ZUR ARCHITEKTURIKONOGRAPHIE DER FRÜHMITTELALTERLICHEN KIRCHENBAUKUNST Herbert Paulus, Erlangen Im Bereich der Vorgeschichte und der Kunstgeschichte pflegen stets dann Kontroversen aufzubrechen, sobald man gew illt ist, zwischen vor­ geschichtlichen Bauformen und frühm ittelalterlichen S akralbautypen morphologische Zusammenhänge anzunehm en. So ist die kunsthistorische Version, daß z. B. der Baugedanke der frühm ittelalterlichen G angkrypta auf das m egalithe Ganggrab zurückgeführt werden dürfte, von vorge­ schichtlicher Seite stets nur skeptisch aufgenommen, wenn nicht gar schon als absurd abgetan worden. In W irklichkeit scheint jedoch diese. Skepsis der Vorgeschichtler auf einem M ißverständnis zu beruhen, be­ ziehungsweise scheint sie m ir eine K ritik an der in diesem Zusammen­ hang gewiß unzulänglichen architekturikonographischen Methode einiger Kunstgeschichtler zu sein; denn das zweifellos vorhandene Phänom en der W iederaufnahm e von vorgeschichtlichen Form elem enten im Rahmen der frühm ittelalterlichen K irchenbaukunst hat sicherlich nichts m it ei­ ner im Sinne einer Geschichtsmorphologie zu definierenden B auentw ick­ lung zu tun und das gilt ganz bestim m t auch für die Kunstgeschichte. Man kann zw ar die vorhandenen Phänom ene in der Baugeschichte nicht leugnen, aber m an kann sie wohl — wie das der E inspruch der Vorgeschichtsforschung beweist — au f das G röblichste mißverstehen, solange m an sie nur als stets sich selbst regenerierende Größen einer geographisch und volkhaft gebundenen Bauweise zu interpretieren ver­ sucht. (Vgl. dazu z.B . den A ufsatz von Hedwig S p ie g e l : Zur E n t­ stehung der Gang- und der H allenkrypten in der Josef Strzijgomski Fest­ schrift, K lagenfurt 1932, S. 155 ff.). In W irklichkeit ist m it einer solchen geschichtsmorphologischen D efinition noch lange nicht die Ursache die­ ser frühm ittelalterlichen Rezeptionen geklärt, genauso wenig, wie dies etwa durch eine schon oft unzulänglich vorgetragene genetische H ypo­ these von sogenannten A usgangstypen, sogenannten einmaligen »genia­ len« architektonischen Leistungen geschehen könnte. Was schon methodisch in beiden Fällen übersehen wird, das ist die keineswegs für die Forschung schädliche Annahm e — weil in vielen Fällen schon erwiesene Tatsache — der Möglichkeit, daß zur E ntw ick­ lung einer Bauform wie etwa der K rypta in W irklichkeit doch stets eine ansehnliche, wenn auch heute kaum leicht zu überschauende M ehrzahl unter sich oft völlig w idersprechender Vorstufen beigetragen haben dürfte. Behält m an diese M ehrzahl (wie etw a bei der Entw icklung der christlichen Basilika) im Auge, w ird m an den morphologischen Zusam­ menhang von vorzeitlichen Bauformelem enten m it solchen des frühen M ittelalters ganz klar zu leugnen haben, zum al ja auch gerade die ganze frühm ittelalterliche B auentw icklung zusammenhanglos vor sich ging. Allein, trotzdem prinzipiell irgendwelche architektonischen Zusam­ m enhänge zu leugnen sind, ein Zusammenhang ist nicht zu leugnen: Fig. 32. D reistufenheiligtum -Totenberg. Berg (Tumulus) aus D änem ark (Fig. 810, Müller-Mothes, Arch. W örterbuch, 1878) näm lich der, der au f einer zum mindesten sich sehr ähnlichen, wenn nicht oft der gleichen Baugesinnung (mit der sich Vorzeit und Friih- m ittelalter gemäß ihrer Symbolik verbunden wissen) beruht. Kann also • — so fragen w ir — die »Gesinnung« dazu führen, daß eine wenn auch nur scheinbare Reminiszens an A usdrucksform en einer schon früher vollzogenen Bauweise wieder zustande kommt? W ir mei­ nen, daß sie nicht nur dazu führen könne, sondern geradezu als die Ursache dieser sogenannten Rezeptionsvorgänge angesprochen werden muß. O der legt es der Vergleich von G angkypta und G anggrab, Toten­ kirche und Totenberg (alias Rotunde und D reistufenheiligtum ; vgl. Abb. No. 32—34) — um nur einige B autypen zu nennen — nicht immer wieder nahe zu dem Schluß zu kommen, daß es sich hierbei rein gesümungs- mäßig um Bauformen handeln dürfte, die gerade auch im Blick auf Anlage und G rundriß als ein = und dieselben M anifestationen eines all­ gemeinreligiösen Unsterblichkeitsglaubens zustande gekommen sind? Fig. 33. Rom, Mausoleum Fig. 34. Rom, Mausoleum der C onstantina-Totenkirche der Constantina-Totenkirche (nach Guyer) (nach Guyer) ß i P O h W£XWAM. Fig. 35. W ilfrids C rvpta, England (nach Guyer) So sehr sich näm lich frühm ittelalterliche G angkrypta und frühm it­ telalterliche G rabrotunde (vgl. Theoderichgrab) von dem vorzeitlichen G anggrab und dem vorzeitlichen G rabtum ulus architektonisch u n ter­ scheiden dürften — sind es doch keine Im itationen, sondern M utationen eines religiösen Gedankens! —, so sehr stehen sie sich gerade gesinnungs­ mäßig am nächsten. Sie stehen sich am nächsten, weil sie sich infolge der ihnen zugrundeliegenden religiösverhafteten Baugesinnung als ein = und dieselben Interpretationsm öglichkeiten religiöser G ehalte und R aum ­ vorstellungen erweisen, die es zu allen Zeiten und an allen O rten immer wieder gegeben hat und geben wird. » l u e OABonTIU Ou£, /ucAMG von u n rtn >PAT{B ZUCtHAüCOT »tATCD 2UG£MAU-| {PTC:. fCNSTCO'T' lU O l u C a n c SPÄTkO ZUOCKAUCOT MA54TAB ZUGANG M A 5bTA B LiC W C A U rriA H M t D € 5 V C D rA b b C ß S Fig. 56. K rypta zu Echternach (nach Buschow) Wie aber — so fragen w ir weiter — ist die Situation dort, wo sich — wie es das zweifellos auch gegeben haben kann — die frühm ittelalter­ liche A rchitektur m it der vorzeitlichen Anlage zu einer noch heute in­ takten K ultbauform (so angeblich bei der K ry p ta zu Disentis) verbunden hat, wo also gewissermaßen ein architektonischer Zusammenhang zw i­ schen vorzeitlichem und frühm ittelalterlichem K ultbau auch heute noch »greifbar« zu w erden scheint? Auch dies dürfte unseres Erachtens viel weniger für die M öglichkeit zeugen, daß m an »einfach« längstvergessene, oft jahrtausendalte Baugedanken im F rühm ittelalter w ieder aufgegriffen habe als vielm ehr dafür, daß sich eben die Baugesinnung der jeweils als Baugem einschaft w irksam en K ultgem einschaft (die durch die K ultan­ lage wie z. B. in D isentis den Totenkult zu befriedigen hatte) trotz der Jahrtausende kaum geändert hat. Die Baugesinnung ist also durch die Jahrtausende nahezu die gleiche geblieben. Und das deshalb, nicht weil die Menschen immer nur eine »uralte« K ultbauw eise nachzuahm en vermöchten, sondern weil der I 11- terpretationsm öglichkeit der Sakralbauw eise, der A usdrucksform der Raum vorstellung, infolge der dem Kulte zugrundeliegenden »ewigen« Zweckbindungen offenbare Grenzen gesetzt sind. Diese Grenzen be­ stehen nicht etw a darin, daß m an immer nur an der althergebrachten A usdrucksform anzuknüpfen vermöchte, um dam it eventuellen Neu­ erungen aus dem Wege zu gehen als vielm ehr darin, daß man stets nur K w a v -: M A 5 5 T A B 1 'O - 1 2 'S * « 5 Fig. 37. W ipertikrypta zu Q uedlinsburg (nacli Buschow) in einer gesinnungsmäßig sich gleichbleibenden A nknüpfung an das Alte die neue Aussage, den D urchbruch zum Neuen durchzusetzen sich vor­ nimmt. So ist die K ultbauweise wie eine religiöse Offenbarung und religiöse O ffenbarung ist stets auch eine N euoffenbarung des Alten! Und dam it w ird deutlich: religiösbedingte Baukunst kann nur innerhalb der reli­ giösen Sphäre gesehen und gedeutet werden. Dies ist die conditio sine qua non, die m an nicht ungestraft übertreten kann; denn nur allein im Blick auf die geschichtlichgewordenen architektonischen G rundlagen ist das Phänom en ja nicht zu deuten, w arum es möglich wird, daß sich in einer neuen Kultbauepoche auch stets die alte K ultbauform zu w ieder­ holen pflegt. Vorallem übersieht man bei einer rein architektonischen D eutung des K ultbaues, daß die ganze K ultbaugeschichte wie der R hyth­ mus einer Folge von oft (natürlich gesinmuigsmäßig nur scheinbar) sich w idersprechenden Interpretationsm öglichkeiten ist. D a gelangt — offenbar plötzlich ■ — ein B autypus zur Ausführung, um dann in der Folge in allen möglichen Einzelheiten wieder zurückgebildet zu werden bis zu jenem fernen Zeitpunkt, wo dieser T ypus dann ganz unerw artet in einer geradezu glänzenden, ja genialen Form vollendung Wiederer­ stehen darf. F ig. 