334 Šolska kronika / School Chronicle • 3 • 2019 UDC 378:373.3/.5(075)(439.2)˝18/19˝ 1.08 Published Scientific Conference Contribution Received: 26. 3. 2019 András Németh* Die historische Konstruktionsprozesse des Fachwissens von Volksschullehrern in Ungarn am Beispiel der Enzyklopädie des Volksschulunterrichts 1913-1915 Zgodovinski konstrukcijski procesi strokovnega znanja ljudskošolskih učiteljev na Madžarskem na primeru Enciklopedije osnovnošolskega pouka 1913–1915 Izvleček Reforma izobraževanja učiteljev kot del bo- lonjskega procesa visokega šolstva je eno ključnih vprašanj izobraževalnih reform v Evropski uniji danes. Toda ta reforma želi spremeniti zgodovinsko oblikovan koncept usposabljanja učiteljev, ki je sledil vzorcem evropskih trendov oblikovanih med začetkom 19. in sredino 20. stoletja – upoštevajoč časov- ni zamik na različnih območjih. Raziskava sledi postopku institucionalizacije usposabljanja madžarskih učiteljev in njiho- vemu znanju, za katerega je bil značilen prej omenjeni. Ta proces je zbledel pod vplivom na- cionalnih tradicij in srednjeevropskih tendenc. V središču našega raziskovanja sta dve različ- ni vrsti strokovnega znanja (osnovnošolski in srednješolski učitelji) ter vsebina teoretičnega mišljenja, ki se je pojavilo na področjih znano- sti. Naša predstavitev se osredotoča na ta zelo zapleten postopek in analizira učbenike za izobraževanje madžarskih učiteljev ter izobra- ževalne publikacije iz konca 19. in začetka 20. Abstact The reform of teacher’s training as part of the Bologna process of the higher education is one of the key questions of the educational reforms in the European Union today. This reform how- ever aims to transform the historically shaped pattern of teachers’ training model, that fol- lowed the patterns of the European trends that were formed inbetween the beginning of 19th century and the middle of 20th century - with some time-lag of course in the different regions. Our research aims to follow the process of the institutionalization of Hungarian teach- ers’ training and teacher’s knowledge which was characterized by the above mentioned ’dual system’. This process passed off un- der the influence of the national traditions as well as the central European tendencies. In the centre of our research stand the two different professional knowledge-types (el- ementary and secondary school teachers) and also the contents of the theoretical reflection which appeared in the fields of science. Our lecture focuses on this very complex process and analyses the Hungarian teacher’s train- * András Németh, Faculty of Education and Psychology, Eötvös Loránd University, Budapest, Hungary; e-mail: nemeth.andras@ppk.elte.hu 335 Creating links in education. Teachers and their associations stoletja, tudi Enciklopedijo osnovnošolskega pouka (Az elemi népoktatás enciklopédiája) Ključne besede: osnovnošolski in srednješolski učitelji, izobraževanje, učbeniki, Madžarska Key words: elementary and secondary school teachers, education, textbooks, Hungary 15th Symposium on School Life, part 65. Visit us / obiščite nas – Sistory: http://hdl.handle.net/11686/37732 1. Einleitung In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bilden sich bei den zwei typischen Berufsgruppen (bei den sog. Volksschullehrern und den Lehrern der höheren Schulen) zwei sich organisch und funktionell entwickelnde, aber in zahlreichen wesentlichen Zügen voneinander abweichende Lehrerkulturen und ein eben- solches Fachwissen heraus (vgl. Németh 2002, 2005, 2007). Das ist ein Prozess, der sich in den verschiedenen Regionen Europas mit einer gewissen zeitlichen Verschiebung seit etwa dem Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Wende zum 20. Jahrhundert parallel zur