'FHrißengedanken über des Herlands Friedens grüß am letzten Abend des Jahres. ü b e r JohlinlirZ L0, -19, gehalten evangclischem Pfarrer iu Laibach. Lmn Vesten des evangelischen Schulfondes in Laibach. Laibach, 18.ZK. Druck von 3gn. v. Klcinmayr mrd Fed. Bamberg. Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heil. Geistes sei mit Euch Men. Amen. Wie in einer ernsten, bangen Stunde des Lebens Kinder um ihren Vater sich schaaren, an ihn sich drängen, an ihn sich hängen, zu ihm furchtsam und doch vertrauend aufblicken, voller Erwartung, was nun kommen werde: so versammeln wir, meine Freunde, uns jetzt in der ernsten Stunde des letzten Abends im Jahre hier im Hause unsers himmlischen Vaters, vor seinem Angesichte, und blicken zu ihm zwar zagend, aber nicht weniger vertrauend empor. Draußen herrschen Lärm und Unruhe, hier innen Stille und Friede. Aber aus dem lärmenden Treiben des Lebens habet Ihr in Euren Herzen so Manches mit hieher in diese heilige Stille gebracht. Viele und mancherlei unruhige Gedanken bewegen gerade heute, gerade in dieser Stunde Eure Herzen, und für dieses innere Wogen und Drängen findet Ihr keinen Ruhepunkt draußen im Leben, in der Welt, findet Ihr sanfte Stillung und Beruhigung bloß hier im Hause Gottes, im Worte des Heilandes, des rechten Friedefürsten, dessen Wort bleibet in Ewigkeit. So höret mit Andacht dieses sein Wort, wie wir es lesen: Joh. 2», I»: »Am Abend aber desselbigen Sabbaths, da die Jünger versammelt und die Thnren ver¬ schlossen waren, aus Furcht vor den Inden, kam Jesus und trat mitten ein, nnd spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!« 4 Lasset uns, meine Freunde, dieses Wort des Herrn in dieser heiligen Stunde mit rechtem Christensinn betrachten und zu unserer Erbauung sehen, welche Gedanken über des Heilands Friedensgruß am letzten Abend des Jahres des Christen Gcmüth beschäftigen und erheben, ihm wohl thun und Friede einhauchen, zu treuem Streben nach Entwicklung und Heiligung es antreibcn und cs für alle Ereignisse des Lebens kräftigen und stärken, — Gedanken, wie sie für den letzten Abend eines verfließenden Jahres ganz besonders passend und geziemend sind. Wir sehen in unscrm Text die Jünger Jesu am Abend des Sabbaths nach des Herrn Tode versammelt, aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Thüren, da tritt der Herr mitten hinein und spricht zu ihnen: »Friede sei mit Euch!« — In jener Versammlung befanden sich bloß die Jünger des Herrn, keiner seiner Gegner und Verächter, — so ist natürlich der erste Christengedanke am letzten Abend des Jahres über des Heilands Friedensgruß der: mit solchem Gruß grüßt der Herr nur seine Jünger. Als jene schwere Stunde kam, in welcher der Herr in die Hände seiner Feinde fiel und gefangen hinweggeführt wurde, hatten die Jünger furchtvoll die Flucht ergriffen und sich zer¬ streut, wie die Schafe ohne Hirten. Was war es wohl, meine Frcundo, das solche Macht über sie ausübte, daß sie trotz Furcht und Flucht sich wieder zusammenfanden, wie sie an jenem Abend versammelt waren? Schon seit langer Zeit waren sie allcsammt von demselben geistigen Leben durchdrungen und erfüllt; in Jesu von Nazareth hatten sie den gefunden, auf den die Väter gehofft hatten; ihm waren sie gefolgt, Haus und Hof, Geschäft und Weib verlassend, seine Lehren hatten sie in