38. Das Heroon zu K alydon (nacli Dvggve) In diesem Rhythm us, diesem A uf und Ab. »offenbart« sich das Wesen aller religiösen A rchitektur; »offenbart« sich auch ein zeitbeding­ ter Baustil wie ein uralter Form gedanke als A usfluß ein = und derselben ihm zugrundeliegenden allgem einreligiösen Baugesinnung. So zeigen sich z. B. nicht nur die Phänom ene einer romanischen Stilform innerhalb der abendländischen K ultbauw eise der Rom anik, sondern ebenso in der der frühm ittelalterlichen Epoche wie in der der A ntike und sogar in der der Neuzeit. H ier nur einfach Im itationen oder Rezeptionen annehmen zu wollen, heißt die Augen verschließen vor der Tatsache, daß der K ult­ bau ein liturgischer Bau ist. Der Kultbau ist ein liturgischer Bau — ist das richtig, dann heißt es aber: dem abendländischen K ultbau liegt in erster Linie ein Bewegungs­ gedanke zugrunde und nicht, wie das für die P rofanarchitektur gelten mag: ein Begrenzungsgedanke! F ü r eine kultische Baugesinnung im A bendland entstellt der Raum nicht durch Begrenzung, sondern durch Bewegung. D er K ultbau ist also nichts anderes als die A usdrucksform einer Raum vorstellung, die dem abendländischen Menschen erst au f­ grund von erlebten »liturgischen« Bewegungsvorgängen sukzessive zuge­ fallen ist. D aß das so ist, zeigt uns deutlich z. B. die grundrißm äßige Entw ick­ lung der abendländischen K ryptenanlagen. D a steht am A nfang der Stollen oder der Gang, der sich zur Kammer allm ählich w eitet und schließlich m it der A nhäufung von Kammern, mit der additiven G ru p ­ pierung dieser Räum lichkeiten system atisch zum K ryptensaal, zur H al­ lenkrypta überleitet. (Abb. No. 35—37). Aber abgesehen davon läßt sich ja jeder S akralraum mit seinen A nfängen auf die menschliche W ohnung zurückführen, au f einen W ohnraum , der durch die ihm zufallenden A uf­ gaben wie Schlafraum , Speiseraum , A ufenthaltsraum , Feuerstelle, Bad, Stall usf. differenziert einm al notgedrungen die raum hegenden Tenden­ zen entfaltet hat, die zu dem späteren ganzen Raum kom plex des W ohn­ hauses geführt haben dürften. (Abb. No. 38.) ln diesen raumliegenden Tendenzen liegt also auch die W urzel aller Kultbauweise, die W urzel aller religiösen Baugesinnung, die den Raum nicht aus seiner Umhegung, aus seiner Begrenzung, aus seinen vier W änden erlebt, sondern mit dem Raum bestimmten Bewegungszwecken wie lebendigen Rhythm en dient. D aß ursprünglich jede Religion einen rhythmischen Kult besaß, w ird niem and bezweifeln wollen, genau so wenig, wie m an nicht in Frage stellen wird, daß sich auch die christliche Liturgie in ihrer W urzel d. h. im Westen au f diese rhythm ische G rundhaltung zurückführen läßt, beziehungsweise, daß in der christlichen Liturgie von Zeit zu Zeit die Reaktionen erwachsen, die zu einem rhythm ischen Kult zu führen ver­ mögen (vgl. E chternacher Springprozession, ebenso die ganze frühm ittel­ alterliche Prozessionsliturgie des Westens!). D aß die früchtm ittelalterliche Baugesinnung geradezu auf dem rhythm ischen Kult beruht, dem der Raum aufgrund der liturgischen Bewegung sukzessive erwachsen ist, ist für den Kenner der M aterie gar- ii icht m ehr zu widerlegen, zumal ja auch der T ypus der abendländischen Prozessionskirche mit ihren Stationen und Umgängen auf diese Epoche zurückgeht. (Vgl. meine D issertation »Der G esinnungscharakter des me- rowingischw estfränkischen Basilikenbaues, W ürzburg 1944). Was hindert uns also, alle frühm ittelalterlichen Phänom ene (wie z. B. G angkrypta. G rabkirche usf.), die sich in ihrer Zw eckverhaftung au f die liturgische G rundhaltung zurückführen lassen, mit dem »Gesin­ nungscharakter der frühm ittelalterlichen Kirchenbaukunst« zu identi­ fizieren? Lassen sich doch dam it — wie w ir zeigten — alle berechtigten Einw ände der Vorgeschichtsforschung gegenüber unserer bisherigen Methode au f diesem Gebiete erledigen, zum anderen aber auch alle architekturikonographisch unverstandenen Typen der frühm ittelalter­ lichen K ultbauw eise im Rahmen des ihnen zugrundeliegenden Symbol­ charakters besser erklären als bisher. 7 Zbornik 97