Entstehung der modernen Nationalstaaten vollzieht – ein Umbruch mit zahlreichen weiteren Komponenten (die diffizile Dynamik des mik- ro- und makrostrukturellen Wandels inbegriffen), der zur Entwicklung der dualen Bildungssysteme, der verschiedenen Lehrerberufe sowie im Rahmen der ver- schiedenen universitären Wissenschaften zur Herausbildung der pädagogischen Wissenschaft führt. (Heidenreich 1999, Tenort 1999, Wulf 2001, Németh 2012) So betrachtet lässt sich am Ende des 19. Jahrhunderts auch unter den ungarischen Berufsgruppen das Bestreben beobachten, die fachlichen Wissens- inhalte einer Gliederung mit wissenschaftlichem Anspruch zuzuführen, wobei man auch die in der Praxis bestehenden Probleme mit Hilfe der Definitions- kontrolle auf das Niveau der wissenschaftlichen Reflexion anheben und für sie adäquate und verantwortungsvolle (d.h. fachliche und fachgemäße) Antworten formulieren möchte. Unsere Arbeit soll die wichtigeren dynamischen Elemente dieses Selbstreflexionsprozesses vorstellen und analysieren. Dies geschieht un- ter Verwendung des wichtigsten Fachhandbuchs, das den Volksschullehrern zur Jahrhundertwende zur Verfügung stand, der Enzyklopädie des Volksschulunter- richts. ing textbooks and educational publications of the late 19th and early 20th century, including Encyclopaedia of elementary school education (Az elemi népoktatás enciklopédiája). 336 Šolska kronika / School Chronicle • 3 • 2019 2. Die Etablierung des modernen Beruf für Volksschullehrer in Ungarn Die Idee der Vermittlung von Allgemeinbildung, die große Aspiration an die Bildung des gesamten Volkes brachte, in Zusammenhang der Verbreitung der Professionalisationsprozesse der Modernen auch die Etablierung eines päd- agogischen Berufstandes der Volksschule mit sich. Um die Bildung des Volkes zu heben, bedurfte es neben der Durchsetzung der Unterrichtspflicht vor allem bes- serer Schulen mit besser gebildeten Lehrern. Ein ausgebildeter Volksschulehrer orientiert sich an allgemeingültigen beruflichen Prinzipien und nicht auf persön- lichen Beziehungen, Vorlieben, Abneigungen. Seine spezifischen Kompetenzen, seine Leistungsverpflichtungen sind vertraglich genau spezifiziert, seine Autori- tät beschränkt sich auf klar begrenzte Bereiche. Die Entfaltung der Lehrerberuf beziehungsweise die Professionalisierung pädagogischer Berufe haben einen je autonomen Wissenstypus erschaffen, der in der Praxis professioneller Erzieher, wie in Schulen und Erziehungseinrichtungen aus dem Alltag ausdifferenziert wurde und in eigenen Normen und Normen seit der Moderne organisierte Dauer gewonnen hat. Dieses Professionswissen wurde sich in fachlichen Zeitschriften, Handbüchern und Monographien organisiert, in denen die Lehrprofession ihre Erfahrungen dokumentiert und überliefern hat. (Tenorth 1992, 360) Nach dem Ausgleich 1867 hat die grundlegende Neuordnung des Volks- schulwesen sowohl in Ungarn als auch in Österreich eine hohe Priorität. In 1868 verabschiedet die ungarische Regierung ein neues Volksschulgesetz (GA 38/1868), das erstmals die allgemeine Schulpflicht für sechs- bis zwölfjähri- ge Kinder, die sich an eine dreijährige Wiederholungsschule anschloss. Neben der sechs klassigen Volksschule wurden auch die Höhere Volksschule und die Bürgerschule als weiterführende Schulen eingeführt. In den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts verbreiteten sich aufgrund der rapiden Institutionalisie- rung des modernen dualen Schulwesens die sechsklassigen Volksschulen. Die Anzahl der Schulen wuchs zwischen 1869 und 1914 von 14.000 auf 17.000, die Zahl der Lehrer von 18.000 auf 34.000, die Zahl der Schüler von 729.000 auf mehr als zwei Millionen. Diese dynamische Tendenz beweist, dass 50% der schulpflich- tigen Kinder