sich ausgenommen, nach ihr hatte ihr inneres Leben sich um- 5 gestaltet, sein unsichtbares Reich hatte schon in ihren Herzen be¬ gonnen, selbst als sie den Gedanken an ein sichtbares Messiasreich noch nicht gänzlich aufgegebcn hatten; in Christus hatten sie den letzten, tiefsten Grund all' ihres geistigen Lebens gefunden, das in ihm gegründet war, das von ihm alle Nahrung empfieng, wie die Rebe am Weinstock; auf Christus stand ihr ganzes Sinnen und Denken, ihr ganzes Hoffen und Vertrauen, — sie glaubten an ihn; und dieser Glaube, wie er ihnen Allen gemeinschaftlich war und von den übrigen Menschen sie aus¬ schied, war das starke Band, das sie um so fester an ein¬ ander knüpfte, das sie aus der Zerstreuung wieder zusammen führte und sie an jenem Sabbathabend versammelt hielt, getrennt und abgeschloffen von denen, die nicht an den Herrn glaubten. Zu ihnen, die durch solchen Glauben erst wahr¬ haftige Jünger des Herrn waren, und zu ihnen allein trat Jesus an jenem Abend und sprach: „Friede sei mit Euch.« — Sind nun wir, m. Fr., am heutigen Sabbath hier in gläubigem Sinn versammelt, in Christus den letzten Grund unsers geistigen Lebens erkennend und findend, ihm angehörend als sein völliges Eigenthum, auf ihn vertrauend von ganzem Herzen und durch unfern Glauben eben so sehr innig mitein¬ ander verbunden, als von der Welt draußen geschieden, kurz, sind wir an dem heutigen Sabbathabend im Glauben als Jesu wahre Jünger ebenso versammelt, wie jene es waren, von denen unser Text uns erzählt: so tritt, wenn auch dem leiblichen Auge nicht sichtbar, doch geistig unser Herr jetzt zu uns hier herein und grüßt uns: »Friede sei mit Euch!« Aber nicht allein der gemeinsame Glaube war es, welcher die Jünger des Herrn also miteinander verband, noch eine innigere, auf Grund dieses Glaubens erwachsene Gemeinschaft umschlang ihren Kreis; ich meine jene Gesinnung, durch welche der Glaube erst aus dem verborgenen Innern heraus in das Gebiet des Lebens tritt, durch welche die Vortrefflichkeit des Glaubens erst bewährt, und auch Andern sichtbar und kräftig 6 erwiesen wird, jene Gesinnung, welche der Herr selber für das rechte Kennzeichen seiner Jünger erklärte, indem er sprach: „dabei wird Jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habet« (Joh. 13, 35.). Indem in den Jüngern Jesu des Herzens tiefste Neigung ihrem geliebten Herrn, Lehrer und Meister zugewcndet war, begegnete sich ihre Liebe in demselben Gegenstände; aber weit entfernt dadurch von einander getrennt zu werden, wie dieß bei menschlicher Liebe wol häufig der Fall ist, wurden sie vielmehr durch diese gemeinsame Neigung auch mit der herzlichsten Liebe gegen ein¬ ander erfüllt, und weit entfernt, durch den Verlust des von ihnen gleich heiß geliebten Hauptes in ihrer Liebe zu einander zu erkalten, wie dieses in irdischen Verhältnissen so oft statt- sindet, schlossen sie vielmehr nach seinem Lode in inniger Liebe nur noch enger aneinander sich an. In solcher Liebe waren sie denn auch an jenem Abend versammelt; voll tiefer Bewegung und unaussprechlicher Rührung mochten sie sich die Hände reichen und einander umarmen, als der Herr zu ihnen eintrat und liebevoll sprach: »Friede sei mit Euch!