UDK 811.112.2:929 Herder J. G. UNSER KULTURGUT SPRACHE - REMINISZENZEN AN JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744 - 1803) Siegfried Heusinger Abstract Der Beitrag erinnert anlässlich des 200 Todestages (18. 12. 1803) an den Geschichts- und Religionsphilosophen, an den Sprach- und Kunsttheoretiker Johann Gottfried Herder. Im Zentrum der Abhandlung stehen seine Ideen und Erkenntnisse zu Wesen und Leistung der Sprache, zur Herausbildung der menschlichen Vernunft durch Sprache. Sie ist für jedes Volk ererbtes Gut, Kulturgut. Deshalb sind wir in besonders hohem Maße für ihre Pflege und nützliche Entwicklung verantwortlich. Kulturgut Sprache, Kultursprache, Sprachkultur sind gewiss selten gewählte Vokabeln, weil wir auch nur selten über das Phänomen „Sprache" nachdenken. Wir begreifen sie als ein Mittel zur Verständigung, ob wir es nun gut oder mangelhaft beherrschen. Einige unserer Vorfahren haben die uns eigene Sprache eine „göttliche Gabe" genannt. In unserer frühesten Kindheit sprachen wir bereits die ersten Wörter und erfüllten sie mit Sinn. Das gelang uns nicht immer sofort, denn Ball konnte auch den Apfel, ein Ei oder die Tomate meinen. Aber wir haben unsere Muttersprache gelernt und sie im Laufe der Jahre immer perfekter sowohl inhaltlich als auch grammatisch und phonetisch ausgebaut. Ohne das Kommunikationsmittel Sprache können wir uns keine menschliche Gemeinschaft mit ihrer Lebensweise, ihrer Schöpferkraft, ihrer Kultur, ihren Fortschritten in Wissenschaft und Technik vorstellen. Sprache macht die Existenz des Menschen als gesellschaftliches Wesen erst möglich. Sprache ist uns allgegenwärtig. Sie formt unsere Gedanken, die zunächst in eine komplizierte mentale Struktur eingefügt sind und vermittels der Sprache bringen wir sie als grammatisch organisierte Lautkette zum Ausdruck. In dieser (oft auch noch ästhetisch bearbeiteten) Ausdrucksform werden unsere Gedanken von Mensch zu Mensch übertragen. Diese Lautkette - nennen wir sie Text oder Äußerung - muss nicht nur ein momentaner Hauch oder Schriftzug bleiben, denn sie kann gespeichert und bewahrt werden. Es ist hier nicht der Ort, die Funktionen der Sprache in Kommunikation und Kognition zu nennen. Sprache in ihrer Beschaffenheit, ihrer Anpassungs- und Erneuerungsfähigkeit ist ein Phänomen für sich und deshalb Gegenstand vieler 115 Lobpreisungen, von denen hier nur ein Beispiel aus der Feder Johann Gottfried Herders angeführt sein soll: Ein Hauch unseres Mundes wird das Gemälde der Welt, der Typus unserer Gedanken und Gefühle in des anderen Seele. Von einem bewegten Lüftchen hängt alles ab was Menschen je auf der Erde menschlicher dachten, wollten, thaten und thun werden (J.G. Herder, 1853, Bd. 28, S. 354)1 Sprache in Beziehung zur Kultur zu setzen ist nur folgerichtig und auch keinesfalls neu. Erinnert sei an die theoretische und praktische Arbeit der Prager Linguistik zur Sprachkultur und namentlich an die Arbeiten von Karl Horälek, Bohuslav Havränek und Jaroslav Kuchar, die bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Auch in der einstigen DDR wurden die „Grundlagen der Sprachkultur" mit Verweis auf die Prager Linguistik in der breiten Öffentlichkeit diskutiert und als Forschungsprojekt der Akademie der Wissenschaften zu Berlin angelegt. Federführend waren hier vor allen Erika Ising und Jürgen Scharnhorst. Unserem entlehnten Wort „Kultur" liegt das lateinische Verb colere (Perfekt-partzip cultus) mit den Bedeutungen bauen, anbauen zugrunde. Davon zeugen die in Land- und Forstwirtschaft gebräuchlichen Lexeme Agrikultur, Bodenkultur, die als Oberbegriffe auch die Pflege und Bearbeitung des Bodens einschließen. Bereits im Lateinischen vorgezeichnet ist die metaphorische Verwendung für „Ausbildung und geistige Vervollkommnung des Individuums". Zur Ausweitung der Bedeutung von „Kultur", wie wir das Wort heute gebrauchen, haben namentlich Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder im Rahmen der bürgerlichen Emanzipationsbewegung des 18. Jahrhunderts beigetragen. Im Verständnis Herders hat sich der Gebrauch der Vernunft nicht ohne Sprache, die Kultur nicht ohne Vernunft ausbilden können. Dazu schreibt er 1774 in seinem Werk zur „Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts" (die thematisch als Enträtselung der Schöpfungsurkunde angelegt ist), dass „von der Sprache nun aller Gebrauch der Vernunft und aller Unterscheidungscharakter der Menschheit" abhänge (J.G. Herder 1852, Bd. 3, S. 269). Diese Abhängigkeit ist begründet in der Rolle der Sprache, die sie als Medium der verallgemeinernden Denktätigkeit einnimmt. Wir binden unsere Gedanken und unsere Denkprozesse an lautliche Hüllen, die wir zusammen genommen Sprache nennen. Wir planen unser Handeln, wenngleich die individuellen kognitiven Prozesse grammatisch ungeordnet sind und nicht jede gedankliche Struktur, die wir aktivieren, auch sprachlich ausgeformt ist. Die Denkkraft unseres Verstandes bedarf einer Sprache und die Vernunft ist ohne Sprache nicht denkbar. Allerdings müssen wir auch erkennen, dass Form und Bedeutung des Sprachlichen nur eine relative Einheit bilden, denn der gleiche Gedanke, den wir denken und den wir ausdrücken wollen, kann über verschiedene sprachliche Formen vermittelt werden. So ist auch Herder zu verstehen, wenn er die Sprache mit dem sprachlichen Inhalt gleichsetzt: „Nicht der Schall, sondern der Geist, die Seele der Worte ist Sprache" (Bd. 33, S. 67). 