polen, durch den im Verlaufe
seiner Rede vorkommenden Ausruf „nicht wir sagen es, es sagt.en
mir dies Polen  und Manner anderer Nationen 11  als hochste Au-

30

toritat und im weiteren Verlaufe der Rede, wie bereits gedacht,
als das einzige Volk in der Welt, das bis nun zu das in der Ge-
sehichte beispiellos dastehende Ungliiek zn tragen babe, welches
die Cechen im Folge der Schlaeht am Weissen Berge ereilte.

Solche Expectorationen eines anerkannten Fiihrers, der im
Laut'e von 44 Jahren als Mitarbeiter an der nationalen und po-
litisclien Entwickelung des cechischen Volksstammes thatig war,
niclit etwa in einer Privatgesellsehaft, sondern am altcecbischen
Parteitage und zwar, wie er selbst betont, im vollen Bewustsein,
wo er sicli befinde, und welche Aufgabe ihm ubertragen wurde,
konnen docli unmoglich als der Privatansicht Tonner’s entsprungen
oder als leere Phrasen in Betracht gezogen werden. Die Vergot-
terung polnischer Zustiinde kann dalier nur als Ausfluss der An-
schauungen der altcecbischen Fiihrer angesehen werden; wenn
aber andere Fiihrer in ibren Reden, der Stimmung selbst der
eigenen Parted Reebnung tragend, ihrer Allianz mit dem Polen-
klube nur scliiichtern, insoferne als er der zahlreichste und seine
Unterstiitzung, um Erfolge zu erzielen, unerliisslicb erscheine, ge-
dachten: war der Abgeordnete Tonner offenbar dazu auserselien,
das Auditorium versucbsweise mit den polnischen Zustanden zu
befreunden. Dieser Umstand verleiht aber den Tonner’schen Ex¬
pectorationen ein besonderes Gewicbt und liisst die nachstehende
Erorterung derselben nicht iiberfliissig erscheinen.

Platte Tonner, wenn er schon wahrend seiner dreijabrigen
Studienzeit in Galizien nicht das Bediirfniss fiiblte, sich mit den
dortigen Zustanden naher bekannt zu maehen, daselbst nur nocb
ein Jahr langer (1846) studirt, so wiirde er sich iiber die trau-
rigen Folgen des von ihm verherrlichten polnischen Bewusstseins
und Patriotismus aus eigener Anscbauung uberzeugt und wahr-
scbeinlich Gott gedankt haben, dass nicht aucb in Bohmen die
boheren von den niederen Volksklassen jene Kluft des unaus-
loschlichen Hasses trenne, welche die polnischen Zustiinde charak-
terisirt. Selbst in Prag hatte er sich iiber die blutigen galizischen
Ereignisse im Jahre 1846 aus der periodischen Presse leicht in-
formiren konnen; wenn ihm aber damals als jungem unerfahrenen
Manne das, von den Polen, behufs Verdeckung ihrer unqualificir-
baren Zustande verbreitete Mahrchen, dass an dem stattgehabten
Gemetzel eine geheime Agitation Seitens der Regierungsorgane die
Schuld trage, glaubwirrdig erschienen sein mag: so hatte er sich
ja vor kaum drei Jahren, wo eine ahnliehe Katastrophe und
zwar gleich der von 1846 im polnischen Theile Galiziens nur
durch das rechtzeitige Eingreifen der Behorde und des Militiirs
hintangehalten werden konnte, die Ueberzeugung holen konnen,
dass jenes Mahrchen jeden Haltes entbehre, die Regierung viel-
mehr, wie in den Jahren 1846 und 1848, so auch beute noch

31

mit dem zwischen den hoheren und niederen Klassen der polnischen
Bevolkerung herrschenden Antagonismus ibre wahre Noth babe.

Auch die Geschichte der Polen kann ja dem Abgeordneten
Tonner nicht unbekannt sein, und diese, selbst von polnischen
Historiographen gesehrieben, enthallt das Wesen des polniseben
Selbstbewusstseins und Patriotismus bei den hoheren Bevolkerungs-
klasse'n sowie deren Entstehen und deren Folgen, wie sie in den
grossen polnischen Volksmassen bis nunzu zu Tage treten. Die
Geschichte belehrt uns ja, dass in keinem Lande des Erdballs die
Mnssen der Bevolkerung durch die hoheren Klassen derselben so
unmenschlich behandelt und in jeder Richtung bedrtickt werden,
wie in den Liindern der polnischen Krone. Neben dem Verkiim-
mern der grossen Massen des polnischen Vo Ikes, welchen es niclit
gegbnnt war, ein menschenwiirdiges Dasein zu fristen, schwelgten
die hoheren Klassen im Wolsein und blendeten die Aussenwelt
durch einen zur Schau getragenen Glanz, wie er ausserhalb Po-
lens unbekannt war. Selbstverstandlich entwickelte sich nicht
nur bei den Oligarclien, die nebst ihren Leibeingenen aucli den
§taat beherrschten, sondern selbst bei deren Klienten und Dienern
das auch auf ibre Nachkommen, die heutigen hoheren Klassen
vcrerbte und von Tonner bewunderte nationale Selbstbewustsein
in demselben Masse, in welchem es bei den grossen Massen des
Volkes entwurzelt wurde. Selbstverstandlich boten die Oligarclien
und ihre Klienten bereitwillig ihre Leibeigenen auf und stellten
sick, schon um deren Entweichen zu behindern, sammt ihren
Dienern an ihre Spitze, wenn es sich darum handelte, die In-
tegritiit des Territoriums der polniscber Krone, welches ja ganz
und gar ihr Eigenthum bildete, zn vertheidigeri; eventuell fremdes
Gebiet und mit diesem fiir sich neue Leibeingene, neue Latifun-
dien und Reichthumer aller Art zu erwerben. Sie waren zu den
grossten Opfern auch dann bereit, wenn es sich darum handelte,
die legitime Gewalt ikres Konigs, sobald dieser die Willkiir der
kein Gesetz achtenden Oligarcben einzuschriinken versuchte, mit-
tels der sogenannten Confoderationen einzuengen, sie zu ver-
nichten, um den von Tonner bei ihren Nachkommen hochgeprie-
senen politischen Patriotismus, wie er sich auch in den neueren
Revolutionen entpuppte, nach jeder Richtung bin zu betbatigen.

Die naturlichen Folgen eines so gearteten Selbstbewusstseins
und Patriotismus konnten nicht ausbleiben. Die Massen der an den
Ufern des baltischen Meeres und der Weichsel entlang sesshaften
kaschubo-polnischen Bevolkerung wurden so ausgesaugt, dass die
herrschenden polnischen Oligarclien an eine Vergibsserung durch
neuen Landeretwerb zu denken, daher ibre ursprunglich in Gross-
polen (das heutige preussische Posen) concentrirten Hauptmaclit,
wenn sie nicht mit dem miicbtigen Deutschland anbinden wolite,

32

allmalig gegen Osten hart an die Grenzen Russlands vorzuschieben d<

sich veranlasst sahen. Russland war in jener alten Zeit ein in ei

unzahlige, durch die wankende Autoritat der jeweiligen Gross- st

fiirsten nur locker verbundene, beinahe unabhangige Fiirsten- a]

ihurner getbeilt, welclie einander vielfach bekriegten, daher fur di

die polniscbe Occupation ganz wie gescbaffen schienen, zumal di

die Polen einer Cooperation des damals machtigen Ungarns, wel- p<
dies gleicbfalls eine Annexion russischen Gebiets anstrebte, sicher el

waren, andererseits aber die wolwollende Neutralist der Deut- d

schen durch minder belangreiche Concessionen zu erwerben hoflfen u

konnlen. Der Krieg zwisclien den beiden benaclibarten slavischen ii
Volkern wurde dadurch unausweichlieli und, sozusagen conti- si

nuirlicb, hatte jedoch bis zum grossen Einfalle der Mongolen und k
Tartaren, wenn man von dem, Russland abgenommenen Sudo- d
mirien absieht, keine nachhaltigen Erfolge aufzuweisen. d

Nacli dem Tartareneinfalle, besonders aber seit jener Zeit, d

wo die Tartaren sich genbthigt sahen, bei Auflassung ihrer erst- d

lichen Eroberungen alle ihre Kiafce zu concentriren, um ihre g

Herrschaft mindestens in dem unmittelbar an ihr Reich gren- v

zenden ostlichen Russland zu behaupten, batten die Polen und
selbst die Lithauer leicbtes Spiel, die von ihren ostlichen Stam- a

mesgenossen verlassenen westlichen russischen Furstenthiimer all- n

malig zu nnterjochen, zumal die Polen von dem unter den Kb- s

nigen Karl Robert und dessen Sohne Ludwig dem Grossen (aus I

der Dynastie Anjou) machtigen Ungarn unterstiitzt warden, der s

Letztere sogar die Kronen Ungarns, Polens und Rothrusslands z

(der heutigen Konigreiche Galizien und Lodomerien) auf seinem f

Haupte vereinigt hatte. Ludwig der grosse hatte zwar seiner (

iiltern Tochter Maria Ungarn und Deutschland, seiner jungeren s

Tech ter Hedwig aber Polen als Erbe hinterlassen; allein die \

Letztere musste sich aus Staaisriieksicht bequemen, ihre Hand f

dem Grossfursten von Lithauen Jagello zu reichen, und wurde 1

dadurch die Vereinigung des in Folge der Eroberung russischer f

Lander mit Einschiuss der alten russischen Hauptstadt Kijev £

maclitig gewordenen Lithauens mit Polen angebahnt. Gleichzeitig I

wnssten die Polen dem unter Konig Siegmund in fortwahrenden £

grossen Nbthen befindliclien Ungarn Rothrussland zu entreissen,
und wurde auf diese Weise wieder eine aus drei Staaten zusam- <

mengesetzte Macht gesclraffen, welche, der unter Ludwig dem I

Grossen bestandcnen gleich, ganz geeignet war, auch das, nach s

Sprengung des Tartarenjoches, -an dessen Folgen leidende und •

von Tartareneinfallen noch immer beunruliigte ostliche Russland
stiickweise zu unterjochen.

Allein die Macht der polnisclien Republik wurde durch die
fortwahrenden Eroberugen und durch ein immer engeres Kniipfen

33

des Bandes, welches die Polen, Lithauer und Russen allmallig in
einem einheitlichen polnischen Staat zusammen zu zwiingen be-
stimmt war, nur seheinbar grosser, da die Lithauer, besonders
aber die den Polen an Zahl doppelt iiberlegenen Russen schon
der Verlust ihrer staatliehen Unabhangigkeit unzufrieden machte;
dieser Unzufriedenheit aber durch die fortwiihrende Yerletzung der
polnischerseits den verbiindeten beiden Yolkern feierlich zugesi-
cherten vollen Gleichberechtigung, durch die allmiilige Einburgung
der polnischen Unterthansverhiiltnisse auch unter den Russen,
und die Willkiir der kein Gesetz achtenden polnischen Oligarchen
iiberhaupt stets neue Nahrung zugefuhrt wurde, wahrend man
sich auch auf die hart bedriickten Massen der polnischen Bevbl-
kerung nicht verlassen konnte. In dieser gefahrlichen Lage griffen
die polnischen Machthaber zu allerlei Massregeln, welche sich je-
doch, obschon sehlau ersonnen und riicksichtslos durchgefuhrt, fur
die Dauer nicht bewahrten und nicht bewahren konnten, da eben
die Zeiten, wo kleine Volker oder gar nur Theile derselben unter
gegebenen Umstiinden grosse Volker beherrsehen konnten, un-
wiederbringlieh dahin waren.

Dem unter dem Konige Stephan Bathory mit dem Papste
abgeschlossenen Biindnisse, welches der polnischen Republik die
nachhaltige Unterstiitzung des gesammten europiiischen Westens
sichern sollte, folgte die Einfuhrung der Union der zur Krone
I’olens gehorigen Russen mit der rbmischen Kirche, welche that-
siichlich die polnischerseits angestrebte Theilung der Russen in
zwei einander befehdende Parteien, zugleich das Wanken des das
festeste Bollwerk der Russen bildenden nationalen kirchliehen
Organismus und den Uebergang des, bis dahin die Fuhrerrolle
spielenden Adels in das polnische Lager zur Folge hatte. Babei
wurden nicht nur die Konige Schwedens und Sachsens, rnn die
Ostrussen von zwei Seiten angreifen zu kbnnen, sondern auch ein
magyarischer Furst von Siebenbiirgen und sogar ein Sprossling der
franzosischen Dynastie zu polnischen Konigen gewahlt, andererseits
aber die Wahl polnischer Konige oder doch der Sprosslinge der
polnischen Iibnigsdynastie auf die Throne Ungarns und Bohmens
durcligesetzt, um nach alien Richtungen Allianzen anzubahnen.
Alles vergeblich; die inneren Zustiinde der polnischen Republik,
an deren Sanirung die egoistischen polnischen Machthaber nicht
gehen wollten, wurden durch die beliebten Massnahmen, welche
sogar das Heiligfhum der verbundeten Volker angriffen und nicht
anders als mit Hilfe drastfscher Repressivmassregeln durchgefiihrt
werden konnten, nur noch verschlimmert; es bedurfte daher
lediglich eines Anstosses, um das Gebiiude der polnischen Republik
in ihren Grundfesten zu erscliuttern.

3

34

Diesen Anstoss braehte das Jahr 1612, wo die polniselie
Republik das vom russischen Volke gliiiibig aufgenommeiie Ge-
riicht, als ob der in seinen jungen Jahren gestorbene recht-
miissige Tbronerbe Dimitrij sich am Leben befinden und den
Carentbron reclamiren wiirde, ansbeutend, einen falscben Dimitrij
mit einem Heere nach Russland einbrechen liessen und sich be-
reits der Carenstadt Moskan thatsaehlich bemachtigt hatten. Allein
der Bet rug wurde eben in Polge der Anmassungen der Polen, die
sicb als Sieger geberdeten, entdeckt, und die, russischen Volks-
massen, obschon ihnen jede geregelte Organisation abgieng, er-
wiesen sich stark genug, nm die Polen zu vertreiben. Dieser
Dmstand bezeugte, dass sich das ostliche Rassland von den ihm
durch das mongolisch-tartariscbe Joch gescblagenen Wunden or-
bolt babe, und dies peniigte, urn das morsche Gebiiude der pol-
nisclien Republik dem allmaligen, jedoch sichern Verfalle ent-
gegenzufuhren. Der Wendepunkt war eingetreten, und das pol-
niscbe Staatswesen glicb von da an einem siechen Korper, der
zeit.weise in hocherregtem Zustande noch ilberraschende Kraft-
ilusseurngen wahrnebmen liisst, sich jedoch gegen sein nahendes
Absterben vergeblich wahrt;

Keine der noch so schiau erdachten Massnahmen bat dieses
Absterben zu hindern vermocht; selbst die Durchfuhrung der
Union eines Theiles der russischen Kircbe mit der rdmischen,
welcbe den Russen durch die Unterwlihlung ihres festesten Boll-
werkes sowie durch die Poionisirung ihres Adels den hartesten
Schlag zu versetzen, also ganz gelungen schien, hat dieses Ab-
stei'ben nur noch wesentlich beschleunigt. Die polnischen Macht-
baber sahen sich namlich zur Zeit, wo sich die von ihnen ur-
spriinglich hervorgernfene kirehliche Union so gefestigt hatte,
dass sie die Orthodoxen ganz zu erdrucken drobte, veranlasst zn
Gunsten der Lefzteren einzutreten, nm die zwischen den Russen
durch die Union bewirkte Zwietraeht aufrecht zu erbalten, ja
neu zu beleben. Dies machte ihnen die katholischen Russen, die
liber Undank klagten und Rom mit Bitten um Schutz gegen
die ihnen feindlicben Polen zu behelligen nicht aufhorten, zu
Feinden, ohne andererseits die aus Anlass der Union noch immer
aufgeregten Gemuther der orthodoxen Russen zu beruhigen. Sogar,
die Poionisirung des machtigeo russischen Adels hat sich an den
polnischen Machtliabern fiirchterlich geriicht, denn statt dieses
Adels treten jene russischen Bauern, welche in der Ukraina der
Einbiirgerung der polnischen Unterthansverhaltnisse erfolgreich
widerstanden, sich daher Kosaken nannten, als Firhrer auf, die,
besonders seit den an ihnen verubten Grausamkeiten, grossen-
Iheils selbst ihre Landwirtschaft aufgtbend, sich ganz dem Kriegs-
bandwerke widmeten; den Polen fortwiilircude Verlegenheiten und

vide grossartige Niederlagen bereiteten, zugleich die Erslen war.en,
die ilire Wiedervereinigung mit dem ostlichen Russland durchsetzten.

Allerdings lag noch immer die Moglichkeit vor, das Strei-
chen Polens aus der Reihe der selbststiindigen Staatea Europas
abzuwenden, wenn sich die polnischen Machthaber Angesichts
der unabwendbaren Gefahr zu dem heroisehen Entschlusse auf-
gerafft hiitten, einerseits ihre Herrschaffc Tiber andere Volker,
welehe ja obneliin niclifc aufrechterhalten werden konnte, ganz
aufzugebeh, dieselbe daher auf den kasehubo - polnischen Volks-
stamm zu beschriinken; andererseits aber auch den kaschubo-
polnischen Volksmassen ein mensehenwurdiges Dasein zu sichern.
In der That schien die auf der Tagesordnung gestandene pol-
nisclie Frage einer solehen Losung entgegen zu gehen, da sich bei
den massgebenden Factoren die Neigung kundgab, den Leibeigenen
Erleichterungen zu gewahren, und die Annahrne wol berecbtigt
war, dass sie noch urn einen Schritt weiter gehen und sich, urn
den polnischen Staat zu retfcen, mit der Vereinigung der kaschubo-
polnischen Lander in einen staatlichen Organismus begni'igen
werden. Allein dem vom Abgeordneten Tonner gepriesenen pol
nisch nationalen Selbstbewusstsein widerstrebte der Gedanke an
einen polnischen Staat, welcher auf die minder fruchtbaren, iiber -
dies ausgesaugten kaschubo-polnischen Lander beschrankt, nichfc
iiber andere Volker herrschen sollte.

Freilich war es das Aufgeben des gewohnten und liebge-
wordenen Herrschens in den russischen Liindern, welches schon
an sich den polnischen Grossenwahn verletzte, nicht allein, was
hier in Frage stand. Die polnischen Machthaber haben in den
mit der denkbar fruclltbarsten Erdscholle gesegneten russischen
Liindern unermessliche Latifundien occupirt; selbst ein betriicht
licher Theil der Dotationsgiiter russischer Bischofe und Kloster,
insoferne derselbe nicht zur Dotation polnischer Bischofe, Capitel
und Kloster verwendet worden war, befand sich in ihrem Be-
s.tze. Bei dem Aufgeben ihrer Herrschaft in diesen Liindern
konnten daher hbchst unangenehme Fragen fiber die Richtmiis-
sigkeit der Erwerbung dieser Latifundien auftauchen, und liatte
selbst der etwa unangefochtene Theil der Latifundien in Staaten,
wo das Benehmon der Grundherren selbst ihren Unterthanen ge-
genfiber normirt war und beaufsichtigt wurde, wenig Verlockendes
ffir polnische Machthaber, die gewohnt waren Gesetze kaum. An
ordnungen der staatlichen Executive aber gar nicht zu beachten.
Diese und iihnliche Betrachtungen scheinen ausschlaggebend ge-
wesen zu sein, obschon es nicht zu leugnen ist', dass hiebei auch
noch die im Laufe der Zeit, stattgefundene allmiilige, jedoch selir
namhafte Verringetung des von kaschubo-polnischen Volkern be-
wohnten Territoriums mit in Beiracht kam.

36

Wahrend namlich die polnischen Machthaber, »wie oben aus-
geftihrt wurde, sich veranlasst sahen, ihre Maeht im Osten zu
eoncentriren , um russisehe Lander zu annectiren, konnten sie
wahrend der bei Verwirklichung dieser Absicht unausweichlichen
Kriege mit den Russen einer Unterstiitzung oder mindestens wol-
wollenden Neutralitat der benachbarten Deutschen nicht ent-
behren. Naturlicb zogen hieraus die benachbarten deutschen
Fiirsten, besonders die deutschen Ritterorden, Nutzen, und wurde
unter deren Einflusse das von den kaschubo-polnischen Volkern
eingenommene Territorium in demselben Masse immer kleiner,
in welchem sich das deutsche Element ausbreitete. Die polnische
Republik konnte gegen das Vordringen der Deutschen und des
deutschen Einflusses nicht mit dem gehdrigen Nachdrucke an-
kampfen, da sie ja ihre Truppen gegen die Russen brauchte und
vor jeder Herausforderung der Deutschen sich liuten musste; es
lag ihr aber auch nicht viel an einigen Zugestandnissen an die
Deutschen, da sie ja weit gesegnetere Lander den Russen abjagen
und sich unterwerfen konnte. Solche Zustiinde braehten es mit
sich, dass die Polen Jahrhunderte hindurch eigentlich den Vortrab
der Deutschen in der Verkorperung ihres Oranges nach Osten
bildeten, indem sie bei ihrem unaufhaltsamen Vordringen gegen
den russischen Osten zugleich das Vordringen der Deutschen gegen
den polnischen Osten ermoglichten, ja nicht selten geradezu,
fbrderten, dadurch aber in den einst dem polnischen Staate als
dessen integrirende Theile angehdrigen und von kaschubo-pol¬
nischen Volkern bewohnten Landem am baltischen Meere und an
der unteren Weichsel jene nationale Metamorphose bewirkten,
welche Viele unter uns heute lediglich der deutschen Herrschsucht
zuzuschreiben geneigt sind. *)

*) Vorzugsweise waren es die vom gesaminten Westen Europas unter-
stiitzten dentsehen Ordensritter, die sich allmiilig alle an das baltische Meer
grenzenden polnisch-kaschabischen Lander unterworfen batten und in deri-
selben auf ihre Weise wirtschaftet.en. Im XV. Jahrhunderte, insbesondere
seit der Konstanzer Kirchenversammlung, konnte der enropiiische Westen, der
seine Krafte gegen die Hussiten zu eoncentriren sich bemiissigt fand, dem
deutschen Orden keine' ausgiebige Unterstiitzung gewahren, was die hart ge-
driickte Bevolkerung Pommerns und Preussi-ns im Jahre 1454 veranlasste, die
stammverwandte polnische Republik um Befreiung vom Joche der Kreuz-
ritter anzugehen, und wurde die Wiedereinverleibung Pommerns und Preus-
sens mit Polen thatsachlich ausgesprochen, zugleich der diesfallige Vertrag
unterzeichnet. Selbstverstiindlich wehrten sich die Kreuzritter dagegen,
allein die Polen, die ihres Heeres im Osten nicht entbehren konnten, stellten
im Westen ein Miethhper auf, welches durch das zu demselben iibergegan-
gene grosstentheils bohmische Miethheer der Kreuzritter verstiirkt, den
deutschen Orden zur Unterzeichnung des Thorner Friedens von 1466 nothigte,
kraft dessen die Ordensritter nunmehr im Besitze des astlichen Theiics von
Preussen und zwar auch hier nur als Vasallen Polens belas^en vvurden.

37

Noch im Jahre 1525 war es Albrecht von Brandenburg, ein
dentscher Fiirst, der sich an der Spitze des in jener Zeit noch
von kaschubo-polnischen (zum Theil wol auch von lithauischen)
Volkern bewohnten Preussens nur unter dem Schutze der pol-
nischen Republik als deren Lehensmann zu erhalten vermochte.
Die Fi'igung Gottes wollte es, dass die zu Kiinigen herangewaeh-
senen Nachfolger dieses preussischen Landesfiirsten die Theilung
der unhaltbar gewordenen polnischen Republik zumeist und mit
dem besten Erfolge betrieben; denn der Lowenantheil, der Kern
des einstigen Grosspolens, dieser Wiege des Polentumes, fiel
Preussen zu, wiihrend Oesterre ch nur die ihm von Rechtswegen
gebuhrenden rothrussischen und bohmischen Lander revindicate,
und selbst Russland im grosmn Ganzen nur seinen einstigen
Landerbesitz wiederherstellte. Die spiiteren Nachfolger jenes preus-
sische.i Landesfiirsten und polnischen Vasallen erlangten bekannt-
lich vor achtzehn Jahren die erbliche deutsche Kaiserwiirde und
— in dem zum Herzogfume Posen herabgedri'ickten einstigen
Grosspolen wird binnen Kuzem ebenso wenig ein slavischer Laut
gehort werden, wie bereits heute in Preussen, in Pommern oder
in den meklenburgischen Furstentumern!

Kurz, die polnischen Machthaber, deren Grossenwahn und
crasser Egoismus die polnische Republik ihrem Untergange zu-
gefuhrt hatten, vermocliten sich selbst Angesichts der hoehsten
Gefahr nicht zu einem heilsamen Entschlusse aufzuraffen; es trat
daher ein, was eintreten musste; Polen wurde aus der Reihe
der selbstandigen Staaten Europas gestrichen, und wurden dadurcli
nicht nur die Westrussen unil Lithauer von dem ihnen uner-
traglich gewordenen polnischen Joche befreit, sondern auch die
polnischen Volksmassen endlieh einmal einer menschenwiirdigen
Behandlung zugefuhrt. Kaum ein Procent der Beviilkerung der
einstigen polnischen Republik hat deren Untergang betrauert, und
er wee ken selbst die Monumente, welche sich dieselbe erriehtet hat,
ilurchwegs traurige Eindrucke. Diese noch in unserem XIX. Jahr-
hunderte wahrnehmbaren Monumente sind ja bekanntlich:

a)  Die polnischen Aufstande von 1S09, 1812, 1831, 1846,1848
und 1863, sowie die inFolge dei selben angewachsene polnische Emi¬
gration, welche grossenthefls aus Berufsrevolutioniiren bestehend,
daher an den Revolutionen aller Vo.lker und selbst der Pariser
Anarchisten sich beiheiligend, neuester Zeit jenen Heeren, welche

Im Jahre 1510 sail sich Polen. genothigt,, den widerspenstigen Kreuzrittern
auch Ostpreussen mit VVaffengewalt abzunehroen, gestattefe jedoch 1525 detn
Grossmeister derselben, Albrecht von Brandenburg, der auf seiner Flucht
in Deutschland Hilfe suebte, das Monchskleid abzulegen, den Protestantismus
anznnehmen und Preussen als erblicher Fiirst zu regieren, wenn er nur
Vasall Polens bleibe.

die Turken gegen die urn die Wiedererlangung Hirer Freiheit
kampfenden slavischen und rumanischen Volker zu entsenden
fanden, ihre Dienste weihte, heute jedocli ihre vielfaclien Verstdsse
einzusehen beginnt.

b)  Die nachhaltige Abnahme der kasehubo-polnischen Volker
im Nordwesten, insbesondere die Entnationalisirug dieser Volker
an den Uf rn des baltisclien Meeres sowie an der unteren Weicli-
sel und die eben dermalen schwungchaft betriebene Entnationa-
lisirung der Polen im Herzogtume Posen, gegen welehe sich seit
der Installirung eines Deutsehen zum Gnesner Erzbiscliofe Nie-
mand ernstlioh webrt, da es dort den niederen Volksklassen unter
der preussisclien Regierung unvergleichlich besser geht als unter
der peitiorrescirten einstigen polnischen; die von den niederen
verlassenen hoheren Klassen aber frob sind, ihre, ,zur deutsehen
Colonisirung des Landes ausersehenen Giiter um gute Preise an-
bringen, daher mittelbar die Entnationalisirung fordern zu konnen.

c) Das Konigreieh Polen (das sogenannte Korigresspolen),
welches jedoeh seine eigenen Finanzen und Zollsehranken sowie
seine natioriale Armee und seine selbststiindige Legislative iiber-
liaupt, in Folge des blutigen Aufstandes vom Jahre 1831 eingebiisst
hat; heute einen integrirenden Bestandtheil Russlands bildet und
hochstens insoferne Beac-hUing verdient, als durch die innerlialb
desselben wahrnehmbare nachhaltige rapide Zunahme des polni¬
schen Elementes das im Nordwesten unaufhaltsame Schwinden des¬
selben compensirt wird.

cl)  Die Zustande in jener nordiistlichen Liindergruppe Oester-
reiclis, welehe in ein riesiges Verwaltungsgebiet eingezwiingt, ge-
wohnlich nach einem der zu demselben gehorigen rotlirnssiscben
Konigreiche, Galizien genannt wird, die seit der Einfuhrung der
Constitution sich den ehemaligen polnischen bereits so genahert
haben, dass nieht nur die russische Majoritat der Bevolkerug,
sondern auch die niederen polnischen Volksclassen von der
Theilnahme am constitutionellen Leben thatsaeblich ausgeschlos-
sen sind.

e)  Die allerorten nocb immer gahnende Kluft des unbesieg-
baren Misstrauens und des heftigsten * Antagonismus uberhaupt,
welehe einerseits die Westrussen von den Polen, anderSrseits die
niederen von den hoheren Classen des polnischen Vplkes zu
trennen nicht aufhort, obschon seit der Tlieilung Pollens 115
Jabre verstrichen sind. —

Dnd der Abgeordnete Tonner trilgt kein Bedenken, das
nationale polnische Bewusstsein, welches sich als verderblicher
Grossenwahn entpuppt, sowie den heroisehen,; vor keinem Opfer
zuriickscheuenden polnischen Patriotismus, welcher sich als ab-

39

schreckendes Beispiel imersattlicher Herrsch- und Habsucht dar-
stellt, hochzupreison, ja zur Nacbahinung zu empfehlen? Oder
gieng Tenner vielleicht gar von der Ansicht aus, dass ini cecho-
. slavischen Volke die Polen und ihre Geschichte unbekannt seien?
Nun icb glaube im Voranstebenden dargethan zu hahen, dass in
Miihren und, wie icb voraussetze,” niebt minder in Biihmen die
Polen und ihre Geschichte mehr bekannt sind, als es manebem
der Herren altcechischen Fulirer lieb sein diirfte. Icb fiige nur
nocb bei, dass die Polen, die polnischen Zustiinde und selbst
die polnische Geschichte, so weit sie in der Tradition der gali-
zischen Bauern lebt, selbst den niederen Schichten unseres
Volkes, dessen Sohne als Handels- und Gewerbsleute, besonders
aber wahrend ihrer Militardienstzeit Galizien seit langer Zeit ken-
nen zu lernen Gelegenheit batten und noch haben, ganz gut be¬
kannt sind. Unsere niederen Volksclassen vergleichen. sehr ge-
nau unsere mahrischen mit den galizischen Zustiinden; wissen
es aus der competentesten Quelle, dass dem galizischen Landvolke
erst unter osterreichischer Regierung ein menschenwurdiges Dasein
gesichert wurde, und bediirfen nicht erst des Studiums der
neueren Landesgesetzgebung Galiziens, um sich die Ueberzeugung
zu holen, dass es seit dem Ueberhandnehmen des Einflusses der
sogenannten polnischen Patrioten, auch mit dem unter der Bach-
sclten Dictatur in erfreulicher Aufnahme begriffen gewesenen Wol-
stande der niederen Bevolkerungsclassen herabgeht, * da die con-
stitutionellen Rechte von denselben Patrioten, behufs Fordernng
ihrer speciellen Interessen, monopolisirt werden. Und selbst den
letzteren bringt das Monopol jeden Rechtes« keinen Segen, denn
auch sie gehen dem Pauperismus mit Riesenschritten entgegen.