« — Wenn also der Herr mit seinem Friedensgruß zu uns eintreten und unter uns weilen soll, so müssen wir auch darin seine wahren Jünger sein, daß wir das unerläßliche Merkmal der Jünger Jesu an uns tragen, daß wir uns hier aus wahrer, inniger Liebe zu unserm Heiland, in warmer, herzlicher Liebe zu einander versammelt haben. Seid Ihr in dieser Stunde von solchem Jüngersinn erfüllt, herrscht eine lebendige Bruderliebe unter Euch, sind Haß und Rachsucht, Neid und Zwietracht, Feindschaft und Parteiung von Euch fern — denn wo solche sind, da wohnt die himmlische Liebe nicht —, fühlt Ihr Euch vielmehr jetzt von aufrichtiger und heiliger Liebe zu einander durchdrungen, dann erklingt auch Euch jetzt des Herrn Gruß: »Friede sei mit Euch!" Und indem Jesu Jünger so mit gläubigen und liebevollen Herzen beisammen waren, lebte in Ihnen, wenn auch ungewiß und dunkel, noch ein anderes Gefühl. So niedergeschlagen sie waren, so vernichtet alle ihre Aussichten, Plane und Bestre- 7 bungen für die Zukunft, so konnten sie doch den Gedanken nicht ganz unterdrücken, daß es vielleicht noch ganz anders kommen könne, als es jetzt den Anschein hatte. Wenn auch noch so schwach, aber doch noch vorhanden war in ihnen die Hoffnung auf eine Zukunft ihres Herrn, hatten sie ja doch sein Wort noch nicht vergessen, daß er am dritten Tage nach seinem Lode wieder auferstehen, daß er sie Wiedersehen, daß er Israel erlösen und daß sein Reich ein ewiges Reich sein werde. Und waren denn bisher nicht alle seine Worte wahrhaftig gewesen und in Erfül¬ lung gegangen? Hatten denn nicht an demselben Tage die from¬ men Frauen ihnen gesagt, daß Christus lebe, und bezeugte nicht Petrus selbst, daß er den Herrn gesehen, gesprochen habe? Wie hätten sie denn da, nun sie sich wieder vereinigt hatten, nicht neue Hoffnung schöpfen sollen? Und siehe, da trat der Herr zu ihnen ein und sein Gruß: »Friede sei mit Euch!« ver¬ wandelte ihre bange Hoffnung in seliges Entzücken. — Seid ihr, meine Freunde, jetzt hieher gekommen ohne Hoffnung in Euren Herzen? Gewiß nicht! Trotz aller Erfahrungen, die Ihr auch in diesem nun verfließenden Jahr auf's Neue gemacht habt, trotz so vieler Enttäuschungen, so vielen Mißlingens, dennoch hat eine frohe Hoffnung, wie sie von Kind auf durch Euer ganzes Leben Eure treue Gefährtin war, Euch hieher begleitet und begleitet Euch hinüber in's neue Jahr. Ich spreche nicht so sehr von Euren erlaubten irdischen Hoffnungen, welche wol auch am Jahresschluß sich mit stärkerer Kraft in des Menschen Brust zusammendrängen, ich spreche noch mehr von Euren himmlischen Hoffnungen. Ist diese Hoffnung, die Ihr hieher mitbrachtet, jener der Jünger des Herrn gleich, hoffet auch Ihr auf den endlichen Sieg des Rechts, des Lichts, der Wahrheit, des Gottes¬ reiches auf Erden, seid Ihr auch in hoffendem Vertrauen auf den Herrn wahre Jünger desselben, so grüßt der Herr auch Euch jetzt als seine glaubenden, liebenden, hoffenden Jünger mit dem herrlichen Gruß: »Friede sei mit Euch!» und neues Leben durchdringt aus solchem Gruß Eure ermüdeten und beunruhigten Seelen. 