1 In Grammatik und Orthographie der Buchausgabe von 1853 wörtlich übernommen. 116 In seiner berühmten Schrift „Ideen zur Geschichte der Menschheit" (erste Veröffentlichung 1784) wiederholt er den Gedanken, dass die Sprache den Menschen „zur Vernunft gebracht habe": „Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht, indem sie die ungeheure Fluth seiner Ajfecte in Dämme einschloß und ihr durch Worte vernünftige Denkmale setzte." Die Sprache habe Städte errichtet und Wüsten in Gärten verwandelt (ebenda 1853, Bd. 28, S. 355). Und er zitiert Sokrates: „Die Sprache ward, wie Sokrates sagt, die Bezähmerin der wilden, und, wie man dazu setzen kann, eine bildende Schöpferin in den Wissenschaften" (J. G. Herder 1853, Bd. 18, S. 24). „Vernunft" ist ein Grundbegriff in der klassischen Philosophie und Literatur. Er ist aus der Übersetzung des lateinischen intellectus hervorgegangen und stand zunächst neben und auch für die bereits gewählte deutsche Übersetzung „Verstand". Vernunft ist nicht schlechthin die Fähigkeit des Menschen, mit Hilfe von Begriffen, Urteilen, Regeln geistig tätig zu sein und das Erfahrene zu „denken" (also „Verstandesdenken"). „Vernunft" ist mehr. Sie erfordert Verstand, setzt sich aber kritisch mit Erkanntem auseinander und ist letztlich geistige Tätigkeit, die das menschliche Tun und Handeln lenkt. Vernunft ist, wie Herder euphorisch vermerkt, „die höhere Besinnung", zu der das „fein organisierte Geschöpf" Mensch fähig ist, „wenn äußere Umstände des Unterrichts und der Ideenweckung dazu kommen" (ebenda 1853, Bd. 28, S. 126). Und es ist die Sprache in ihrer Gestalt als Rede, „die die schlummernde Vernunft erweckt." Die angeborene Fähigkeit zur Vernunft wird durch die Sprache „lebendige Kraft und Wirkung" (ebenda, S. 140). Mit dieser Sicht auf das Verhältnis von Sprache und Vernunft nennt Herder die Sprache wie auch ihre Formung zur Rede „ein göttliches Geschenk" (ebenda, S, 140). Der klassische Begriff der Vernunft hat sich bis zum heutigen Tag nicht wesentlich verändert, aber er wird heute mit erweiterter Referenz verwendet. Mit „Vernunft" meinen wir den bewusst gebrauchten Verstand, aber es können auch allein die Bedeutungen Besonnenheit und Einsicht gemeint sein. Die Aufforderung „Nimm doch Vernunft an!" erwägt ein Korrigieren der Gedanken im Hinblick darauf, einzulenken und Einsicht zu zeigen. Ob in dieser alltäglichen Version oder in der Erwartung bewusst hervorgebrachter neuer Ideen und Entscheidungen - wer vernünftig denkt und handelt, ist kreativ. Ist die Sprache im Sinne Herders ein göttliches Geschenk? Sie ist es - auch für ihn - nicht im wörtlichen Sinne. Er nennt sie eine „Erfindung" des gesellschaftlichen Menschen (Bd. 27, S. 36 und S. 93), zu der er Kraft seiner Vernunft in der Lage war und es beständig ist. Wir können Herder mit unserem heutigen Wissen und unseren sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht widersprechen, wenn er die Sprache und in ihr jedes Wort als das Ergebnis von Abbildungsprozessen erklärt. Er gebraucht für „Abbildung" die Begriffe Reflexion oder auch Besonnenheit. Die Sprache entstand mit der Herausbildung der menschlichen Gesellschaft über abstrahierte Merkmale des sinnlich Wahrgenommenen. Die „besonnen sich übende Seele" des Menschen „sucht ein Merkmal; das Schaf blocket, sie hat ein Merkmal gefunden; der innere Sinn wirkt" (Ebenda, S. 37). Ich „betrachte eine ganze Sprache als einen großen Umfang von sichtbar gewordenen Gedanken, als ein unermeßliches Land von Begriffen. 117 Jahrhunderte und Reihen von Menschenaltern legten in dieses große Behältniß ihre Schätze von Ideen ..., neue Jahrhunderte und Zeitalter prägten sie zum Theil um ... und vermehrten sie; jeder denkende Kopf trug seine Mitgift dazu bei" (J. G. Herder in seiner Schrift „Fragmente zur deutschen Literatur" [1767], in der Veröffentlichung von 1853, Bd. 18, S. 27). Der Hinweis auf Merkmale in der semantischen Struktur insbesondere der Lexik, die den „inneren Sinn" aktivieren, ist für die semantische Beschreibung von Lexemen um die Mitte des 20. Jahrhunderts zur Methode der Bedeutungsanalyse entwickelt worden. Sie lässt sich allerdings nicht auf J. G. Herder zurückführen. Das auch nur zu behaupten ist falsch, denn für Herder ist der „innere Sinn" die Reflexion, das Abbild im Kopf, das durch äußere Merkmale geweckt wird. Ein Tier, das blökt, ist eben ein Schaf, und allein der Gedanke daran lässt es als sinnliches, als inneres Bild entstehen. Die Bedeutungsanalyse (Merkmalanalyse) der strukturellen Semantik „zerlegt" das Abbild in Abbildelemente, sog. Seme. Für den Begriff SCHAF können die folgenden wesentlichen Seme angenommen werden: • Tier (animal) • Säuger • Pflanzenfresser • In der Herde lebend • Nützling (Wolle, Fleisch) • charakteristische Lautäußerung (blöken) Für die Herausbildung einer Sprache zur Verständigung in einer Gesellschaft oder Gruppe von Menschen war der Weg von der ersten bezeichnenden Lautäußerung bis zum vereinbarten oder überlieferten „Mitteilungswort" (Begriff bei Herder, Bd. 27, S. 48) sehr lang. J. G. Herder ist wohl zuzustimmen, dass die Nachahmung von Naturlauten wie auch Empfindungsäußerungen über lange Zeit die einzigen Verständigungsmittel waren (vgl. Bd. 27, S. 16 und S. 21 ff.). In allen ursprünglichen Sprachen tönen noch Reste dieser Naturtöne; nur freilich sind sie nicht die Hauptfäden der menschlichen Sprache. Sie sind nicht die eigentlichen Wurzeln, aber die Säfte die die Wurzeln der Sprache beleben (ebenda, S. 13). Ohne Zweifel entstand die Sprache als ein spezifisch menschliches Kommunikationsmittel mit der Notwendigkeit und dem Bedürfnis zur Kommunikation. Dieser Urgrund wiederum setzte die Existenz einer sozial organisierten Gruppe von Lebewesen mit intellektuellen und physiologischen Fähigkeiten zur Bildung und zum Gebrauch eines sprachlichen Instrumentariums voraus. Wenn man auch annehmen kann, dass die ersten Sprachäußerungen auf einer noch sehr primitiven Entwicklungsstufe im langen Prozess der Anthropogenese vieles bedeuten konnten, also semantisch weniger differenziert waren als heute, so waren es doch schon Verständigungssignale, die auf intellektueller Vereinbarung und nicht mehr auf instinktivem Verhalten beruhten. Nach der Konventionstheorie war es aber letztlich der Mensch selbst, der - wie Johann Gottfried Herder schreibt - sich seine Sprache erfand „vermöge der eigentümlichen 118 Kraft des Verstandes ". Alles Natürliche, das der Mensch erkannte, regte seine „ inneren Kräfte" an, es zu benennen: Die Sprache ward an „Gegenständen, sie anerkennend, erfunden" (J. G. Herder, 1853, Bd. 37, 136). Die sprachschöpferische Kraft des menschlichen Geistes zu betonen genügt allein sicherlich nicht zur Erklärung der Sprachentstehung. Was vielleicht einmal individuell hervorgebracht wurde, musste auch der sozialen Kommunikation dienen können. Erst dann wurde es zum sprachlichen Zeichen. Insofern ist die Sprache bereits in ihren Anfängen nur als soziales Phänomen zu begreifen. „Sprache, im weitesten Sinne des Wortes, ist der Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen". Diese Anmerkung Johann Gottlieb Fichtes (1982, Bd. 3, S. 97) bezieht „Ausdruck" auf den kommunikativen Akt der Entäußerung von Gedanken, und sie kennzeichnet die Lautform als nicht motiviert und willkürlich. Gewiss könnte es so sein, dass die lautliche Bildung vieler sprachlicher Primärformen willkürlich (arbiträr) hervorgebracht wurde, z.B. Mama (als kindersprachliches Lallwort), Haus (zu ide. *[s]keu: bedecken, umhüllen); zumeist sind es einsilbige Wörter, die einen Teil des Kernwortschatzes2 ausmachen. Etymologisch motiviert hingegen und insofern nicht arbiträr sind affixlose Ableitungen z.B. zu „Haus": Haut, Hose, Hort, Hütte. Häufig erfolgte die Ableitung in indoeuropäischer Zeit oder auch noch früher durch Wurzeldeterminative, z.B. durch s- oder t-Erweiterung bei Haut, Hose, Hütte. Das Lexem Hort aus ide. *kuzdho- zeigt neben der s-Erweiterung auch grammatischen Wechsel. Oft aber ist es schwer, arbiträr gebildete Formen von motivierten abzugrenzen, weil uns sichere Kenntnisse zu willkürlich gebildeten Lautformen lexikalischer Zeichen fehlen. Man muss bedenken, dass sichere Erkenntnisse nur aus schriftlichen Quellen geschlossen werden können, und die ältesten sind etwa 6000 Jahre alt, sofern man die phonetisierte Wortbildschrift (Keilschrift, ägyptische Hieroglyphen, chinesische Schrift) und die Anfänge der Lautschrift (semitische und griechische Schrift) als Untersuchungsgrundlage wählt. Die erste Stufe des homo sapiens in der Anthro-pogenese (nach Meier/Meier 1979,21) begann vor etwa 700 000 Jahren (der Petralona-Mensch, Fundort Saloniki), die Anfänge der menschlichen Sprache dürften aber noch weiter zurückliegen, wenn man anerkennt, dass „tönende Verba", wie Herder schreibt, „die ersten Machtelemente der Sprache" gewesen sind (Bd. 27, S. 51). „Der Mensch erfand sich selbst Sprache, aus Tönen lebender Natur" (ebenda, S. 50 f.). Wissenschaftler am Max-Planck-Institut in Leipzig glauben, dass ein Gen namens FOX P2 die für die Sprache notwendigen biologischen Entwicklungen steuert. Sein erstes Auftreten wird auf etwa 200 000 Jahre zurückdatiert. Es steigert die Kapazität unseres Gehirns, steuert die Bewegungen unseres Gesichts, der Kehle und der Stimmbänder. Diese Leistung hat die Sprachfähigkeit entwickelt. Eine der biologischen Voraussetzungen war auch der aufrechte Gang, denn mit ihm erweiterte sich der Rückenmarkkanal und er konnte mehr Nerven aufnehmen. Der aufrechte Gang hatte aber auch zur Folge, dass sich der Rachenraum des Menschen vergrößerte und der Kehlkopf veränderte seine Lage, was wiederum für die Ausbildung der Stimmbänder notwendig war (nach Informationen der Max-Planck-Gesellschaft im Deutschen Magazin „Stern", Hamburg, vom 7.11.2002, Seiten 76 ff.). 