zwischen 6 und 12 Jahren die Schule besucht haben, im Jahre 1890 stieg die Rate auf 81%, im Jahre 1913 auf 85% (Romsics 2000, 39.) Mit dem Volksschulgesetz von 1868 haben die Volksschullehrer ihre Ausbil- dung in Ungarn im niederen System selbst erhalten. Die Tradition der früheren ungarischen Lehrerausbildung wurde von der drei-, dann vier- (1881-1920), bzw. fünfjährigen (1923-1948) Lehrerausbildungs-Fachschule weiter getragen, die sich dank dem Volksbildungsgesetzes zu entwickeln begann. In den kommen- den Jahrzehnten befestigte sich diese Art der Ausbildung, wodurch die Form der Bildung der bürgerliche Ansprüche erfüllenden gebildeten intellektuellen Hand- werker, der Volksschullehrer(innen) geschafft wurde, die ihre Absolventen zur entsprechenden Bildung und Erziehung des Kindes, sowie in den kleineren Sied- lungen auch zur Erfüllung der Aufgaben der Volkserziehung befähigte. (Németh 2012) 337 Creating links in education. Teachers and their associations 3. Die Konstruktion des modernen Fachwissens für Volksschullehrer In der Enzyklopädie des Volksschulunterrichts des sich emanzipierenden un- garischen Volksschulberufs offenbaren sich die neue pädagogischen Kenntnisse, die auf die oben beschriebenen Aufgaben reflektieren. Auf ihren Seiten des Bu- ches entfaltet sich das besondere Universum der Volksschullehrer, das gemäß den Anforderungen der Modernisierung in vollem Einklang mit der pädagogischen Auffassung konstruiert wurde. Im Mittelpunkt stehen die erziehungsbedürftigen Schüler in den ungarischen Volksschulen, sowie durch sie die Notwendigkeit und die Aufgaben bei der Bildung und Erziehung der unteren Gesellschaftsschichten, des Volkes. Gemäß der im Werk auffindbaren beruflichen Selbstinterpretation benötigt man zur erfolgreichen Erziehung und Bildung dieser Schichten solche gut ausgebildeten Fachkräfte, Volksschulspezialisten, die mit neuen Fachkennt- nissen ihre Arbeit mit sicherer Hand verrichten. (Körösi/Szabó 1911) In diesem Prozess der Wissenskonstruktion ist es eine wichtige Aufga- be, zu bestimmen, was akzeptabel, richtig oder nicht richtig aus Hinsicht der richtigen Entwicklung sei. Was die zu unterstützenden Inhalte der kindlichen Entwicklung darstelle und was die zu meidenden, also negativ beeinflussenden, gefährlichen Elemente seien, was die Risikoquellen seien, auf die die Lehrer auf- passen sollen, beziehungsweise, denen der Lehrer bei seiner Arbeit ausweichen soll. Die pädagogische Enzyklopädie versucht zu diesen neuen Aufgaben der Mo- derne in Ungarn auch im Detail die verschiedenen praktischen ausländischen Reforminitiativen der Epoche vorzustellen. Zur Deutung dieser Begriffe formulierten die zeitgenössischen pädago- gischen Bewegungen zahlreiche Grundprinzipien, die auch die Experten der ungarischen Volksschule unterstützten. Von diesen ist der sog. hygienische Dis- kurs der bedeutendste. Die jüngeren analytischen Werke behaupten, dass der hygienische Diskurs, dessen Munition aus dem darwinistischen Welt- und Men- schenbild stammt, auch im Zentrum der pädagogischen Diskussion der Epoche stehe. Die Hygiene war eines der Zauberworte der Epoche mit einer bewegten Geschichte. Die moderne Hygiene seit der Aufklärung war ein Wissen, das das Verhältnis des Menschen zu den materiellen Bedingungen seiner physischen Existenz beschrieb und das Individuen und gesellschaftliche Handlungsträger dazu anleitete, diese Bedingungen zu regulieren. Sie war also ein riesiges Feld von Wissen, Praktiken und Technologien. Die Hygieniker des 19. Jahrhunderts strukturierten ihren Wissensraum so weiträumig, dass darin alle Umweltfakto- ren als mögliche Ursachen von Gesundheit und Krankheit erscheinen konnten. Die andere neue Leitidee ist die Normalität, die sich auch im 19. Jahrhundert