8 II Wenn wir nun aber gesehen haben, daß des Heilands Friedensgruß nur seinen Jüngern galt und gelten kann, so drängt es uns weiter zu erwägen, welchen Eindruck dieser Gruß auf seine Jünger macht, und da sagt uns unser Gefühl besonders am heutigen Abend: mit solchem Gruß heilt der Heiland alle Wunden der Vergangenheit. Wohl herrschte tiefe Trauer im Kreise der Jünger. Hatten sie doch den verloren, den sie am meisten liebten, für den sie Alles dahin gegeben hatten, der ihr höchstes Gut auf Erden war. Ihr geliebter Lehrer und Meister, ihr Herr und Haupt war ihnen genommen, und mit ihm war Alles, was ihrem Herzen am theuersten war, in das Grab gesunken. Ihr Herr gefangen, ver¬ spottet, gequält, schmachvoll getödtet, sie selbst gehaßt, verfolgt, ihres Lebens nicht sicher, — wie hätten ihre Herzen nicht bluten sollen, als sie in jener stillen Abendstunde sich wieder zusammen¬ fanden? Mußte nicht die Erinnerung an die Vergangenheit, an jede schöne, heilige, mit dem Herrn verlebte Stunde, an jedes liebevolle Wort desselben, an sein bitteres, leidenvolles Ende jedes zarte Gefühl ihres Herzens, jede weiche Stimmung ihres Gemüthes anregen, sie in tiefe Wehmuth versenken und ihren Augen heiße Lhränen des Schmerzes erpressen? Noch konnten sie kaum sich fassen, noch über ihren Verlust sich nicht trösten, da trat er, der Heiland, mitten unter sie, sie sahen, sie hatten ihn wieder und sein Gruß: »Friede sei mit Euch!» heilte wie ein wunderbarer Balsam alle Wunden ihrer Herzen, stillte alle Thränen ihrer Augen. — Liebe Freunde, auch wir sind mit traurigen und wunden Herzen heute zu dieser stillen Versamm¬ lung am letzten Abend des Jahres gekommen; ich bin gewiß nicht der Einzige unter Euch, den im verflossenen Jahre ein so schwerer Verlust getroffen, der heute einem edlen, verehrten Vater nach¬ weint; wie Mancher auch unter Euch hat in diesem Jahre Einen oder den Andern seiner Lieben, Vater oder Mutter, Gatte oder Gattin, Bruder oder Schwester verloren; wie Manchem unter s Euch ist sein Lheuerstes auf Erden, sein geliebtes Kind entrissen worden; wie Mancher hat seine liebsten und süßesten Hoffnungen zu Grabe getragen, vielleicht auch zu Grabe getragen, ohne daß die Personen, an die sie sich knüpften, gestorben waren! Seid getrost, meine Freunde, des Heilands Gruß: »Friede sei mit Euch!« erschallt jetzt an unsere wunden Herzen und heilt alles Weh und allen Schmerz, den die Vergangenheit gebracht. Friede! so klingt es tröstend und beruhigend in alle bekümmerten und traurigen Seelen, wie es in die Gräber unserer verstorbenen Lieben hinabtönt: »Friede sei mit Euch!« — Doch zu dem Verluste des geliebten Hauptes und Meisters kamen noch andere Schmerzen, welche die Herzen der Jünger¬ in Traurigkeit versenkten, jene Schmerzen, die ihr Gewissen ihnen bereitete, die Vorwürfe, welche sie sich selber machen mußten. Da war keiner unter ihnen, der ruhig und heiter hätte sein können; Alle ohne Ausnahme hatten sie den Herrn oftmals betrübt, Alle hatten sie den Herrn gerade in der schwersten Stunde seines Lebens, in der Stunde der Noch und Gefahr, aus Menschen¬ furcht und Besorgniß um ihr eigenes Leben verlassen; Petrus gar hatte sich verleiten lassen, den Herrn dreimal zu verläugnen. Und nun war der Herr gestorben und sie hatten nicht einmal mehr Zeit und Gelegenheit gehabt, ihn wegen Alles dessen, womit sie ihm wehe gethan und gegen ihn sich vergangen hatten, noch einmal um Verzeihung zu bitten. Bitterer Schmerz darüber und Reue brannten in ihren Herzen: da tritt der Herr unter sie und, ehe sie ein Wort ihm sagen können, mit dem ersten Wort, das er spricht, ertheilt er ihnen selige Verzeihung und heilt ihre Schmerzen: »Friede fei mit Euch!