Die allgemeine und tiefwurzelnde Abneigung unseres Volkes
gegen die sogenannten polnischen Patrioten und die polnischen
Zustiinde iiberhaupt, ist daher wolbegrundet, und kann folge-
richtig auch der tible Eindruck, welchen die Tonner’sche Verherr-
licliung des polnischen Wesens, und zwar ganz besonders im
Landvolke thatsachlich hervorgebracht liat, nicht tiberraschen, zu-
mal selbst abgeseben von den diese Verherrlichung ofi'en aus-
sprechenden Stellen, die ganze Rede Tonners, combinirt mit den
dureh die, dieselbe beleuchteten Reden der iibrigen Partiefilhrer,
den Eindruck macht, als ob die altcechischen Abgeordneten,
nachdem sie ihr slavisches Gefiihl abgestreift haben, sicb bereits
im rein polnischen Fahrwasser befanden und nicht libel Lust
•hatten, auch die Cechoslaven oder mindestens die dafiir melir
empfanglichen specifischen Cechen Bdhmens gleichsam in das-
selbe hineinzubugsiren, um gleich iliren polnischen Collegeu herr-
schen zu konnen, oder mindestens der liistigeu Kritik und Con-
trolle des Volkes ein ftir allemal enthoben zu sein.

40

Der Abgeordnete Tonner hat ja selbst die Geschichte dee
cechoslavischen Volksstammes, welche den Kern seiner Rede bildet,
so wie die Folgerungen aus derselben ganz und gar fiir den poi-
nischen Geschmack adaptirt, tun im polnischen Fahrwasser zu
bleiben und ja nicht in irgend einer Weise gegen die An-
schauungen der Partei des polnischen Klubs zu verstossen. Und
dieser Umstand, welcher die Reden der iibrigen altcechischen
Ftihrer illustrirt, reicht vollkomraen aus, urn die untergeordnete
Rolle, welche der Cesky klub dem polnischen Club gegeuuber
spielt, ausser Zweifel zu stellen; ich glaube daher nicht zu fehlen,
wenn ich denselben gleichfalls beleuchte.

Bei Schilderung der einstigen historischen Bedeutung des
cechoslavischen Volksstammes wies Tonner ganz richtig vor Allem
auf das grossmahrische Konigreich, dann in logischer Folge auf
Bijhmen unter den Boleslaven hin, und wird hier die Nichter-
wiihnung der in jener Zeit eine bedeutende Rolle spielenden un-
garischen Slovakei und selbst das Verschweigen des Umstandes,
dass sich die Macht der cechoslavischen Herrscher auch fiber
Polen erstreckte, *) weniger auffallig. Wenn jedoch in einer Rede,
welche die einstige Bedeutung ebenso wie den Verfall des cecho¬
slavischen Volksstammes zu dem Ende der Geschichte entnimmt,
um an das, was ihn hob, beziehungsweise erniedrigte, ankniipfend,
Verhaltungsmassregeln fiir die Gegenwart und Zukunft zu emp-
fehlen, einerseits dem polnischen Herrscher Boleslav (dem Tapferen),
der Bohmen als Feind — erobert hatte und nur mit Aufbietung aller
Krafte vertrieben werden konnte, die Absicht zugeschrieben wird,
im cechischen Interesse ein grosses, von zwei Meeren begrenztes
Reich mit der Hauptstadt Prag zu grunden; andererseits aber die
kyrillomethodaische Kirche todtgeschwiegen wird, obschon deren
Bliite zugleich die Bltite des selbstiindigen cechoslavischen Staates,
deren Verfall aber zugleich den Verfall der Selbtstandigkeit dieses
Staates naturgemiiss nach sich zog: so kann das Hinstellen des
Feindes als Freund und das Todtschweigen des einflussreichsten
Factors in der Entwicklung des cechoslavischen Volksstammes
wol nur als eine dem Geschmacke der Partei des polnischen
Clubes entsprechende Adaptirung der Geschichte in Betracht
kommen.

Dieselbe Adaptirung der Geschichte zu Gunsten der An-
schauungen und Tendenzen des polnischen Clubs findet sich auch
bei der an der Hand der neueren Geschichte gelieferten Erweisung
der Richtigkeit des Satzes, dass es keine Nation gebe, die ehren-

*) Das etwaige Gegentheil hievon ware in einer polnischen Rede, in
welcher es sich um den Beweis der einstigen Bedeutung des polnischen Volks¬
stammes gehandelt haben wftrde, allerdings kaum verscliwiegen worden sein.

41

werter ware, was Ausdauer nnd Lebenskraft anbelangt, als die
cecliische, welclie ja aus eigener Kraft vom Todtenbette aufer-
standen sei. Hiebei konnie Tonner nicht umhin, darauf hinzu-
weisen, dass diese Auferstehung von den Todten im laufenden
XIX. Jahrhunderte durch ehrliche Sohne des Vater-
landes  bewirkt wurde, die es verstanden, dem todtkranken Volke
jene Heilmittel zu reichen, welche ihm neues Leben
einflossten nnd nene Krafte verliehen.  Allein von all
diesen ehrlichen Sbhnen des Vaterlandes nennt er, mit alleiniger
Ausnahme des Grafen Franz Anton Kinsky nnd zwar sonderbarer-
weise aus Anlass seiner im vorigen Jahrhunderte, spe-
ciell  1773, verfassten Schrift iiber die Erziehung der Kava-
liere, keinen einzigen, weil die hochverdienten Regeneratoren des
cechisehen Volksstammes: Jungmann, Safarik, Kollar, Dobrovsky,
Hanka, Celakovsky, Palacky *) sammtlich ausgesprochene Slaven
waren, deren Nennung daher der polnische Club iibel vermerkt
haben wurde. Auch iiber das Wesen des dem todtkranken Volke
gereicbten wirksamen Heilmittels, welches in einer aufklarenden
und belehrenden Rede ganz besonders hatte erortert werden sollen,
bat der Abgeordnete Tonner ganz gesehwiegen, da dieses be-
kanntlich in der Weckung des slavischen Bewusstseins bestand,
eine Erwahnung oder gar Erorterung seines Wesens, daher das
Gefiihl des Polenklubes verletzt haben wiirde.

Ganz dem polnischen Geschmacke folgend bat Tonner bei
Aufrollung der Gescbichte Bdhmens wiederbolt das Herrschen der
Cechen iiber andere Volker in einem ausgedehnten und zwar
ganz nach polniseher Ausdrucksweise von zwei Meeren begrenzten
mitteleuropaischen Reicbe, als das begehrenswerteste Ziel hin-
gestellt, welches der fiechische Volksstamm nur deshalb nicht
erreicht babe, weil er seinen Fiihrern, welchen er hatte unbe-
dingt sein Gut und Blut zur Verfugung stellen sollen, nicht folgte,
ja die Wirksamkeit derselben durch Verdachtigungen und Intri-
guen liemmte. Das Streben der Fiihrer der Altcechen ist also
nicht auf die Erlangung der Gleichberechtigung mit den tibrigen
Vblkern Oeslerreichs, sondern ebenso wie jenes der Partei des
Polenclubes auf das Herrschen iiber andere Volker gcrichtet. und
sind diese Fiihrer, die ohnehin schon „den sehweren Pflug der
nationalen Arbeit schleppen", gleiph den polnischen Fiihrern er-

*) Palacky war ein geborener Miihrer, Safai’ik und Kollar, die bei
Wiedererweckung des CehoslaviscHen Volkes eine hervon-agende Rolle spielten,
waren ungarische Slovaken. Wenn daher Tonner, wie aus seiner Rede hcr-
vorgeht, lediglich Bohmen als Vaterland in Betracht zieht, so waren diese
hochverdienten Manner nicht einmal Sohne des Vaterlandes, zu'aal Kollar
nur in der ungarischen Slovakei und zuletzt als Professor an der Wiener
Universitiit wirkte.

42

botig, auch noch die sell were Last v  dei Herrsehens sowol liber
andere Vcilker, als aucli liber die Cechen selbst, die, olme vor
irgend einem Opfer zuriickzusclirecken, ohnehiu zu folgen haben,
sich, aufzublirden. Die Theilung des cechisehsn Volksstammes in
zwei von einander gesonderte Classen, deren eine die nationalen
Angelegenlieiten und das Herrschen nach bestern Wissen zu be-
sorgen liabedi wiiide, walirend die andere, ohne s : ch eine Kritik
zu erlauben, zu folgen und Opfer zu bringen hatte, wiire dann
allerdings als vollzogen, und waren zugleich die polnischen Zu-
stiinde auch im cechischen Volke als eingebiirgert zu betrachten.

Den Aspirationen des polnischen Clubs wurde von Tonner
insbesondere* die bomische. Gescliiclite seit dem XVI. Jahrhunderte
in ganz merkwurdiger Weise angepasst, weil liier der Verluste,
welche die Krone Bohmens seit der Wahl des Erzherzogs Fer¬
dinand zum erbliehen Komge Bohmens zu erleiden hatte, ge-
dacht ward, oline die zu Gunsten derselben bohmisehen Krone
stattgefundene Revindication auch nur mit einer Silbe zu er-
wahnen. Tonner ftihrte naudich aus, dass der cecliische Volks-
st.tmm nach Ablauf des er-ten Viertels des XVI. Jahrhundertes
nehst Bohmen zugleich Miihren, ganz Schlesien und die beiden
Lausitzn beherrscht habe,  dieselben jedoch nicht zu erhalten
wusste, weil er uniiberlegt gehandelt habe, diese Uebereilung
schon zwanzigJahre nach der Thronbesteigung des. zum erbliehen
Konige gewiibllen Ferdinand I. am blutigen Landtage auf dem
Prager Schlosse ( 1547 ) zu bereuen und die demselben entspros-
sene Schlacht am Weisseji Berge zu beklagen habe.*) Davon jedoch,
dass Oesterreich statt der kaum haltbaren Lausitz und des an
Preussen nach hartnackigen Kiimpfen abgetretenen, schon damals
grosstentheils deutsclien und protestantischen Scldesiens, die beiden
unmittelbar an unseren Theil Sclilusiens grenzenden und von einer
durchwegs slavischen Bevolkerung bewohnten Herzogtumer Au¬
schwitz und Zator, welche die Polen vor der Wahl des Erzher¬
zogs Ferdinand zum erbliehen Konige Bohmens, anerkannt hatten,
zu Gunsten der bohmisehen Krone revindicirfce und stets als
Lander dieser Krone behandelte, **) fand Tonner, so sehr er auch

*) Die einschlagige Stelle der Bede lautet nach dem stenographischen
Protoko)le: ,Wir waren zu sehr voreilig und wmsten uns nicht zur rechten
Zeit nach dem alten Sprichworte zu halten, „D?a krat met, jednon re2“
Wir haben nicht gemessen nnd haben es gleich ‘20 Jahre darauf, nach der
Thronbesteigung Ferdinand V, den wir zum Konige gewahlf hatten be¬
reuen miissen in dem blutigen Landtage auf dem Prager Schlosse im Jahre
1547; das war auch die Drsache, dass wir eine Schlacht am Weissen Beige
und, was nach derselben gefolgt war, erleben mussten.“

**) Der zwischen Oesterreich und der polnischen Republik abgeschlos-
sene'diesfiillige Vertrng hetont d’e Zugehorigkeit der beiden Lander zur
Krone Bohmens ganz besonders und wurdeu dieselben auch nie ala polnische,

43

far das Herrschen ttnd fur das historische Staatsrecht Bdhmens
eingenommen ist, todtzuschweigen, weil die in diesen beiden Liin-
dern herrscliende Partei des polnischen Clubs von einer Zugeho-
rigkeit derselben zur Krone Bohmens nichts lioren will, ja bereits
nach Schlesien ihre Hiinde auszustrecken nicht libel Lust bat.

Der Appetit kommt eben, wie die Franzosen sagen, mit dem
Essen; wenn daher die fur das historische Recht der bohmisehen
Krone eintretenden Fiihrer der Altcechen sieh fur die unstreitig,
weil selbst nacli dem ausdriieklichen Wortlaute der zwisehen
Oesterreich und Polen abgeschlossenen Staa'tsvertrage, zur Krone
Bohmens gehorigen Herzogtlimer Auschwitz und Zator gar lrcht
interessiren: so wild sie, wie der dieselben leitende Polenclub
ganz riehtig voraussetzt, auch das Schicksal des etwa mit pol¬
nischen Zustanden zu begliickenden Schlesiens, welches am alt¬
cechischen Parteitage kaum einer Erwahnung gewlirdigt wurde,
dessen einziger slavischer Abgeordneter aber bereits dem Polenclube
angehoren ..soil, zuversichtlich kalt lassen, zumal das an sich all
Kronland zu kleine Schlesien einer politisch-administrativen Ver-
bindung mit den gedaehten zwei Herzogtiimern nothwendig be-
darf, woraus. sich aber zugleich die Wichtigkeit der Letzteren
fur die Krone Bohmens von selbst ergiebt. In dieser letzteren
Beziehung sind die an polnisehes Commando bereits gewohnten
altcechischen Fiihrer allerdings einer anderen Ansicht, und es
wurde, Angesichts des durch ein stenographisches Protokoll sicher-
gestellten Verlaufes des altcechischen Parteitages, kaum auffallen,
wenn nach einer etwaigen Etablirung der polnischen Herrschaft in
Schlesien, die altcechischen Fiihrer in ihren das Volk aufklarenden
Reden ausfiihren wiirden, dass das einst auch mit Polen in Ver-
band gestandene Schlesien eigentlieh als polnisehes Land in Be-
tracht, komme und folgerichtig auch cechischerseits insoferne zu
hegluckwiinschen sei, als auf seine Entwicklnng endlieh jene
Polnische Partei massgebenden Einfiuss iiben werde, welche der
Oesky klub stets als Yorbild des nationalen Selbstbewustseins,
sowie des heroischen, vor keinem Opfer zuriickschreckenden Patrio-
tismus und als hochste Autoritat iiberhaupt anzuerkennen nicht
umhinkonnte. —

*

* *

Der TonneFsehen Rede folgte die Rede des Vorsitzenden
Dr. Rieger, welche eigentlieh den Schluss der Reden der Fiihrer
bildet, da die mehr gefolgt’en kurzen Reden des Vorsitzenden

sondern stets' als bohmische, daiier znm deutschen Bande gehorige Lander
betrachtet, welche die Bnndesmatricularsteuer zu entrichten und zum Bun-
desheere ihr Contingent zu stellen hatten.

44

sowie des Professors Braf eigentlich nur als Erglinzungen derselben
in Betracht kommen.

In dieser Rede suchte Rieger den Inhalt der obigen drei
Reden dadurch zu ergiinzen, dass er die Bedeutung des bereits
vom Professor Braf gedachten und oben besprochenen Grund-
steuemachlasses, dann *des neuen Zuckersteueigesetzes, welches
die Zuckerindustrie Bohmens retten diirfte, sowie der fur den
Siiden Bohmens wichtigen Mahrisch-bohmischen Transversalbahn
hervorhob. Hierauf wies er auf jene bedeutenden Aenderungen
hin, welche im Laufe des letzten Decenniums bei den admini-
strativen und Gerichtsbehorden Bohmens sowie hinsiehtlich der
Repriisentanz im Landtage und dreier Handelskammern Boh mens
eingetreten sind und dem cechischen Elemente eine gerechtere
Behandlung, zugleich das naturgemasse Uebergewicht in den
autonomen Kbrperschaften des Konigreiches sichern. Rieger ist
es nicht unbekannt, dass diese Aenderungen allgemein als Fort-
schritt anerkannt, jedoch weniger dem Cfesky klub, noch weniger
der Reichsrathsma’joritat, sondern in erster Linie dem Wolwollen
zugeschrieben werden, welches die Regierung dem lojalen, opfer-
willigen und steuerfahigen cechischen Volke entgegenbringt; er
beniitzte daher diesen Umstand, um daran anknufend die Kurz-
sichtigkeit der Jungeechen, die der dermaligen Regierung durcbaus
Opposition machen, ja den Sturz derselben gerne herbeifiihren
mochten, zu geisseln. Dies ist ihm vollkommen gelungen, zumal
die Unterstiitzung einer Regierung, welche neuerlich durch die
Ernennung des Grafen Schbnborn zum Justizminister bei gleich-
zeitiger Belassung des Freiherrn von Prazak als Minister fiir
bohmische Angelegenheiten, wieder einen schlagenden Beweis
ihres Verstandnisses fiir die Bedeutung des cechoslavischen Volks-
stammes an den Tag legte, zu den unbestreitbaren Yerdienst-en des
Cesky klub gehbrt.

Wenn sich Dr. Rieger hiebei liinger aufhielt. als dies mit
Hinblick auf die ihrer erdriickenden Mehrzahl nach obnehin re-
gierungsfreundlichen Cechen geboten war: so wollte er hiedurch
offenbar eine Verquickung der der Regierung gegeniiber bekun-
deten correcten Haltung des Cesky klub mit dem von demselben
gegeniiber dem polnischen und anderen Clubs der Recbten ein-
gehaltenen Benebmen herbeifiibreu, um dieses leiohter rechtfertigen
zu kiinnen. Diese Rechtfertigung war Angesicbts der im Volke
gegen die dermalige Majoritiit des reichsriithlichen Abgeordneten-
bauses herrscbenden Stimmung . eine uberaus schwierige, wenn
Dr. Rieger durch Seine Rede nicht bloss auf die ihm blind er-
gebenen Zuborer, sondern aucb auf weitere Kreise wirken wollte;
er bot daher seine ganze Rednergabe auf, urn einerseits einen
Nexus der Regierung mit der Majoritiit des reichsriitlilichen Ab-

45

geordnetenhauses durchschimmern zu lassen, andererseits aber zu
beweisen, dass der Cesky klub ohne Unterstiitzung der anderen
Clubs der Rechten niclits zu erreichen vermoge, daher mit diesen
nothwendig Hand in Hand gehen miisse, zumal er sonst in die
Minoritat gedriingt werden wiirde. Dnd nun schilderte Dr. Rieger
die bittere Lage der zur Ohnmachfc verurtheilten Minoritat mit
ebenso grellen Farben, wie die Allmacht der Majoritiit, welche
Alles vermoge, selbst, die Staatsgrundgesetze, insbesondere auch
das die Gleichberechtigung der Nationalitaten verbiirgende Staats-
grundgesetz durck einfache Interpretationen alien Wertes ent-
kleiden konne.

Ihren Zweclc hat die an sich glanzende Dialektik Riegers,
so weit sich dies bisher iibersehen lasst, ganz verfehlt, nicht nur
Weil sie gegen den Grundsatz „qui nimium probat, nihil probat“
arg verstbsst, sondern auch deshalb, woil Riege v r selbst nicht
nmliin konnte, die Freundschaft der mit dem Cesky klub die
Majoritiit bildenden Clubs in demselben sonderbaren Lichte er-
scheinen zu lassen, in welchem sie sich den Cechoslaveu gegen-
uber seit geraumer Zeit nur zu deutlich manifestirt.

v  Dr. Rieger war ja, um die Erfolglosigkeit der Wirksamkeit
def Cesky klub auf nationalem Gebiete zu entschuldigen, genothigt
darauf hinzuweisen, dass es der Cesky klub gerathen finde,
gewisse den Cechen am Herzen liegende Angelegenheiten, ftir
welche die Zustimmung der mit ilirn die Majoritiit bildenden
Clubs nicht zu erhalten sei, offentlich gar nicht zur Spracke zu
bringen, da dies die Majoritiit gleich einem Keile auseinander-
t.reiben konnte und dennoeh Zeuge der Erfahrung ein Schlag ins
Wasser wiire, daher der gegnerischen Presse nur Stoff zu witzigen
Ausfiillen gegen die Cechen bieten wiirde. Allein in diesem, von
Rieger zugestandenen Umstande liegt ja eben einer der Haupt-
griinde der immer nocli im Steigen begriffenen Missstimmung,
welche die Cechoslaven gegeniiber der Majoritiit des reichsrath-
lichen Abgeordnetenhauses in ilirer dermaligen Zusammensetzung
an den Tag iegen, weil sie vor Allem ihre gefiilirdete Nationalitat
durch ein tiber die Durchfuhrung der nationalen Gleichberechtigung
nach dem Geiste und Buchstaben des grudgesetzlich bereits aus-
gesprochenen Principes zu erlassendes Reichsgesetz gesichert
wissen wollen, dieses Iedigliche Durehfuhrungsgesetz aber An-
gesichts des Widerstandes zweier die Majoritiit mitbildenden
Clubs nicht einmal zur Spracke gebracht werden kann.

Hiernach wird aucli dieHehauptung Riegers, dass die viele
Feinde und nur wenig Freunde ziildenden Cechen die Letzteren
hochbalten miissen; der Cesky klub sick daher nothwendig an
den polnischen als den zahireichaten, zugleicb an den Club der
conservative!! Deutschen als den eiuzigen, den Cechen aufrichtig

46

gleiches Recht, zuerkennfenden anlehnen mi.issfi, kaum irgend
Jemand begriindet finden. AIs aufrichtige Freunde des cecho-
slaviselien Volksstamm.es kdnnen jene Parteien, beziehungsweise
Club? nicht in Batrackt kommen, wdche die ihnen sichere Unter-
stiitzung des z.ihlreichen Cesky klub voll ausbeutend, denselben
dafur in minder belangreichen, aucb von der Regierung aus
Billigkeitsrucksichten befiirworteten Angelegenheiten unterstutzen;
dagegen fur die vitalen Interessen des cechoslavischen Volkes so
ganz und gar kein Verstandniss verrathen, dass sie die Aus-
iibung seines staatsgrundgesetzlich im Principe anerkannten
Rpclit.es auf Wahrung und Pflege seiner Nationalitiit und Spracbe
niclit nur behindern, sondern sogar ein entschiedenes Streben be-
kunden, diese Recbte allmiillig in unauffal lender Weise an nicht-
nationale Organe zu tibertragen und dadnrch den Artikel XIX. des
Staatsgiundgesetzes iiber' die Rechte der Staatsbiirger der ihm
innewohnenden eminenten Bedeutung zu entkleiden.

Wie Angesichts der letztgedachten Thatsacbe Dr. Rieger den
deutscbconservativen Club, der bekanntlich einen, auf die Ueber-
tragung des nationalen Schulwesens an nicht nationale Organe
abziehlenden Gesetzentwurf bereits eingebracht hat, dennoch als
den einzigen bezeichnen konnte, der dern cechischen Volke auf-
richtiges Wolwollen entgegenbringe: ltisst sich nur an der Hand
der. bereits besprochenen Thatsache erkliiren, dass Rieger in pol-
nisch-magyarischer Weise consequent an der fictiven Idealitiit des
ihn ausschliesslich interessirenden specifischen Gechentums mit
dem b&hmischen Landtage festhalt, obschon dieser sicli gesetzlich
aus Vertretern zweier einander befehdender Vblker, .iiberdies auch
noch aus Vertretern des eben in nationalen Fragen indifferenten
Grossgrundbesitzes zusammensetzt. Allein das niichterne cecho-
choslavische und selbst das specifisch cechische Volk baut nicht
auf Fictionen, ist auch nicht gewillt, sein staatsgrundgesetzlich
anerkanntes gutes Recht der Wahrung und Pflege seiner Natio
nalitiit und Spracbe durch andere als durch die dasselbe vertre-
tenden, daher ausschliesslich eompetenten reinnationalen Organe
iiben zu lassen; betrachtet vielmehr jede Hinausschiebung der
Aetivirung der Letzteren als Attentat auf seine gefahrdete Na-
tionalitiit.

Die Sucht nach der Herrschafc innerhalb eines gewissen
Territoriums iiber andere, nach Millionen zahlende Volksstiimme
nach polnisch - magyarischen Muster, welclie der Abgeordnete
Tonner durch seine Rede im cechischen Volke anzufachen unter-
nahm, liisst einen Volksstamm kalt, der Alles anwendet, um
durch die Beseitigung der Herrschaft des deutschen Elementes,
so selir diese auch in der Geschichte des deutschen Reiches und
selbst Oesterreiehs wurzeln mag, fiir sich die ihm im Principe

47

staatsgrundgesetzlich verbiirgt.e natmnale Gleiehberechtigung zu
erkampfen. Die Cechen sind aucli entwickelt genug, utn einzu-
sehen, dass das, was kleinen Yolkern in alter Zeit und selbst im
Mittelalter noch moglich war, heute unerreichbar erscheint. Sie
waren ja klug genug, um sicli nacb Ablauf des Mittelalters so-
fort. an die habsburgisclie Hansmacht anzulehnen, und sahon gleich
darauf auch das einst machtige Ungarn ihrem Beispiele folgen,
dritthalb Jnhrhunderte spiiter aber das Reich der Polen, die dor
Herrschaft fiber andere Volker nicht entsagen wollten, in Tram¬
mer gehen. Die Cechen und die Cechoslaven im AUgemeinen
sind auch des, jeden Fortschritfc bemmenden, zngleich das An-
sehen des Reiches schiidigenden nationalen Kampfes Uberdriissig
end wissen nur zu gut, dass dieser dutch ihr Herrschen fiber die
Dmtschen verewigt warden wfirde, fiberdies zu mancherlei Com-
plicationen fiihren konnte.