durchsetzt – diffundiert auch in die verschiedenen Gesellschaftsbereiche. (Sa- rasin-Tanner 1998, 20, Sarasin 2001, 17.) Der zentrale Begriff auch für die Schulhygienebewegung ist die Normalität (Normalhaltung, Normalschrift, Normalkleider, Normalwäsche, Schulhaus- normalbauten und -bestuhlung). Normalität bedeutet immer stärker eine vorschreibende Norm und gemessenen Durchschnitt, die auch experimentell 338 Šolska kronika / School Chronicle • 3 • 2019 untersucht werden kann. Die ersten Untersuchungen der geistigen Leistungs- fähigkeit, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses bildeten eine Brücke zu Vermessungsmethoden der experimentellen Pädagogik am Anfang des 20. Jahr- hunderts. Von der Schulhygienediskussion gingen auch wichtige Impulse für die Entstehung von Sonder- und Behindertenpädagogik sowie für den Jugendschutz aus. Später bezog die Bewegung auch mehrere soziale Aspekte mit ein, wenn sie sich mit moralischer Gesundheit und Verwahrlosung befasste. Somit gab es einen engen Zusammenhang zwischen Schulhygiene und der neu entstehen- den sozialen Bewegung in dem Anliegen, die Lebensbedingungen der unteren Schichten, der Kinder und der Jugendlichen, zu verbessern. (Vgl. Kost 1983, 169, Stoß 1998, 2000, Freyer 1998, Oelkers 1989, 249, Hopf 2004, 27-29) In der ungarischen Enzyklopädie finden sich mehr als achtzig Stichworte, die die starke Rezeption der verschiedenen Richtungen der Schulhygienebewegung zeigen. So befasste sie sich mit der Beschaffenheit, Lage, Größe und Ausstattung der Schule und Klassenzimmer, Temperatur, Belüftung, Reinigung der Räume, mit Form und Größe der Schulbänke, Fragen der Körperhaltung, der Einrichtung von Erholungsplätzen, der Ausstattung der sanitären Einrichtungen. Im Zusam- menhang damit beschäftigen sich mehrere Stichwörter der Fachenzyklopädie mit den „körperlichen“ Gefahren der Kinder: die infektiösen Krankheiten, die Epidemien und deren Vorbeugung durch die entsprechende Durchlüftung des Klassenzimmers, die körperliche Hygiene, und durch das Schulbad. Die andere Gefahr, die die körperliche Gesundheit des Kindes gefährdet, ist die falsche Kör- perhaltung, dann deren Korrektur durch die entsprechende Körperbewegung. Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit der Schwindsucht, mit einer der grundle- genden Gefahren des Zeitalters, und mit deren Heilung und der Vorbeugung in der Schule. Die neu entstandenen, speziellen Aufgabenbereiche der Volksschullehrer sind der Kampf mit diesen körperlichen Gefahren sowie das Gesundheitswesen an den Schulen (Krankheiten der Schüler und der Lehrer, Gesundheitswesen an den Schulen, die äußeren Eigenschaften eines gesunden Kindes, Gesundheits- zustand der Schüler: Körperwachstum, Rückgratverkrümmungen, Hör- und Sehfähigkeit, Blutarmut usw.). Die Schule, als eine auf eine besondere Weise konstruierte pädagogische Stätte, beschäftigt sich vor allem mit praktischen Fragen, wie der Ausstattung der Schule (das Schulgebäude, Möbel und andere Einrichtungsgegenstände, der Garten der Schule, der botanische Garten oder das Aquarium, der Schulhof). Der zweite Wirkungsfaktor der Epoche, in der Enzyklopädie auch stark rezipiert, war die Rassenhygiene beziehungsweise die Eugenik, die sozialbio- logische bevölkerungs- und gesellschaftspolitische Lehre von der „genetischen Verbesserung“ des Menschen. Sie entstand in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. In diesen Zeitraum der Entstehung und Formierung der Eugenik als wissenschaftliche Lehre und sozialpolitische Bewegung fielen auch die Anfänge jenes Transformations- und Modernisierungsprozesses, in dessen Verlauf die alte Armenpflege des 19. Jahrhunderts zur sozialen Fürsorge und 339 Creating links in education. Teachers