« — Noch ehe Ihr hieher kämet, m. Fr., hattet Ihr wol schon daran gedacht, daß auch Ihr im vergangenen Jahre gar oft Euren Herrn betrübt, gegen ihn Euch vergangen und durch Eure sündigen Gesinnungen und Lhaten ihn verletzt habt. Wenn wir am letzten Abend eines Jahres auf den eben zurück¬ gelegten Zeitabschnitt un seres Lebens zurückblicken, so können wir nicht anders, als mit tiefer Traurigkeit fühlen und erkennen, 10 daß auch wir so oft in den Stunden der Versuchung den Herrn verlassen und die Welt und das Leben lieber gehabt, daß auch wir ihn verläugnet, daß wir so oft in den leidenschaftlichen Aufwallungen unsres Herzens sein Gebot der Liebe übertreten, daß wir vielmehr den eiteln Gütern dieser Welt, als den unver¬ gänglichen Schätzen des Himmels nachgejagt, daß wir unter nichtigen Vorwänden die frommen Versammlungen der Brüder verlassen und in so vielen andern Dingen gegen den heiligen Willen Gottes und unseres Heilandes gehandelt haben. Seid Ihr von solchen Gefühlen jetzt durchdrungen, macht es Euch traurig und empfindet Ihr wahrhaftigen Schmerz darüber, sehet, so sollen auch diese Wunden geheilt werden, so erklingt auch Euch jetzt der verzeihende Gruß des Heilands: »Friede sei mit Euch!« Wenn des Herrn Jünger an jenem Abend, von dem unser Text erzählt, in tiefe Trauer versenkt waren, so mußte dazu endlich noch ein Grund beitragen, der nicht weniger geeignet war, sie mit banger und schmerzlicher Besorgniß zu erfüllen. Mit dem theuern, heißgeliebten Meister hatten sie auch den Mittelpunkt verloren, um den ihr Kreis sich schaarte und bewegte. Durch ihn, durch ihre Liebe zu ihm waren sie hauptsächlich mit ein¬ ander verbunden, und obschon sie selbst besonders an jenem heiligen Abend von herzlicher Liebe gegen einander erfüllt waren, so fühlten sie doch und konnten sich es nicht verhehlen, daß durch den Verlust ihres Hauptes das Band, welches sie bis jetzt so eng mit einander verknüpfte, für die Zukunft loser zu werden drohte. Wie auch wir in unfern Verhältnissen es oft wahrnehmen, daß die Familienbande zwischen den einzelnen, obwohl sich liebenden Gliedern eines Hauses durch den Tod des Familien¬ hauptes, des Vaters oder der Mutter, bedeutend gelockert werden, so konnte dasselbe bei einem Kreise von Männern nicht aus¬ bleiben, die sich nur durch ihr geistiges Verhältnis zu demselben Lehrer und Oberhaupt zu einander gefunden hatten. Wer sollte künftighin die etwa unter ihnen eintretenden Meinungs- 11 Verschiedenheiten und Zwistigkeiten ausgleichen und das Band des Friedens unter ihnen erhalten? Und solche Zwistigkeiten hatten ja schon bei Lebzeiten des Herrn unter ihnen bestanden. Die Söhne Zebedäi mit ihrer Mutter, von irdischem Ehrgeiz getrieben, hatten den Herrn gebeten, in seinem Reiche die Ersten zu sein und so einen Vorrang vor den übrigen Jüngern zu er¬ halten. So lange der Herr lebte, hatte er derartige Mißver¬ hältnisse leicht beseitigt. Aber nun? der Herr war ja nicht mehr und der von ihm verheißene göttliche Geist hatte ihre Herzen noch nicht durchdrungen und geheiligt. Solche Gedanken, die sich nach allem Vorangegangenem ihnen aufdrängen mußten, zerrissen vollends ihre schon so schmerzlich bewegten Herzen. Da aber trat der Herr zu ihnen ein und sprach: »Friede sei mit Euch!