Die Herrsehaft fiber andere, nacli Millionen ziihlende Volker
ist es daber nicht, was der fechoslavische- Volksstamm anstrebon
zu sollen erachfef, znmal er selbst c3io Verhiiltnisse, wie sie heute
in Ungarn und Galizien bestehen, als unhalt bar, zngleich die In-
teressen des Reiches, ja selbst der herrschenden Parteien gefa.hr-
dend in Retracht zieht. Wenn aber die Absicht des von Tonner
betonten Herrschens entfiillt, dann ist es scliwer einzusehen,
Waium einseitig nur die Cechen ein besonderes Staatsrecht oder
eino erweiteite Antonomle und zwar nicht fur sich, sondern fur
das Kdnigreieh Bob men, oder vielleicht, was heute nicht ganz
klar ist, fur die Lander der bdhmischen Krone, also jedenfalls auch
ffir Millionen Deutscher anstreben, die eine so erweiterte Auto-
nomie nicht wttnschen, ja perhorresciren? „Invito beneficium ob-
trudi non potest,“ und die Deutschen Bohmens durften sich nach
der durch Dr. Rieger in den grellsten Farben geschiklerten All-
maeht der Majoritaten einerseits und der ffirchterlichsten Lage
der Minoritaten andererseit.s, erst recht gegen des ihnen aufzu-
bfirdende Beneficium zur Wehr setzen.

Der cechoslavische Volksstamm bedarf vor Allem und zwar
dringend eines, auf gesetzlicher Grundlage zusammengesetzten,
daher staatlich anerkannten reiunationalen autonomen Organes,
um das lhm als juristische Person zustehende Recht der Wahrung
Und Pfbge der Nationalitat und Sprache ausiiben zu kiinnen,
also eines Durchffihrnngsge~'etzes zu dem wiederholt gedadhten,
da; nationale Gleichberechtigung aller Volker verburgenden Staats-
gnindgesetze, zumal das dem '"Volksstamme in seiner Giinze, so-
weit er mindestens innerha'b Bohmens, Mahrens und Schlesiens
in grossen Massen zusamnrenhangt, zustehende eminente Recht
kein Organ ausiiben kann und darf, welches nur einen Theil des
Volksstammes zu vertreten berufen oder aus verschie lenen na

48

tionalen Elementen zusammengesetzt ist. Wenn daher irgend eine
Partei im Abgeordnetftnhau.se des Reichsrathes das Zustande-
kommen eines solchen Durchfiihrungsgesetzes behindert, hinaus-
schiebt oder gar das Zustandekommen von Gesetzen betreibt,
welche das die nationale Gleichberechtigung verburgende Staats-
grundgesetz seiner Bedeutung zu entkleiden geeignet sind: so
kann eine solche unmoglich als dem ceehoslavischen "Volke be-
freudet in Betracht gezogen werden, zumal sie durch ihr Vor-
gelien aucli der Einbiirgerung des nationalen Friedens entgegen-
tritt, dessen alle Volker bediirfen, insbesondere aber das cecho-
slavische, urn seine gefahrdete Nationalitiit zu siehern. Dass der
cechoslavische Volksstamm, insbesondere dessen Bauernstand und
niedere Volksschichten tiberhaupt, der Allianz des Cesky klnb
mit dem Polenklub auch noch aus anderen tiefwurzelnden Gritnden
abgeneigt ist, kann nach den obigen einschlagigen Ausfuhrungen
nicht weiter auft'allen.

Die heute durch den Polenclub vertretene Partei hat ja
Zeuge der oben aufgerollten Goschi elite Polens in der Bedriicknng
der niederen Volksschichten das Unglaubliche geleistet und steht
in dieser Richtung, Zeuge der galizischen Landesgesetze und Ge-
setzvorschliige, sowie der neuester Zeit verschlimmerten Lage des
friilier in erfreulicher Aufnahtne begriffenen galizischen Bauern-
standes, noch heute uniibertroffen da. Unser schlichtes Landvolk,
welches, wie gesagt, die Geschichte Polens sowie die Lage der
galizischen Landbevolkerung kennend, es nicht zu fassen vermag,
wie der Polenclub im Abgeordnetenhause des Reichsrathes eine
dem Streben seiner Partei im galizischen Landtage schnur.stracks
entgegesetzte Richtung verfolgen kann, verharren auch nach dem
Parteitage test bei ihrer Ansieht, dass es der Polenclub sei, der
nicht nur die Durchfuhrung der nationalen Gleichberechtigung,
wie er dies in Betreff des Banknotentextes often zu documentiren
kein Bedenken trug, behindert, sondern auch gegen die Interessen
der unteren Volksschichten, speciell der Landwirte zu wirken
nicht umhinkann, zumal seine Partei mit der heute herrschenden
liberalen magyarischen Partei seit 1848 unter einem Idute steckt.
Aber auch das nationale Selbstgefuhl unserer Intelligenz fiihlt
sich durch das riicksichtslose Grassiren der Partei des Polenclubes
in alien die diesseitige Reichshiilfte betreffenden Angelegenheiten
tief verletzt, zumal diese Partei bekanntlich kein Volk hinter sich
hat und sich dennoch herausnimmt, uns zu meistern, uns Ver-
haltungsmassregeln zu ertheilen, ja mitunter mit der Ktindigung
ihrer sehr zweifelhaften Freundschaft zu drohen oder uns, wie es
anlasslich der vorletzten Delegationen der Fall war, in den wich-
tigst.cn Reichsangelegenheiten sogar Stillschweigen aufzuerlegen, um
die grossen polnisclicn Politiker, n risum teneatis 11 , nicht zu beirren

49

Freilich kiimmert sich auch der Cesky klub wenig um das
Durchfuhrungsgesetz zum Artikel XIX. des Staatsgrundgesetzes
iiber die Reckte der Staatsbiirger, sonst hatte er die Gelegenheit
gegen die bekannte Scharschmidtsche Vorlage, mit einer anderen,
dem Geiste und Buchstaben des gedachten Staatsgrundgesetzes
entspreehenden Vorlage aufzutreten, sich kaum entrinnen lassen;
auch hatte Dr. Rieger nicht zu Gunsten derFiirst Liechtenstein-
schen Schulgesetzvorlage sich ausprechen konnen, wie er es in
seiner Eroffnungsrede, obschon mit einiger Vorsicht, leider gethali
hat. Der Cesky klub liess sich eben aus dem cechoslavischen in
das cechische Fahrwasser bougsiren und befindet sich heute,
wie gedacht, bereits im polnischen Fahrwasser, in welchem die
Stimme des Volkes ungerne vernommen wird. Allein das cecho-
slavische Volk, welches die Sieherung seiner nationalen Exi-
stenz auf unverriickbarer Grundlage anstrebend, seit mehr als
zwanzig Jahren mit Ungeduld der Gelegenheit harrt, um das ihm
prineipiell durch ein Staatsgrundgesetz zuerkannte Recht auf
Wahrung und Pflege seiner Nationalitat und Sprache ausiiben zu
konnen, will endlich iiber diese vitalen Angelegenheiten in den
dazu competenten staatlich anerkannten autonomen Korperschaften
sprechen und beschliessen.

Dieses, auch von Dr. Rieger in seiner Eroffnugsrede betonte
Bedtirfniss*) wird allgemein so tief empfunden, dass bereits Vor-
schlage auftauchen, um behufs Wahrung und Pflege der Natio¬
nalitat und Sprache im Wege von Vereinen einen nationalen
Organismus des gesammten cechoslavischen Volkes zu Stande zu
bringen. Solche ganze Volker umfassende Organismen konnen
jedoch, ganz abgesehen von den Gefahren, welelie sie in sich
bergen, nicht befriedigen, da die Stimme von Vereinen nicht
als gesetzlicher Ausdruck der Ansicht des Volkes in Betracht ge-
zogen werden kann, daher des erforderlichen Gewichtes entbehrt;
die Wirksamkeit von Vereinen iiberdies, angesichts kritiseher Lagen,
durch die Regierung im Sinne unserer Qesetze zeitweise ein-
geschrankt, nach Erforderniss auch ganz eingestellt werden kann.
Dieser letztere Umstand stellt es zugleich ausser Zweifel, dass
dem Gesetzgeber bei Schaffung des Artikels XIX. des Staats¬
grundgesetzes iiber die Recht e der Staatsbiirger nicht Vereine,
sondern nach Vorschrif't eiues eigenen Gesetzes zusammengesetzte,
also staatlich anerkannte autonome Organe vorschwebten, mittels
deren die Volksstamme das ihnen anerkannte eminente Recht
zu iiben haben. Wenn nun d'&s fiechoslavische Volk Zeuge seiner
und zwar nicht etwa bios der jungcechischen Presse dessen-

Der einschliigige Passus des stenographischen Protokolles lautet:
„unter den Momenten,. welehe unser Volk interessiren, ist das nationale
Moment  und jenes unserer politischen Fortschritte (?; maassgebend.“

4

50

ttngeachtet die Schaffung eines nationalen Organismus im Wege
von Vereinen anstreben zu miissen erachtet: so zeigt dieses Streben
zugleich, dass die bestehenden autonomen Organe nicht den Beruf
und, vermoge ihrer Beschickung und Zusammensetzung, auch
nicht die Eignung haben, das dem Volksstamme zustehende Recht
zu iiben, und dass eben deshalb der Abgang des diesfails von ein-
schlagigen Staatsgrundgesetzen in Aussicbt genommenen autonomen
nationalen Organes der so hochgepriesenen Majoritiit des reichs-
rathlichen Abgeordnetenhauses, besonders aber dem, die Erbaltung
dieser Majoritat als das Alpha und Omega seiner Wirksamkeit
betrachtenden Cesky klub bochst libel genommen wird.

Dass der, in Folge seiner Theilnahme an den reichsrathlichen
Verbandlungen, auf dem Boden der Verfassung stehende Cesky
klub iiber das besondere bohmische Staatsrecht, beziehungsweise
liber die Erweiterung der Landesautonomie Bohmens, welcher ihrer
Natur nach ohnehin. keine Dringlichkeit innewohnt, bisher im
eigenen und im Interesse der durch ihn gestutzten Clubs schweigen
zu sollen erachtete: finden alle Verstandigen, und zwar selbst die
Anhanger des Landerfoderalismus vollkommen gerechtfertigt, da
es sich bei Antragen dieser Art um die Erlangung einer Zwei-
drittelmajoritat handelt, welcbe nicht zu erzieleu war und ist.
Wenn jedoch der Cesky klub eine dringende vitale, weil die ge-
fahrdete Nationalitat zu sichern allein geeignete Angelegenheit,
obschon dieselbe die ledigliehe Durchfiihrung eines Staatsgrund-
. gesetzes umfasst, nicht einmal anregt und in Fluss bringt: so
muss dieser auffallende Dmstand ein unheimliches Gefiihl erzeugen,
zumal der slovenische Abgeordnete Domherr Dr. Gregorec fur
dieselbe Angelegenheit offen und muthig eingetreten ist; der als
Hauptstiitze der Majoritat in Betracht kommende Cesky klub
aber die mit ihm die Majoritat bildenden Clubs bei jeder Ge-
legenheit, speciell den herrschenden, daher Ausschlag gebenden
polnischen Club nicht nur in Angelegenheiten, welche eine nam-
hafte Belastung der Stpuertrager nach sich ziehen, sondern auch
in seinem Streben nach einer Sonderstellung und Polonisirung
Galiziens, ja sogar bei der Veriiicirung seiner Mitglieder, bei
welchen uns mitunter die Schamriite ins Gesicht steigt, kriiftigst
zu unterstutzen nicht unterlasst.

Der Cesky klub moge sich nicht wuridern, wenn sich gegen
denselben, bei so bewandten tlmstanden, nicht nur die Jung-
cechen, sondern in steigender Progression auch seine bisherigen
Anhanger erheben; wenn allgemein dariiber, dass seit einem
Decennium in der Hauptsache, njimlich hinsichtlich der Siclie-
rung der Nationalitat auf un verrlickbarer Grun diage,
nichts erreicht wurde, geklagt wird; wenn sich grosse Volks
massen von den slavisch angehauchten, die Durchfiihrung der

51

nationalen Gleichberechtigung anstrebenden und folgerichtig gegen
die gepriesene Majoritat in ihrer dermaligen Zusammensetzung
riickhaltslos auftretenden Jungcechen, obsehon sie deren liberale
Phrasen und Autagonismus gegen die Regierung entschieden miss-
billigen, so hinreissen lassen, dass sie ihre altcechischen Ab-
geordneten mitanter verhohnen*) und, bei sicli ergebender Ge-
legenheit, durch Jungcechen zu ersetzen trachten. Das Volk
kann diesfalls kein Vorw.urf treffen; es ist ja ganz in seinem
Rechte, wenn es durch eine solche Handlungsweise seinen schwer-
horigen Mandataren zu verstehen giebt, dass es die von denselben
auf nationalem Gebiete, insbesondere hinsichtlich der Durchfiihrung
derim Principe staatsgrundgesetzlich verbiirgten nationalen Gleich¬
berechtigung an . den Tag gelegte Unthatigkeit, beziehungsweise
Abhiingigkeit von dem Polenclube missbillige und der dermaligen
Majoritat des reichsrathlichen Abgeordnetenhauses kein Zutrauen
entgegenbringen konne, daher von deren Sprengung eine Schadigung
seiner Interessen nach keiner Richtung hin besorge.

Die Lage der Minoritaten in autonomen Korperschaften ist
im Allgemeinen allerdings keine beneidenswerte, sie fuhrt daher,
wenn sie sicli ahnlich jener der slovenischen Minoritaten in
Steiermark oder Karnten, als eine voraussichtlich continuirliche
herausstellt, nothwendig zur Unzufriedenheit; sie kann sogar, be-
sonders wenn |ie, wie beispielsweise in Mahren oder Galizien
kunstlich herbeigefuhrt wird, Verzweiflung, sonach unter gege-
benen Verhaltnissen bedauernswerte Ausschreitungen hervorrufen,
und hierin liegt eben die unerquickliche Lage unserer natio¬
nal gemischten Kronlander. Allein zwischen den continuirlichen
Minoritaten, wie sie in einigen Landtagen vorkommen, und den
Minoritaten im reichsrathlichen Abgeordnetenhause besteht der
von Professor Braf und Dr. Rieger verschwiegene gewaltige
Unterschied, dass die letzteren nie als continuirhch in Betracht
kommen ktinnen, und dass dieselben selbst wiihrend der Zeit, wo
sie noch als Minoritaten dast.ehen, vielfach in die Lage kommen,
durch ihre Stimmen der Majoritat gefiihrlich zu werden, daher
eine Stellung einzunehmen, welche nur klug ausgeniitzt werden
will, um gerechten, sogar auf Staatsgrundgesetzen fusseftden An-
spriichen Geltung zu verschaffen. Dies gielt selbst .von kleineren
Clubs, die, falls §ie ihre Unabliangigkeit zu wahren verstehen, nicht

*) Anliisslich der Bemerkmig des Dr. Pippich, dass die altfiechischen
Abgeordneten zu wenig den Contact mit ihren Wahlern pflogen, wurden
diese von Dr. Rieger mit den, dem stenographischen Protokolle entnommenen
nachstehenden Worten entschuldigt.: „wenn aber das Volk auf unvernunftige
Weise aufgehetzt wird, wie dies den Herrn Hevera und Fischer in Koniggratz
geschah, so flosst dies den Abgeordneten sicherlich wenig Lust ein, sicb
solchen Scandalen auszusetzen (Vyborn<5!)“'

4 '^

52

selten das Ziinglein an der Wage spielen. Was wiirde erst der
uber eine imposante Anzahl von Stimmen verfiigende Cesky klub
durchzusetzen in der Lage sein, wenn er, mindestens vorlaufig,
die behufs Hirer Realisirung einer Zweidrittelmajoritat bediirfenden
Anspriiche bei Seiten setzend, die Majoritat des reichsrathlichen
Abgeordnetenhauses nicht als Zweck, sondern als ledigliches
Mittel zum Zwecke ansehen; daher, bei Wahrung seiner Unab-
hiingigkeit, nur jene Parteien unterstiitzten moelite, welche im
Vereine mit ihm vor Allem die jeder Majoritat ermoglichte Durch-
fiihrung des, die nationale Gleichberechtigung verbiirgenden Staats-
grundgesetzes mittels eines eigenen Reichsgesetzes zu Stande
bringen wiirden!

Der oft betonte aufrichtige Wille der dermaligen Regierung,
die nationale Gleichberechtigung zur That werden zu lassen und
folgerichtig, an dem staatsgrundgesetzlich verbiirgten diesfalligen
Rechte der Volker nicht zu riitteln, kann nicht in Zweifel ge-
zogen werden. Es lag daher seit einem Decennium und liegt
heute noch am Cesky klub, die gefabrdete Nationalitat des cecho-
slaviscben "Volkes nicht im Wege von Concessionen der Regierung,
welche bei geiinderten Verhiiltnissen zuriickgenommen werden
konnen,' sondern auf unverriiekbarer Grundlage, also bleibend zu
sichern, wenn er sich nur ermannt, von den durch ihn stets bereit-
willig unterstiitzten Clubs auch einmal eine Unterstiitzung in
der vitalsten Frage seiner Mandanten ernstlich in Anspruch zu
nehmen, ohne zuriickzuweichen. Dies fiihlt offenbar der, weiter
als manche seiner Abgeordneten Collegen sehende Dr. Rieger
selbst am meisten; da er es sonst kaum unternommen haben
wiirde, die Verhaltnisse im reichsrathlichen Abgeordnetenhause so
darzustellen, als ob die Erhaltung der dermaligen Majoritat des-
selben lediglich im Interesse des cechoslavischen Volkes, nicht
auch der conservativen Deutschen und der, diese Majoritat seit
ihrem Bestande zumeist ausntitzenden Partei des polnischen Club
gelegen wiire. So stehen die Sachen nicht; das mannliche Auf-
treten des Cesky klub in einer vitalen Angelegenheit seiner Com-
mittenten hatte daher Erfolg gehabt und wiirde ihn auch der-
malen noch erzielen, sogar ohne den Bestand oder auch
nur eine Lockerung der gepriesenen dermaligen Majoritat naeh
sich zu ziehen.

Diese, Majoritat wiirde eben durch die Verwirklichung der im
einschlagigen Staatsgrundgesetze alien Volksstammen gleich-
m a s si g verbiirgten Gleichberechtigung die ihr abgehende Festigung
liingst erlangt haben, da ein Reagiren gegen dieselbe nicht nur im
cechoslavischen Volke Bdhmens, Mahrens und Schlesiens, sondern
auch bei anderen Viilkern, speciell bei den Slovenen und den Russen
Galiziens gar nie hiitte aufkommen konnen. Wenn aber wider

53

Erwarten die mit dem Cesky klub alliirten Clubs, insbesondere
der bier zunachst in Betracht kommende zahlreiche Polenclub
es vorgezogen haben wiirde, seine iiberaus giinstige Stellung,
am nicht zu sagen Herrschaft, in der bestehenden Majoritat auf-
zugeben, um nur die Durchfiihrung des fur das Reich wichtigsten
Staatsgrundgesetzes zu behindern: dann ware es, wie allgemein
angenommen wird, Pflicht des Cesky klub gewesen, das Zugrabe-
tragen einer solchen Majoritat, welche seinen Mandanten auf
nationalem Gebiete feindlich gegeniibersteht, auf sonstigem Gebiete
aber ein Vertrauen abzuringen nicht vermag, nicht zu behindern
und nicht zu beweinen. Der etwaige Einwurf, dass dadurch
moglicherweise die Stellung der dermaligen Regierung hatte
leiden konnen, entbehrt jeder haltbaren Grundlage, da diese
uber den Parteien stehende Regierung, was den Mitgliedern des
Cesky klub nicht unbekannt sein kann, nur zu wollen braucht,
um aus Galizien ganz andere Elemente in das Abgeordnetenhaus
des Reichsrathes einziehen zu lassen; sich iibrigens auch ohne
uber eine ausgesprochene Majoritat zu verfiigen, selbst in jener
Zeit ganz gut zu erhalten wusste, wo sie noch nicht in dem
Maasse auf das Vertrauen aller Volker rechnen konnte, wie es
derselben heute entgegengebracht wird.

Unser, als habsburgisehe Hausmacht seit vielen Jahrhunderten
bestehendes Oesterreich wusste sich ohne Reichsrathsmajoritaten,
ja selbst ohne Reichsrath zu entwickeln und auf die angrenzenden
Volker eine Anziehungskraft auszuiiben, welcher es seine Gross-
machtstellung verdankt; es ware daher sonderbar und hochst
traurig, wenn das Wol und Wehe desselben und seiner Volker,
also auch des cechoslavischen, von nun an sogar ausschliesslich
von einer Majoritat des reichsrathlichen Abgeordnetenhauses ab-
hiingen sollte. Diese Majoritat kann und wird, wie dies in der
Natur repriisentativer Korpenschaften liegt, haufig wechseln.;
wer daher auf die heutige Majoritat und sogar auf deren der-
malige Zusammensetzung baut, hat auf Sand gebaut. Das cecho-
slavische Volk baut auf jenen hoch iiber alien Parteien stehenden
und in letzter Analyse allein maassgebenden Factor, der, zum
Herrschen iiber alle Volker des von seinen glorreichen Vorfahren
gegriindeten, vergrosserten und gefestigten Reiches berufen, nie,
so viel auch die Majoritaten in den reprasentativen Korper-
schaften wechseln mogen, zugeben kann, dass irgend eines dieser
Volker, entgegen den von ihmjsanctionirten Staatsgrundgesetzen,
von einem anderen Volke nachhaltig beherrscht, bevormundet
oder gar entnationalisirt, dadurch das seit jeher als Rechtsstaat
bekannte alte hochwurdige Oesterreich in seinen Grundfesten
unterwiihlt werde. Die Cechoslaven wollen daher, wie erwahnt,
nicht iiber andere Volker herrschen, beneiden auch die Magyaren

54

und Polen um ihr dermaliges Herrschen nicht, zumal sie dasselbe
als unhaltbar in Betracbt ziehen; sie ftirchten auch keinen wie
immer gearteten Wechsel in den Majoritaten der reprasentativen
Korperschaften, wol wissend, dass die von denselben beschlos-
senen Gesetze ausnahmslos nach der Befiirwortung der Regierung.
insbesondere aber der kaiserlichen Sanction bediirfen, um Geltung
zu erlangen.

Wenn dem gegeniiber Dr. Rieger auf die Ansichten der Mit-
giieder der macbtigen deutschen Oppositionspartei in reichsriith-
lichen Abgeordnetenhause binweist, die dem cechoslavischen
Volksstamme und den Slaven im Allgemeinen durchaus kein
gleiches Recht zuerkennen wollen: so konnen wir ihm um so
weniger widersprechen, als gerade die Slaven Mahrens von den
Folgen dieser Ansichten heute sogar weit mebr als zur Zeit der
deutschen Reichsrathsmajoritat zu leiden haben. Dieser letztere
Umstand, welcher den Niedergang unserer Nationalitat und Sprache
befiirchten lasst, ist aber sehr belehrend, indem er unwiderleglich
darthut, dass unser Volksturn nicht von einer etwaigen geg-
nerischen Majoritat des reichsrathlichen Abgeordnetenhauses, son-
dern dadurch bedroht sei, dass wir es mit einem machtigen
nationalen Gegner zu thun haben, der ungeachtet seiner, lhn
kaum wesentlich beriihrenden Minoritiit im gedachten Abgeord¬
netenhause, cultured mit alien Deutschen innerhalb und ausser-
halb der Grenzen unseres Reiches geeinigt, auch ohne einen ander-
weitigen Organismus . als machtiger cultureller Factor dasteht,
wahrend wir, in kleine Stiimme gespalten, selbst des uns vor
mehr als zwanzig Jahren durch ein Staatsgrundgesetz eigens
behufs Wahrung unserer Nationalitat und Sprache in Aussicht
gestellten autonomen Organes noch immer entbehren miissen.

Ja bedroht wird unser ohnehin bereits stark angefressenes
Volksturn vorzugsweise durch die Maclit der deutschen Cultur,
deren Einwirkung durch unsere geographische Lage offenbar ge-
fordert wird, nicht aber auch durch uns ungiinstige Gesetze, an
deren Zustandekommen wir eben so wenig glauben, wie an die
Moglichkeit einer nachhaltigen  deutschen Reichsraths-Majo-
ritat. Wenn jedoch eine solche Majoritat wider Erwarten zu Stande
kommen sollte, so'wiirden wir dieselbe nicht zu fiirchten haben;
da sie dann im Bewusstsein ihrer Verantwortung wie einst, wo
sie das, die nationale Gleichberechtigung verbilrgende Staats¬
grundgesetz verfasste. genbthigt ware, der nichtdputschen Majo¬
ritat der Reichsbevolkerung die deutsche Uebermacht nicht em-
pfinden zu lassen. Gefahrlich sind uns die Deutschen in ihrer
heutigen oppositionellen Minoritat, weil sie hier durch keine Ver¬
antwortung, durch keinerlei Rucksichten behindert, den ganzen
riesigen Apparat ihrer Cultur und ihre grossartigen, erforderlichen

55

Falles selbst, aus Deutschland zur Verfiigung stehenden materiellen
Mittel gegen uns a.ufzutreiben in der Lage sind, wahrend wir
eines nationalen Organismus ganz und gar entbehren.

Angesichts dieser, einer Abhilfe dringend bediirftigen Lage
moge der Cesky klub die dermalige Majoritat, deren festeste
Stlitze er bildet, im Interesse seiner Mandanten rechtzeitig aus-
zunutzen ja nicht unterlassen, damit wir durch dieselbe, die nach
Dr. Rieger Alles vermag, endlich in den Besitz des zur Walirung
unseres Volkstumes durch ein Staatsgrundgesetz in Aussicht ge-
nommenen, reinnationalen Organes gelangen; in demselben unser
nationales Programm, liber welches heute viel gestritten wird,
feststellen und uns dadurch gegen jeden Angriff auf unsere Na-
t.ionalitat und Sprache sichern. Wir haben nebst dem aus zwei
Hausern bestehenden Reichsrathe eine ganze Menge grosserer,
kleinerer und sehr kleiner Landtage; wir haben Bezirksvertretungen,
sowie Handels- und Gewerbekammern; wir befassen uns mitunter
mit Landesculturrathen oder Ackerbaukammern und mit Arbeiter-
kammern ; soil denn in der That nur die Vertretung. der Volks-
staname fort und fort todtgeschwiegen werden, um die Volker an
der Austibung des eminenten Rechtes auf Wahrung und Pflege
ihres Volkstumes zu behindern, dadurch aber zugleich eines der
wichtigsten Staatsgrundgesetze illusorisch zu machen?

Die Dringlichkeit eines diesfalligen Reichsgesetzes auch in
anderer Richtung wurde bereits besprochen, und an den wol-
thiitigen Folgen desselben lasst sich um so weniger zweifeln, als
es die, der Entwicklung aller Volker und dem Ansehen des
Reiches gleich nachtheiligen nationalen Fehden bleibend zu be-
seitigen ganz geeignet 1st. Die Ursache des zwischen den Cecho-
slaven und Deutschen entbrannten nationalen Kampfes wurzelt
ja, wie allgemein bekannt, in der begrtindeten Angst der Slaven
um ihre Nationalitat und Sprache, also um ihre Existenz, welche,
durch das seit einem Millenium andauernde unaufhaltsame Vor-
dringen der Deutschen in ostlicher Richtung, gefahrdet erschemt
einerseils und, durch die Angesichts der, an der Nord- und Ost-
see, sowie an der Elbe, Oder und Weichsel bereits erzielten rie-
sigen Erfolge nicht minder begriindete Hoffnung der Deutschen
auf Befriedigung ihres Dranges nach Osten andererseits. Das Er-
scheinen eines dem Geiste und Wortlaute des Artikels XIX. des
Staatsgrundgesetzes liber die Rechte der Staatsburger entsprechenden
Reichsgesetzes, welches jedem Volksstamme die Austibung seines
eminenten Rechtes auf Wahmng und Pflege seiner Nationalitat
und Sprache mittels eigener nationaler autonomer Organe voll
ermoglicht, wird die Angst der Slaven um ihre Existenz, wenn
sich dieselben, wie ieh iiberzeugt bin, auch in ihren westlicbsten
Auslaufern noch lebensfahig erweisen, binnen der kurzesten Zeit

56

ebenso verschwinden machen, wie die Hoffnungen der Deutschen
auf eine weitere Befriedigung ihres Dranges nach Osfcen und —
der rationale Friede zwischen den Slaven und Deutschen muss
binnen Kurzem perfect werden. Sollte wider Vermuthen einem oder
dem anderen slavischen Stamme die Fahigkeit in der That bereits
abhanden gekommen sein, sein Volkstum, ungeachtet der ihm
hiezu gebotenen gesetzlichen Mittel, zu wahren : so wird derselbe
gegen seine Germanisirung nicht weiter ankampfen, diese viel-
mehr in richtiger Erkenntniss seiner Lage nach Kraften mitfcirdern,
was gleichfalls zu einem nachhaltigen Frieden ftthrt.