and their associations Wohlfahrtspflege umgestaltet wurde. Die Eugenik als Lehre und Programm von der „genetischen Verbesserung“ des Menschen und der Gesellschaft stand in einer Konkurrenzstellung zu dem modernen Programm einer erzieherischen und sozialfürsorglichen Verbesserung des Menschen. (Vgl. Reger 1991, S. 9) Aus rassenhygienischer Annäherung erscheinen in dem Buch die verschiedenen ge- sellschaftlichen Risiken beziehungsweise Gefahrenelemente, wie das arme Kind oder das arbeitende Kind. Die anderen Elemente, die das Kind gefährden, sind die Stichwörter Alkoholismus – Kinder in der Kneipe, weiters das Rauchen und das rauchende Kind, die morale Imbezilität, später das kriminelle Kind. Zahlrei- che weitere Stichwörter beschäftigen sich mit den verschiedenen Methoden der Abwehr dieser Gefahren, die die Rolle des Volksschullehrers in diesem Tätig- keitsbereich betonen: Der Horizont der empfohlenen Therapie – wie darauf auch mehrere Stichwörter hindeuten – verläuft von der Elternversammlung über den Kirchenbesuch bis zur Patronage, beziehungsweise bis zur sexuellen Erziehung. Die Aufgaben des Volksschullehrers werden in den beiden Stichwörtern die so- zialen Aufgaben der Lehrer und der gesellschaftliche Kindesschutz beschrieben. Zum wirkungsvollen Kampf des Experten der Volksschule gegen die ver- schiedenen Gefahrenelemente der kindlichen Entwicklung, zum erwünschten Einfluss auf die kindlichen Äußerungen braucht er wissenschaftlich begründete Kenntnisse über das Kind. Die verschiedenen Bewegungen der Epoche spiel- ten eine wichtige Rolle darin, dass der Beruf von Volksschullehrern szientifisch gegründet wurde. Sie versuchten das Wissen der Volksschullehrer der Epoche zu erneuern, alte Stützen pädagogischer Argumente gegen neue und moder- ne, richtige auszutauschen. Die gesuchte neue Instanz war nach der Medizin und der Schulhygienebewegung um 1900 die empirische Psychologie sowie die Körösi László és Szabó László (Hrsg., 1911-15): Az elemi népoktatás enciklopédiája. I. kötet. (Enzyklopädie des Volksschulunterrichts / Encyclopedia of elementary school education). Budapest: Franklin. (https://www.antikvarium.hu) 340 Šolska kronika / School Chronicle • 3 • 2019 psychologische Kinder- und Jugendforschung. Neben den Stichwörtern der Schulhygienebewegung bildeten jene die zweitgrößte Stichwortgruppe der En- zyklopädie (ca. 60 Stichwörter), die die Rezeptionen der verschiedenen Bereiche der Kinderforschung und der experimentellen Psychologie beziehungsweise von Meumanns und Lays experimenteller Pädagogik zeigten. Hinsichtlich der Wirkung der antimodernen Reformbewegungen der Zeit, vor allem der Lebensreform, verbreitete sich im Kreise der Volksschullehrer die Auffassung, dass die inadäquate Tätigkeit der Schule selbst die gesunde kindliche Entwicklung gefährde und eine der wichtigen Aufgaben der Volksschullehrer die Rettung des Kindes sei. So spielte auch die reformpädagogische Semantik im Be- rufswissen der modernen Volksschullehrer eine wichtige Rolle. Aus der Kritik des Herbartianismus und nach dem Durchgang durch die experimentelle Pädagogik hat das pädagogische Wissen der Volksschullehrer im reformpädagogischen Ge- danken schließlich zu seiner modernen und legitimen Gestalt gefunden. Diese Semantik brachte neue Zauberworte. Das Eigenrecht des Kindes wurde das neue regulative Prinzip und zur Basis des professionellen Ethos. Der pädagogische Be- zug als sozialer Ort kann diesem Eigenrecht zur Verwirklichung verhelfen. Diese Prinzipien helfen bei der Rettung der Kinder mit Hilfe der Minimierung der Risi- kofaktoren inner- und außerhalb der Schule. (Vgl. Tenorth 1999, 369-370.) In diesem Kontext betrachtet erscheinen in der Arbeit zahlreiche weitere Stichwörter, die von der Wirkung