2 Zum Kernwortschatz des Deutschen rechne ich die Primärstammwörter des Grundwortschatzes 119 Eine der Folgerungen aus den neuesten Erkenntnissen ist wohl, dass sich die natürliche menschliche Sprache in ihrer sich bedingenden Einheit aus Phonetik, Lexik und Grammatik und mit ihren Hauptfunktionen, Mittel der Kommunikation und Medium der verallgemeinernden Denktätigkeit zu sein, im Prozess der Menschwerdung erst verhältnismäßig spät herausbilden konnte. Annahmen, dass sie jünger als 200 000 Jahre sei, sind sicherlich zu relativieren, denn es muss ein zeitlich sehr lang andauernder Entwicklungsprozess bis zu jener Reifestufe vorausgegangen sein, in der wir das Verständigungsmedium ajs differentia specifica des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen bezeichnen können. Selbst unter Voraussetzung einer einleuchtenden Definition des Begriffs „Sprache" (als Sprachfähigkeit oder auch als Einzelsprache) ist es müßig, die Anfänge aus einem Kontinuum heraus genau bestimmen zu wollen. Auch J. G. Herder hat sich aus den Erkenntnissen seiner Zeit mit den biologischen Dispositionen der Sprachentstehung befasst. Er beschreibt Zusammenhange zwischen der „Bildung der Glieder zum aufrechten Gange" und der Formung des Hauptes, denn „mithin gewann das Hirn ... völligen Raum sich auszubreiten und seine Zweige abwärts zu versenden" (Bd. 28, S. 131). Jedes Volk ist in seiner ererbten Sprache verwurzelt. Diese Aussage ist unter mehreren Aspekten näher zu erklären. Jede Sprache, so schreibt Herder, ist ein „Landesgewächs" und bildet „sich nach den Sitten und der Denkart ihres Volkes" (Bd. 18, S. 34). Die Sprache ist neben ihrer Funktion, Mittel der Kommunikation zu sein, auch ein autonomes System für kognitive Prozesse, so dass unsere Sicht auf die Welt, unsere Denkart, zunächst an eine Sprache gebunden ist, in die wir „hineingeboren" wurden. Daraus zu folgern, dass unsere Weltsicht muttersprachlich geprägt ist (ich verweise auf Leo Weisgerbers Theorie von der „inneren Sprachform", aber auch auf Benjamin Lee Whorfs Beiträge zur Sprachphilosophie) ist strittig, aber auch nicht klar widerlegt. Auch einige Philosophen und Dichter haben sich dazu geäußert. Nach Erkenntnissen des Philosophen Ludwig Wittgenstein denken wir in den Grenzen unserer Sprache. Er meint nicht die Innovationskraft unseres Verstandes, sondern unsere Denkweise, mit der wir unsere Welt aufgenommen und an Sprache gebunden haben. Der deutsche Dichter Johann Wolfgang Goethe lässt in seinem Drama „Faust" den Weltgeist auf Faust' Zuneigung „Ich bin's, bin Faust, bin deinesgleichen" die Erwiderung sprechen: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!" Der Dichter und Historiker Friedrich Schiller schreibt in seinem Fragment aus Vers und Prosa „Deutsche Größe": Die Sprache ist der Spiegel einer Nation; wenn wir in diesen Spiegel schauen, so kommt uns ein großes treffliches Bild von uns selbst daraus entgegen." Es sind Worte von nationaler Gesinnung in einer Zeit, in der sich die deutsche Nation herausbildete. Deshalb sind sie nicht frei von ideologischen Hintergründen und demzufolge in ihrer Wahrhaftigkeit zu relativieren. In unserer Zeit, in der interkulturelle Kontakte über die Massenmedien, über die Internationalisierung der Wirtschaft, über den Tourismus intensiviert werden, in einer Zeit also, in der Fremdsprachenkenntnisse und das Wissen über andere Kulturen bereits in Gymnasien vermittelt werden und in die Allgemeinbildung eingehen, geht unsere Sicht auf die Welt über einstige Horizonte hinaus. Wir haben mit der uns überlieferten Muttersprache ein Erbe übernommen, das mehr ist, als nur ein Verständigungsmittel. Es bewahrt und vermittelt über sprachliche 120 Einheiten Bezeichnungsmotive, Wertungen, Gliederungen und Abstufungen in der dem Sprachträger eigenen Weltsicht. Es sind Eigenheiten, die sich mit dem Werden einer Volkssprache herausgebildet haben. In Zeiten, in der ein Volk auseinander gerissen war, wird das einigende Band der Sprache, „das Band der Seelen" (J.G. Herder 1853, Bd. 27, S. 142) beschworen. Erst unter solchen Bedingungen wird mehr denn je bewusst, wie sehr eine Sprache Kulturgut ist und ein Volk verbindet. Die Sprache jedes Volkes ist ein Teil seines kulturellen Erbes; aber auch seine Geschichte, seine Religion, Sitten und Bräuche, Verhaltensgewohnheiten in der Kommunikation, überkommene Regularitäten im Zusammenleben der Menschen sind kulturell geprägt. Bei etymologischen Untersuchungen zur Bezeichnungsmotivation stoßen wir immer wieder auf Lexeme unserer Gegenwartssprache, deren Benennung auf einen Volksglauben oder auch nur auf wiederholte Beobachtungen zurückgeht. Beispielsweise geht das Benennungsmotiv von dt. Schmetterling und engl. Butterfly auf den Volksglauben zurück, dass Hexen die Ge-stalt eines Falters annehmen, wenn sie Sahne oder Butter stehlen wollen. Das im Deutschen nicht mehr gebräuchliche Wort, das Bestimmungswort Schmetter-, bedeutete „Sahne, Rahm" (im Slow., Tschech. Russischen erhalten ist „smetana") und bewahrt den Volksglauben. Mit gleicher Etymologie ist Butterfly (aengl. „butorflege") belegt. Mundartlich im Deutschen bekannt sind auch „Molkendieb" und „Buttervogel". Figurativ motiviert ist hingegen franz. papillon (zu lat. „papilio", was etymologisch auf die ide. Wz. *pel- „fliegen, flattern" zurückgeht). Die Benennung papillon beruht auf einem Vergleich des Falters mit den nach außen umgeschlagenen Enden eines Soldatenzeltes (afrz. „paveillon"), ist also eine Metapher. Ebenso ist slow, metulj (zu urslaw. *meto „fegen, kehren, werfen") auf einen Vergleich mit den scheinbar richtungslosen