Dieser nationale Friede wird seine wolthatigen Folgen auf
alle Volker, die dann, von gegenseitigen Verdiichtigungen ab-
sehend, ruhig ihr Volkstum entwickeln konnen, ja selbst auf das
Abgeordnetenhaus des Reichsrathes auszuiiben und in denselben
sowie allenthalben gesunde Zustande einzubiirgern nicht ver-
fehlen. Das Anstossige, das Schroffe der deutschen Opposition
im Abgeordnetenhause diirfte ebenso entfallen, wie die permanente
Allianz der heutigen Clubs der Rechten fiir alle Falle. Wenn
aber, wie vorauszusehen, die Mehrzahl der deutschen Abgeord-
neten nachhaltig mehr den liberalen, die Mehrzahl der slavischen
Abgeordneten aber mehr den conservativen Anschauungen hul-
digen sollte: so wurde dies die hoehst wiinschenswerte gehorige
Wurdigung sachliclier Motive ohne Riicksicht auf die Seite, von
welcher sie ausgehen, kaum behindern, daher das Zustandekom-
men von Beschliissen durch grosse Stimmenmehrheit haufiger als
bisher ermoglichen. Dies niusste einerseits die Stellung der Re-
gierung erleichtern, andererseits aber das Ansehen der diesseitigen
Reichshalfte so heben, dass der fiihlbare Druck der jenseitigen
Reichshalfte auf alle unsere Angelegenheiten bald aufhoren und
folgerichtig, auch die bei den Magyaren immerfort auftauchenden
neuen Anspriiche seltener werden durften.

Fiir ganz unglilcklich halte ich den, auf den Dualismus be-
zuglichen Theil der Rieger’sche Rede, weil durch die einschlagigen
Erorterungen die iiberhaupt nicht zu versohnenden Magyaren
keineswegs versohnt, vielmehr in ihrem Grossenwahne bestarkt;
andererseits aber die Sympathien der von den Magyaren ver-
gewaltigten erdriickenden Majoritat der grosstentheils slavischen
Volker der jenseitigen, sowie der Kroaten, Serben nnd Slovenen
der diesseitigen Reichshalfte zu den Cechoslaven arg geschadigt,
zugleich das nationale nicht minder als das osterreichisch-patri-
otische Gefuhl der Cechoslaven selbst hoehst unangenehm beriihrt
wurden.

Dass die kleinen Volkern eigene Selbstitberhebung dadurch,
dass der hervorragendste Fiihrer der Altcechen uber einfaches
Ansinnen eines magyarischen Blattes sich sofort bereit finden

57

liess, nicht etwa bloss fur den Dualismus einzutreten, sondern
weit uber das magyarische Commando hinaus, sogar dessen
historische Berechtigung hervorzuheben, bei der herrschenden
liberalen Partei der Magyaren nicht ab-, sondern zunehmen miisse,
diirfte kaum zu bezweifeln sein. Es wird aber auch die Unmog-
lichkeit einer Versohnung der Magyaren mit den Cechoslaven
kaum Jemand in Abrede zu stellen versuchen, so Jange die Er-
steren behufs Sicherung ihrer, nur durch eine fortschreitende Ma-
gyarisirug aufrechtzuerhaltenden Herrschaft, in der westlich und
nordlich an Lander der bohmischen Krone grenzenden Slovakei,
terroristischer Massregeln nicht entbehren konnen; die den
Slaven Mahrens und Schlesiens zunaehst verwandten, an zwei
Millionen Seelen zahlenden ungarischen Slovaken aber ihre Natio-
nalitiit und Sprache zu wahren fest entschlossen sind. Der Rieger
kaum unbekannte, viel in den Zeitsehriften wiederholt hervor-
gehobene Ausspruch des popularen Ministers (im Jahre 1848, dann
wieder 1867 bis zu seinem Tode), zugleich ersten liberalen ma-
gyarischen Publicisten und Erfinders der bistorisch-politischen In-
dividualitaten Baron Ebtvos, wornach er der Angst vor einer
etwaigen Herrschaft des cechischen Elementes in unserer Mo-
narchie durch die Niederlage Oesterreichs bei Koniggriitz ('1866)
gliicklicherweise enthoben, ruhig sterbe, ist ja bezeichnend ge¬
nu g, um jede weitere Begrundung iiberflussig erscheinen zu lassen.

In der That batten die von Dr. Rieger und anderen cechi¬
schen Fiihrern seit 1861 mit nur kurzen Unterbrechungen be-
harrlich fortgesetzten, dann in dem, nach dem ungliicklichen
preussisch-osterreichischenKriege von 1866 zu Prag, ganz im Geiste
und unter der Mitwirkung des polnischen Grafen Goluchowski
bezuglich der kiinftigen Organisirung unserer Monarchie verein-
barten ausftihrlichen Programme*,) voll zum Ausdruck gebrachten,
endlich in der Entsendung einer glanzenden, von einem Fiirsten
gefiihrten Deputation zur Budapester Austellung gipfelnden Be-
werbungen um die Gunst der liberalen Magyaren Fraction nicht
den geringsten Erfolg. Selbst, Rieger konnte nicht umhin, in
seiner Rede darauf hinzuweisen, dass wahrend er selbst 1861 im
Abgeordnetenhause des Reichrathes flir das historisehe Recht der
Magyaren eingetreten sei, und die Altcechen uberhaupt nicht nur
auf dem Boden des von ihnen sogar in iliren Fundamental Ar-
tikeln feierlich anerkannten Dualismus stehen, die Action der li¬
beralen Magyaren auch sonst in keiner Weise behindern: diese
Letzteren es seien, die bei jeder Gelegenheit selbst den gerecht-

*) In der Flugschrift ^Program zur Durchfuhrung der nationalen
Autonomie in Oesterreich. Von einem Slaven. Wien 1886. Kommissionsverlag.
Buchhandlung Pra2ak“ wird dieses Programm ausfuhrlicb besprochen.

58

fertigsten cechischen Wiinschen entgegenzutreten nicht aufhoren.
Dnd Rieger glaubt durch die weit iiber die magyarische Zumu-
thung hinausgehende Anerkennung sogar der historischen Berech-
tigung des Dualismus die Magyaren umstimmen zu konnen ?

Vergebiiche Miibe! sejbst der Entwickelung des auf Bohmen
beschrankten specifischen Ceehentumes, so sehr man dieses aucb
hervorzukehren sich abmiiht, wird die berrscbende liberale Partei
der Magyaren stets mit allem Nachdrucke entgegentreten, so lange
unser, zwischen Bohmen und der ungarischen Slovakei liegendes
classiscb-slaviscbes Mahren nicbt vollstiindig entnationalisirt ist;
bishin aber dtirfte es gliicklicherweise noch weit sein. Warum
hat also Dr. Rieger, fragt man sich bei uns, des Dualismus un-
nothigerweise liberhaupt gedacht, oder sich, bei Erwahnung des-
selben, nicht mindestens auf die Constatirung der Thatsache be-
schrankt, dass der Dualismus, obschon oline Zuthun der Cecben
und gewiss nicht zu ibren Gunsten, so doch durch die gesetzlicben
legislativen Factoren zustandegebracht wurde, daher anerkannt
werden miisse? Warum hat Rieger seines vor sieben und zwanzig
Jahren erfolgten, daher vergessenen unglucklichen Auftretens fur
die historische Berechtigung des Dualismus gedacht, und dadurch
die von der liberalen Fraction der Magyaren aller constitucionellen
Rechte entkleidete, jedoch entschieden osterreichische und dem
cechoslavischen Volksstamme bisher freundlich gesinnte, ja auf
dessen moralische Unterstiitzung zahlende slavisch-rumanische Ma-
joritiit der Bevdlkerung der jenseitigen Reichshalfte vor den Kopf
gestossen? Ja man geht noch weiter, indem man das historische
Recht der Magyaren iiber die Slaven, Rumanen und Deutschen
der jenseitigen Reichshalfte geradezu leugnet und liiezu, auf
Grund der Geschichte und selbst der Gesetze Ungarns wol be-
rechtigt ist.

Die jenseitige oder stidostliche Reichshalfte, welclie heute
durch die liberale Fraction der Magyaren beherrscht wird, um-
fasst die Konigreiche Ungarn, Kroatien und Slavonien, sowie das
Grossfiirstentum Siebenbiirgen.

Dieses letztere grosstentheils von Rumanen, theilweise auch
von Sachsen und Magyaren bewohnte Land unterstand wol
nahezu fiinf Jahrhunderte hindurch den Konigen Ungarns, die es
erobert, beziehungsweise den Petschenegen abgenommen haben;
es wurde aber auch in jener alten Zeit naeh eigenen Gesetzen
durch Wojewoden (Vojvoda Transsylvaniae) verwaltet. Seit 1526
jedoch hor'te der Verband Siebenburgens mit Ungarn auf. Der
damalige Wojwode Siebenburgens Johann Zapolya hatte niimlich
nach der Schlacht. bei Mohacs, bei welcher der Konig Ungarns
gefallen war, ohne liiezu berechtigt zu sein, nach Stuhlweissen•
burg einen Landtag zur Konigswahl einberufen,. sich daselbst

59

von seinen sparlich erschienenen Parteigenossen zum Konige
wahlen und am 11. November 1526 auch kronen lassen, ohne
sich gegen den, schon auf Grand weit frailer abgeschlossener,
auch von den Grossen des Landes anerkannter Friedens- und Erb-
vertrage ausschliesslich b.erechtigten, uberdies aaf dem legitim
einberufenen und zusammengesetzten Pressburger Landtage zum
Konige gewiiklten Erzherzog und Kbnig von Bohmen Ferdinand I.
behaupten zu kbnnen. Dagegen war es auch dem legitimen Kb-
nige schwer, den von den Tiirken geschiitzten Gegenkonig Zapolya
aus dem unmittelbar an die Moldau und Walaehei, also an das
tiirkische Reich, grenzenden Siebenbiirgen und aus dem ihm von
den Tiirken iibergebenen Osten Ungarns iiberhaupt zu vertreiben ;
es kam daher am 24. Februar 1538 zum Grosswardeiner Friedens-
schlusse, wornach beide Contrahenten sich gegenseitig als Konige
Ungarns anerkannten und dem Konige Johann das, was er that'
sachlich besetzt hielt, belassen wurde, nach seinem Absterben
jedoch, ob er nun Erben hinterlassen wiirde oder nicht, ganz
Ungarn nebst Siebenbiirgen an den legitimen Kbnig Ferdinand
zuriickfallen sollte.

Einfliisse Polens, welches die Ausbreitung der osterreichischen
Hausmacht insbesondere in ostiicher Richtung im eigenen Interesse
um jeden Preis behindern zu sollen erachtete, brachten den Gegen¬
konig Johann bald auf andere Gedanken; er lieiratete, obschon
iiber fiinfzig Jahre alt, ein Jahr nach dem Grosswardeiner
Frieden die polnische Kbnigstochter Isabella; erhieltnach Aerlauf
eines Jahres einen Sohn und empfahl diesen vor seinem zwei
Wochen darauf eingetretenen Ableben zum Kbnig, indem er zu-
gleich den Schutz des tiirkischen Sultans in Anspruch zu nehmen
rieth. Der neue Gegenkonig Johann Sigmund Zapolya musste
zwar vor den bis nach Siebenbiirgen vorgedrungenen Truppen
des legitimen Konigs, sammt seiner Mutter nach Polen fliichten,
allein die Tiirken setzten ihn wieder zum Konige ein, nahmen
jedoch gleichzeitig den Osten Ungarns grbsstentheils fiir sich in
Besitz so, dass der Gegenkonig eigentlich auf Siebenbiirgen und
einen kleinen an dasselbe grenzenden Theit Ungarns beschriinkt,
wahrend das eigentliche Ungarn zwischen den Tiirken und dem
legitimen Konige getheilt war. Nach dem Tode des friihzeitig ohne
Erben dahingeschiedenen Gegenkbniges liessen die Tiirken Sieben¬
biirgen durch eigene, von Ungarn unabhangige Fiirsten beherr-
schen, und unter diesen hat das, bereits zu Zeiten des, dem unitari-
sehen Glauben zugethanen Gegenkbniges Johann Sigmund inaugu¬
rate System der drei verbiindeten Nationen und der vier recipirten
Religionen so tiefe Wurzeln geschlagen, dass endlich nach der Erobe-
rungSiebenburgens durch kaiserliche Truppen. eine Wieder vereinigung
dieses Grossfiirstentumes mit Ungarn nicht mehr rathlicli erschieu’

60

Die Landtage Ungaros haben dies eingesehen und sich auf
die Bitten beschrankt, dass der Besitz Siebenbiirgens dem Herrscher
in seiner Eigenschaft als Konig von Ungaro zustehen, und dass
die einst zu Ungarn gehorigen Comitate Zarand, Kraszna, Szolnok
und der District Kovar, von Siebenbilrgen getrennt und wieder
Ungarn einverleibt werden mogen. Weil jedoch Siebenbilrgen
ebenso wie Ungarn (mit einer nur kurzen Unterbrechung unter
Kaiser Joseph II.) bis zum Jahre 1849 stets seine eigene, ganz
selbstiindige Hofkanzlei hatte, welche gegen die ungarischerseits
fortwahrend betriebene Uebergabe der gedachten Municipien an
Ungarn gewichtige Griinde anzufiihren nicht unterliess: so wurde
die einschlilgige Bitte Ungaros nicht erfiillt, wogegen der anderen
Bitte dadurch willfahrt wurde, dass sowol die Landesstellen als
auch die Hofkanzlei selbst, den Titel nicht kaiserlich konigliche,
sondern bloss koniglicb siebenbiirgische Hofkanzlei, Gubernium,
Thesaurariat, Gerichtstafel u. s. w. fiihrten. Siebenbilrgen stand
daher, wie gesagt, seit mehr als vierthalb Jahrhunderten ausser-
halb jeden Verbandes mit Ungarn; hat in Polge dessen auch
die pragmatische Sanction selbstandig am 30. Marz 1722, daher
ohne jede Eiicksichtnahme auf Ungarn und zwar frilher als das
Letztere angenommen. Wird hiebei noch in Betracht gezogen,
dass die autochtone Majoritiit der Bevolkerung Siebenbiirgens
gegen dessen im Jahre 1848 angebahnte Union mit Ungarn
Protest einlegte, und dass folgerichtig der im Wege der sieben-
biirger Hofkanzlei im Jahre 1864 einberufene Siebenbiirger Land¬
tag den Wiener Reichstag im Sinne des Patentes vom 16ten
Februar 1861 thatsachlich beschickte, wahrend Ungarn einer solchen
Beschickung widerstrebte: so kann das historische Recht Ungarns
auf Siebenbilrgen hochstens mit dem historischen Rechte Bohmens
auf die ungarische Slovakei in eine Paralelle gestellt werden; ja
es scheint mit Hinblick auf die Stimmung der beiderseitigen Be¬
volkerung das Letztere gegeniiber dem Ersteren auf weit soliderer
und natiirlieherer Grundlage zu ruhen.

In Betreff der Xonigreiche Kroatien und Slavonien ist es
bekannt, dass dieselben mit Ungarn urspriinglich in einer ledig-
lichen Personalunion standen, aus welcber sich im Laufe der
Zeit allerdings auch gewisse gemeinsame Angelegenheiten ent-
wickelten. Wer sich jedoch liber die Selbstandigkeit der beiden
Konigreiche Ungarn gegeniiber, selbst noch unter den Herrschern
aus der glorreichen Habsburger Dynastie, einen richtigen Begriff
bilden will: der lese die kroatisch-slavonischen Landesgesetze,
insbesondere die Gesetze Slavoniens vom Jahre 1538, da eben
diese in das Corpus iuris hungarici einbezogen erscheinen, daher
nach keiner Richtung hin angefochten werden konnen. Diese
Gesetze, welche in der iilteren Ausgabe des „ Corpus iuris hun-

61

garici Tyrnaviae 1740“ pag. 407 &  sq. zu lesen sind, beweisen
unwiderleglich, dass der Wirkungskreis der kroatisch-slavoniscben
Landtage in den diese Lander betreffenden Angelegenheiten kein
geringerer war als der ungarischen Landtage, denn sie setzen test:

Im  Artikel 1 die Steuer fiir das konigliche Aerar;

» „ 2 die Militarstellung aus der Reihe der Untertbanen;

» „ 3 die Tlieiinahme des Herrenstandes am Kriege;

» „ 4 die Theilnahme des sonstigen Adels am Kriege;

« „ 5 die Art und Weise der Einberufung zur Kriegs-

leistung;

» „ 6 die Art des Transported der Kriegsmaschinen;

„ „ 7 die Instandlialtung der Grenzfestungen ;

n „ 8 die Zeichen, welehebei Tlirkeneinfallenzu geben sind;

» „ 9 die geheime Instruction fur den Banus;

n „ 10 die Freibaltung der Adeligen und Geistlichen von

jeder Militareinquartirung;

» „ 11, 12, 13, 14, 15 die landesfiirstlicben Steuern in

Naturalien; die Orte wo bin, sowie die Art, wie'
diese Naturalien fur die Armee beizustellen, und
wie dieselben zu verwalten seien;

„ „ 16 die Verwendung der der Geistliehkeit auferlegten

landesfurstlichen Steuer;

» „ 17 die Riickgabe der wahrend der Kriegsunruhe un-

berechtigt occupirten Giiter an ihre Eigentbiimer;
n „  18, 19, 20 das Vorgehen der Gerichtsbehorden, speciell

den Zeitpunct der Aufnahme ihrer Activitiit, die
Art und Weise der geistlicjien Vorladungen, sowie
die Gerichtstaxen;

„ „ 21, 22, 23, 24 die Wiedergestattung der verwirkt ge-

wesenen Preizugigkeit der Bauern und das diesfalls
einzuhaltende. Vorgehen der Bauern, Grundherren
und Behorden.

„ „ 25 die Landessteuer und deren Verwendung;

„ „ 26 die Werte verscbiedener Geldmiinzen und die Preise

von Victualien.

Angesichts dieses Wirkungskreises der kroatisch-slavonischen
Landtage kann es durchaus nicht auffallen, dass die vielen, die-
voile Gleichberechtigung der Protestanten beider Bekenntnisse
festsetzenden Gesetze Ungarns, deren Zustandekommen, Aufrecht-
erhaltung und stricte Durchflibrung insbesondere von magyarischer
und deutscher Seite als Lebensfrage aufgefasst, dalier mit vielen
blutigen Aufstiinden, gioastentheils unter tiirkischem Schutze er-
zwungen wurde, innerhalb der Konigreiche Kroatien und Sla-
vonien nie zur Geltung gelangten; der ungarische Landtag sicb

62

vielmehr genothigt sah, es selbst auszusprechen, dass die dies-
faliigen Gesetze Kroatien und Slavonien gar nicht beruhren. That-
sachlich kannte man in diesen Liindern nur Beamte, welche der
romisch- und griechisch-katholischen oder griechisch-orientalischen
Kircbe angehorten, wahrend Protestanten nicht einmal unbeweg-
Jiches Eigentum erwerben durften; es war daher der Bach’schen
Dictatur, welche die Vorbereitung der religiosen und nationalen
Gieichberechtigung sich zur Aufgabe gestellt hatte, vorbehalten,
dieser Gieichberechtigung auch innerhalb Kroatiens und Slavo-
niens Geltung zu verschaffen. Selbst die Anerkennung des Erbfolge-
rechtes der Habsburger D-ynastie in ihren weiblichen Linien
wurde vom kroatisch-slavonischen Landtage bereits am 9. Marz
1712 durch ein Gesetz ausgesprochen, wahrend die dieses Erb-
recht aussprechende pragmatische Sanction beim ungarischen
Landtage erst im Jahre 1722, also zehn Jahre spater, zur Ver-
handlung gelangte. Als bezeichnend ist hiebei nicht nur die
Motivirung des vom Landtage angenomuaenen Antrages, sondern
auch die Fassung des Gesetzes hervorzuheben. Die Motivirung
gipfelte in der Voraussetzung, dass das Erbfolgerecht die weib¬
lichen Linien auch Ungarn und Bbhmen anerkennen durften,
Kroatien daher vorangehen moge. Das Gesetz enthalt aber An-
gesichts der im Jahre 1712 noch keineswegs ausgeschlossenen
Mogliehkeit einer ahnlichen Theilung der habsburgischen Haus-
macht, wie sie nach . dem Tode des Konigs Ferdinand I. statt-
gefunden hatte, die au3driickliche Bestimmung, dass das Erbrecht
in den Konigreichen Kroatien und Slavonien nur jenen habs¬
burgischen Descendenten zustehen solle, die zugleich in Steier-
mark, Karnten und Krtrin herrsehen wiirden. Also nicht die
Verbindung mit Ungarn, sondern jene mit den angrenzenden
stammverwandten Erblilndern wurde in erster Linie vom kro¬
atisch-slavonischen Landtage festgehalten, ohne dass Ungarn je
dagegen hatte auftreten konnen.

Hiernach ist das historische Recht nicht nur der herrschenden
liberalen magyarischen Partei sondern Ungarns tiberhaupt auf
eine Beherrschung Kroatiens und Slavoniens ganz und gar nn-
begriindet, und die, in den ungarischen Landtagen der vierziger
Jahre gegen die Anmassungen der liberalen Magyarenpartei .pro-
teetirende kroatische Delegation war ganz in ihrem Rechte, als
sie dies durch den Ausruf „jregnum regno non praeseribit leges“
betonend, sich im Jahre 1848, nachdem sich ihre Proteste als
vergeblich erwiesen hatten, zuruckzog, dadurch aber die Konig-
reiche Kroatien und Slavonien veranlasste, jede Gemeinschaft mit
Ungarn abzubrechen. Thatsachlich wahrte, die Selbststtindigkeit
Kroatiens und'Slavoniens bis zum Jahre 1867, also nahezu
18 Jahre , und hatten diese Konigreiche, nachdem die, durch

63

die Nachwehen der blutigen Revolutionen, speciell dure!) die
Haltung der Magyaren, Polen und Italiener bedingte Bacli'sche
Dictatur die Wiedereinfiihrung constitutioneller Zustande ermog-
licht hatte, sogar ein eigenes, den zwei Hofkanzleien (Ungarns
und Siebenbiirgens) aquiparirendes Hofdicasterium, sowie ihren
eigenen obersten Gerichtshof. Die dadurch Seitens der Krone
ausgesprochene Anerkennung des guten Rechtes des dreieinigen
Konigreiches auf eine ihm innerhalb der durch die pragmatische
Sanction gezogenen Grenzen gebiirende Selbststandigkeit, gelangte
ursprunglicb, ohne Weiteres, auch magyarischerseits durch jenes
den Kroaten gebotene Blatt weissen Papieres zum Ansdrucke, auf
welches sie ihre Bedingungen der Vereinigung mit Ungarn selbst
zu schreiben, aufgefordert wurden.

Freilich fiillt das Anbieten des unbeschriebenen Papierblattes
in jene Zeit, wo die erst in Petitorio befindliche Partei der libe¬
ral en Magyaren den staatsmannischen Anscbauungen des, damals
noch sehr einflussreichen hohen Adels Ungarns Rechnung zu
tragen und sogar den nichtmagyarischen Vblkern Ungarns die
voile Gleichberechtignng in Aussicht zu stellen, daher umso mehr
jedem Wunsche der Serbokroaten Kroatiens und Slavoniens ent-
gegenzukommen sich genothigt sab; da ihr Angesichts der Haltung
des eDtschieden fiir die Beschickung des osterreichisehen Reichs-
rathes gestimmten Siebenbiirgens Alles daranliegen musste, eine
gleiche Stimmung im kroatisch-slavonischen Landtage nicht zum
Durchbruch gelangen zu lassen. Spiiter, nach dem sich die Sachen
durch das der Dneinigkeit entsprungene Zogern der Kroaten
einerseits und durch die Unthatigkeit des ungarisehen Hofadels
anderer,seit.s ganz zu Gunsten der liberalen magyarischen Fraction
gewendet batten, spielte diese beim Ausfiillen des weissen Papier¬
blattes die Hauptrolle, nicht aber die, in eine Zwangslagtf ge-
rathenen Kroaten, die durch den auf das weisse Blatt gesehrie-
benen ungarisch-kroatischen Ausgleich, nicht nur die wichtige
Handelsstadt Fiume nebst Hafen und die Murinsel eingebiisst
haben, sondern auch sonst in jene unerquickliche Lage gerathen
sind, in welcher sie sich heute befinden. Allein der letztere Um-
stand andert nichts an der Thatsache, dass das gute Recht der
Konigreiche Kroatien und .Slavonieh auf eine der ungarisehen
gleiche Selbstiindigkeit sowol von der Krone als von Ungarn,
ja selbst von der herrschenden liberalen Magyarenfraction aner-
kannt wurde und, theoretisch, heute noch durch die Beflaggung
des Budapester Landhauses nicht nur mit der ungarisehen sondern
in gleiche Weise auch mit der kroatischen Tricolore anerkannt.
wird, auch nie verkannt werden kann, zumal sich das heutige
Verhaltniss Kroatiens zu Ungarn lediglich auf einen, zwischen
den zwei gleichberechtigten Contrahenten abgeschlossenen und

64

von der Krone genehmigten Ausgleichs-Vertrag griindet, welcher
mit Genelimigung der Krone selbstverstiindlich wieder gelost
werden kann, sobald dies einer der vertragschliessenden Theile
anstreben sollte.

Diese Moglichkeit der Losung, auf welche die kroatischen
Patrioten fiir die Zukunft bauen, bildet aber dermalen die Lei-
densqueile Kroatiens und Slavoniens. Die herrschende liberale
Fraction der Magyaren hatte ja im eigenen wolverstandenen In-
teresse, mit der Ausdehnung des innerhalb Ungarns eingebiirgerten
Terrorismus auf Kroatien und Slavonien, sowie mit der riick-
sichtslosen Handhabung desselben durch den dermaligen Banus
wahrscheinlich noch zugewartet, wenn sie nicht durch die im
reichstreuen Kroatien vorherrschende Stimmuag veranlasst worden
ware, durch allseitigen Hochdruck eine servile Majoritat im kroa¬
tischen Landtage zu schaffen, um der, dem Dualismus gefahr-
liehen Kiindigung des von ihr vielfach verletzten ungarisch-kroa¬
tischen Ausgleiches vorzubeugen. Dnd Dr. Rieger, der die frtihere
Lgge Bohmens unter der Statthalterschaft des Baron Koller tief
bedauerte, dagegen auf dessen heutige Lage in Anbetracht des
unparteiischen Yorgehens aller Behorden, sowie Angesichts des
Dmstandes, dass der Cesky klub als Hauptstiitze der reichsriith-
lichen Majoritat des Abgeordnetenhauses grossen Einfluss zu tiben
in der Lage ist, mit Befriedigung hinzuweisen nicht umhin kann:
tragt gleichwol kein Bedenken, die Autonomie Kroatiens fiir
Bohmen begehrenswert zu finden, obschon es ihm nicht unbekannt
•sein kann, dass im Landtage Kroatiens und Slavoniens, obschon
diese beide Konigreiche keine magyarisehe, auch keine deutsche,
sondern eine rein slavische Bevolkerung aufweisen, nicjit die
Kroaten, sondern die antikroatischen Magyaronen herrschen, und
selbst die Stimmen der, von eihem solchen Landtage entsendeten
Abgeordneten im ungarischen Landtage nur dann, wenn man
ihrer zur Unterstiitzung der herrschenden magyarischen .Fraction
bedarf, einigen Wert haben, sonst aber unbeaehtet verhallen, weil
sie dort, Dank dem Vorgehen der herrschenden magyarischen
Partei bei den Abgeordnetenwahlen, nur verbissene Magyaren,
nicht aber, gleich den Cechen im Reichsrathe, Stammes- oder
Gesipnungsverwandte Elemente vorfinden, mit welchen sie sich
verstiindigen oder gar eine Majoritat bilden konnten.

