209 Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur am Beispiel der Autorinnen Sofija Jablons’ka und Has’ka Šyjan Claudia Dathe Abstract Ausgehend von einigen grundsätzlichen Überlegungen zur Verfasstheit weniger prä- senter, so genannter „kleiner Literaturen“ (Kafka) befasst sich der vorliegende Artikel mit Erscheinungs-, Darstellungs- und Reflexionsformen von kultureller und nationaler Zugehörigkeit und Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur. Die ukrainischen Autorinnen Sofija Jablons’ka und Has’ka Šyjan setzen sich in ihren Texten autobiogra- fisch und fiktional mit kulturellen Zugehörigkeiten, Zuschreibungen und Konzepten von Gemeinschaft und Nation vor dem Hintergrund transkultureller Erfahrungen auseinan- der. Sie wurden vom mehrsprachigen Raum Galiziens und dem Leben in verschiedenen kulturellen und nationalen Räumen geprägt. Der Beitrag zeigt anhand der Travelogues Der Charme von Marokko und China, das Land von Reis und Opium von Sofija Jablons’ka und des Romans Hinter dem Rücken von Has’ka Šyjan verschiedene Beobachtungs- und Reflexionsperspektiven im Kontext multipler kultureller und nationaler Zugehörigkeiten und thematisiert anhand von Übersetzungen ins Deutsche die unterschiedlichen Adres- satenperspektiven für die vorgestellten Werke. Schlüsselwörter: ukrainische Literatur, Mehrsprachigkeit, Übersetzen, kulturelle Zuge- hörigkeit, transkulturelle Biografien ACTA NEOPHILOLOGICA UDK: 821.161.2.09:81'255.4 DOI: 10.4312/an.56.1-2.209-228 Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 209 4. 12. 2023 12:36:07 210 Claudia dathe Kleine Literaturen, wie Kafka (240-241) sie nennt und zu denen man unter an- derem die tschechische, jiddische, sorbische, ukrainische, slowenische oder geor- gische zählen kann, entfalten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere in den multiethnischen Kontinentalimperien, in denen die Entwicklung dieser Lite- raturen – selbst wenn sie wie die georgische eine lange Tradition haben – anderen Bedingungen als Nationalliteraturen unterworfen ist. Die Verbreitung von Texten wird einerseits häufig vom imperialen Staat eingeschränkt, andererseits existieren informelle Kommunikationsräume, in denen Literatur in verschiedenen Sprachen geschrieben wird, zirkuliert, sich aufeinander bezieht und miteinander verschränkt. Die gesellschaftlichen Bedingungen für die Entstehung dieser Literaturen beein- flussen ihre Funktionen und auch ihre Bedeutung für bestimmte Sprachgemein- schaften. So kommt den Texten der kleinen Literaturen nicht nur eine ästhetische Funktion zu, sondern sie sind Instrumente der Nationsbildung, indem sie Nar- rative der Vergegenwärtigung und Entfaltung ethnischer Gemeinschaften oder nationaler Kultur hervorbringen und verbreiten sowie mit ihren Erzählungen Teil des Prozesses der Politisierung und Institutionalisierung von entstehenden Ge- meinschaften sind. In ihren Literaturen spiegeln sich oft die enge Nachbarschaft zu anderen Sprachen und die sich daraus ergebenden Verflechtungen. Der folgende Beitrag stellt die beiden ukrainischen Autorinnen Sofija Jab- lons’ka1 und Has’ka Šyjan2 vor und setzt sich anhand ihrer Biografien und litera- rischen Werke mit kulturellen Zugehörigkeiten, Zuschreibungen und Konzepten von Gemeinschaft und Nation vor dem Hintergrund transkultureller Erfahrungen auseinander. Beide Autorinnen wurden vom mehrsprachigen Raum Galiziens und dem Leben in verschiedenen kulturellen und nationalen Räumen geprägt. MEHRSPRACHIGKEIT IN DER UKRAINE Als souveräner Staat in den Grenzen, die im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs zwischen den Alliierten festgelegt wurden, existiert die Ukraine seit 1991. Bis dahin war sie Teil verschiedener Imperien. Diese Zugehörigkeit brachte in den ukrainischen Gebieten eine Mehrsprachigkeit hervor, die die Literatur nachhal- tig geprägt hat und sich in gewissem Umfang bis zum heutigen Tag fortsetzt. 