Flugbewegungen des Falters zurückzuführen. Viele der Motive sind heute nicht mehr durchsichtig und geben deshalb auch keine Aufschlüsse mehr über die „Sicht auf die Welt". Aber hin und wieder ist das noch möglich, vor allem dann, wenn Wertungen die Bezeichnungsmotive waren. Derlei Motive können gegebenenfalls unter dem Einfluss gesellschaftlichen Wertewandels plötzlich nicht mehr akzeptiert werden. Man denke nur an die noch immer geläufige Benennung Altersheim (mit mehr Komfort auch Altenheim genannt) - Wohn- und Pflegeheim für alte Menschen. Das Motiv ist durchsichtig und deshalb für viele Menschen, die mit dem Altsein negative Gefühle verbinden, nicht akzeptabel. In der ehemaligen DDR ersetzte man es mit dem Nomen Feierabendheim. Es hat sich als „offizielle Bezeichnung" nie recht durchsetzen können. Bessere Aussichten auf Akzeptanz hat heute Seniorenheim. Sprache ist nicht sächliches Kulturgut wie eine bedeutsame Gemäldesammlung, die man betrachten kann, von der man sich angezogen fühlt und sich inspirieren lässt. Natürlich, auch Gemälde haben ihre „Sprache". Aber die Sprache, die wir meinen, ist vielmehr ein Instrumentarium zum Austausch oder auch nur zum Ausdruck von Gedanken, Gefühlen, Mitteilungen, Wertungen. Sie ist vor allem ererbtes geistiges Gut und materialisiert durch ihre Lautung. Sie ist einer Sprachgemeinschaft zur Nutzung und weiteren Entwicklung überliefert. Aber „Nationalschatz" (Begriff bei Herder, Bd. 18, S. 29) ist sie nur zu einem wesentlichen Teil. Viele der heute im Deutschen 121 gebräuchlichen Lexeme sind bekanntlich aus anderen, vornehmlich europäischen Sprachen entlehnt. Aber nicht jede Entlehnung und nicht jede Neubildung ist eine Bereicherung für den Lexembestand der Sprache. Das mag auch Herder gemeint haben, wenn er sich gegen die „Sprachverderber, Sprachkünstler und Wortgrübler" stellte, ebenso gegen die „unseligen Kunstrichter und Regelnschmiede, die unserer rüstigen und tüchtigen Sprache" ihrer Bildlichkeit berauben und ihr die Anpassungsfähigkeit nehmen (ebenda, Bd. 18, S. 25). Der Zustrom von Anglizismen in die deutsche Gegenwartssprache wird - und nicht nur über die Medien - oft beklagt. Wer hier urteilt, muss differenzieren. Gewiss ist nicht einzusehen, warum ein Friseurgeschäft ein Hair Studio genannt, Kinderbekleidung als kidsfashion bezeichnet, der Anstieg der Geburtenrate mit Baby-Boom überschrieben werden muss. G. Gringmuth-Dallmer bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die größten Multiplikatoren von Trends in der Gesellschaft, die Medien, und mit ihnen die Werbung, können sich ohne die Hilfe des Englischen nicht mehr verständlich machen. Layouter, Cutterinnen und Reporter sind im Teamwork damit beschäftigt, ihren Time Planer zu begreifen. Die Fernsehsender jagen in der Prime-Time den Zuschauern hinterher, damit die Industrie Spots schaltet. (...) Die Zukunft wird uns mit Teleshoping und Video on demand beglücken" (1995, 29). Weniger kritisch wird man sich zu fachsprachlichen Entlehnungen äußern können, denn die allgemeine Tendenz zur Internationalisierung der Fachsprachen ist eine Folge globaler Entwicklungen in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und auch in Bereichen der Kultur und des Sports. Waren einst Latein und Griechisch die Sprachen der Wissenschaften in Europa - die Terminologie mehrerer Wissenschaften folgt noch heute dieser Tradition -, so ist das Englische heute die Hauptsprache der internationalen Verständigung. Die Sprache eines Volkes leidet nicht darunter, wenn sie Termini entlehnt. Bereits im 19. Jh., mehr noch im 20. Jh. wurde vornehmlich von der Jugend Neues in Sport, Musik, Tanz und Geselligkeit aus dem Amerikanisch-Englischen nachgeahmt und mit der fremden Bezeichnung übernommen: Blues, Boogie-Woogie, Beat, Swing, Band, Bowling, Smoking - um nur wenige Entlehnungen zu nennen. Die für Entlehnungen sehr offene deutsche Sprache wird wohl kaum Smoking, Software, Hardware, Computer in der Standard- und auch nicht in der Fachsprache entbehren wollen. Neuerungen in der Sprache fordern Kritiker heraus, und das ist gut so, denn der Sprachschatz eines Volkes - sinnvolle Entlehnungen und gelungene Neubildungen sind darin eingeschlossen - darf nicht verwildern. Man muss aber auch dem Sprachgebrauch gegenüber tolerant und nachsichtig sein können, wenn beispielsweise Modewörter aufhorchen lassen oder sich die Jugend mit eigenen Kreationen ins Gespräch bringt. Das sind Momente in der Entwicklung einer Sprache, die ihr aber nicht schaden. „Jugend muss sich austoben", hört man oft im Volksmund. Das ist eine Erfahrung, die auch in der Sprachverwendung zu beobachten ist. Viele der Modewörter gelangen aus der Jugendsprache in die Umgangssprache und nur selten auch in die Standardsprache. Oft steckt dahinter nur ein Hang zur Nachahmung und manchmal auch innovatives Denken oder einfach nur die Neigung „in zu sein". Herder nennt Modewörter und modische Phrasen eine „Modelectüre der Zeit". 