Hiernach entbehrt die dermalige Herrscbaft der liberalen
Magyaren sowol in den Konigreichen Kroatien und Slavonien, als
im Grossfiirstentume Siebenbiirgen jeder haltbaren historischen
Grundlage; dieselbe entbehrt aber dieser Grundlage ebenso auch
in Ungarn, zumal hier die .Herrscbaft des magyarischen Elementes,
wie aller bewaffneten Wanderhorden auf das im X. Jahrhunderte
eroberte Territorium, welches an Ausdehnung dem heutigen weit

65

nachstand, beschrankt war und selbst hier nur so lange aii-
dauerte, bis es sich bleibend niedergelassen hatte. Von da also,
vom Beginne des XL Jahrhundertes angefangen, war eine Herr-
schaft der Minoritat liber die allseitig weit entwickeltere Majo-
ritat unmoglich, liberdies mit den Grundsatzen des von den
Magyaren angenommenen Christentums unvertraglich; es kam
daher die im ersten Decrete (Gesetze) des heiligen ersten unga-
rischen Koniges Stephan betonte und zwar selbst auf die fremden
Einwanderer ausgedehnte voile Gleichberechtigung aller Volker
«o voll znm Durchbruch, *) dass sich in Ungarn fiinf Jahr-
hunderte hindurch nieht einmal eine magyarische Partei fuhlbar
machte.

Thatsachlich vermag wahrend dieser ganzen fiinf Jahrhun-
derte Niemand auf ein, die Gleichberechtigung aller Volker des
Landes verletzendes oder auch nur die Magyaren bevorzugendes
Gesetz hinzuweisen, und war dies unter den damaligen Verhalt-
nissen auch kaum denkbar. Es spielt ja nebst dem, mit weit
grosseren Machtbefugnissen als sonst ausgestatteten Konige, noch
der Populus eine wichtige Rolle, der sich ohne Rucksicht auf
Abstammung und Sprache aus der Geistlichkeit und dem Adel
aller Volker, sowie aus den koniglichen Freistadten zusammen-
setzte und in den, lediglich aus den Pralaten, sowie aus den
hiichsten Beamten des Landes und aus den Magnaten iiberhaupt
bestehenden „Proceres“ seine in der Regel entscheidende Spitze
hatte, da im Sinne des Gesetzes bei Entscheidungen nicht die
Mehrheit, sondern das Gewicht der Stimmen maassgebend war.
»Vota non numerantur sed ponderantur“ hiess es, und deshalb
sollte stets die „potior et sanior pars“ den Ausschlag geben.
Nach der Nationalitat oder, nachdem die Magyaren nebst der
Religion auch die Sitten und Gebriiuche, sowie die staatlichen
Einrichtungen der Slaven Ungaros bis auf die Bezeichnung der
Ackergeriithe, der Tage der Woche, der Festtage und der hoheren
Wtirdentriiger, ja selbst des Kdnigs (kiraly) angenommen Iiatten,
eigentlich nach der Sprache unterschieden die Gesetze Ungarns
lediglich die „Villani“ auch Jobagiones (Dorfbewohner) oder Na-

*) Die Begriindung lautet wortlioh: „Nam unius lingvae, uniusque
moris Regnum imbecille et fragile est“ und weiter unten: r ut tecum liben-
tius degant, quam alibi habitent.“ Die Weisheit dieser Begriindung ist
einleuchtend, denn eine nicht bloss auf die Kriegsgefangenen (Sklaven oder
Unfreien) beschrankte, sondern auf die gesammte nichtmagyarische Majoritiit,
der Bevolkerung ausgedehnte Harrschaft der jedenfalls rohen magyarischen
Krieger hatte Aufstiinde oder mindestens eine nicht zu hindernde Auswan-
derung der Nichtmagyaren hervorgerufen, wahrend der Begriinder des Kiinig-
reiches Dngarn, damals nqch Pannonien genannt, gerade der Dnterstiitzimg
des nichtmagyarischen Elementes bedurfte, um seine Stammesgenossen, ins-
besondere die Heerfiihrer, niederzuhalten.

5

66

tionen (nationes) genannt, als welclie ausdriieklich angefiihrt
werden: die Magyaren (Hungari), die Deutsehen (Saxones et Ger-
mani), die Slovaken (Bohemi et Slavi), die Rumiinen (Valachi),
die Russen (Rutheni), die Serben (Rasciani sive Serviani), die
Bulgaren (Bulgari) und die Kumanen (Philistaei et Cumani), also
wenn von den itn Laufe der Zeit bis auf unmerkliche Ueberreste
verschwundenen, daher nieht weiter in Betracht zu ziehenden
Bulgaren abgeselien wird, alle noch heute Ungam bewohnenden
Volksstamme.

Diese Nationen waren nicbt berufen auf die Landesan-
gelegenheiten unmittelbaren Einfluss zu iiben, allein jede der-
selben wurde gesetzlich als ein Ganzes, als eine juristische Person
aufgefasst, welcher eine besondere Beliandlung, also besondere
Recbte zustanden. Das einschliigige Gesetz (Tripartitum) III.: 25,
welches die gedachten Nationen aufziihlend, der verschiedenartigen
Behandlung derselben („quorum multiplex est conditio") gedenkt,
unterscheidet insbesondere die Nationen, welche den Comitaten ein-
verleibt, dessenungeachtet sie friiher im Genusse der Freizugigkeit
sich befanden, diese jedoch aus Anlass des Bauernaufstandes ver-
wirkt und das Joch der ewigen Knechtschaft zu tragen haben *),
von jenen, die von den Comitats-Jurisdictionen exempt unmittelbar
dem Konige unterstanden, daher auch „regales", das heisst die
Koniglichen oder Privilegirten genannt wurden. Zu den Nationen
der letzteren Kategorie, welche sich stets besonderer Freiheiten
erfreuend, am Bauernaufstande sich selbstverstiindlich nicht be-
theiligten, daher auch nicht in die Klasse der Leibeigenen herab-
gedriickt wurden, gehorten aber laut Gesetz nebst den allmalig
verschollenen Bulgaren lediglich die Kumanen, die innerhalb
Ungarns, freilich nur eine kurze Zeit lang, sogar ihren eigenen
Ktinig hatten, und die Russen, da deren Land durch Heirat in
den Besitz der Arpad’schen Dynastie gelangt war.

Die von den Philistaeo-Kumanen (richtiger Jazygo-Kumanen)
und Russen eingenommene Stellung war eine so uberaus giinstige,
dass in der Mitte derselben die Angehorigen der ubrigen Nati¬
onen, die Magyaren nicht ausgenommen, gegen ihre Bedriicker
Schutz sucliten und fanden, ohne dass dies die sonst machtigen
Comitate hatten verhindern konnen. Die Comitate sahen sich
daher anlasslich der haufigen diesfalligen Klagen der Grundherren
veranlasst, die leidige Angelegenheit wiederholt beim Landtage

*) jhuiusmodi tamen ipsorum libertatem, superiore hac aestate prop¬
ter seditionem et tumultuariam eorum adversus universam nobilitatem sub
nomine Cruciatae, ductu cuiusdam sceleratissimi latronis Georgii Szekely
appellati insurrectionem, ex eoque notam perpetuae infidelitatis
eorum incur sionem, penitus amiserunt, Dominisque i p so rum
t e rr e s tribus mera et perpetua rusticitate subiecti sunt.*
So lautet die einschliigige Stelle des Gesetzes.

67

zur Sprache zu bringen, und so erschien unter anderen speciell
aucb der ausfiilirliche Gesetzartikel 4-7 vom Jahre 1498, welcher
im Falle der Wiederholung solcher Ausschreitungen die gericht-
liche Competenz dem unter den Wiirdentragern und Richtern
des Lan.des den ersten Platz einnehmenden Palatin zuweist. *)
Mit Hinblick auf diese Stellung der Kumanen und Russen erkliirt
sieh aucb die Angabe des sonst nicht im besten Rufe stehenden
altesten ungarischen Chronisten (anonymus Belae Regis notarius),
welcher die Unterjochung der Volker Ungarns beschreibend, aus
deren Reihe er nur die Kumanen und Russen ausnimmt, weil
diese eben angeblich auf das innigste mit den Magyaren verbun-
den, diese bei ihren Eroberungen unterstutzten. Jedenfalls steht
es ausser Zweifel, dass in Ungarn auch bis zum Bauernaufstande
die Nationen der Kumanen und Russen vor den ubrigen, ins-
besondere auch vor der Nation der Magyaren stark bevorzugt
waren.

Dass diese Bevorzugung sich seit dem Bauernaufstand,
welcher an der privilegirten Stellung der Kumanen und Russen
nichts anderte, dagegen bei alien ubrigen, des Hochverrathes
schuldig erkannten Nationen den Fiihrern den martvollen Tod,
den sonstigen Angehorigen derselben aber, und zwar lediglich
mit Hinblick auf den Adel, der ohne Bauern nicht hatte bestehen
kbnnen, die Begnadigung zur ewigen Leibeigenschaft brachte,
liegt am Tage. Die den Hochverrath betreffenden Gesetze Un¬
garns (Tripartito I.: 13, 14) waren eben so strenge, dass sie
den Verlust der Rechte nicht nur liber die Schuldigen, sondern
auch iiber ganze Familien, ganze Korperschaften oder Klassen
zu verhangen anordneten. So wurde der schuldig befundene
Adelige nicht nur des Lebens sondern auch seiner Giiter verlustig,
zog daher auch seine unschuldige Familie in Mitleidenschaft;
die u.nschuldigen Burger einer Freistadt biissten fur immer ihre
Rechte ein, falls ihr Magistrat des Hochverrathes schuldig be-
funden wurde; selbst Domcapiteln und Ordensconventen wurden,
falls sich deren Mitglieder des Hochverrathes schuld g gemacht,

*) Der Wortlauf des GeseUes ist der nachstehende: „Quia Cumani
Dhilistaei et Rntheni in hoc Regno commorantes in abductionibus jobagionum
et in licentiis capiendis contra libertates nobilium et Status Regni plnrimas
c)uotidie injurias et praejudicia indicibilesque et inauditas exactiones in edu-
cendis ipsis jobagionibus ipsis nobilibus inferunt; neque officiates Maiestatis
Regiae et eorum vicesgerentes eosdem in talibus insolentiis compescunt. Quare
ut huiusmodi dissensionis materia eradicetur, statu turn est : quod ex quo ex
Cumanis Philistaeis ac- Ruthenis a'd bona nobilium nullus abire permittatur ;
sic neque de caetero jobagiones nobilium per officiales Maiestatis Regiae vei
dictos servilis conditionis homines in medium ipsorum, causa commorandi
abducantur. Si autem ipsi officiales aut praedicti Philistaei, Cumani et
Rutheni in medium ipsorum aliquos jobagiones contra praesentem statutionem
abduxerint, super hoc ipsi coram Palatino Regni legitime requirantur."

5 *

68  —

ihre authentischen Siegel, somit die ihnen ausserhalb der gerieht-
lichen Spliare zustehenden wichtigen Rechte fiir immer entzogen,
obsehon die Nachfolger an dem Verbrechen ihrer Vorfahren ganz
unschuldig waren. Es kann daher nicht auffallen, wenn der
Gesetzartikel 14 vom Jahre 1514, von der Voraussetzung aus-
gekend, dass die gesammten Angehnrigen der aufstandischen Na-
tionen ihr Leben verwirkt haben, die ledigliche Verurtheilung
derselben zur ewigen Leibeigenschaft als eine denselben lediglich
im Interesse des Adels gewahrte Begiinstigung in Betraebt zieht.*)
Die Leibeigenschaft der am Aufstande betheiligten Nationen, ins-
besondere auch der magyarischen, welcher der Hauptanfiihrer an-
gehbrte, war von da an eine allgemeine, zumal die wenigen, dem
Adel gegen ihren Standesgenossen beigestandenen Bauern iiber
Antrag des dieselben zur Belohnung empfehlenden Landtages in
den Adelstand erhoben wurden, daher zum Populus ziihlend, an¬
gel) brige der Nationen zu sein aufhorten.

So standen die Dinge in Ungarn am Schlusse des Mittelalters.
Der nebst dem Kbnige allein einflussreiche Populus und selbst
die die ausschlaggebende Spitze desselben bildenden Proceres ge-
horten alien, daher eigentlich keinem Yolke an, und muss hiebei
noch besonders hervorgehoben werden, dass die grosse Mehrzahl
der Angehorigen dieser Korperschaften nicht einmal der, in jener
Zeit iiberhaupt ganz unbeachteten und wenig bekannten, ja noch
nicht einmal fertigen magyarischen Sprache miicktig war. Dies
fiihrte die Nothwendigkeit herbei, als Gesehaftssprache ursprunglicli
die seit dem Wirken der Slavenapostel in Mahren und Pannonien
eingeburgerte griechische und altslavische, dann aber, nachdem
sich Ungarn mehr und mehr dem Abendlande zugewendet hatte,
ausschliesslich die lateinische Sprache zu gebrauchen. ’Line magy-
arische Urkunde aus jener alten Zeitperiode, oder auch nur eine
Andeutung, dass eine solche je bestanden, ist ebenso unbekannt,
wie magyarische Schriftstiicke iiberhaupt, mit alleiniger Aus-
nahme einer im Prag-Codex mitgetheilten, heute jedoch auch den
Magyaren unverstandlichen Leichenrede zweifelhaften Ursprunges.

*) Der diesbeziigliche Wortlaut des Gesetzes ist der nachfolgende:
„Quamquam omnes rustici, qui adversus dominos eorum naturales insurre-
xerunt: tamquam prodltores capitali poena essent plectendi, ne tamen tanta
sanguinis effusio adhuc sequatur, et omnis rusticitas (sine qua nobiles
parum valent) deleatur : statutum est, quod universi capitanei ot centuriones
ac decuriones, concitatoresque aliorura rusticorum, ac manifesti homicidao
nobilium, praeterea violatores virginum et mulierum, omni gratia semota
occidantur et ubilibet eradicentur. Caeteri autem rustici, refusis et perso-
lutis damnis ac homagiis praenotatis in personis eorum salvi maneant;
attamen ut huiusmodi proditionis eorum memoria atque temporalis poena
etiam ad posteros ipsorum diffnndatur et transeat; et quam enorme faeinus
sit, in dominos insurgere, omne saeculum agnoscat: a modo deinceps uni¬
versi rustici etc. etc.

69

Die aus dem Landvolke (Villani) bestehenden Nationen iibten, wie
gesagt, keinerlei massgebenden Einfiuss, und batten die Magyaren
aueh in ihrer Eigensehaft als Nation keine grosseren Reclite als
andere Nationen, ja sogar weit geringere als jene der Kumanen
und Russen; es liisst sich daher kaum voraussetzen, dass
Dr. Rieger die Beweise fiir das historische Recht der Magyaren
auf die Herrscbaft iiber die Volker Ungarns aus dieser fiinf Jahr-
hunderte umfassenden Periode gesehopft haben konnte.

Nach Ablauf des Mittelalters erhob in Ongarn das erstemal
eine magyarische Partei ihr Haupt und machte sich sofort durch
eine ganze Reihe von Ungesetzlichkeiten bemerkbar, welche einen
blutigen Biirgerkrieg entziindeten und in weiterer Folge nicht
nur die Theilung der Lander der ungarischen Krone in zwei
von einander unabhlingige Staaten, sondern aucb die, iiber ein
Jahrhundert wiihrende Etablirung der verhangnissvollen Tiirken-
berrschaft in Ungarn zur Folge hatten. Diese Ungesetzlichkeiten
sowie die traurigen Folgen derselben wurden bereits oben bei
Beleuchtung der historischen Entwicklung Siebenbi'irgens gestreift;
icb glaube daher nur noch beifiigen zu sollen, dass Ungarn den
Tiirken mit unsiiglichen Opfern der Habsburger Hausmacht an
Gut und Blut stiickweise entrissen werden nausste, wobei die
nichtmagyarisehen Volker Ungarns, Kroatiens und Slavoniens
allerdings ehrlich mithalfen, wahrend die Magyaren theils als
Anhanger ihrer mit den Tiirken verbiindeten Gegenkonige, be-
ziehungsweise siebenbiirgischen Fiirsten im gegnerischen Lager
standen, theils selber unter turkischer Herrschaft sehmachtend
gar nicht in der Lage waren, in den Kampf zu Gunsten ihres
legitimen Koniges einzugreifen.

Dadurch will durchaus nicht gesagt werden, dass es nicht
riihmliche Ausnahmen unter den Magyaren gegeben biitte, zumal
die hochsten Klassen der Bevolkerung Ungarns, die sogenannten
Proceres, seit jeher, ohne Unterschied ihrer Abstammung, mit nur
seltenen Ausnahmen am Legitimitats Principe festhielten und sich
auch andere erleuchtete Patrioten unter den Magyaren vorgefunden
hatten, welche die von ihren Stammesgenossen eingeschlagene
Richtung als verderblich erkennend , dem legitimen Konig
Ungarns anhiengen. Andererseits gab es auch unter den Nicht-
magyaren nicht wenige, die ohne hiezu durch die Lage ihrer
Wohnsitze genothigt zu sein, theils aus Furcht vor dem perhor-
riscirten Anscldusse Ungarns an das deutsche Reich, theils aus
Anhanglichkeit an die von 'der magyarischen Partei eifrigst ge-
stutzten und verbreiteten Religionsgenossenschaften der Prote-
stant.en und Unitarirer (Socinianer oder Arianer), mitunter wol
auch durch augenblicklicbe personliche Vortheile geblendet, be-
ziehungsweise von dem Streben, wirklich erduldete oder ein-

70

gebildete Hintansetzungen zu rachen, hingerissen, die Reihen der
Widersacher der legitimen Gewalt mehrten. Endlich fehlte es bei
beiden Parteien, besonders aber unter den Magyaren, nicht an
Individuen, die vermoge ihrer schwankenden Ueberzeugnng oder
aueh aus lediglichen Opportunitatsrucksichten, sich bald der einen
bald der anderen Partei ansehlossen.

Hiernach war zwar keine der einander gegenuber gestandenen
Parteien rein national, da es auch in der dem legitimen Konige
anhangenden Partei, wie gesagt, an Magyaren nicht fehlte; wahrend
die Gegenpartei, im grossen Ganzen, nebst den Magyaren zugleich
einen, dem Protestantismus zuneigenden Bruchtheil der Slaven,
speciell der Slovaken, sowie die beinahe ganz dem Protestantismus
anhangenden Deutschen umfasste, uberdies mit den Tiirken, spater
mit den Protestanten des deutschen Reiches in engster Verbin-
dung stand. Weil jedoch die Magyaren bei der ersteren Partei
sparlich, bei der letzteren dagegen so stark vertreten waren, dass
sie deren Spitze und Kern bildeten und diese auch bei den spa-
teren vielfachen Revolutionen zu bilden nicht aufhorten: so muss
diese schon nach dem Grundsatze ,a portiori fit denominatio a
als magyarische Partei aufgefasst werden, zumal dieselbe sich
ganz besonders mit der Entwickelung der magyarischen Sprache,
um sie in den protestantischen Gottesdienst einfuhren zu konnen,
befasste; in dieser Richtung thatsachliche Erfolge zu verzeiehnen
hatte und eben deshalb die, unter den Magyaren zumeist verbrei-
tete Lehre der Reformatoren Kaivin und Zwingli, (das helvetische
Bekenntniss der Protestanten) vom Yolke bis nunzu nicht mit
ITnrecht der magyarische Glaube oder das magyarische Glaubens-
bekenntniss genannt, ja Kaivin vielfach als aehter Magyare ver-
ehrt wird.

Diese magyarische Partei wurde urspriinglich, Dank dem ihr
von den Tiirken, diesen entfernten Verwandten der Magyaren,
gewahrten, keineswegs uneigenniitzigen Schutze; dann aber an
der Hand des Protestantismus, dessen Pflege, Ausbreitung und
Schutz sie iibernommen hatte, iiberaus machtig; verlor jedoch
allmalig in dem Masse ihre Bedeutung, in welchem die Tiirken
den Waffen der osterreichischen Hausmacht weichen mussten, und
sich gleichzeitig die Autoritat der legitimen Konige in Ungarn
sowie die legitime Macht der Kaiser in Deutschland festigte.
Schon unter Konig Maximilian wurde die fiber Bitten des Land-
tages erflossene konigliclie Entschliessung mit Dank in die Landes-
gesetze (Artikel 38 vom Jahre 1569) eingereiht, wornach zwei
ungarische Rathe bleibend am koniglichen Hoflager zu Wien ihren
Sitz zu nehmen haben werden,*) um dem Konige die Einholung

*) Aus diesem Zugestiindniss entwickelte sich in der Folge die zu Wien
bgstandene kgl. ung. Hofkanzlei.

71

ihres Rathes in den die Justiz und die Freilieiten des Landes be-
treffenden ungarischen Angelegenheiten zu ermogliehen, wogegen
die Aligelegenheiten der Finanzen und des Krieges unverandert,
wie bishin, durch die Wiener Hofkammer, beziehungsweise durch
den Hofkriegsrath auszutragen seien. Beigefiigt wurde noch, dass
der Konig sieh vorbehalte, die gedachten beiden ungarischen Rathe
erforderlichenfalles auch in Kriegsangelegenheiten einzuvernehmen,
jedenfalls aber die Anstellung zweier Dolmetsche bei der Hof¬
kammer und beim Hofkriegsrathe anszustellen und zu besolden,
welche diesen Dicasterien und dem Prasidenten behufs Verstiindi-
gung mit den Parteien aus Ungarn stets zur Verfiigung stelien
werden. Spater, als der Protestantismus immer mehr zuriickgieng,
war auch der Eifer fur die Entwickelung der magyarischen Sprache,
weleher sich nebst ihrer Einfiihrung in die Kirehen des helvetischen
Bekenntnisses, wo sie bis nunzu ausschliesslich herrscht, in der
Verfassung von Grammairen*) und in den Yersuchen, derselben
mindestens im Yerkehre der Magyaren unter einander sowie am
Hofe der Gegenkbnige und der Fiirsten Siebenbiirgens Geltung
zu verschaffen, gipfelte, so ganz erloschen, dass im XVIII. Jahr-
hunderte die Kenntniss der magyarischen Sprache nicht nur unter
den Nichtmagyaren, sondern selbst in den hoheren Klassen der
magyarischen Bevolkerung zu den Seltenheiten zahlte.

An der nationalen, richtiger sprachlichen Gleichberechtigung
wurde iibrigens in Ungarn selbst zur Zeit, wo die magyarische
Partei am macht.igsten dastand und die konigliche Macht am
tiefsten gesunken war, nie geriittelt. Die alien Volkern gemein-
same lateinische Sprache gait fortwahrend als ausschliessliche
Geschaftssprache des Landtages sowie aller Dicasterien und Aemter,
mit Ausnahme der militarischen und tinanziellen Sphare, wo die
deutsche Sprache herrschte, wiihrend der Gebrauch der Volksspra-
chen, ohne dass hiebei irgend einer ein Yorzug eingeraumt worden
ware, auf die Gemeindeangelegenheiten beschriinkt war. Es gibt
auch aus jener Periode kein Gesetz, welches den Magyaren irgend
einen Vorzug vor anderen Volkern Ungarns eingeraumt haben
wurde, ja die magyarische Partei, welche im Zenith ihrer Macht
vorzugsweise fur die Gleichberechtigung der Protestanten und fur
die Ersetzung der nicht naeh Ungarn zustandigen Beamten und
geistlichen Wiirdentrager durch Sbhne des Yaterlandes kampfte,
sah sieh, nm fur diesen Kampf die Landtagsmajoritat einzunehmen,
genothigt, wiederholt die volje Gleichberechtigung der Nationen
zu betonen und darauf zu dringen, dass zum Unterschiede der

*) Die erste magyarische Grammair erschien im Jahre 1589, allein
diese sowie die spiitere des Katona vom Jahre 1645 kommen kaum in Be-
tracht. Besser war die „Elaboratior Grammatica' 1  des Revay, selbstverstandlich
mit lateinischem Texte.

72

Fremden in den Gesetzen alle Landeskinder —- selbst mit Ein-
sehluss der Kroaten mit der gemeinschaftlichen Benennung „hun-
gari“ bezeichnet werden. Nur in jenen seltenen Fiillen, wo in
den Gesetzen die Unterscheidung der Nationalitat unerlasslich
war, wurde die Nationalitat bezeichnet, und hiessen dann die Ma-
gyaren in der lateinischen Geschaftsspraehe gewohnlich die „hun-
gari nativi“.

Die Errungenschaften der magyarischen Partei im Wege
der Gesetzgebung, beschrankten sich daher auf einige den Prote-
stanten gesicherte Rechte, dann auf die Ausmerzung der nicht in
Ungarn geborenen Beamten und geistlichen Wiirdentrager, und
das war von Wichtigkeit. Nebstbei gelang es ihr die Grundlagen
der bevorzugten Stellung der Kumanen und Russen zu lockern.
Die Ersteren wurden zwar dessenungeachtet, nachdem in deren
Sprache die verwandte magyarische aufgegangen, daher der lange
bestandene spraehliehe Unterschied behoben war, nicht weiter
behelligt; allein die Russen, als deren Wojwoden oder Herzog
(dux) die Geschichte bereits im XL Jahrhunderte den Sohn des
unter den Heiligen verehrten ersten Konigs von Ungarn kennt,
und deren uralte indubia privilegia Konig Ferdinand noch in der
Urkunde, kraft deren die Krondomanen Munkacs und Szent
Miklos an Magocsy verpftindet wurden, unverselirt gewahrt wissen
wollte, wurden unter den fortwahrenden revolutionaren Unrulien
allmalig ihrer bevorzugten Stellung, dann in Folge der im Jahre
1649 angenommenen Union mit der romischen Kirche, auch ihrer
kirchlichen Autonomie entkleidet; hierauf in der Mitte des XVIII.
Jahrhundertes im Verordnungswege der Comitats Jurisdiction
unterstellt und endlich bei Einfiihrung des Theresien Urbariums
mit Schluss des dritten Viertels des XVIII. Jahrhundertes, wobei
ihnen auch die Privilegial Urkunden abhanden kamen, einer den
iibrigen Nationen ganz gleichen Behandlung unterworfen.

Dagegen erhielt von Kaiser Leopold dem Grossen der, durch
eine Einwanderung aus Serbien angewachsene serbische Volks-
stamm Privilegien, welche durch ein eigenes, den Hofkanzleien und
anderen Hofstellen aquiparirendes Hofdicasterium (die illyrische
Hofdeputation genannt) gehandhabt wurden, daher nur durch ein
eigenes Gesetz beseitigt werden konnten. Ausser den, ebenso wie
friiher die Russen, von den Comitaten exempten, daher unmittelbar
vom Monarchen abhangigen Serben wurden der magyarischen
Partei auch andere Nationen, insbesondere die, die Bevolkerung
der gleichfalls von den Comitaten exempten koniglichen Frei-
stiidte, Bergstiidte und privilegirten Markte bildenden Slovaken und
Deutschen hochst unangenehm, zumal dieselben den Magyaren,
deren Intriguen und unruhigen Geist man allgemein fiirchtete,
das Recht nicht nur stadtische Aemter zu b'ekleiden sondern selbst

73

Hauser zu erwerben, rundweg absprachen. Die magyarische Partei
sab sich daher genothigt, der nationalen und religionaren Gleich-
berechtigung (absque ullo religionis vel nationis discrimine) auch
innerhalb der Stadte und privilegirten Markte zum Durcbbruche
zu verhelfen, was ihr, ungeachtet der hiebei beobachteten ausser-
sten Vorsicht und ungeachtet der ihr Seitens der nichtmagyari-
schen Elemente zu Theil gewordenen Unterstiitzung erst nach
harten Kampfen gelang und eine ganze Reihe von Gesetzen erfor-
derte.*) Und selbst diese im Princip erkampfte Gleichberechtigung
fand lange Zeit hindurch keine. praktische Anwendung, da die
Stadte sich im Genusse eigener Gemeindestatuten, iiberdies des
freien Wahlrechtes ihrer Beamten erfreuten ; . die einschlagigen
Landesgesetze daher, ohne anzustossen, umgehen konnten und
thatsachlich zu umgehen verstanden.