der frühen Reformpädagogik und der Lebensre- form zeugen. Die pädagogische Enzyklopädie versucht zu diesen neuen Aufgaben der Moderne in Ungarn auch im Detail die verschiedenen praktischen ausländi- schen und ungarischen Reforminitiativen vorzustellen. Sie gibt einen Überblick über die verschiedenen Reformschulen jener Zeit, vor allem der englischen „New School“-Bewegung, und die daraufhin entstehenden nationalen pädago- gischen Reformtrends und die neuen methodischen Ideen (Abbotsholme, Ecole des Roches, Landerziehungsheim, Reformschule, Parker-Schule, Arbeitsschule, Waldschule, Pfadfinder). (Németh 2002) Zu den „pädagogischen Helden“ der ungarischen Volksschullehrer, die die neue pädagogische Identität legitimieren, kommen neue Helden, die die positivistische Wissenschaftsauffassung und die Weltbetrachtungsweise sowie das Lebensgefühl der Epoche ausdrücken und die gleichzeitig auch die „neue Erziehung“ repräsentieren. Sie sind Repräsentanten der experimentellen Wissenschaftlichkeit, beziehungsweise emblematische Fi- guren der Gesellschafts- und Lebensreformen, sowie der Kunstrichtungen und pädagogischen Tendenzen der Epoche (Comte, Bain, Spencer, Schopenhauer, Nietzsche, Ruskin, Ibsen, Tolstoi, Ellen Key, Otto, Dewey), sowie Repräsentanten der experimentellen Psychologie und Pädagogik (Ebbinghaus, Wundt, Meu- mann, Lay), der Kinderstudien beziehungsweise der Kinderpsychologie (Binet, Claparède, Groos, Sikorsky, Gaupp). Diese neuen Helden bereiten das Jahrhun- dert des Kindes vor, die glückliche Kindheit. Sie zeigen sichere Methoden auch für die Rettung des Kindes auf. Eine bessere Kenntnis des Kindes sollte es er- möglichen, Schule und Erziehung kindgerecht zu gestalten und damit auch die Risiken und Gefahrenelemente in der Kindheit minimieren zu können. 341 Creating links in education. Teachers and their associations Literatur Heidenreich, M. (1999): Berufkonstruktion und Professionalisierung. Erträge der soziolo- gischen Forschung. In: Apel, H-J. et. al. (Hrsg): Professionalisierung pädagogischer Berufe im historischen Prozeß. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, pp. 35-58. Hopf, C. (2004): Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts. Bad Heilbrunn, Klinkhardt. Kost, F. (1983): Die „Normalisierung“ der Schule. Zur Schulhygienebewegung in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zeitschrift für Pädagogik, 30. 1., pp. 769-782. Körösi László és Szabó László (Hrsg., 1911): Az elemi népoktatás enciklopédiája. I. kötet. Budapest: Franklin. Németh A. (2002): A magyar neveléstudomány fejlődéstörténete. Budapest: Osiris Kiadó. Németh A. (2005): A magyar pedagógus professzió kialakulásának előtörténete a 18. száz- adban és a 19. század első felében. Pedagógusképzés, 3. 2., pp. 7-32. Németh A. (2007): A modern középiskolai tanári és tanítói szakmai tudástartalmak ki- bontakozásának történeti folyamatai. Pedagógusképzés, 5. 1-2. 5-26. Németh A. (2012): Magyar pedagógusképzés és pedagógus szakmai tudásformák I. 1775– 1945. Budapest: ELTE Eötvös Kiadó. Oelkers, J. (1998): Psychologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert. In: Sa- rasin P. és Tanner J. (Hrsg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19 und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Surkamp, pp. 245-285. Reyer, J. (1991): Alte Eugenik und Wohlfahrtspflege. Entwertung und Funktionalisierung der Fürsorge vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Freiburg. Romsics I. (2000): Magyarország története a XX. században. Budapest: Osiris. Sarasin, P. (2001): Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sarazin, P. / Tanner, J. (Hrsg. 1998): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Stoß, A. M. 