122 Sie gedeihen wie „Sodomsäpfel3, auswendig schön, inwendig voll Staub und Asche. Ein Jüngling, der, was und wie etwas sogenannt schönes gedruckt erscheinet, es begierig verschlingt, hält gewiß ungesunde Mahlzeit: gutes und böses ißt er durcheinander, und da das meiste süß und üppig ist, so wird sein Geschmack verdorben und verwöhnet" (J. G. Herder, Abhandlungen und Briefe zur schönen Literatur und Kunst [I. Teil 1773]. In der Veröffentlichung von 1853, Bd. 24, S. 323). Indem wir Sprache als überliefertes und sich beständig entwickelndes Kulturgut sozialer Gemeinschaften begreifen und sie als solches auch angenommen haben, tragen wir ihr gegenüber auch die Verantwortung für ihre Pflege und ihre Entwicklung. Ebenso verantwortlich sind wir für das Funktionieren der Sprache innerhalb einer sozial differenzierten Sprachgemeinschaft und im Kontakt mit anderen Sprachgemeinschaften. Wir haben gelernt, Entlehnungen aus anderen Sprachen aufzunehmen und wie Eigentum zu behandeln, wenn sie unsere eigene Sprache bereichern. Es wäre beispielsweise nicht einzusehen, wenn wir das aus der englischen Sprache übernommene Wort Sport durch das veraltete deutsche Wort Körperertüchtigung ersetzen wollten. Die Entlehnung ist mit ihrer heute in vielen Sprachen gebräuchlichen Bedeutung nicht nur frei von Konnotationen, sie ist als Formativ auch kurz und rationell (engl. Sport bedeutete noch im 19. Jh. „Vergnügen, Kurzweil"). Anders und zwar negativ zu bewerten ist die Flut von Anglizismen (siehe oben!), die unbegründet für gleichwertige (zum Beispiel deutsche) Ausdrücke verwendet werden, um einer fragwürdigen Mode zu genügen oder sich davon Werbewirksamkeit zu versprechen. Denken wir nur an das aus dem Englischen (eigentlich dem Slang) entlehnte Kids, das wohl wegen seiner Kürze das deutsche Wort Kinder zu verdrängen scheint. Jede Sprache - so J. G. Herder - „ ist eine Tochter des Geistes " aus dem heraus sie sich entwickelt hat. Und das Wort einer fremden Sprache zu gebrauchen sei „ löblich, solange Geister mit Geistern, Nationen mit Nationen umgehen. ... Plerrt aber eine Nation der anderen sinnlos nach, denkt sie nicht die Gedanken in eigner Weise, so bekennt sie sich als ihr unterthänig Gefangene, die nicht anders als nach und aus ihrem Munde zu sprechen weiß" (Bd. 33. S. 68). Verbindet der Gesprächspartner „mit meinem Wort nicht ganz und im genauesten Umriß meinen Begriff, warum sollte ich, um ein schlaffes Missverständniß zu vermeiden, nicht lieber das fremde Wort zu nützen, mit dem er meinen Gedanken denket?" (ebenda, S. 68) Der Kulturbegriff hat - wie bereits dargelegt - eine sehr weite Extension angenommen. Er steht unter anderen für ein reiches Erbe an materiellen und geistigen Gütern, auch für jede nützliche Neuentwicklung. Und er wird in Beziehung gesetzt zur Sprache, die gleichfalls als Schöpfung des Menschen in seiner langen Geschichte entstanden ist. Der Kulturbegriff wird aber auch auf soziale Erwartungen und Normen bezogen, die in ihrer Sonderheit vom Ethos, von Sitten und Bräuchen abhängen. 3 Wortbildung - Bezug auf die biblische Stadt „Sodom", die von Gott wegen ihrer Lasterhaftigkeit zur Strafe mit Feuer und Schwefel zerstört wurde. Der Sodomsäpfel, eine giftige Art der Nachschattengewächse, gedeiht in Afrika und an den Küsten des Mittelmeers. Die Früchte des bestachelten Strauchs sind gelb und etwa zwe cm dick. 123 Solcherart Verhaltensnormen tragen Benennungen wie Esskultur, Streitkultur, Wohnkultur, Verkaufskultur, Sprachkultur. Selbst der Begriff „Ständardsprache", der für die kodifizierte (verbindlich festgelegte) Norm einer Nationalsprache steht, ist gegen das Synonym „Kultursprache" austauschbar. Allerdings lassen sich die geläufigen Sekundärbegriffe „Kulturträger" und „Kulturtradition" nur als Metaphern auch auf die Sprache beziehen, denn „Sprachträger" und „Kulturträger" stehen zueinander in keiner synonymischen Relation. Auch der Traditionsbegriff hat keinen direkten Bezug zur Sprache, denn wir bewahren sie nicht wie ein überliefertes Gut, sondern übernehmen sie als Erbschaft, die wir stets und ständig weiter entwickeln, weil wir sie unseren aktuellen Bedürfnissen nach zweifelsfreier Verständigung anpassen müssen. Um als Mittler in der Kommunikation intakt zu bleiben, unterliegt sie diesen notwendigen internen Veränderungen. Aber es gibt auch Korrelationen zwischen der Geschichte einer Sprache und der Tradition einer Kultur. Man muss nicht unbedingt auf große Kulturtraditionen verweisen, etwa auf jene Tradition, die mit dem Verfall des Rittertums aufhörte, sich fortzusetzen. Mit dem Untergang der ritterlichen Institutionen und Lebensformen hatten auch die tragenden Begriffe (besser: die ritterliche Terminologie) keine kommunikative Existenz mehr. Das Rittertum geriet aus dem Blickfeld des allgemeinen Interesses und der Terminologie blieb nur noch der historische Wert. In der Regel geht die Hinterlassenschaft einer Kulturepoche nicht plötzlich unter, aber sie gerät in Vergessenheit, weil dafür nur noch ein spezielles (ein museales) Bedürfnis besteht. So ergeht es auch dem Wort. Mitunter aber verändert es nur seine Bedeutung. Wörter wie Harnisch, Hellebarde, Barte zur Bezeichnung der Ritterrüstung und zweier Waffen sind uns als Historismen erhalten geblieben und erinnern uns an jene Kulturepoche. Das Wort Ritterzehrung hingegen lässt uns nur vermuten, dass es in dieser Epoche geläufig war. Es bezeichnet ein Almosen, das man einem verarmten, bettelnden Ritter