So standen die Saclien, als die pragmatische Sanction, wie
erwahnt, in Kroatien und Slavonien, dann in Siebenburgen und
endlich Zeuge der Artikel 1 und 2 vom Jahre 1723 auch in
Ungarn den Landesgesetzen angereiht wurde. Allein auch dieses
wichtige Gesetz, in dessen Folge die Verwaltung Ungarns nach
dem Muster der librigen Erblander der herrschenden habsburgischen
Dynastie eingerichtet wurde, enthiilt nichts, was irgend einer
Bevorzugung des magyarischen vor den librigen Volksstammen

*) Das erste diesfallige Gesetz, speciell dev Avtikel 62, vom Jahve 1563
spvach nicht die Verpflichtung sondern lediglich den Wunsch aus („qaatenus
bona Civium volantate fieri poterit“), dass der Ankauf von Hausern in den
koniglichen Freistadten, speciell in der slavischen Stadt Szakolcza (Skalica
unweit der mahrischen Grenze) niclit etwa alien Magyaren, sondern lediglich
jenen magyarischen Adoligen gestattef, werden moge, die aus den, von den
Tiirken besetzten Gegenden fliichtend, sich daselbst niederzulassen beabsich-
tigen. Diesem folgte, nachdem der Einfluss der magyarischen Partei gestiegen
war, der Gesetzartikel 18 vom Jahre 1608, welcher gleich den Deutschen
und Slaven aucli den Magyaren (hungaris nativis) innerhalb aller koniglichen
Freistiidte, Bergstiidte und slavischen Stadte (in Regiis ac liberis Civitatibus,
etiam montanis et Sclavonicis) sowie in den privilegirten Miirkten das Recht
ertheilt, nicht nur Hauser erwerben, sondern auch alle Gemeindeamtcr be-
ldeiden zu konnen. Im Gesetzartikel 44 vom Jahre 1609 ante cor. wird dic^
selbe Bestimmung „officium iudicis et aliorum in civitatibus liberis et mon¬
tanis, oppidisque privilegiatis, absijue ullo religionis vel nationis
discrimine  Hungaris videlicet et Germanis sen Sclavis et Bohemis aequa-
liter tribuantur, liberumque sit eis ex medio ipsorum domns emere,“ noch
durch die angedrohte Strafe von 2000 ungarischen Gulden verschiirft, deren
Eintreibung von den widerspenstigen Gemeinden angeordnet wird. Dnd den-
noch enthalt noch der Gesetzartikel 40 vom Jahre 1613 die an den Konig
gestellte Bitte gegen die l-enitente-Freistadt Neusohl (Neosolium, Bystrica),
welche die obigen Gesetze nicht beachtete und auch die ihr vom Palatin auf-
erlegte gesetzliche Strafe nicht zahlte, eine Dntersuchung einzuleiten, welche
auch, jedoch bei gleichzeitiger Suspension der Execution, zugesagt wurde.

Ja es hielt schwer, die Magyaren in denselben Stiidten der nationalen
Gleichberechtigung theilhaft werden zu lassen, in welchen heute keine andere,
als die magyarische Geschiifts- und sogar Berathungssprache geduldet wird-

74

des Landes auch nur ahnlicli sehen wiirde; bescbriinkt sich viel-
melii' nebst der Regelung der Erbfolge, auf die Betonung des
dieser Erbfolge entspringenden innigen nnd unloslichen Verbandes
Ungarns mit den ubrigen Erblandern der Monarcliie einerseits und
der Aufrechterhaltung aller in den Gesetzen wurzelnden Rechte
andererseits, in welch letzterer Beziebung die unmittelbar folgenden
Gesetzartikel noch nahere Bestimmungen enthalten. Wer hatte
auch den Muth gehabt, fur irgend eine Bevorzugung der Magyaren,
welche die magyarische Partei selbst zur Zeit ihrer grossten Be-
deutung nicht einmal zur Sprache zu bringen klug genug war,
im ersten Viertel des XVIII. Jahrhundertes einzutreten, wo die
gedachte Partei die Ausdebnung der Erbfolge der herrschenden
Dynastie auf deren weibliche Linien, zugleich die unauflossliche
Verbindung Ungarns mit den ubrigen habsburgischen Erblandern
und als deren unmittelbare Folge die im Gesetzartikel 114 von
1723 ausgesprochene Unterordnung des ungarischen Postwesens
unter den osterreichischen General Postmeister, sowie die in Ge-,
massheit der in den ubrigen Erblandern bestelienden Uebung laut
Gesetzartikel 98 von 1723 angeordnete Einfuhrung des kaiserlichen
Doppeladlers als Wappen der Behorden sogar der obersten Be-
horde des Landes *) ruhig binnahm, iiberhaupt kaum mehr ein
Lebenszeichen von sich gab, ja der gesammte magyarische Volks-
stamm seinem allmiiligen Erloschen nahegeriickt zu sein schien ?**)

Erst die Maassregeln des Kaisers Joseph II., insbesondere
die systematische Verdrangung der lateinischen Sprache, welche
bishin den Kitt der ihrer Abstammung nach sehr verschiedenen
Bestandtheile des „Populus“ gebildet hatte, zugleich die einzige
war, welche die Geistliehkeit und die mittleren Klassen der
Bevolkerung grammatisch gelernt batten, brachte den klaglichen
Ueberresten der einst machtigen magyarischen Partei unverhofft
eine Kraftigung grossentheils sogar aus dem nichtmagyarischen
Lager. Die aus den heterogensten, sonst einander sogar be-

*) Die einschliigige Stelle des Gesetzes lautet: „ Consilium (Loeumte-
nentiale) utatur sigillo suae Maiestatis Caesareo —■ Regiae cum
circumferentia Aquilae,  in medio autem insignibus Regni; prouti
hoc in aliis quoque Regnis et Provinciis haereditariis omni
tempore tisitatum fuit.“

**) Die Zeiten waren iiberhaupt nicht darnach angethan, um in Ongarn
irgend ein Volk, selbst wenn es zahlreicher vertreten gewesen ware als das
magyarische, zum herrschenden zu erheben. Das Land bedurfte ja dringend
der Einwanderung aus den ubrigen Landern der Monarchie und selbst aus
dem Auslande, wie dies der Gesetzartikel 103 von 17-23 ausser Zweifel stellt.
Der Wortlaut dieses Gesetzes zeigt ja, dass Ungarn den Einwanderern sogar
eine sechsjiihrige Steuerfreiheit in Aussicht zu stellen bereit war, um die-
selben anzulocken, was der Kaiser auch genehmigte; alles Locken ware
jedoch vergeblich gewesen, wenn die Einwanderer die Herrschaft eines ihnen
fremden Volkes zu befiirchten gehabt hiitten.

75

kampfenden Elementen gebildete Oppositionspartei war za hlreicli
und gewann besonders durch den Ausbruch der franzos'schen
Revolution an Bedeutung, wurde aber durch den vom Kaiser
geschaffenen festen Verwaltungs-Organismus so niedergehalten,
dass sie Nichts zu unternehmen vermochte, ja sogar sich aufge-
losst zu haben schien. Nachdem jedoch der Kaiser im Jahre 1790
die Wiederherstellung des status quo, wie er ihn beim Antritte
seiner Regierung vorgefunden hatte, mittels eigenen Rescriptes in
nachste Aussicht gestellt hatte und bald darauf verschieden war:
Hessen die Behorden und mit diesen auch alle Anhanger des
grossen Kaisers den Muth naturgemass sinken, und die von Tag
zu Tag immer mehr anschwellende Partei der Unzufriedenen, ge-
filhrt von den Deberresten der im Oppositionskampfe gefeiten
magyarischen Partei, feierte unbehindert ihre Orgien.

Unter solchen Verhaltnissen wurde vom Kaiser Leopold II.
der ungarische Kronungslandtag einberufen. Das an der Spitze
der machtigen Opposition stehende magyarische Element, welches
die schon durch das unbehinderte Grassiren der franzosischen
Revolution eingescbiichterten nichtoppositionellen Elemente des
Landtages wegen seiner an den Tag gelegten Gewaltthiitigkeit
fiirchteten, der Herrscher aber zu beschwiehtigen bemuht war,
beutete daher diese Lage voll aus, indem es nebst anderen seinem
Geschmacke entspreehenden, theils die Unabhangigkeit Dngarns
betonenden sowie die voile Autonomie der protestantischen Reli-
gionsgenossenschaften beider Bekenntnisse sicherstellenden Ge-
setzen auch noch das durchsetzte, dass zum erstenmale ein
Landtag sich auch mit der magyarischen Sprache befasste, spe-
ciell ein das Lernen derselben in den Gymnasien und hoheren
Lehranstalten anordnendes Gesetz schuf und die Landtagsver-
handlungen sowie die als Ergebniss derselben in Betracht kom-
menden Gesetze nicht, nur, der bestehenden gesetzlichen Uebung
gemass in lateinischer sondern auch in magyarischer Sprache
verfassen und verlautbaren liess. Insbesondere dieser letztere [Jm-
stand hatte ein der nationalen Gleichberechtigung gefahrliches
Prajudiz schaffen konnen; allein diese ErwSgung hat die Vorliebe
der Nichtmagyaren und selbst der ruhiger denkenden und weiter
sehenden Magyaren fur die Opposition sofort abgekuhlt. Bei den
spateren Landtagen behauptete wieder die lateinische Sprache
ihr Recht innerlialb Ungarns als ausschliessliche Landtags- und
Geschaftssprache zu gelten, ui),d selbst das Lernen der magyari¬
schen Sprache an den Gymnasien und hoheren Lehranstalten
wurde von Niemanden ernstgenommen.

In Ungarn herrschte auch nach dem Jahre 1790 ebenso,
wie vor demselben, die voile nationale Gleichberechtigung, welche
selbst anliisslich des Gesetzes, welches die Aufhebung der ge«

76

dachten illyrisclien (serbischen) Hofdeputation aussprechend, zu-
gleich alien Bischofen der serbisch-slavischen Kirche im Herren-
hause des Landtages Sitz und Stimme zuerkannte, iiberdies die
Vertretung der serbischen Nation im Rathe der hochsten Dica-
sterien Ungarns anordnete, in eclatanter Weise zum Ausdruck ge-
bracht wnrde. Es herrschte aber auch auf jedem sonstigen Gebiete
Ruhe, welche selbst anlasslich der Griindung des osterreichischen
Kaiserstaates durch Kaiser Franz I. keine Erschtitterung, ja nicht
einmal eine Einsprache der Landtage hervorrief. Die beim Land-
tage von 1895 bis 1827 von einzelnen Magyaren unternommenen
Versuche, mindestens in den milndlichen Landtags-Yerhandlungen
nebst der lateinischen auch die magyarische Sprache zur Geltung
zu bringen, blieben eben Yersuche ohne Polgen. Nachdem jedoch
im Jahre 1830 einmal wieder eine franzosische Revolution tri-
umphirte und diesen Triumph die polnische Revolution von 1831
hervorgerufen hatte: wnrde in der magyarischen Partei abermals
die Hoffnung wach, das Land zu unterjochen. Diese Partei,
welche sich durch Fraternisiren vor Allem des sogenannten
Bauernadels bemachtigt hatte und mit Hilfe desselben den hoheren
Adel sowie die katholische Geistlichkeit in den Comitaten terro-
risirte ; andererseits aber durch liberale Phrasen und wo moglich
noch liberalere Zeitschriften die zahlreichen Advocaten, Aerzte
und Ingenieure, sowie die reformirten Geistlichen, die Professoren,
Lehrer und durch diese die gesammte junge Generation fur sich
gewonnen hatte, bot auf den Landtagen von 1832 bis 1836, dann
von 1840 und von 1814 Alles auf, um auch den Bauernstand,
welchem, gegeniiber dem Theresianischen Urbarium immer mehr
Erleichterungen zu gestanden wurden, fiir sich zu gewinnen und
den nichtmagyarischen, iiberhaupt nichtoppositionellen Adel, fiber
dessen Nachkommenschaft sie ohnehin schon verffigte, zu sich
hinuberzuziehen, *) zugleich der magyarischen Sprache mehr und
mehr Rechte einzuraumen, bis die altherkommliche lateinische
Landtags- und Geschaftssprache ganz beseitigt war.

Thatsachlich wurde bereits im Landtage von 1840 mehr
magyariscli als lateinisch gesprochen, wahrend die von demselben
mit der Krone vereinbarten Gesetze nicht nur in der lateinischen
sondern auch in einer authentischen  magyarischen Ausgabe
gedruckt und verlautbart warden. Die Pression am Landtage 1844
wurde in demselben Maasse, in welchem die, Vielen unbegreifliche
Haltung der Regierung die Anhanger der aviten Gleichberechti-
gung entmuthigt hatte, natfirlich noch rticksichtsloser, und erschien
der authentische Text der vereinbarten Gesetze nurmehr in ma-

*) Iliebei hat die ungliickliche Maxim der damaligen Regierung, her-
von-agenden Oppositiousmiinnern durch Verleihung hoherer Beamtenstellen
oder eintraglicher Sinecuren den Mund zu stopfen, nicht wenig mitgeholfen,

11

gyarischer Sprache. Die liberate magyarische Partei liatte das
nichtmagyarische Ungarn fhatsachlich unterjocht, allein dies ge-
niigte ihrem Grossenwahne keineswegs, da sie nebst Ungarn auch
die Konigreiche Kroatien und Slavonien sowie das von Ungarn
ganz unabhiingige Grossfiirstentum Siebenbiirgen magyarisiren
wollte und zu diesem Behufe den Einfluss der Proceres (der
Pralaten und des hoheren Adels), deren staatskluges Vorgehen
man verhohnte, und selbst des Konigs naehhaltig beseitigen;
daher mit dem Dicasterialsystem grundlich aufraumen und statt
dessen das franzosische System verantwortlicher Ministerien ein-
burgern zu miissen erachtete.

Diesem tollkiilmen Streben der liberalen Magyaren, welches
man vielfach belachelt hatte, verhalf gleichwol eine neue franzo¬
sische Revolution (die Februarrevolution von 1848) zum vollen
Siege. Wie die liberalen Magyaren die durch die Revolution hervor-
gerufenen Hoffnungen und Befiirchtungen auszuniitzen verstanden,
welchen Terrorismus sie in dem eben versammelt gewesenen un-
garischen Landtage entwickelten, um die im Sinne des Gesetzes
an ihre Instructionen gebundenen Abgeordneten der Jurisdiction
zum Treubruche zu verleiten; welche Maassnahmen sie ergriffen,
um die grossen Volksihassen Ungarns in ihrer bekannten Treue
zum Throne wankend und sich geneigt zu machen; welche Ver-
bindungen die liberalen Magyaren mit den von revolutioniirem
Geiste ergriffenen Polen, Deutschen und Italienern ankntipften,
und wie dieselben mittels ihrer Agenten, selbst unter den, durch
ihre Anhanglichkeit an Thron und Reich hervorragenden Slaven
Bohmens verbiingnissvolle Gassentumulte hervorzurufen verstanden,
um an alien Ecken und Enden unserer Monarchie gleichzeitig die
gesetzliche Ordnung zu storen und inmitten derselben ihren un-
erhorten Forderungen Geltung zu verschaffen: ist allgemein be-
kannt und wurde selbst von dem magyarenfreundlichen Dr. Rieger
zugestanden, der die verhangnissvollen Prager-Tumulte den Agenten
Kofsuth’s zuzuschreiben nicht umhin konnte.*) Eben so bekannt
ist auch das Resultat dieser allseitigen Anstrengungen, denn die

*) Der einschliigige Absatz der Eiegerschen Rede ist, wie uberhaupt,
alle am altiechischen Parteitage gehaltenen Reden, leider polniseb gefiirbt.
Denn ihm kann es nicht unbekannt sein, dass die energischen Maassnahmen
der Regierung in erster Linie durch den, vom Slavencongresse, (der sich
nicht mit Politik, am allerwenigsten mit neuen Staatenbildungen, sondern
ausschliesslich mit Angelegenheiten „der slavischen Nationalitiit und Sprache
zu befassen hatte), leider an'genommenen und auf eine Befiirwortung der
Wiederherstellung der einstigen polnischen Republik abzielenden Antrag der
an den Congressverhandlungen betheiligten Polen, hervorgerufen wurden.
Freilich steckten die Polen mit den liberalen Magyaren, folglich mit Kofsuth,
unter einer Decke, dies hatte jedoch Rieger, so sehrer sich auch im polnischen
Fahrwasser beflndet, im Interesse der Wahrheit nicht verschweigen sollon.

78

liberale magyarische Fraction hat ihr Ziel erreicht; unsere, ver-
miige der pragmatischen Sanction unauflosslich zu einem staatliclien
Ganzen verbundene und vom Kaiser Franz I. unter Zustimmung
aller ihrer Bestandtheile zum einheitlicben Kaiserstaate erhobene
Monarchie wurde im Jahre 1848 thatsiichlich in zwei von einander
unablhingige Staaten getheilt, deren einer der unbegrenzten ma-
gyarischen Willkur mit ihren unermiidlichen Blutgericbten und
bevollmachtigten Regierungs-Commissaren ganz und gar ausge-
liefert war.

Und auf diese, ja nur auf diese einzige Thatsache stiitzt sich
jenes eigenthiimliche historische Recht, an welches die liberalen
Magyaren, behufs Unterjochung Ungarns, Kroatiens, Slavoniens und
Siebenbiirgens, allerdings erst seit dem Erscheinen des Diploms
vom 20. Oktober 1860 sich anklammern zu sollen erachteten und
hiebei 1861 im Abgeordnetenhause des Reichsrathes nicht nur von
den die Freiheit, gleich den liberalen Magyaren, mit der Gewahrung
der willkiirlichen Bedriickung Anderer identificierenden pohiischen
Abgeordneten, sondern leider auch durch Dr. Rieger, wie er selbst
bekennt, unterstlitzt wurden. Dass aber Rieger die Anspriiche der
factiosen magyarischen Partei auf voile Anerkennung der, ihr im
Jahre 1848, inmilten allseitiger revolutionaren Wirren, bei gleich-
zeitiger Beseitigung der altehrwiirdigen Constitution gelungenen
Unterjochung der erdriickenden Majoritiit der Volker dreier Konig-
reiche und eines Grossfiirstentums stutzte und nur diese An-
spriiche stiitzen konnte: geht zur Geniige daraus hervor, dass zur
Zeit des Auftretens des Dr. Rieger (1861) Ungarn bereits weit
mehr Rechte zugestanden waren, als es naeh seinen eigenen Ge-
setzen, wenn von den Friichten 1848er Wirren abgesehen wird,
zu beanspruchen berechtigt war. Ja noch mehr, selbst den Aspira-
tionen der factiosen magyarischen Partei auf eine Bevorzugung
der magyarischen Minderheit der Bevolkerung, welche man dem
einst gesetzlich bevorzugten „Populu's“ zu substituiren beabsichtigte,
war in jener Zeit bereits in einer, mit den bis 1844 bestandenen
Gesetzen Ungarns unvereinbaren Weise entsprochen, was eben,
um einen milden Ausdruck zu gebrauchen, die Entmuthigung und
ganzliche Unthatigkeit der osterreichischen Elemente und in weiterer
Linie einen Landtag zur Folge hatte, dessen Majoritiit, ohne jene
Grundgesetze, auf deren Grundlage der Landtag einberufen wurde
und zusammengetreten war, zu beachten, einfach die Wiederher-
stellung der Zustande vom Jahre 1848 forderte.

Eine solclie Forderung und sogar das Beharren bei derselben
hatte einige Monate friiher kaum irgend Jemand fur moglich ge-
halten, zumal die, diese Forderung erhebende Partei ilire in den
Jahren 1848 bis Mitte 1849 gfirbte Herrschaft mit einem Be-
schlusse des zu Szegedin versammelten Landtages geendigt hatte,

79

welcher die, in der Erhebung aller Yoiker gegen die herrscbende
magyarische Partei an den Tag getretenen traurigen Folgen der
inaugurirten Herrschaft des magyarischen Elementes beklagend,
die Wiederherstellung der in Ungarn seit jeher bestandenen vollen
Gleichberechtigung aller Nationen neuerlich zum Grundsatze zu
erheben fand. Die faetibse magyarische Partei war sich andererseits
auch bewusst, dass sie es war, welche Ungarn im Jabr 1848 zur
offenen Emporung und den Landtag im Jabr 1849 zu jenen hoch-
verratherischen Beschliissen gedrangt hatte, durch welche Ungarn
nach denselben obbezogenen ungarischen Gesetzen, auf Grand deren
einst der gesammte Bauernstand seiner Freiheiten verlustig erklart
wurde, seine avitisclie Constitution verwirkt hatte. Das Gesetz
war scharf, allein der juridiscbe Grundsatz „Non de lege, 'sed
secundum legem iudicandum est,“ konnte in diesem Falle umso
weniger ausser Acht gelassen werden, als dessen Anwendung Riick-
sichten fur die Erhaltung des Kaiserstaates dringend erheischten.
Es gibt ja kein Beispiel in der Geschichte, dass einem Yolke,
welches sich der ihm mehr als anderen Volkern gewahrten Be-
gunstigungen dazu bedient, um sich in Massen gegen Thron und
Reich zu erheben. die gemissbrauehten Freiheiten sofort nach
Niederwerfung des Aufstandes wieder eingeraumt worden waren,
um sie bei sich bietender Gelegenheit abermals zu missbrauchen.
Gnadenacte kbnnen eintreten, sind sogar angezeigt; sie miissen
jedoch als solche anerkannt werden, sollen die Rechte Anderer,
besonders der, der legitimen Gewalt wahrend des Aufstandes und
bei Bekampfung desselben, treu gebliebenen, nicht kranken, und
diirfen, schon mit Hinblick auf das Interesse der durch jeden Auf-
stand hart betroffenen Steuertrager, erst dann eintreten, wenn sich
die Gemiither der Revolutionary abgekuhlt haben.

So hat man es in der That auch mit Ungarn gehalten. Der
blutigeu Revolution folgte die nicht zu vermeidende Bach’sche
Dictatur, welche einerseits die historisch begriindete Autonomie
Kroatiens, Slavoniens und Siebenburgens wahrend, zugleich die
serbische Wojwodschaft und die ubrigen nationalen Verwaltungs-
gebiete Ungarns schuf, um die Wiedereinflihrung des vorzugsweise
wegen der Haltung der noch nicht abgekiihlten liberalen Magyaren
ausser Kraft gesetzten constitutions! len Lebens, auf der Grand lage
nationaller Gleichberechtigung zu ermoglichen; andererseits aber
behufs Befriedigung der gesetzlichen Anspriiche der gewesenen
Unterthanen und ihrer Grundherren die Grundentlastung durchzu-
fiihren und nebstbei das, durch die Revolution hart mitgenommene,
ja ganzlich verarmte Land an der Hand einer exacten Administra¬
tion und Gerichtspflege sowie durch Verbesserung der materiellen
Communicationen und durch ausgedehnte Flussregulirungen, auch
materiell zu heben. Die nach jeder Richtung bin gliickliche Losung

80

dieser riesigen Aufgabe, welclie von der gleichzeitigen Wiederein-
biirgerung der nationalen Gleichbereehtigung der nicbt magyari-
schen Volker Ungarns mit den Magyaren, sowie von der Wieder-
herstellung des in der pragmatischen Sanction begriindeten einigen
Verbandes Ungarns mit den iibrigen Bestandtheilen des von Kaiser
Franz I. geschaffenen osterreichischen Kaiserstaates getrennt gar
nicht gedacht werden kann, hat ein Decennium hindurch, daher
weit lilnger gedauert, als die im Jahre 1848 durcb verwerfiiche
Mittel herbeigefuhrte Herrschaft der liberalen Magyaren, welcher
dieselben.iiberdies am Szegediner Landtage, wie erwahnt, selbst
feierlich zu entsagen nicht umhin konnten. Die Bach’sche Dictatur
hat sogar die ganze Periode, in welcher das Streben nach einer
Herrschaft des magyarischen Elementes greifbar hervortrat, an
Dauer ubertroffen, denn jene dauerte von 1849 bis 1859, diese
dagegen nur von 1840 bis 1849.

Wie ungeachtet dieser Thatsachen Dr. Rieger fur die Herr¬
schaft der factiosen magyarischen Partei im Jahre 1861 eintreten
konnte, ist Allen ein Rathsel, zumal er nicbt, gleich den polnischen
Abgeordneten, an der gewaltsamen Niederhaltung der Entwickelung
der Slaven Ungarns interessirt war, noch weniger auf die ihn
nicbts angehende polnisch-magyarische Waff'engenossenschaft aus
den Jahren 1848 und 1849 Riicksicht zu nehmen brauchte.
Andererseits stimmt jedoch das Eintreten fur die magyarische
Herrschaft mit dem sonstigen Verhalten Riegers, speciell mit den
obgedachten, beinahe ununterbrochenen Liebeswerbungen bei der
liberalen Magyarenfractiorf und mit dem, nach dem ungliicklichen
Kriege von 1866 zu Prag verfassten, gleichfalls schon erwahnten
Zukunfts-Programme Oesterreichs, welches bekanntlich die Slaven
und Rumanen Ungarns, Kroatiens, Slavoniens, Dalmatiens und
Siebenburgens den Magyaren; die westlichen Siidslaven, speciell
die Kroaten Istriens und alle Slovenen den Deutschen; die ausser-
ungarischen Russen und Rumanen den Polen und die Deutschen
Bohmens, Mahrens und Schlesiens den unverfiilschten Cechen
unterordnet wissen wollte, um Oesterreich, welches sich auf sich
zuriick zu ziehen, sich daher alien Einflusses auf ausserbster-
reicbische Angelegenheiten fur immer zu begeben haben wurde,
in vier mit einander fdderirte Staaten: einen magyarischen, einen
deutschen, einen polnischen und einen ceehischen aufzutheilen,
die sonstigen als ethnographisches Material zu beniitzenden Volker
aber allmalig verschwinden zu lassen. Hiernach wollten die spe-
cifischen Cechen mit Rieger an der Spitze unseren Kaiserstaat
allerdings nicht in zwei, sondern in vier mit einander lose ver-
hundene Staaten auftheilen; haben jedoch, indem sie ihr dies-
fiilliges Streben durch die ausschhessliche Berechtiguug der von
Baron Eotvbs erfundenen historisch-politischen Individualitaten

81

begriindeten, unwillkiihrlich zur Einbiii'ger ung des Dualismus bei¬
ge tragen.

Des letzteren Dmstandes war sich Dr. Rieger offenbar be-
wusst, als er weit uber das Commando eines magyarischen Zeitungs-
blattes hinaus, nicht nur den Dualismus in Schutz nahm, sondern
selbst dessen Berechtigung, fiir welche er seiner Zeit offentlich
eingetreten sei, anerkannte. Wenn er hiebei die Ansieht aussprach,
dass sich der Dualismus Angesichts ernster Ereignisse erst zu be-
wahren haben werde: so wollte er, wenn wir ihn recht ver-
standen, einerseits zu verstehen geben, dass es mit Riicksicht
auf solche Ereignisse gerathen ware, auch Bohmen eine Ungarn
ahnliche Stellung einzuraumen*); andererseits aber der Erwahrung
der traurigen Ergebnisse der magyarischen Wirtschaft, welche
uns die Volker Ungarns, sowie an der unteren Donau und auf
der Balkanhalbinsel immer mehr. entfremdet und das Ansehen
Oesterreichs als Grossmacht iiberhaupt arg schadigt, ebenso ge-
sehickt aus dem Wege gehen, wie der Ansehuldigung, dass er
ein warmer Freund der von der slavischen Bevolkerung nicht
nur unseres Mahrens sondern auch Bohmens perhorrescirten Insti¬
tution des Dualismus sei. Als jedocli im weiteren Verlaufe der
Berathung die Nachtheile zur Sprache gebracht wurden, welche
Bohmen durch die Einfuhr ungarischer Cerealien erleide: da trat
Rieger offen mit seinen dualistischen Sympathien hervor, indem
er den beklagten Nachtheil, mit Hinblick auf den Absatz bohmi-
scher Industrieproducte in Ungarn, geradezu in Abrede stellte,
ja sogar jede weitere diesfallige Discussion mit der Behauptung
abbrach, dass sich diese Cerealieneinfuhr „auf Vertragen mit
Ungarn griindet, auf Vertragen, die unter der Garantie des Kaisers
steheD," daher nicht zu ilndern seien. Sonderbar! Diese Vertrage
werden ja von zehn zu zehn Jahren und zwar mit Zustimmung
des Reichsrathes, der darin Modificationen, selbst die Kiindigung
derselben beantragen kann, abgeschlossen; dieselben waren eben
im Laufe des letzten Decenniums, seit welchem der Cesky klub
im Abgeordnetenhause des Reichsrathes besteht und sogar die
festeste Stiitze der Majoritiit desselben bildet, Gegenstand der
reichsrathliclien Verhandlung, und Dr. Rieger fand diese wesent-
lichen Umstande todtzuschweigen. Soil und kann ein solches Ab-
schnalzen aufkliiren und beruhigen?

Leider war es nicht das einzige Abschnalzen, mit welchem
Dr. Rieger den Kreis der Berathung einzuengen und die Be-

*) Die in das Zukunfts-Programm Oesterreichs vorn Jahre 1866 anf-
genommene Theilung Oesterreichs in vier Gruppen oder Staaten wiire dadurch
nahesu verwirklicht, denn die Polen haben bereits eine Sonderstellung, welche
sie auch nach der Bukowina hinubergreifen lasst; die Deutschen aber wtirdeu
mit den Slovenen und Srbokroaten leicht aufraumen.