1 Der Name der Autorin wird in diesem Beitrag als Transliteration des ukrainischen Namen Софія Яблонська wiedergegeben. In den deutschen Übersetzungen verwendet der Verlag die französische Schreibweise Sofia Yablonska. Diese Schreibweise wird nur bei dem Verweis auf die deutschen Publikationen verwendet. 2 Der Name der Autorin wird in diesem Beitrag als Transliteration des ukrainischen Namens Гаська Шиян wiedergegeben. In der deutschen Übersetzung verwendet der Verlag die englische Schreib- weise Haska Shyyan. Diese Schreibweise wird nur bei dem Verweis auf die deutsche Publikation verwendet. Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 210 4. 12. 2023 12:36:07 211Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur ... Geschrieben wurde bis 1945 auf Polnisch, Ukrainisch, Deutsch, Rumänisch, Jiddisch, Hebräisch und Russisch, seit 1945 mehrheitlich auf Russisch und Uk- rainisch. Nicht selten schrieben Autorinnen parallel in mehreren Sprachen oder wechselten – abhängig von den eigenen Lebensumständen, dem Adressatenkreis und politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen – zeitweise oder dauerhaft ihre Schreibsprache. So schrieb etwa die jüdische Schriftstellerin Debora Vogel (1902–1942) zunächst auf Polnisch und wechselte Ende der 1920er Jahre mit dem Erstarken der jiddischen Kultur- und Literaturaktivitäten in L’viv dauerhaft ins Jiddische. Solcherart politisch und gesellschaftlich motivierte Sprachwech- sel lassen sich auch heute noch beobachten. Die Donec’ker Dichterin Ija Kiva (*1984) floh mit Beginn des Krieges im Donbass 2014 nach Kyjiv und wechselte zugleich auch ihre Schreibsprache – vom Russischen ins Ukrainische. Die Zugehörigkeit zu einem Imperium und das Fehlen eines eigenen Nati- onalstaates führten unter anderem dazu, dass sich die Etablierung eines an eine Nationalsprache gebundenen nationalen Narrativs verzögerte (Anderson 44-54). „Während Nationen die Geschichte ihres Ursprungs, Fortkommens und ihrer Ideen als einsprachigen Ausdruck eines bestimmten Volkes vorstellen, finden sich in Imperien meist viele Geschichten, die miteinander in Konflikt geraten kön- nen. Es ist einfacher für Imperien, eine kohärente Geschichte der Macht mittels einer einheitlichen Elite (Adel, Dynastie) zu erzählen als die Geschichte eines heterogenen Volkes. Die vielen Volkserzählungen ließ man deswegen mehr oder weniger nebeneinander bestehen, sofern sie keine politischen Ansprüche auf Nationsbildung formulierten“, so Annette Werberger („Polyglottes Erbe“ 43). Während die „interkulturelle Qualität des Völkerpluralismus“ (Werner 20) eher graduell war und in einer großen Differenziertheit zu beschreiben ist, war die Mehrsprachigkeit in den ukrainischen Gebieten über Jahrhunderte hinweg eine Daseinsvoraussetzung und zugleich eine alltägliche Praxis, die sich, wie im Fol- genden zu zeigen sein wird, als Schreibpraxis bis in die Gegenwart erhalten hat und bis heute zur Grundausstattung vieler ukrainischer Autorinnen und Autoren gehört. „Die Verbindungen zwischen Sprache und Herkunft sind elastischer und fließender, die Sprachwahl ist oft eine kontextabhängige bewusste pragmatische oder politische Entscheidung“ (Werberger, „Polyglottes Erbe“ 43). Das Schrei- ben in verschiedenen Sprachen ist somit nicht in erster Linie Ausdruck einer ästhetischen Vielfalt, sondern eine Reaktion der Schreibenden auf sich ändernde gesellschaftliche Bedingungen und die damit einhergehende soziale Markierung der Verwendung einer Sprache. Diese kann, von einer positiven Sanktionierung, beispielsweise der Verwendung des Ukrainischen während der Korenizacija in den 1920er Jahren, über die Formierung von Zugehörigkeit zu einer sich emanzi- pierenden kulturellen Gemeinschaft, wie die Verwendung des Jiddischen im L’viv der 1930er Jahre, bis hin zur Abkehr von der Sprachverwendung reichen, wie wir Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 211 4. 12. 