reichte beziehungsweise weit öfter von ihm erpresst wurde. Es kündet bereits vom Verfall des Rittertums und ist mit ihm als Wort untergegangen. Kurz gesagt, sind es kulturgeschichtliche Veränderungen, die zu Systemveränderungen (insbesondere) im Wortschatz geführt haben. Nicht selten ist einzig die bisherige Wortbedeutung untergegangen, während die Lautform eine neue Bedeutung angenommen hat. War Mut (ahd. muot) noch auf das Gefühlsleben und die Gesinnung zunächst nur der Angehörigen des Adels, so auch der Kreuzritter, bezogen und bezeichnete deren Gemütszustand, die innere Erregung (dazu auch die heute noch geläufigen Lexeme Übermut, Mutwille), so nahm es bis zum 16. Jh. die heute noch geläufigen Bedeutungen „Kühnheit, Unerschrockenheit" an. Sprache ist uns Medium in mehrfacher Hinsicht: Sie ist uns Träger und Mittler unserer Gedanken, sie ist Medium zur Bewahrung unserer Geschichte und der kulturgeschichtlichen Entwicklungen, und sie ist als humane Schöpfung ein Teil des kulturellen Erbes. Aber sie ist kein Erbe, das man übernimmt und in seinem Urzustand beibehält. Sie ist geistiges Erbe, das man bewahrt und es nützt, indem man es entwickelt. Für die Sprache lebt dieser Gedanke in J. W. Goethes Wort (aus seinem Drama „Faust", Teil 1) „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen." 124 Es ist der Anspruch an das Erbe, es auch nützlich verwenden zu können. Sonst sei es nur „eine schwere Last" (ebenda). Dieser Nützlichkeitsgedanke impliziert sowohl den Willen zur zweifelsfreien Verständigung als auch den Anspruch auf einen der Situation angemessenen Sprachgebrauch. Die jeweils kommunikative Situation, einschließlich der Gesprächsthematik, entscheidet darüber, ob es angemessen ist, Dialekt, Umgangssprache, Gruppenjargon oder Hochsprache (Kultursprache) zu wählen. Der Begriff der kommunikativen Situation ist in diesem Kontext recht weitreichend. Er umfasst 1. die Tätigkeitssituation (z.B. die Kommunikation unter Wissenschaftlern in einem wissenschaftlichen Forum. Es lassen sich unter anderen solche Bereiche unterscheiden wie Wissenschaft, Alltag, Publizistik, Verwaltung/Direktive, Justiz, Kunst), 2. die soziale Situation (wer kommuniziert mit wem?; Interessen, Wünsche, weltanschauliche/religiöse Bindung, sozialer Status der Partner), 3. Begleitbedingungen wie Raum, Zeit, momentane Verfassung der Partner. Mit dieser Sicht auf eine der kommunikativen Situation angemessene Sprachverwendung bewegen wir uns in einem Erwartungsrahmen, der „Sprachkultur" fordert. Ein kulturvoller Umgang mit der Sprache setzt nicht nur die treffende Einschätzung der Situation, sondern auch einen hohen Grad der Sprachbeherrschung sowohl des Senders wie auch des Empfängers voraus. Im Allgemeinen reicht es aber auch nicht aus, nur zu „sichern", dass der Empfänger die Äußerung auch verstehen kann. J. G. Herder sieht zudem auch sprachästhetische Ansprüche. Aus der Rede müsse die Schönheit der Seele sprechen. „Einheit ist Vollkommenheit, sowohl... im Gedanken wie im Ausdruck" (In „Ursachen des gesunkenen Geschmacks. Preisschrift 1773. In der Veröffentlichung von 1853, Bd. 24, S. 332). „Ein Mensch, der schön denkt und schlecht handelt, ist ein mißgebildetes, unvollkommenes Wesen als ein andrer, der richtig denkt und sich krumm und elend ausdrückt" (ebenda, S. 332). Ebenso „wäre es die äußerste Schande, leer Stroh zu dreschen" (ebenda, S. 334). „Gedankenlose Worte, der schönste leere Ausdruck ist eine verwelkte Blüthe " (ebenda, S. 333). Eine Kultur der Sprachverwendung verlangt nicht nur Angemessenheit und Treffgenauigkeit in der Formulierung, sie verlangt auch einen zweckmäßig vermittelten Inhalt. Es sind Anforderungen an Stil und Inhalt, aber auch an Inhalt durch Stil. Es ist schon ein Unterschied in der Ausdruckswahl, ob jemand beispielsweise ein Gemälde als schön und beeindruckend bewertet oder sich im gewohnten Jargon mit der lapidaren Feststellung äußert: Einfach cool!" Wir begreifen Sprachkultur als eine soziale Fähigkeit, die uns bewusst ist und unser sprachlich-kommunikatives Handeln lenkt. Deshalb können Sprachschluderei, Missachtung der kommunikativen Situation, leere Klischeewörter nur auf mangelhaft ausgebildete kommunikative Fähigkeiten und unzureichende Spracherziehung zurückgeführt werden. Wir müssen diesen Mangel natürlich in erster Linie auf den Gebrauch der Muttersprache beziehen. Wer eine bestimmte Fremdsprache nicht beherrscht, sich aber dennoch in der fremdsprachlichen Kommunikation übt, verdient unbedingt Respekt. 