« Also war er doch noch mit ihnen, sein Friede sollte mit ihnen, Friede unter ihnen sein; so schwand jede Sorge, jeder Kummer, auch die letzte Wunde ihrer Herzen wurde geheilt. — Sollten nun auch wir, m. Fr., am heutigen Abend das schmerz¬ liche Gefühl mit uns hieher gebracht haben, daß im vergan¬ genen Jahre so manches freundliche und unfern Herzen theure Verhältniß lose und gelöst worden sei, — und es gibt ja Tren¬ nungen, die schmerzlicher sind, als der Tod —, daß auch in unserm Leben so manches liebe Band sich gelockert habe, sei es in unfern Familien oder Freundeskreisen, in unfern verschiedenen Lebensverhältniffen oder in unserer Gemeinde, sei es durch oder ohne unsere Schuld, so blutet auch unser Herz in dieser Stunde besonders schmerzlich. Vielleicht ist Niemand unter uns, dem nicht in dieser Beziehung eine wunde Stelle seines Gemüthes wehe thäte, doppelt wehe, wenn das Bewußtsein eigener Ver¬ schuldung hinzutritt, — und sind wir Alle deßhalb am letzten Abend des scheidenden Jahres schmerzlich bewegt und traurig, so erklingt, falls wir des Heilands rechte Jünger sind, sein Wort auch an uns: »Friede sei mit Euch!« Und sein Friedens¬ gruß stillt unsere Trauer, beruhigt uns über unsere Selbstvor¬ würfe, erfüllt uns mit dem Geiste der Vergebung und Versöh¬ nung und heilt alle Wunden der Vergangenheit. 12 M Zu all' den schmerzlichen Gefühlen und Gedanken, welche an jenem Abend die Herzen der Jünger bewegten, kamen aber auch noch andere, welche sie nicht weniger bekümmerten und mit Besorgniß erfüllten. Was sollten sie nun thun, was zu¬ nächst beginnen, welche Kämpfe, welche Leiden standen ihnen bevor? Da trat der Herr mit seinem Friedensgruß mitten unter sie und Ihr könnet Euch leicht denken, wie sehr mit solchem Gruß Christus die Seinen stärkte für alle Ereig¬ nisse, die das Leben ihnen noch bringen mochte. Unentschlossen und rathlos standen die Jünger da, seit¬ dem der nicht mehr bei ihnen war, der bis jetzt ihnen ihre Lebensbahn gewiesen, ihre Schritte geleitet, ihre Entschlüsse gelenkt hatte. Noch hatten sie nicht gelernt, ohne ihn zu leben, zu handeln. Was sollten sie nun ansangen? Sollten sie in Jerusalem bleiben, sollten sie in ihre Heimath sich begeben, oder vielleicht gar das Land, in welchem nach dem Vorgang des Endes ihres Meisters ihrer nur das Schwerste wartete, verlassen und in fremde Länder sich wenden? Sollten sie fort¬ fahren als Lehrer nach der Anweisung ihres Lehrers zu wirken, oder sollten sie zu ihren Familien, zu ihren früheren Geschäften zurückkehren? Verlassen, allein in der Welt, verfolgt von ihren Feinden, wagten sie nicht, sich öffentlich zu zeigen, versam¬ melten sie sich nur Abends, nur bei verschlossenen Thüren aus Furcht vor den Juden; woher sollten sie Rath und Hülfe nehmen? Aber siehe, da tritt Christus mitten zu ihnen ein und spricht: »Friede sei mit Euch !« Nun war ihre Rathlosigkeit geendigt; er lebte noch, sie waren noch nicht verlassen, bei ihm konnten sie Rath und Trost noch suchen und finden, aus seinem Gruß schon strömte Trost und Muth, Freude und Friede in ihre beklommenen, unruhigen Herzen. — Wir, m. Fr., haben wol allesammt mehr oder weniger Besorgnisse für die Zukunft mit hieher gebracht. Die Zeiten werden immer trüber, immer schwe¬ rer. Was sott ich thun, wenn es nicht bald besser wird? so 13 fragt sich wol mancher Hausvater, der sich müht, wie er die Seinigen mit Ehren versorge, seinen Kindern Nahrung und tüchtige Geistesbildung verschaffe. Was thun, was wählen, wohin sich wenden, welche Arbeit unternehmen? Das sind Fragen, die Jeder unter uns, und nicht bloß in Beziehungen des all¬ täglichen Lebens, am Schluffe dieses scheidenden Jahres ernstlich erwägt. Sei ruhig, banges Gemüth! zage nicht! Wie es auch kommen mag, welche Bedrängniß Dich umgeben mag, Christus spricht auch zu Dir: »Friede sei mit Dir!