2023 12:36:07 212 Claudia dathe sie gegenwärtig aufgrund des russländischen Angriffskriegs bezüglich des Russi- schen in der Ukraine beobachten. Die beiden in diesem Artikel vorgestellten Autorinnen Sofija Jablons’ka und Has’ka Šyjan gehören mit ihren transkulturellen Lebenswegen und ihrem von der Erfahrung der Mehrsprachigkeit geprägten Schreiben zur großen Zahl uk- rainischer Autoren und Autorinnen, die die Mehrsprachigkeit in der einen oder anderen Form praktizierten bzw. praktizieren, darunter die bukowinische Autorin Ol’ha Kobyljans'ka (1863–1942), die auf Deutsch und auf Ukrainisch schrieb, der Lemberger Autor und Übersetzer Ivan Franko (1856–1916), der u. a. auf Ukrai- nisch, Russisch, Deutsch und Polnisch schrieb, aber auch Gegenwartsautorinnen wie die galizische Autorin Tanja Maljarčuk (*1983), die nach ihrer Übersiedlung nach Österreich sowohl auf Deutsch als auch auf Ukrainisch schreibt, und die Kyjiver Fotokünstlerin und Autorin Jevgenija Belorusec‘ (*1980), die ihre Werke auf Russisch, Ukrainisch und Deutsch verfasst. SOFIJA JABLONS’KA Die Autorin und Fotokünstlerin wurde 1907 in der Nähe von L‘viv geboren, kam nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches und den Bürgerkriegswir- ren zunächst mit ihrer Familie nach Russland und siedelte 1921 nach L’viv über, wo sie unter anderem einen Kurs für unternehmerische Tätigkeit absolvierte und zwei Kinos betrieb, um Geld für einen Frankreich-Aufenthalt zu verdienen. 1926 ging sie nach Paris, studierte an der Schule für Kinematografie, verkehrte in der Kunst- und Literaturszene und schrieb erste Erzählungen, ehe sie von der franzö- sischen Metropole aus ab 1929 zu Reisen nach Marokko, China und in den Pazi- fik aufbrach. Sie reise allein, was für eine Frau zur damaligen Zeit ungewöhnlich war, genoss jedoch den Schutz des französischen Staates, was sie vielfach vor will- kürlichen lokalen Übergriffen bewahrte. Nach dem Zweiten Weltkrieg übersie- delte Jablons’ka von China nach Frankreich, wo sie bis zu ihrem Tod 1971 lebte. In ihren drei Travelogues Der Charme von Marokko, China, das Land von Reis und Opium und Ferne Horizonte hält sie beschreibend, erzählend und reflektierend die Beobachtungen und Erfahrungen fest, die sie auf ihren Reisen gemacht hat. Die entstandenen Texte vermitteln dem Leser einen individuellen Einblick in ihre Erlebnis- und Vorstellungswelt, die geprägt ist von ihrem Leben als junge Frau im mehrsprachigen, multiethnischen, kriegsversehrten Ostgalizien, von ihrer Neugier und Hinwendung zu anderen Kulturen und Gesellschaften und einer Verankerung in europäischen Denkmustern.3 3 Ausführlich zur Verortung von Sofija Jablons’ka in der ukrainischen Literatur siehe Haleta (2020). Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 212 4. 12. 2023 12:36:07 213Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur ... Die Perspektive der Bewegung An Sofija Jablons’kas Reiseberichten lassen sich verschiedene Facetten des Zeit- geistes der späten 1920er und 1930er Jahre erkennen. Wie viele ihrer Zeitgenos- sen war die junge Frau begeistert von der Bewegung und den neuen technischen Errungenschaften, die das Zurücklegen großer Entfernungen erleichterten. Der Erfahrung des Reisens, der Überwindung des Raums widmet sie in all ihren Rei- seberichten eigene Kapitel, in denen sie ihrer Faszination an der Bewegung eu- phorisch Ausdruck verleiht, etwa in der Beschreibung des Aufbruchs zur Reise in Ferne Horizonte oder in Der Charme von Marokko4: Der Zug rollt der Sonne entgegen! Auf den blauen Himmel zu! Nach Süden! Ta- tam, Ta-tam! Nach Süden! Froh schlägt mein Herz im Rhythmus der ratternden Räder. Ta-Tam, Ta-Tam, Ta-tam! Gen Süden, nach Marseille, und von da aus immer weiter südwärts, bis nach Afrika. (Yablonska, Der Charme von Marokko 7) Die europäische Perspektive Jablons’ka beschränkt sich nicht auf Beobachtungen, sie möchte mit den Men- schen vor Ort in Kontakt treten und Anteil an ihrem Leben nehmen, was ihr in Marokko besser gelingt als in China, da sie Französisch, aber kein Mandarin spricht. An verschiedenen Stellen thematisiert sie die fehlende