125 Die Theorie der Sprachkultur wurde schon Ende der zwanziger Jahre vom Linguistenkreis der Prager Schule entwickelt. Auf ihrem 1. Internationalen Slawisten-kongress in Prag 1929 standen die „Allgemeinen Grundsätze der Sprachkultur" im Mittelpunkt der Diskussion. Grundlage ihrer Forschungen zur Sprachkultur war allein die Literatursprache (Kultursprache), also die kodifizierte Standardvarietät, heute in der Linguistik auch als Standardsprache bekannt. Von dieser Position abweichend meine ich, dass sprachliches Verhalten auch dann kulturellen Ansprüchen genügt, wenn in einer typischen Alltagssituation ein Gespräch in der Umgangssprache geführt wird. Jugendliche unter sich empfinden es als kommunikativ angemessen, wenn sie ihren aktuellen Sonderwortschatz gebrauchen, ohne dabei gleich ins Obszöne, Vulgäre, Seichte abzugleiten. Jugend ist irre drauf, alles ist total cool, partymäßig geht's voll ab, es fetzt ein. Schnell wird auch 'mal ein neues Wort erfunden. Der dürre Typ wird mit ironischem Hintergrund Spargeltarzan genannt, weil er sich wohl zu wichtig nimmt. Vielleicht auch, weil dieser Wolkenpuster einen Lungentorpedo (Zigarette) nach dem anderen abschießt. So tönt es, wenn junge Leute ganz unter sich sind. Aber so „tönt es" auch nicht immer, wenn man „unter sich ist". Nicht jedes Gesprächsthema lässt sich mit jugendsprachlichem Stil behandeln. Das weiß in der Regel auch der jugendliche Sprecher. Wir wollen nicht übersehen, dass sowohl die Umgangssprache als auch die Jugendsprache nicht nur in einer Stilschicht verwendet wird. Die Schichten (Ebenen) reichen von der gehobenen Variante bis zur niederen, ja bis zur vulgären Ausdrucksform. Die meisten Menschen beherrschen alle Ebenen und mischen sie auch, wenn sie es für angemessen halten. Wer sich allerdings nur auf der niederen Ausdrucksebene bewegt oder sich auch nur dort bewegen kann, muss mit sozialen Nachteilen rechnen. Ihm wird nachgesagt, er habe keine Kultur. Seine Sprache verrät ihn. In der ehemaligen DDR wurde mit dem Begriff der Sprachkultur auch der Begriff „Sprachpflege" belebt. Gegenstand der Sprachpflege war allein die kodifizierte Norm der Standardsprache. So notwendig es auch ist, Normen der Grammatik, der Phonetik und der Rechtschreibung zu beherrschen, einen reichen Wortschatz zu besitzen, sich angemessen ausdrücken zu können, so unerlässlich ist es ebenso, dass die Bewertung des Sprachgebrauchs nicht auf die enge Sicht der Sprachpflegerei vergangener Zeiten zurückfällt. Unsere Sprache ist reich und vielschichtig. Die Standardvarietät ist zwar weitgehend normativ festgelegt, aber auch Dialekte, regionale Umgangssprachen und Sondersprachen haben in ihrer Entwicklung usuelle Verbindlichkeiten ausgebildet. Zudem sind diese Subvarietäten ebenso Teile unseres Kulturgutes Sprache. Das Lexem „Sprachpflege" kann vieldeutig verwendet werden. Es eignet sich allerdings nicht als Synonym für Sprachreglementierung. Ich wurde beispielsweise in der DDR einmal heftig von einem Schulleiter gerügt, weil meine Tochter in einem Deutschaufsatz die polnische Stadt Danzig nicht mit der polnischen Bezeichnung Gdansk benannte. Die widerrechtliche „Eindeutschung" sei historisch überlebt. Auf einer ganz anderen Ebene liegt die Bewertung von stilistischen Entscheidungen. Beispielsweise schrieb die gleichnamige Zeitschrift „Sprachpflege" 1970: Die Feststellung „er verspätet sich häufig zum Unterricht" klingt etwas gehoben. Gebräuchlicher ist: „Er kommt häufig zu spät zum Unterricht." Welcher Stilschicht der 126 Vorzug gegeben werden sollte, hängt vom situativen Kontext ab. Ohne ihn zu berücksichtigen sind Angemessenheitsbewertungen „ohne Wert". Als sehr gehoben empfunden vor allem im Norden Deutschlands wird heute das Lexem Gemahlin. Aber es ist auch nicht in jeder Situation unpassend. Gewiss, die Sprache kennt Wandlungen, aber es sind meistens allmählich verlaufende Vorgänge. Sprachpflege, die am Einzelwort klebt, keine Toleranz kennt und blind ist gegenüber Veränderungen, hat nichts mit Sprachkultur zu tun. Es besteht sogar die Gefahr, dass sie die Herausbildung von Fähigkeiten zum kreativen Umgang mit der Sprache behindert. Sprachpflege kann nur und muss sich orientieren am jeweiligen Umgang mit der Muttersprache. Kritik ist geboten 1. an konservativen Einstellungen zum aktuellen Sprachgebrauch, 2. an mangelnder Toleranz gegenüber der Alltagskommunikation und der Gruppenkommunikation, 3. bei groben Verstößen gegen grammatische, lexische und stilistische Normen vor allem in der schriftlichen Kommunikation, 4. an schwer verständlichen überlangen Sätzen und lexischen Kompositionen, 5. an verbaler Verletzung der Menschenwürde, 6. an der Ignoranz sprachkultureller Werte (der Streitkultur) selbst im Meinungsstreit, ob nun im zwischenmenschlichen Verhalten oder im Streit der politischen Parteien, 7. an der Überfremdung der Muttersprache, wenn sie ohne einsehbare Gründe voranschreitet (die Entlehnung aus fremden Sprachen kann auch ein Gewinn sein, z.B. für die Fachsprachen). Die sprachkulturelle Arbeit ist nicht nur eine Aufgabe des Muttersprachunterrichts, sie sollte auch Lehrprinzip im Fremdsprachenunterricht sein, denn sie fördert die Bewusstheit beim Erwerb und dem Gebrauch der fremden Sprache. Beiträge dazu leisten nicht nur normgerechte Texte, sondern auch und vor allem das Bewusstwerden der Einheit von Sprache und der im Volk tief verwurzelten Kultur. Magdeburg LITERATUR Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe, Bd. 3, hrsg. v. R. Lauth u. H. Jacob. Stuttgart/ Bad Cannstatt 1982 Gringmuth-Dallmer, Götz: Das macht keinen Sinn. In: Das Sonntagsblatt Nr. 45 vom 10.11. 1995, Hamburg, S. 29 Herder, Johann Gottfried: Sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Stuttgart und Tübingen (J. G. Cotta'scher Verlag) 1852 und 1853 Meier, Georg Friedrich/ Meier, Barbara: Handbuch der Linguistik und Kommunikationswissenschaft. Bd. 1, Berlin (Akademie-Verlag) 1979 127