6

82

rathung, obsehon sie Aufklarung bringen sollte, abzukiirzen f'and.
So oft er am Parteitage in die Berathung personlich eingriff,
wurde auch jenes dictatorische Zurechtweisen und Abschnalzen
sofort wahrnehmbar, welebes er wahrscheinlich, um die Poien
und Magyaren zu copiren, oder vielleieht deshalb anwendete, um
sich unter seinen gesinnungsverwandten Stammesgenossen einer-
seits fiir die wenig beneidenswerte Bolle, die er anlasslich seiner
Liebeswerbungen bei den unerbittlichen liberalen Magyaren spielt;
andererseits aber fiir die abhangige Stellung zu entschadigen,
welche er im reichsratblichen Abgeordnetenhause gegeniiber dem
polniscben und den sogenannten befreundeten Clubs iiberhaupt,
zu spielen unternommen bat. Im letzteren Falle, welchen wir
als den wahrscheinlichen voraussetzen, lasst sich die Gereiztheit
Riegers sowie dessen Bestreben, seine minder eingeweihten Ge-
sinnungsgenossen von jeder Kritik der Wirksamkeit des Cesky
klub und von einem naheren Eingehen in das Wesen gewisser
Fragen iiberhaupt, wol erkiiiren; allein Aufklarung und Beruhi-
gung, welche der Parteitag in erster Linie zu bieten berufen
war, kann ein so herrisches Vorgehen unmoglich gewahren. Das
bereits oben erorterte Verbieten aller und jeder Kritik der Wirk¬
samkeit des Cesky klub; das oben gleichfalls gedachte Abschnalzen
des Redners, der die Landwirte, die Bohmens schiidigende mas-
senhafte Einfuhr ungarischer Cerealien zur Sprache zu bringen
wagte; dann das Abschnalzen eines, den Mangel an gegenseitiger
Fiihlung zwischen den Abgeordneten und deren Wahlern bekla-
genden Redners haben der durch Dr. Rieger vertretenen Partei der
specifischen Cechen ebenso geschadet, wie die sonderbare Art der
Zuriickweisung der Klagen iiber die Vertheuerung des Spiritus
und iiber den von den Landwirten gefiihlten Mangel eines billigen
Salzes fiir das Vieli.

Wenn Menschen, die alltaglich ein gehiiriges Maass von Bier
nicht wegen der.darin weniger als im Ulmer Gerstel enthaltenen
Gerste, noch weniger wegen seines bitteren Hopfens oder schlechten
Wassers, sondern wegen des dariu entwickelten Alkohols zu con-
sumiren gewohnt sind ;  iiberdies auch den Genuss des Weines
nicht etwa wegen seiner sonstigen Bestandtheile (schlechtes
Wasser, Weinsaure, Zitronensaure, Ameisensaure u. s. w.),
sondern in Anbetracht seines Alkoholgehaltes keineswegs ver-
schmahen, gegen jene Klassen der Bevolkerung eifern, die an der
Anschaffung des theueren Alkohols in Bier oder Wein, schon
vermoge ihrer spiirlichen Mittel gehindert, den Genuss des billigen
Alkohols in Branntwein vorziehen : so beriihrt dies, schon an sich
unangenehm. Nun mag Dr. Rieger allerdings der vielfach verbrei-
teten Ansicht huldigen, dass der Genuss des Alkohols in der
Gestalt von Bier oder Wein unsehadlich oder gar zutraglich, da-

83

gegen in der Gestalt von Branntwein (Schnaps) der physisehen
und geistigen Entwickelung des Menscken abtraglieh, und die
Gesetzgebung berufen sei, in der Bevblkerung aucli die Einbaltung
einer riehtigen Diat im Essen und Trinken vorzuschreiben oder
mindestens auf Nebenwegen einzubiirgern.

Wir halten diese Ansichten Riegers keineswegs fur unan-
fechtbar, sind vielmelir der Ueberzeugung, dass der Alkohol in
jeder Gestalt genossen. dieselben Wirkungen hervorbringe. In der
That seheint uns die korperliche und geistige Entwickelung der
biertrinkenden Bevolkerung Baierns vor jener der sclmapstrin-
kenden Bevolkerung Preussens oder Pommerns nichts vorauszu-
haben, und glauben wir auch nicht recht an den Beruf der Ge¬
setzgebung, sich mit diatetischen Vorschriften zu befassen, zumal
diese in einem Reiche, welches von der Adria bis weit iiber die
Karpaten hinaus sich erstreckt, schon mit Hinblick auf die Ver-
schiedenheit des Klima’s nicht gleichartig sein konnten. Allein
hievon, da Jedermann seine besonderen Ansichten haben und nach
Gutdiinken verwerten kann, wollen wir ganz absehen; wenn
jedoch Rieger auf das Klagen jener Gewerbsleute, die des Spiritus
beim Betriebe ihres Gewerbes nicht entbehren konnen, daher durch
dessen wesentliche Vertheuerung namhaften Schaden leiden, damit
antwortet, dass eine Abhilfe erst dann zu gewartigen sei ;  wenn
es Jemanden gelange eine Ingredienz zu erfinden, welche den
Spiritus zu denaturiren, daher zum Trinken unbrauchbar zu
machen geeignet ware: so kann das nur befremden. Der Cesky
klub hat ja bekanntlich eine Entsehadigung der durch die neue
Spiritussteuer nach Angabe des polnischen Club geschadigten
galizischen Grossgrundbesitzer, obschon sich diese auf eine jahr-
lich zu zahlende Summe von einer Million Gulden belauft, als
billig anerkannt; weshalb soli denn nur den, durch dieselbe neue
Spiritussteuer erwiesenermassen geschadigten armen Gewerbs-
leuten nicht auch eine, den Staatsschatz viel weniger belastende
angemessene Entsehadigung gewahrt werden ? Die Entsehadigungs-
ziffer lasst sich ja auf Grand des beilaufigen jahrlicheu Spiritus-
verbrauches sowie der Differenz in den Spirituspreisen leicht er-
mitteln und darf nur von der Jahressteuer des betreffenden Ge-
werbsmannes in Abzug gebracht werden, um die Behauptung
Riegers, dass es sich hier um keine rein fiskalische Massregei
handelt, zurechtfertigen.

Die Versicherung Riegers, dass die Regierung bereit ware,
Viehsalz erzeugen zu lassen" und sogar sehr billigen Preisen,.
abzugeben, wenn es dern iiber den Mangel desselben Klagenden
„gelingen wiirde, ein chemisches Mittel zu finden, wodurch das
Salz denaturirt, das heisst seiner Natur so entkleidet wiirde, dass
es nicht fur Menschen zu gebrauchen ware“ klingt gar wie ein

t*

84

Hohn, und dieser, ja selbst dessen Schein ware insbesondere den
klagenden Landwirten gegeniiber, die selbst nach dem Gestilndnisse
Riegers und anderer Redner den schwierigsten Kampf um ihre
Existenz zu bestehen haben, sorgfaltig zu meiden, selbst wenn
die Klagenden den Wunsch nach einer unter den dermaligen Ver-
haltnissen ganz unmoglichen Maassregel aussprachen, was gar nicht
der Fall war. Dies innerhalb unserer Monarchie keineswegs als
etwas Neues in Betraclit kommende, vielmehr liingst bekannte
Viehsalz war nie so denaturirt, um fur die Menschen absolut
ungeniessbar zu sein, da es sonst auch fur das Vieh kaum ge-
niessbar gewesen ware, daher nicht Viehsalz hatte lieissen konnen.
Man begntigte sich eben damit, dass man durch die den Salzab-
fiillen beigemischten Ingredienzen ein Product erzeugte, welches
nicht dem Vieh, wol aber dem menschlichen Gaumen widerstre-
bend behufs Reinigung von den beigemischten Ingredienzen einen
Zeitaufwand erfordert haben wiirde, welcher diese Reinigung aus-
zuschliessen geeignet war. Ein Missbrauch stand beim Verkaufe
von Viehsalz an Viehhalter und Zuchter kaum zu besorgen; wenn
daher die Regierung, wie Dr. Rieger zugibt, die Einfiibrung des
Viehsalzes nicht aus dem fisikalichen Gesichtspuncte perhorrescirt:
so durften daran wahrscheinlich die Complicationen, welche man
anlasslich der Erzeugung des Viehsalzes und bei der Manipulation
iiberhaupt befiirchtet, die Schuld tragen, und gegen diese gibt
es ein sehr einfaches Mittel, geeignet auch alle sonstigen, wie
immer gearteten Besorgnisse zu zerstreuen. Man weiss es ja, wie
viel das Vieh, um zu gedeihen, an Salz benothigt; man weiss
auch und kann es jeden Augenblick neu constatiren, wie viel es
an Vieh aller-Gattungen in Bohmen und in jedem beliebigen
Lande gibt; es lasst sich sonach ziemlich genau im Gelde jene
Ziffer ermitteln, welche die Viehhalter und Viehziichter lediglich
aus dem Grunde belastet, weil sie statt des billigen Viehsalzes,
das viel theuerere gewohnliche Kochsalz anzuschaffen genothigt
sind. Wenn nun um diese Summen die Grundsteuer eines jeden
Landes ermassigt und diese Ermiissigung verhaltnissmassig auf
die einzelnen viehhaltenden und viehziichtenden Landwirte adre-
partirt wird: so ist dieser stabilsten, zugleich der Beriicksichtigung
zumeist bediirftigen Klasse der Bevdlkerung, soweit dies dermalen
mdglich, geholfen.

* . *

*

Ich gehe zu der vom alteechischen Parteitage angenom-
menen Resolution uber, welche in ihrem ersten Theile den Ab-
geordneten fiir ihr erspriessliches Wirken Dank sagt; im zweiten
das Programm, welches der ganzen Partei, besonders aber den

85

Abgeordneten zur Richtschnur dienen soli, priicisirt; im dritten
aber zur Eintracht ohne Unterschied der Parteien mahnt.

Der den Abgeordneten von ihren treuesten Parteigenossen aus-
gesprochene Dank rief in der Bevolkerung keinen Widerhall hervor,
und dieser Umstand ist bezeielinend genug, um jede diesfallige Er-
orterung iiberflussig erscheinen zu lassen. Die Aufforderung zum
eintrachtigen Vorgehen aller Cechen Bohmens wird leider ganz wir-
kungslos verhallen, ja die Haltung des Parteitages sowie der von den
Hauptrednern eingehaltene schroffe Parteistandpunkt; die wieder-
liolten Ausfalle gegen die Jungcechen und das keine Kritik, keine
Gegenmeinung duldende herrisehe Benehmen Riegers lassen eine we-
sentliche Yerscharfung der bisher bestandenen Gegensatze und folge-
richtig auch des Parteikampfes befiirchten. Wir haben uns jedocli
hieruber bereits oben ausgesprochen; wir hatten auch bereits Gele-
genheit die Haltung und das Benehmen Dr. Riegers zu erortern;
glauben daher hier nur noch beifiigen zu sollen, dass Rieger anlasslich
des Antrages das Dr. Pippich, die hochst wunschenswerte Eintracht
auch Seitens der altcechischen Partei durch eine versohnliche Hal¬
tung zu fordern, sofort in kategorischer Weise die Unterordnung der
jungcechisehen Partei als erste Bedingung hingestellt habe, ohne
welche eine Eintracht nicht. zu erzielen sei. Unseres Erachtens konnte
die Erfiillung dieser als unerlasslich hingestellten Bedingung wol
zur Herrschaft der einen und zur Unterdriickung der anderen
Partei, nimmermehr jedocli zur wahren Eintracht fiihren; die Jung¬
cechen diirften sich daher hiezu umsoweniger verstehen, als sie
es sehr gut wissen, dass das Programm der die Herrschaft anstre-
benden altcechischen Fiihrer nicht nur den Slaven, also auch den
Cechoslaven im Allgemeinen, sondern selbst der erdriickenden Mehr-
heit der specifischen Cechen Bohmens ganz und gar widerstrebt.

Dieses Programm bildet aber den Kern der unter Zustim-
mung aller Anwesenden, mit Ausnahme einer einzigen Stimme,
angenommenen Resolution und ist auch mit Hinblick auf den
Umstand, dass solche Enunciationen nur nach vorlaufiger reiflicher
Erwiigung vereinbart zu werden pflegen, von soldier Importanz,
dass ich dieselbe hier wortlich (nach dem stenographischen Pro-
tokolle) anzufiih'ren, nicht umhin kann. Es lautet: „Treu stehend
zum Staatsrechte des Kohigreiches Bohmen  (vyborne!)
und zum Princip der Autonomie des Landes  (vybornS!),
der Bezirks- und Gemeindeautonomie (vyborne!), hoffen die Ver-
sammelten : die Abgeordneten werden so wie bisher auch kiinftighin
diesen Fundamentalartikeln des politischen Pro¬
grammes der boh mi sc hen Nation nichtsvergeben
und in der Vertheidigung der unveriinderlichen Rechte, der Macht
und der Selbstandigkeit der Monarchie und der Allerhochsten
Dynastie gleichzeitig die Sicherung der uralten Rechte

86

unseres Vaterlandes und die genaue Durchfuhrung  des
gleichen Rechtes beider dasVaterland bewohnenden
Volksstiimme im Auge behalten.“

Naeh diesem klar und deutlieh gehaltenen Programme kann
von nun an keinerlei Zweifel dariiber auftauchen, dass das gesammte
Streben der altceehischen Partei ausschliessich auf die Sicke¬
ning, richtiger, Wiederherstellung der uralten Re elite des
Vaterlandes,  beziehungsweise des eigenen historischen
Staatsrechtes des Konigreiches  Boh  men  gerichtet ist;
Zweifel und zwar wichtige Zweifel regen sich jedoch beziiglich der
Zeitperioden, welelie bei der Wiederherstellung des bekanntlich
vielfachen Aenderungen unterworfenen, daher sehr dehnbaren
Staatsrechtes im Allgemeinen und des bohmischen Staatsrechtes
insbesondere als maassgebend in Betracht zu ziehen waren. Wir
durfen jedoch den Altcechen ein Ankntipfen der historischen Rechte
Bohmens an die Zeit des grossmahrischen Konigreiches, welches einen
grossen Theil des heutigen Ungarns in sich fasste, oder an die Zeit-
periode der Boleslave, wo Bohmen auch uber Polen herrschte, schon
deshalb nicht zumuthen, weil dies die herrschende liberale Ma-
gyarenpartei beziehungsweise die Partei des polnischen Club un-
angenehm beriihren konnte. Wir glauben iiberhaupt nicht,. dass
von den Altcechen das Ankniipfen des historischen bohmischen
Staatsrechtes an irgend eine Zeitperiode des Mittelalters ins Auge
gefasst worden ware; sind vielmehr der Ansicht, dass unter den
in der Resolution betonten uralten Rechten kaum andere zu ver-
steben sein und verntiftigerweise verstanden werden konnen als
jene, welche Bohmen nach Abschluss des Mittelalters, speciell zur
Zeit der Wahl des Erzherzogs Ferdinand zum erblichen Konig
thatsachlich zustanden, oder seither zugestanden wurden.

Unter den Rechten, welche Bohmen bis zur Wahl des Erz¬
herzogs Ferdinand zu seinem erblichen Konige, thatsachlich iibte',
stand das mitunter angefochtene Recht der Konigswahl obenan,
welches jedoch nach vollzogener Wahl eines erblichen Konigs
mindestens fur die Dauer einer unbestimmten Zeitperiode selbst-
verstiindlich nicht mehr ausgeiibt werden konnte und kann. Die
Einbusse des Rechtes der bohmischen Krone auf die beiden Lau-
sitze und auf das heutige Preussisch-Schlesien ist allerdings zu
beklagen; war jedoch unvermeidlich, und diirfte sich kaum Jemand
finden, der Angesichts der heutigen Verhaltnisse eine Ruckerobe-
rung dieser Lander fur moglich halten, daher auch nur das
Wagen eines diesfalligen Versuches anrathen wiirde. Oesterreich
hat sich in dieser Beziehung umso weniger etwas vorzuwerfen,
als es fur die Krone Bohmens die derselben schon im Mittelalter
durch Polen abgenommenen Herzogtiimer Osvietim und Zator
revindicirt hat, und es nicht seine Schuld ist, wenn von denselben

87

in der constitutionellen Aera die Vertreter Bohmens keinerlei
Notiz zu nehmen sich getrauen, obschon sie zur Arrondirung des
kleinen Sehlesiens wie gesehaffen sind. Dieselben Vertreter kiiinmern
sich ja, Zeuge des Verlaufes des altcechischen Parieitages, nicht
einmal urn Miihren oder gar um Schlesien, nach welchem die
Polen auch schon ihre Hiinde auszustrecken beginnen. Die Rechte
Bohmens, welche es auf seinexn dermaligen Landtage ilbt, stehen
den auf semen Landtagen im Mittelalter geiibten nicht viel nach,
und wird selbst diese Differenz durch die angemessene Vertretung
Bohmens in beiden Hausern des Reichsrathes um so mehr aus-
geglichen, als diese hochste autonome Korperschaft auch jene
wichtigen Angelegenheiten heeinflusst, auf welche, weil sie aus-
schliesslich der Competenz des Konigs anheimfielen, die einstigen
Landtage Bohmens einzufliessen nicht in der Lage waren.

Moglich, dass diese meine Anschauungen vielfach auf Wider -
spruch stossen werden, da Einigen dieses, Anderen jenes Recht
wichtiger erscheint, wie dies eben die individuelle Auffassung mit
sich bringt. So steht es ja auch mit der hier nicht weiter zu
besprechenden Schlacht am Weissen Berge und deren traurigen
Folgen, welche von Einigen der Regierung, von Anderen dem
Verhalten der Fuhrer der Bevblkerung Bohmens zur Last gelegt
werden. Einem AViderspruch werde ich jedoch kaum von irgend
einer Seite begegnen, wenn ich behaupte, dass alle wie immer
gearteten constitutionellen Rechte Bohmens sowol im Mittelalter
als nach Ablauf desselben bis zum Jahre 1848 ausschliesslich
die sogenannten Stiinde geiibt haben und zu iiben gesetzlich be-
fugt waren; dass daher,. wenn von historisehen oder gar uralten
Rechten gesprochen wird: unter diesen lediglich die Rechte der
Geistlichkeit, des Adels und einiger Sfadte Bohmens gemeint sein
konnen, nicht aber der sonstigen Bevolkerung, uber deren An
drangen im Jahre 1848 auch die Rechte der Stiinde in Briiche
giengen. Die Stiinde legten gegen diese durch das Staatswol ge-
botene einschneidende Maassregel, so sehr sie auch ihre unzweifel-
haften historisehen Rechte verletzte, kaum Proteste ein; die son-
stige Bevblkerung aber, die keine Rechte eingebusst, wol aber
Rechte errungen hatte und noch weitere Rechte erringen zu
konnen hoffte, konnte selbstversBlndlich gegen die von ihr selbst
lierbeigefiihrte radicale Maassregel, nicht auftreten, ja die Freude
liber dieselbe war eine allgemeine.

Die Verhandlungen der ^Reichstage, insbesondere auch des,
einen ganz gesetzlichen Verlanf aufweisenden Kremsierer Reichstages,
auf welchem die Abgeordneten Bohmens, Miihrens und Sehlesiens
eine hervoiragende Rolle spielten, lassen uber die Richtigkeit der
eben gesehilderten Verhaltnisse keinen Zweifel aufkommen. Die
dort anlasslich der Berathung der Grundlagen fur die Neugestal-

88

tung der Monarchie zur Sprache gebrachten und eifrig vertre-
tenen Wlinsche und Antrage waren auf die Einbiirgerung und
nachhaltige Festigung der einbeitlichen Legislative und Executive
der Monarchie, daher folgerichtig auf die Gleichbereehtigung aller
Volksstamme, aller staatlich anerkannten Religionsgenossenschaften
und aller Bevolkerungsklassen, also durchwegs auf die Beseitigung
des historischen Rechtes gerichtet. Die historisch begriindeten
Rechte nicht nur des deutschen Elementes und seiner Sprache,
sondern auch der katholischen Staatskirche und der Stande sollten
fiir immer beseitigt, und selbst der Grand und Boden sollte
entlastet werden, um dureh die Gleichstellung vor dem Gesetze
aller Staatsbtirger ohne Riicksicht auf Land, Stand, Religion und
Nationality, aus der durch Revolutionen geschwachten altehrwiir-
digen Monarchie einen einheitlichen Rechtsstaat auf moderner
Grundlage zu bilden, der die gereehten Anspriiche aller befriedi-
gend, im Innern gegen jedwede Umsturzversuche Sicherung zu
gewahren, nach Aussen aber zu imponiren und die historisch be-
kannte Anziehungskraft Oesterreichs zu potenziren geeignet ware.

Die Stande, welche bier zuniichst in Betracht kommen,
legten gegen die am Kremsierer Reichstage often zu Tage ge-
tretene Absicht der endlichen vollen Verwirklichung einer engen
Verbindung aller Bestandtheile der Monarchie zu einem ein¬
heitlichen Staatswesen, wie sie ja schon durch die pragmatische
Sanction und durch das, das Kaisertum Oesterreich griindende
Patent ohnehin bedingt war, keine Proteste ein. Ja die Stande
straubten sich nicht einmal gegen den ihnen zugemutheten hochst
empfindlichen Yerlust ihrer sonstigen, vom historischen Stand-
punkte unanfechtbaren und verbrieften Rechte, weil sie daran
das ihnen nie abhanden gekommene patriotische Gefiihl und
das erhabene Beispiel des Herrschers hinderte, der behufs Be-
friedigung der Wiinsche seiner Unterthanen, zu Gunsten derselben
vielen seiner angestammten wesentlichsten Rechte bereits entsagt
und dies mittels eigener Manifeste kundgemacht hatte. Die
ubrige Bevolkerung, beziehungsweise deren gewiihlte Vertreter
waren weder berechtigt noch gewillt der Beseitigung der histo¬
rischen Rechte entgegenzutreten, boten vielmehr Alles auf, um
dieselbe zu beschleunigen, zumal dies allgemein, speciell auch
von den Vertretern des cechoslavischen Volksstammes als patrio¬
tische Pflicht angesehen wurde. Kein geringerer als der hoch-
angesehene und hochverdiente Palacky war es, der im wolver-
standenen Interesse nicht nur des Reiches, sondern auch seiner
Stammesgenossen und im Einvernehmen mit den iibrigen Ab-
geordneten derselben sogar die Theilung Bohmens in zwei von
einander unabhiingige national arrondirte Lander oder Verwaltungs-
gebiete beantragte, indem er hinsichtlich des Verhiiltnisses Oester-

89

reichs zu seinen Volkern an dem ganz richtigen Grundsatze fest-
liielt, „dass es unerliisslich sei, den einzelnen Volks-
stammen eine Autonomie zu gewiihren, welche ge¬
nii gen wiirde, am unbeschadet der Einheit des
Reiches, die Gleichberechtigung der Volker zur
W ah r he it werden zu lassen.“ *)

Dieser Grundsatz Palacky’s fand allgemeine Billigung und
zwar auch in Regierungskreisen; gelangte daher in der vom Mi¬
nister Bach ausgearbeiteten sogenannten Kremsierer Verfassungs-
urkunde von 4. Marz 1849, mindestens im Principe zum Aus -
drucke. Dass gegen die Durchfuhrung dieser Verfassungsurkunde
die an der Revolution in hervorragender Weise betheiligten Volker,
speciell die Magyaren, Italiener und Polen Widerstand leisteten,
und dass dieser Widerstand, sowie die noch allenthalben vor-
handene Aufregung der in mitten vielfacher Kampfe erhitzten Ge-
miither der Bevolkerung, die Bach’sche Dictatur zur unabweis-
lichen Folge hatte, ist bekannt. Es ist jedoch ebenso allgemein
bekannt, dass dieselbe Verfassungsurkunde von alien reichstreuen
Volkern mit wahrem Enthusiasmus begriisst, und deren Ausser-
kraftsetzung, so sehr auch die Nothwendigkeit der Bach’schen
Dictatur eingeleuchtet haben mochte, tief bedauert wurde. All¬
gemein gelangte dieses Bedauern insbesondere innerhalb Bohmens,
Miihrens und Schlesiens zum Ausdruck, was fiir die Richtigkeit
der Auffassung Palacky’s spricht und dazu mitbeigetragen haben
diirfte, dass er an derselben bis zur Katastrophe von 1866 fest-
hielt, und es des durcli den polnischen Grafen Goluchowski ge-
schickt ausgebeuteten momentanen Zweifelns an der Zukunft
Oesterreichs als Grossmacht sowie der Einbiirgerung des Dualismus
bedurfte, um Palacky zu Gunsten der Anschauungen der Partei
des Grafen Clam-Martinitz, beziehungsweise der vom Baron Eot-
vos erfundenen historisch-politischen Individualitaten umzustimmen.

Wer daran zweifelt, der nehme sich die geringe Millie den
Radhost III, pag. 190 und 191 aufzuschlagen, und er wird darin
das nachstehende Bekenntniss Palacky’s aus dem Jahre  18  65
finden: „Ich habe im Jahre 1849 empfohlen, die Gleich¬
berechtigung auf Grund der Autonomie der Volker
zu verwirklichen und zu diesem Zwecke die Grup-
pirung der Volker auf rein ethnographischer
Grundlage ver t r e ten,  **) Dieser Vorschlag schien mir gerade

*) Siehe Radhorst III, pag., 65, wo Palacky diesen von ihm fe'st-
gehaltenen Grundsatz mittheilt.

**) Hierauf fusste auch sein obgedachter, auf die Theilung Bohmens
in zwei nationale Verwaltungsgebiete abzielender Antrag, dessen Verwirk-
lichung den slavischen Theil Bohmens mit Miihren und Schlesien nach sich
gezogen haben wiirde.

90

zur Verwirklichung realer Bediirfnisse der Volker zu fiihren. Haben
wir es doch seit jener Zeit zur Geniige erfahren und erfahren
es lieute noch, wie z. B. im bohmischen Landtage
jeder Antrag nacli dem Vortheile, welcher diesem
oder jenem Volksstamme bringen konnte, abgewogen
wird.. Ware es nicht wiinschenswert, dass dieses Hinderniss des
allgemeinen Woles und Fortschrittes beseitigt werde? Ware es
nicht ein grosser Vorthei! auch ftir das staatliche Ganze, wenn
die Volker nach Beseitigung solcher Hindernisse einanier im Wege
zustehen aufhoren, beziehungsweise jedem derselben die Moglicli-
keit geboten w.erden wiirde, im Wettkampfe alle ilim zu Gebote
stehenden Krafte behufs seiner Hebung aus sicli selbst lieraus
voll verwerten zu konnen? Mein Vorschlag lieferte zugleieh
den Beweis, dass wir Slaven keine Herrscbaft fiber
andere Volker anstreben. Seit jedoch die historisch-
politischen Individualitaten des Magyaren Eotvos
Billigung gefunden, wird meiner Ansicht nach der
Grundsatz der Gleichberechtigung in seiner prak-
tischen Durchfiihrung weit grosseren Schwierig-
keiten als fruher begegnen. Und doch kangt von
seiner Durchfiihrung das Sein oder Nichtsein
Oesterreichs als eines einheitlichen machtigen
Reichs ab“.

Hiernach konnten wir den heutigen Altcechen, besonders
aber einigen ihrer bervorragenden Fiihrer, die bis zur Katastrophe
von 1866 mit Palacky vollkommen iibereinstimmten, sogar den
Vorwurf einer crassen Inconsequenz entgegensehleudern; allein die
Rechthaberei ist nicht unsere Sache, weil sie nicht zur Versohnung,
woJ aber zur Entzweiung fiihrt. Wir geben daher zu, dass sieti
die Lage seit der Einbiirgerung des Dualismus wesentlich geiindert
hat, und diese Aenderung ganz geeignet war, eine Aenderung
auch in den Anschauungen der altcechisclien Fiihrer, denen friiher
das Ideal der innigen Verschmelzung aller Theile der Monarchie
zu einem machtigen, also einheitlichen Staatswesen vorgeschwebt
hatte, um so mebr herberzuftihren, als Ungarn seine heutige Selbst -
etiindigkeit auf Grand eines historischen Rechtes zugestanden
wurde, \kelches, wie oben nachgewiesen, jenem des Kdnigreiches
Bohmen in jeder Hinsicht weit naehsteht. Wir wissen auch, dass,
die besondere staatsrechtliche Stellung Bohmens von den seit
1848 in ihren Rechten vielfach geschmalerten Standen sehnlichst
herbeigewiinscht wird und sonach gewissermassen den Kitt bildet,
welcher diese einfiussreiche Klasse der Bevolkerung mit deren
librigen Schichten verbindet. Endlich verkennen wir keineswegs
den Erfolg, welchen die Decennien hindurch mit seltener Aus-
dauer betriebenen Agitationen fur das historische Staatsreclit

91

Bohmens in einem grossen Theile der Bevolkerung thatsachlich
erzielt haben.