« Bei ihm findest Du Beruhigung und Kraft und von seinem Gruß gestärkt gehest Du muthig und getrost der Zukunft entgegen. War es nun auch einerseits die Ungewißheit der Zukunft, was die Herzen der Jünger beunruhigte, so war es doch auch nicht minder die Gewißheit, daß die Zukunft unfehlbar ihnen schwere Kämpfe und Leiden bringen werde. Hatte ihr Herr und Meister also zu kämpsen gehabt, zu kämpfen mit dem Unglauben und Aberglauben des Volkes, mit der Bosheit und dem Neid der Pharisäer, mit dem Eigennutz und der Herrsch¬ sucht der Priester, zu kämpfen mit der Menschenfurcht, den Mißverständnissen und dem weltlichen Sinn seiner eigenen An¬ hänger: was konnten sie, wenn sie dem ihnen gewordenen Ruf treu bleiben wollten, anders erwarten, als gleiche Kämpfe? Hatten der Wirksamkeit des göttlichen Messias so große und zahlreiche Hindernisse sich entgegengestellt, konnten sie auf bessere Aussichten, auf günstigere Verhältnisse hoffen? War an ihn die Versuchung herangetreten und hatte er nur durch schwere innere Kämpfe siegen können, wie viel mehr fühlten sie sich in ihrer Schwachheit den Anfechtungen und Verlockungen zum Bösen ausgesetzt, und welch' schweren, inner», wie äußeren Kämpfen mußten sie daher entgegensehen? So war es in ihrer Lage natürlich, daß sie kleinmüthig und verzagt an die Ereignisse, Mühen und Kämpfe dachten, welche das Leben, welche die nächste Zukunft ihnen bringen mußte. — Aber noch tiefer sank ihr Muth, noch schwächer ward ihre Zuversicht und 14 geistige Kraft, wenn sie an die Leiden dachten, welche ihnen gemäß dem Vorbild ihres Herrn bevorstanden. Wie viel hatte er, der Unschuldige und Heilige, dulden und leiden müssen, von der Verfolgung in seiner Kindheit an bis zu seinem Lode, und wie schmachvoll, wie leidens- und martervoll war sein Lebens- ende gewesen! Geschah das am grünen Holze, was konnten sie erwarten? Sie waren seine Jünger, als solche überall der Welt bekannt, und es war vorauszusehen, daß der Haß der Feinde Jesu sich mit dessen Blute nicht begnügen würde. Allen seinen Anhängern galt ihre Feindschaft, ihre Verfolgung; schwere, bittere Leiden waren deren gewisse Aussicht, welche noch trauriger und herzbeklemmender durch die Ungewißheit wurde, wann und in welcher Weise dieselben ihnen zustoßen würden. In der That, nichts hätte in so trüber und schwerer Lage die Herzen der Jünger für alle noch kommenden Kämpft, für alle noch bevorstehenden Leiden mehr ermuthigen und stärken können, als Christi Eintreten und sein himmlischer Gruß: »Friede sei mit Euch!