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Weinheim-Basel, Beltz. 342 Šolska kronika / School Chronicle • 3 • 2019 Zusammenfassung Die historische Konstruktionsprozesse des Fachwissens von Volksschullehrern in Ungarn am Beispiel der Enzyklopädie des Volksschulunterrichts 1913-1915 András Németh Auf Grund unserer Analysen kann man resümieren, dass die Enzyklopädie des Volks- schulunterrichts vom Zustandekommen der neuen Betrachtung des Wissens der ungarischen Volksschullehrer eine bedeutende Schöpfung auf dem Wege zum autonomen Fachwissen ist. Das in der Enzyklopädie formulierte, in den Anfängen des 20. Jahrhunderts zustande gekom- mene, das Fachgerechte betonende, dem neuen fachlichen Etalon entsprechenden Fachwissen der Volksschullehrer, besteht anscheinend manchmal aus sich gegenüberstehenden Elementen. Solche, die moderne Wissenschaftlichkeit begründenden Strömungen und Bewegungen der positivistischen Orientierung sind darin beschrieben, wie die Bemühungen des hygienischen Dis- kurses, weiterhin die Ergebnisse der experimentalen Pädagogik und der Kinderstudien. Daneben erscheinen darin mit starker gesellschaftskritischer Schärfe formulierte rhetorische Elemente der scheinbar gegenüberstehenden Ideologie der Lebensreform und der Reformpädagogik. Diese zeitgenössischen Bemühungen bilden zusammen die Grundlage der ideologischen Elemente des neuen Volksschullehrerwissens, deren ethische Erwartungen und deren Kompetenzinhalt. In diesem Wissenskonstruktions-Prozess enthält der Gedanke von der allgemeinen Gül- tigkeit der Rettung der Lebensreform einen starken normativen Inhalt, der hier eine starke pädagogische Orientierung gewinnend, als Metaphorik der Rettung des Kindes erscheint. Sein Hauptfunktion ist die Sicherung des ideologischen Hintergrundes einer solchen erwünschten fachgerechten pädagogischen Arbeit, die eine positive emotionelle Ladung hat. Sie steht mit der notwendigen neuen Wissenschaftlichkeit zur Gründung der sachgemäßen Arbeit, mit den Kinderstudien, die auf die empirischen Messungen – Bewertungen (Leistungs- Aufmerksam- keits- und Erinnerungsuntersuchungen) aufgebaut werden, bzw. auch mit den empirischen Prinzipen der Pädagogik in enger Verbindung. Der im 19. Jahrhundert aufkommender Diskurs über die Hygiene und damit im Zusammenhang über die Wichtigkeit des gesunden menschli- chen Körpers beeinflusste aus zwei Richtungen die Prozesse der Lehrerwissenskonstruktionen. Einerseits erscheint darin in impliziter Weise das Grundbedürfnis für die wirksame Arbeits- leistung der modernen europäischen Arbeitsgesellschaft, das den beherrschten menschlichen Körper bzw. die körperliche und die seelische Gesundheit betont. Die Schule hat im Prozess der Institutionalisierung – anhand der Entwicklung des Gesundheitswesens – den körperlichen und seelischen Bezug des Kinderschutzes gleichermaßen verstärkend, die Versorgung des gesund- heitlichen und moralischen Schutzes der Schüler als Aufgabe der Schule gestellt. Laut der Selbstdefinition der Enzyklopädie ist der Fachmann der Volksschule die Schlüs- selfigur der Verwirklichung der erwarteten Aufgaben, die in dem fachlichen Diskurs von vorher beschrieben wurden. Die zu der Zeit sich herausgebildeten ideologischen und ethischen Motive des neuen fachlichen Wissens werden von dem Rettungsmotiv gesichert, das von den verschie- denen pädagogischen Reformbewegungen reflektiert wird und auf die rhetorischen Elemente der Lebensreform zurückgeführt werden kann. Die Voraussetzung vom Ergebnis der Kinder- rettung ist nicht nur die Berufung, sondern die wahre Kenntnis des Kindes, deren Wissens- und Kompetenzelemente wissenschaftlich begründet sind und deren Hintergrund von der empirisch grundierten Psychologie und Pädagogik bzw. von den Kinderstudien gesichert wird.