Bei alledem halten wir allerdings an der Ueberzeugung fest,
dass Angesichts der bestehenden Verhaltnisse, eine besondere
staatsreclitliebe Stellung Bohmens, insofern man darunter nicht
ledigliche Formalitaten versteht, kaum zn erreichen ist und selbst
in dem fast umvahrscheinlichen Falle ihrer Erlangung, Niemanden
befriedigen, wol aber bittere Enttauschungen hervorrufen und
in letzter Linie keineswegs dem slavischeri Elemente, sp a ciell dem
cechoslavisehen Volksstamme sondern seinen Gegnern zu Gute
kommen miisste, und an diesem Standpunet haben wir aueh bei
der obigen Beurtheiiung der am Parteitage gehaltenen Reden
festgehalten. Wir betrachten demgemass auch heute das von
Palacky und den cechoslavisehen Fiihrern uberhaupt, seit dem
Jahre 1849 bis zur Katastrophe von 1866 festgehaltene Programm
als das einzige, dessen Durchfiihrung den Interressen der Monarch ie
und aller seiner Vdlker, speciell auch des cechoslavisehen zu ent-
sprechen, somit allgemein und nachhaltig zu befriedigen verm ochte.
Wir sind jedoch andererseits weit davon entfernt, fiir unsere An-
sichten und selbst fiir die Ansichten Palacky’s sowie seiner ein-
stigen Gesinnungsgenossen und des Kremsierer Reichstages die Un-
fehlbarkeit zu beanspruchen; halten daher die Einbeziehung auch
der Geltendmachung des historischen bdhmischen Staatsrechtes in
das Zukunftsprogramm keineswegs fiir ausgeschlossen, zumal diese
durch unsere seit 1867 wesentlich geanderte Lage immerhin
motivirbare Einbeziehung einen der in der cechoslavisehen Be-
vdlkerung wahrnehmbaren wesentlichsten Gegensatze beseitigen
wiirde, den iibrigen Puncten des Programmes aber umsoweniger
Eintrag thun diirfte. als die Geltendmachung des historischen
Staatsrechtes kaum gelingen wir'd,, iiberdies alle historischen Rechte,
vermoge ihrer sehr dehnbaren Natur, leicht den Umstanden an-
gepasst, beziehungsweise mit beliebigen neuen Institutionen ver-
quickt werden konnen. Die vom altcechisehen Parteitage gefasste
Resolution, welche vorzugsweise auf den uralten Rechten und
auf dem historischen Staatsrechte Bohmens herumreitet, abstrahirt
ja hiebei von den damit auf das ihnigste verwachsenen Standen,
verquickt dagegen diese uralten Rechte mit der erst seit 1848
moglich gewordenen Autonomie der Gemeinden und der ganz
neu geschaffenen und abgegrenzten Bezirke.

Das am Programme der Resolution ganz besonders Anstossige
liegt darin, dass es sich, wenn von der eben erst gedachten Bezirks-
und Gemeindeautonomie abgesehen wird, beinahe ausschliesslich auf
die uralten Rechte und das diesen entquellende historisehe Staats-
recht Bolimens beschriinkend und selbst hiebei kein anderes, als
das Interesse des Vaterlandes (Bohmen) und der dasselbe be-

92

wohnenden, bekanntlich zu zwei Drittheilen aus Cechen und za
einem Drittheile aus Deutschen bestehenden bohmischen Nation
kennend: diesem Interesse, welches, neben bei gesagt, nebst den
eiu Drittel der Bevblkerung bildenden Deutschbohmen auch sehr
viele Cechoslaven als das ihrige anzuerkennen sich strauben, den
nationalen Frieden, sowie die Einheit und folgerichtig die Maeht
und Selbstandigkeit unserer Monarchie, zugleich das grundsatz-
lich durch ein Staatsgrundgesetz verbiirgte Recht der nationalen
Gleichberechtigung, von deren stricter Durchfuhrung, wie Palacky
richtig betonte, das Wol aller Vblker und die Grossmachtstellung
unserer Monarchie bedingt erscheint, preiszugeben sich anschickt.
Der oben mitgetheilte einschlagige Wortlaut des Programmes
liisst hieriiber keinen Zweifel aufkommen, zumal der Satz: „die
genaue Durchfuhrung des gleichen Rechtes bei der das
Vaterland bewohnenden Volksstamme"  die Preisgebung
des Principes der Gleichberechtigung aller Volksstamme Oester-
reichs klar ausspricht. Im bbhmischen Landtage, wo die Alt-
cechen dermalen in der Majoritat sind, will man das Gesetz liber
die Gleichberechtigung der beiden das Vaterland bewohnenden
Volksstamme zu Stande bringen, daher statt der lediglich von
einem fur alle Lander giltigen Reiclisgesetze zu gewiirtigenden
Gleichberechtigung, die von den einzelnen Landtagen zu be-
schliessende Verschiedenberechtigung der Volksstamme einbiirgern
und dadurch die Erdriickung der ohnehin einen harten Kampf
um ihre nationale Existenz kiimpfenden Slid- und Nordslaven,
unter den letzteren auch die Slaven des classisch-slavischen
Mahrens (welches nicht slavisirt werden darf) und Schlesiens,
fordern!

Der polnische Club hat sich in seiner zweifachen Rolle als
Vormund und Lehrmeister des Cesky klub vollauf bewiihrt. Die
vor einem Deeennium noch ganz slavischen Fiilirer der Altcechen
suchen heute auf jede denkbare Weise die Entslavisirung des
specifisch Seehischen Volkes zu documentiren und liber dessen
Befahigung, in die Reihe der herrschenden Volksstamme als das
vierte und letzte aufgenommen zu werden, keinen Zweifel auf¬
kommen zu lassen. Sie erfiillen willig jeden wie immer gearteten
Wunsch der herrschenden magyarischen und polnischen Parteien
sowie des gleichfalls einflussreichen Clubes der conservativen
Deutschen, um ihren Aspirationen eine Unterstiitzung zu sichern.
Sie gehen in dieser Richtung so weit, dass sie, im schroffen Ge-
gensatze zu ihrem friiheren Verhalten, als Vertheidiger des Dua-
lismus und selbst. fur die Berechtigung desselben einzutreten und
durch Behinderung des Inslebentretens der Gleichberechtigung
aller Volksstamme, wie gesagt, die nicht entslavisirten Slaven
dem allmaligen, jedoch sicheren Untergange zu weihep, kein Be-

93

denken tragen. Allein Anhanger fur ein solches Programm werden
sich selbst unter den spicifischen Cechen hoehstens ausnahms-
weise Einige finden, und ware dasselbe, wie wir uberzeugt sind,
selbst bei dem aus den festesten Anhlingern des Cesky klub zu-
sammengesetzten altcechischen Parteitage kaum zur Annalime
gelangt, wenn man dessen Polgen zu iiberlegen Zeit gehabt und
nicht dem scliroff'en Parteistandpuncte Alles, selbst die freie Dis¬
cussion untergeordnet hatte. In Bohmen kann ja auch kein
Zweifel dariiber obwalten, welches Scbicksal Bohmens, also auch
des specifiscben Cechentumes harrt, wenn die Stellung der Slaven
im Allgemeinen, besonders aber jener Mahrens und Schlesiens
geschadigt wird; wenn daher das bohmische Staatsrecbt, dessen
Erlangung auch in Hinkunft sehr problematisch, dermalen aber,
wie selbst durch Rieger und in der Resolution constatirt wird,
ganz ausgeschlossen ist, iiberdies an und fur sich Niemanden,
nicht einmal die specifischen Cechen zu befriedigen vermoehte,
im Programme seinen Platz finden soil, was, wie erwiihnt,
keineswegs ausgeschlossen ist: so kann dies verniinftiger Weise
nur unter der Bedingung geschehen, dass dadurch die gliick-
liche Losung der Lebensfragen der Slaven und Rumanen nicht
behindert, auch nicht verzogert werde. Es ware unverant-
wortlich, wenn sich die in den Worten „Roma deliberante, Sa-
guntum perit“ liegende Prophezeiung, wie sie bei uns Angesichts
des Verhaltens des Cesky klub immer haufiger zu horen ist, erfiillen
sollte; die Geduld der Volker, besonders der durch kiinstliche Ma-
jorisirung in ihrer nationalen Existenz bedrohten, darf im allge¬
meinen Interesse keinen allzu harten Proben unterworfen werden.

Unter die vitalen Fragen der Slaven und Rumanen gehort
die Durchfiihrung der im Princip durch ein Staatsgrundgesetz
anerkannten Gleichberechtigung aller Volksstiimme, welche Pa-
lacky, wie gedacht, zugleich als die Grundlage der Grossmacht-
stellung des Reiches in Betracht zieht. Dass diese Durchfiihrung
unbedingt ein eigenes Reichsgesetz erheische, liegt nicht nur in
dem Umstande, dass es sich um die Durchfiihrung eines mit Zu-
t.hun des Reichsratb.es geschaffenen Staatsgrundgesetzes handelt,,
sondern auch im Geiste und Wortlaute des durchzufiihrenden Ge-
setzes, ja schon in dem Begriffe der Gleichberechtigung aller
Volksstamme, da diese offenbar aufhoren miisste, eine solche zu
sein, wenn sie nicht gleichzeitig, oder nicht in ganz gleicher
Weise alien Volksstiimmen zugewendet wurde. Eine solche und
keinerlei andere Absicht gab sich seinerzeit auch in derselben
legislativen Korpersehaft unverholen kund, welche das einschlagige
Staatsgrundgesetz initiirt und votirt hatte. Der Verfassungs-
Ausschuss des damaligen reichsrathliehen Abgeordnetenhauses hat
niimlich nach Begriindung des ganzen Gesetzes vom 21. December

94

1867 durch die den osterreichischen Staatsbiirgern bereits im
Jahre 1849 verbiirgten Rechte, beziiglicb des von der Gleichbe-
recbtigung aller Volksstamme handelnden Artikels XIX desselben
ausdriicklich die Nothwendigkeit eines Durchfiihrungsgesetzes an-
erkannt; den Antrag jedoch auf die Ausarbeitung und Vorlage des¬
selben, welche er einer spateren Zeit vorbehalten wissen wollte,*)
ablehnte. Ueber die Nothwendigkeit des Durchfiihrungsgesetzes
kann iibrigens ein Zweifel ebenso wenig obwalten, wie fiber die
Dringlichkeit desselben, da eben dieses wichtigste Staatsgrund-
gesetz bis zur Zeit, wo die zur Ausubung der eminenten Rechte
der Volksstamme berufenen autonomen Organe activirt sein werden,
ein todter Buchstabe zu bleiben verurtheilt ist.

Wir haben uns in dieser Richtung bereits oben ausgesprochen,
Dr. Rieger aber hat es am Parteitage constatirt, dass die Cechen
vor Allem den Erfolgen auf nationalem Gebiete ein besonderes
Interesse entgegenbringen, und hat folgerichtig auch beim Her-
vorheben der Macht der Majoritat im Abgeordnetenhause des
Reichsrathes darauf hingewiesen, dass dieselbe, im Wege einfacher
Interpretationen, sogar das die nationale Gleichberechtigung aller
Volker verbiirgende Staatsgrundgesetz seiner Bedeutung zu ent-
kleiden vermochte, um dadurch die Gemiither seiner Zuhorer
und weiterer Kreise zu beeinflussen. Wir moehten daher hier nur
noch die Aufmerksamkeit der Anhanger des besonderen bohmi-
schen Staatsrechtes auf den wesentlichen Umstand lenken, dass
die Erlangung desselben in einer die Gleichberechtigung aller
Volksstamme und die Machtstellung des Reiches nicht beriihrenden
Form von den, im Artikel XIX des Staatsgrundgesetzes iiber die
Rechte der Staatsbiirger vorgesehenen nationalen auto nomen
Organen kiinftig und wirksam unterstiitzt werden diirfte; dass
daher die Beschieunigung der endlichen Durchfiihrung der natio¬
nalen Gleichberechtigung auch von diesem Gesichtspuncte aus
und, um iiber die Absichten und Wiinsche des bisher eines natio¬
nalen Organes leider entbehrenden Volkes voile Gewissheit zu
erlangen, dringend geboten erscheint.

Freilich wird das jene Kreise nicht bekehren, welche nach
polnisch-magyarischem Muster eine Sonderstellung Bohmens nur
deshalb anstreben, um das Volk, welchem schon dermalen jede
Kritik des Verhaltens seiner Fiihrer untersagt wird, nach eigenem
Gutdiincken zu leiten und zu beherrschen. Allein gegen diese
Kreise nimmt das Volk, welches sich nicht mundtodt machen
liisst, vielmehr das ihm durch ein Staatsgrundgesetz verbiirgte

*) Offenbar wollte man die Durchfiihrung eines so wichtigen Gesetzes
bis zum "Wiedereiniritte der slavischen Abgeordneten Bohmens in das Ab-
geordnetenhaus verschieben, was der damaligen deutschen MajOritiit zur
Ehre gereicht.

95

Recht der Wahrung und Pflege seiner Nationalitiit und Sprache
zu iiben entschlossen ist, eine so entschiedene Stellung ein, dass
ein giinzliches Abwirtschaften derselben, falls sie nicht einlenken,
kaum einem Zweifel unterliegen kann. Dagegen diirfte es Allen,
die fur ein besonderes bohmiscbes Staatsrecht im guten Glauben,
also, im Interesse des cechoslavisehen Volkes eintreten, weil ibnen
dasselbe in einer mit der nationalen Gleiehberechtigung und mit
der Machtstellung des Reiches vereinbarliehen Eorm vorschwebt,
Beruhigung gewiihren, dass die Durchfiihrung der nationalen Gleich-
berechtigung ihren auf die Erlangung eines besonderen bohmischen
Staatsrechtes gerichteten, dermalen jedoeh unrealisirbaren Wiin-
schen in keiner Weise prajudicirt. dieselben vielmehr seinerzeit zu
fordern geeignet erscheinl —

*

* *

Nach dem Voraijgeschickten kann es gar nicht auffallen, dass
das in die Resolution des altceehischen Parteitages aufgenom-
mene Programm, dessen Befolgung den slavischen Abgeordneten
Bohmens und, wie wir in Anbetracht, der starken Betonung des
historischen Rechtes anzunehmen wol berechtigt sind, auch
Mahrens und Schlesiens ans Herz gelegt wird, bei uns und in
Schlesien Niemanden, in Bohmen aber auch nur die den Partei-
interessen die Wunsehe und das Wol der Bevolkerung unterord-
nenden schroifsten Parteimanner befriedigt, daher im grossen
Ganzen Enttauschung hervorgerufen und die Gemiither erbit-
tert hat.

Leider triigt auch das Programm der jungcechischen Partei
den Anschauungen und Wiinsclien der Bevolkerung nicht in dem
Maasse Rechnung, wie es zu wiinschen ware. Alle Ehre den
Abgeordneten dieser Partei, die vom volkstiimlichen slavischen
Geiste getragen, keine Kritik ihres offenen Vorgehens scheuen;
dabei an Sachkentniss, Ausdauer, Dnerschrockenheit nichts zu
wiinschen ubrig lassen und sich auf ihre Dnabhangigkeit von den
verschiedenen Clubs, insbesondere von alien magyarisch-polnischen
Einfliissen, so zu wahren verstehen, dass sie selbst dem Dualismus,
diesem Krebsschaden unseres Kaiserstaates an den Leib zu gehen
in keiner Weise gehindert sind. Allein das Programm der Partei
enthiilt, wie gesagt, Manches was beim Volke sogar Anstoss erregt.

Die Jungcechen haben zwar Erfolge zu verzeichnen ; diese
diirften in nachster Zukunft sich sogar riesig gestalt.en und mit
dem ganzlichen Abwirtschaften der altceehischen Partei enden;
allein diese Erf'olgp danken sie nicht ihrem verschwommenen
Programme, welches abgesehen von manchen dem Volke verdiieh-
tigen, heute selbst im Abendlande nicht mehr ziehenden Phrasen

96

und Schlagworten, seine Spitze gegen die bei uns nicht ohne
Grand populiire Regierung kehrt; sondern ungeachtet dieses
Programmes ihren obcharakterisirten ausgezeichneten Fiihrern
und in erster Linie dern Vorgehen der altcechischen Flihrer, die
fur sich Unfelilbarkeit beanspruchend, dem Volke jede Kritik
verbieten, dabei aber eine grenzenlose Opferwilligkeit zumuthen,
nm die problematisclie Durchfiihrung eines, wie oben nacligewiesen
wurde, mchtslavischen, nicht, cechoslavischen, auch nicht cechi-
schen sondern eines polnisch-magyarischen Programmes in einer
mehr oder weniger entfernten Zukunft  v i el-
l e i c h t zu ermoglichen.

Dies mogen die Jungfochen allseitig wol erwagen, und sie
werden finden, dass Angesichts soldier Yerhaltnisse die dermalige
Regierung ungeachtet der wiederholt kundgegebenen und that-
siichlich documentirten besten Absichten kaum anders vorgehen
kann, als sie vorgeht. v  Im Abgeordnetenhause des Reichsrathes
steht der zahlreiche Cesky- klub unter der. Vormundschaft des
gleichfalls zahlreichen polnischen Clubs, ohne dessen vorlkufige
Zustimmung er sich, wie am alt6echischen Parteitage von com-
petentester Seite zugestanden wurde, nichts zu unternehmen,
nicht einmal einen Antrag einzubringen traut. Diese Thatsache
bringt es mit sich, dass die zwei minder zahlreichen Clubs der
Rechten (der Furst Liechtenstein’sche und Graf Hohenwart’sche),
da sie zur ’selbstandigen Action sich zu| schwach fiihlen und ein
Zusammengehen mit der liberated deutschen Linken bekanntlich
perhorresciren, gleichfalls dem Commando des polnischen Club
sich fiigen, mit dem sie ohnehin gewisse, freilich schlecht auf-
gefasste kirchliche Interessen verbinden.

Die dominirende Stellung des Polenclubes im reichsrathliehen
Abgeordnetenhause steht daher ausser Zweifel, und wird diese durch
den nicht zu unterschiitzenden Umstand noch gehoben, dass der
Polenclub in der Partei der in der jenseitigen Hiilfte herrschenden
liberalen Magyaren, deren Interessen er bei sich bietender Gelegen-
heit (Handels- und Zollbiindniss, Bank. Banknotenfrage u. s. w.)
zu vertreten nicht unterlasst, gleichfalls einen festen Halt hat.
1st es dann, fragen wir, billig, das Wandeln auf dem durch die obge-
schilderten Verhaltnisse vorgezeiclmeten Wege einer Regierung zu
veriibeln, welche, Angesichts der dermaligen internationalen Com-
plicationen, die Opferwilligkeit der Volker in Anspruch zu nehmen
geniithigt, sich hiebei auf die machtige deutsch-liberale Opposition
nicht stiitzen kann und will; sonst aber im Abgeordnetenhause
des Reichsrathes nur vom polnischen Club geleitete Parteien vor
sich hat ? Oder soil fiir die durch das Vorgehen des Cesky klub
geschaffene unerquickliche Situation die Regierung verantwortlich
gemacht werden ?

97

Wir glauben diese Fragen entschieden verneinen zu sollen
und finden ein Auftreten gegen die dermalige Regierung, welcher
auch zwei cechoslavische Minister angehoren, iiberhaupt nicht
angezeigt, ja, mit Hinblick auf unsere allseitige Lage aus takti-
schen Griinden hochst bedenklich. Die Slaven haben alle Ursaehe,
mit dem Vorgehen der dermaligen Regierung zufrieden zu sein,
denn unter ihr hat seitens der staatliehen Administration und Ge-
richtspflege eine gerechtere Wurdigung aueh der slavischen Inte-
ressen platzgegriffen; sie hiitte daher auch auf die Durchfilhrung
der nationalen Gleichberechtigung durch ein eigenes Reiehsgesetz
gerichtete Antrage unterstiitzt und dadurch alien Volksstammen
die Mbglichkeit geboten, die ihnen staatsgrundgesetzlich verbiirgte
Wahrung und Pflege ihrer Nationalitat selbst in die Hand zu
nehmen. Selbst die das Reich schadigenden unnatiirlichen Ver-
hiiltnisse in Galizien und Ungarn wiiren langst gesiinderen Zu-
standen_ gewichen, wenn nicht der ganz andere Zwecke verfol-
gende Cesky klub gerade im Interesse der polnisch-magyarischen
Wirtschaft dem Antrage auf Durchfuhrung der nationalen Gleich¬
berechtigung sorgfaltig ausgewichen ware.

Der etwaige Einwurf, dass unsere Voraussetzung hinsiehtlich
der guten Absichten der dermaligen Regierung eine unrichtige
sei, entbehrt jeder Begriindung, da dieser Regierung bis nunzu
nicht einmal Gelegenheit geboten wurde, gegeniiber einem, auf
die Durchfuhrung der Gleichberechtigung mittels eines eigenen
Reichsgesetzes gerichteten Antrage Stellung zu nehmen. oolite
es sich jedoch in der Folge wider Vermuthen herausstellen, dass
die Regierung thatsaehlich der Durchfuhrung des grundgesetzlich
verbiirgten Principes der Gleichberechtigung der Volker wider-
strebt: dann, ja dann ware die oppositionelle Haltung der cecho-
slavischen und aller slavischen Abgeordneten natiirlich, und hiitte
gegen dieselbe kein Slave, iiberhaupt kein osterreichischer Patriot
irgend Etwas einzuwenden. Einstweilen konnen wir jedoch am
guten Willen einer Regierung nicht zweifeln, welcher oster-
reichisch-patriotisches Gefiihl ebenso wenig abgesprochen werden
kann, wie die voile Wurdigung der, der nationalen Gleichbe¬
rechtigung hinsiehtlich der Maehtstellung Oesterreichs innewoh-
nenden Bedeutung.

Jedenfalls bediirfen wir Angesichts der Thatsache, dass der
cechoslavische Volksstamm nebst den einander leider in den
Haaren liegenden Parteien der Alt- und Jungcechen auch eine
dritte Partei der sogenannten Realisten, und eine nicht nur in
Miihren und Schlesien, sondern auch in Bohmen stark vertretene
vierte, namlich die nationale Partei, kennt, fur die Abgeordneten
eines Programmes, welches es den Letzteren, ohne Riicksieht auf
die Partei, welcher sie angehoren, ermoglichen wurde, solidarisch

7

98

vorzugehen. Die Fusionirung aller Parteien gehort namlich, wie
wir glauben, selbst wenn die altcechische Partei sich ganz auf-
losen sollte, in die Kategorie der frommen Wunsche; wogegen die
Beherzigung des vom heiligen Augustin aufgestellten Grundsatzes
„In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus autem ca-
ritas“ von jedem Abgeordneten, ohne Riicksicht auf die Partei,
-weleher er angehort, als patriotische Pfiicht wol gefordert
werden kann.

Die Caritas oder Liebe zu fordern ist der gesammte cecho-
slavische Volksstamm wol berechtigt, da er es ist, der durch
die erbitterten gegenseitigen Angriffe der einander befehdenden
Parteien nacb jeder Richtung hin arg geschiidigt wird. Die Li¬
bertas oder Freiheit kann den Parteien in dubiis, also in jenen
Angelegenheiten, wo ihre Ansichten stark auseinandergehen, das
heisst principielle Gegensatze aufweisen, niclit verwehrt, sie muss
vielmehr aufrichtig ohne Hintergedanken zugestanden werden, da
von dieser gegenseitigen Duldsamkeit der Bestand der Parteien
bedingt erscheint. Die Unitas, die voile Einigkeit muss daher
auf das walirhaft Nothwendige (Necessarium), also auf jene vi-
talen Angelegenheiten beschrankt werden, welehe das Wol des
ganzen Volksstammes und seiner einzelnen Schichten in hervor-
ragender Weise beriihren. Hinsichtlich dieser Angelegenheiten
bestehen zwischen uns ohnehin keine principiellen  Divergenzen,
wenn wir uns daher in einem, unseren Abgeordneten zur Richt-
schnur dienenden Programme auf diese Angelegenheiten beschran-
ken, oder, mit anderen Wortenge sagt, Alles, was uns veruneinigt,
meiden und lediglich das, was uns einigt, zum Ausdruck bringen:
so diirfte ein solches Programm wol geeignet sein, Alle, die nicht
von personlichen, beziehungsweise Parteiinteressen geblendet sind,
zu befriedigen.

Freilich wird dadurch das unseren Abgeordneten zur Be-
adhtung zu empfehlende Programm aus nur wenigen Puncten be¬
stehen ; allein diese Kiirze kommt als weiterer, bei einem Pro¬
gramm nicht hoch genug anzuschlagender Vortheil in Betracht, wir
glauben daher nicht zu fehlen, wenn wir zum Schlusse der vor-
liegenden Abhandlung die wenigen Puncte bezeichnen, aus welchen
nach unserem Dafiirhalten, ein solches Programm zu bestehen
hatte. Diese sind:

1. Die Durchfiihrung der Gleichberechtigung aller in com-
pacten Massen wohnenden und nach Millionen zahlenden Volks-
stamme durch ein eigenes, die nationale Vertretung eines jeden
desselben normirendes Reichsgesetz.

Hiebei wollen wir, da ein solches Gesetz mit Hinblick auf
das Wesen der Gleichberechtigung fur alle Volksstamme gleich-
massig lauten soli, von dem in unserer Presse bereits erorterten

99

nationalen Programme der Cechoslaven umsomehr abseheu als
dieses nationaie Programm endgiltig festzustellen nicht in den
Wirkungskreis unserer Abgeordneten fallt, sondern auschliesslich
jenem unseres nationalen autonomen Vertretuugskorpers vorbehalten
bleiben muss.

2. Die Verminderung der druckenden offentlichen Lasten
und, weil diese Angesichts der heutigen internationalen Lage nicht
sofort zu erzielen ist, mindestens die nach unserer Ansicht mog-
liche Erfiillung jener bescheidenen Wiinsche, welche die den har-
testen Kampf um ihre Existenz kiimpfenden Klassen der Bevbl-
kerung ganz besonders zu betonnen nie unterlassen, insbesondere:

a) hinsichtlich der Arbeiter, nebst selbstverstandlicher Fort-
entwickelung der bereits begonnenen einschlagigen Gesetzgebung die
Errichtung von Arbeiterkammern, welche dieser Bevblkerungs-
klasse zugleich den Eintritt in die gesetzgebenden Korperschaften
ermoglichen wurden;

b) hinsichtlich der kleiuen Gewerbsleute, die beim Geschafts-
betriebe des Spiritus nicht entbehren konnen, die Erwirkung eines
der Vertheuerung desselben entsprechenden Steuernachlasses ; dann

c) hinsichtlich der Landwirte den Bezug billigen Viehsalzes,
eventuell das Zugestandniss eines entsprechenden Nachlasses der
Grundsteuer und die Hintanhaltung der Einschriinkung der ihnen
zustehenden Vermehrung, beziehungsweise Arrondirung ihres Grund-
besitzes durch die fortwahrende, selbst vom staatlichen Gesichts-
puncte bedenkliche Erweiterung des fideicommissarischen Grund-
besitzes.

:-3. Die- Hintanhaltung des seit 1867 fortwahrend steigenden
Einllusses der jenseitigen auf die Angelegenheiten der diesseitigen
Reichshalfte, sowie eine gerechtere Vertheilung der auf die gemein-
schaftlichen Angelegenheiten beziiglichen beiderseitigen Beitrags-
quoten und die Beseitigung der Schadigung der diesseitigen durch
die jenseitige Reichshalfte tiberhaupt, wozu sich bei der seiner-
zeitigen reichsrathlichen Verhandlung iiber das zu erneuernde
Handels- und Zollbundniss Gelegenheit bieten wird.

4. Die Erwirkung des historischen Staatsrechtes des Konig-
reiches Bohmen, beziehungsweise aller historisch zur bbhmischen
Krone gehorigen Lander dann, wenn Aussicht auf Erfolg ist, und
in einer Form, welche die Gleichberechtigung aller Volksstamme
und folgerichtig die Machtstellung des Reiches nicht beeintrachtigt.


!


■


’ ■ ■ ■



I