« Dieser Gruß zeigte ihnen hinter jenen Kämpfen den himmlischen Frieden, zu dem man nur durch heiße Kämpft gelangt, zeigte ihnen hinter jenen Leiden den göttlichen Frieden, der erst nach schwerem und treuem Dulden das vielfach geprüfte Herz mit Ruhe und Seligkeit belohnt. — Mehr als sonst, m. Fr., gleicht am ernsten Abend des Jahresschlusses unsere Stimmung auch hierin jener der Jünger an dem erwähnten Sabbathabend. Wohl Mancher unter uns dachte auch nicht, als wir heute vor dem Jahre an dieser Stätte versammelt waren, wie viele trübe Stunden, wie viele schwere Leiden dieses Jahr ihm bringen sollte. Wer von uns müßte sich daher nicht heute bange Gedanken über die schweren Ereignisse, die Kämpft und Leiden machen, welche das Leben vielleicht im nächsten Jahre uns bringt; denn bei aller Ungewißheit, mit der wir in die Zukunft blicken, ist auch für uns keine Aussicht so gewiß, als die, daß aüch wir von Kämpfen und Leiden nicht verschont bleiben werden. Wir werden zu kämpfen haben nach Außen und nach Innen, zu kämpfen vielleicht mit der Noth der Zeiten, 15 zu sorgen und zu schaffen um unsern Lebensunterhalt, zu schir¬ men und zu vertheidigen unsere sittliche Ehre, zu kämpfen für unsere Häuser und Familien, für die gedeihliche Entwicklung unserer Gemeinschaft, für Recht und Wahrheit, für Tugend und Frömmigkeit, für Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden. Und nicht minder werden wir kämpfen müssen gegen den Feind unseres Glückes, der in uns selber lebt, gegen unsere Leidenschaften und Begierden, gegen unsere vorherrschende Neigung zum Bösen und die uns anklebende Trägheit zum Guten, gegen alle Versuchungen zur Sünde, sie mögen in unsern eigenen Herzen oder in der uns umgebenden Welt ihren Ursprung haben. Wie sollen unsere schwachen Kräfte so schweren Kämpfen ge¬ wachsen sein? Gestehen wir es, wir haben heute keinen rechten Muth für diese uns bevorstehenden Kämpfe, und unsere Erfah¬ rung läßt uns fürchten darin zu unterliegen. Aber noch mehr zittern wir, wenn wir an die Leiden denken, welche möglicher¬ weise das neue Jahr uns bringt. Was wird mir alles in dem kommenden Jahre widerfahren? — so fragt das beklommene Herz —, welches Leid, welcher Kummer, welcher Schmerz, welche Krankheit, welche Verluste? Werden meine besten Plane mißlingen, meine edelsten Absichten mißverstanden oder verkannt werden? Wird das Leben manch theures Band der Freundschaft lockern, wird der Tod die Bande der Liebe lösen und mich des Lheuersten auf Erden berauben? Sei still, verzagtes Herz! Bist Du, —> sind wir Christi wahre Jünger, so tritt er jetzt zu uns herein und spricht: »Friede sei mit Euch !« Sein Geist ist unter uns und erfüllt uns mit stärkender Ruhe und erhe¬ bendem Frieden. Welche Kraft, welcher Muth dringen aus seinem Gruß in unsere Seelen! Der Bangende ist getröstet, der Wankende gestärkt, der Zagende mit neuem Muth gekräf¬ tigt. Der Herr und sein Friede ist mit den Seinen, wie ehe¬ dem, so jetzt und immerdar. — Friede sei mit Euch; schließet Euch im Glauben fester an den Herrn, in Liebe inniger aneinander, hebet hoch empor 16 das Panier der Hoffnung! Friede sei mit Euch; trocknet Eure Thränen, tröstet Euch der himmlischen Vergebung, reicht zur Versöhnung einander die Hand! Friede sei mit Euch; getrost und guten Muthes, was auch die Zukunft an Arbeiten, Kämpfen und Leiden bringen mag; gekämpft, gerungen, gewartet, ge¬ duldet! Der Herr ist mit uns und verläßt die Seinen nicht. — Friede sei mit Euch! So tretet mit diesem Frieden hinüber in's neue Jahr; so, wenn's des Herrn Wille ist, schlummert sanft hinüber in's bessere Leben, in den ewigen Frieden! Der Herr ist mit Euch. Amen.