Sprachkompetenz als Hindernis für Austausch und Begegnung. Ihre Beobachtungen spiegeln teils die zur damaligen Zeit vorherrschenden Stereotype über die außereuropäischen Kulturen wider. Das Kapitel „Allah ist groß“ in ihrem Marokko-Tagebuch beginnt folgendermaßen: Нема бога, окрім Бога, а Магомет – його пророк. Араби – фанатичні, примітивні, безжурні діти! Єдина їх мораль – це викрасти у життя якнайбільше радощів, завдати собі якнайменше труду та не вірити в іншого Бога, як Аллаха, та його пророка Магомета. ( Jablons’ka, Čar Maroka 44) In der wörtlichen Übersetzung liest sich diese Passage wie folgt: Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohamed ist sein Prophet. Die Araber sind fanatische, primitive, sorglose Kinder! Ihre einzige Moral ist 4 Die Textausschnitte werden in der deutschen Übersetzung zitiert. Sofern auf Probleme in der Über setzung und ihre Lösungen eingegangen wird, werden sowohl das ukrainische Original als auch die deutsche Übersetzung angeführt. Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 213 4. 12. 2023 12:36:07 214 Claudia dathe es, dem Leben möglichst viele Freuden zu entreißen, möglichst wenig Mühe zu haben und an keinen anderen Gott als Allah und seinen Propheten Mohamed zu glauben. Was Jablons’ka hier schreibt, entsprach in den 1930er Jahren den verbreiteten Wahrnehmungsmustern, liest sich jedoch im Kontext der heutigen anthropolo- gischen und postkolonialen Forschungen als entwertend und herablassend. Im ukrainischen Original, das 2018 neu herausgegeben wurde, werden die potenti- ell als rassistisch zu lesenden Passagen nicht geglättet oder direkt kommentiert. Den Reiseberichten ist ein einordnendes Vorwort vorangestellt. In der deutschen Übersetzung wird der Versuch unternommen, entwertende Konnotationen zu til- gen, um den Text den Rezeptionsvoraussetzungen von heute anzunähern und der Autorin damit einen Rezeptionsraum unter heutigen Bedingungen zu eröffnen. Sie lautet: Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet. Die Menschen hier haben ein leidenschaftliches, schlichtes und unbeküm- mertes Gemüt! Ihre Grundsätze sind denkbar einfach: dem Leben möglichst viel Schönes abgewinnen, sich möglichst wenig anstrengen und an keinen an- deren Gott außer Allah und seinen Propheten Mohammed glauben. (Yablons- ka, Der Charme von Marokko 19) Die deutsche Übersetzung gibt also den direkten Zugang zu der von damaligen Denk- und Reflexionsmustern geprägten Beobachtungsperspektive auf und ver- sucht Jablons’kas Neugier an der fremdkulturellen Umgebung herauszustellen. Diese Anpassung an die Rezeptionserwartungen der deutschsprachigen Leser- schaft der Gegenwart kann die Auseinandersetzung mit den Denkmustern und Wertvorstellungen der 1930er Jahre erschweren. In ihrem Travelogue China, das Land von Reis und Opium wirft Jablons’ka im- mer wieder die Frage nach der Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen in China und Europa auf. Sie beobachtet die Bauernfamilien bei der Feldarbeit, die da- mals noch nahezu ohne Einsatz von Technik erfolgte, und kommt zu folgendem Schluss: Ich habe noch nie derart üppiges Gemüse gesehen wie in China. Riesige Kohlköpfe! Ein halber Meter im Durchmesser. Und erst die Gurken, der Mais, die Tomaten, die Kürbisse! Mir fehlen die Worte, um meiner Begeisterung Aus- druck zu verleihen. Als wäre all das nicht auf einem Feld gewachsen, sondern in einem von Blut durchströmten Herzen. Und der Geschmack, die Frische, das Aussehen, das das Gemüse hat! Wenn man sich die vielen akkuraten Beete an- schaut, auf denen die Pflanzen um die Wette wachsen, fällt es wirklich schwer zu begreifen, dass es sich hier nicht um ein Wunder, nicht um das Werk von Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 214 4. 12. 2023 12:36:07 215Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur ... Genies handelt, sondern um eines von ganz gewöhnlichen, schriftunkundigen, Chinesen, die lediglich „rückständig“ leben. Vielleicht sind sie jenseits ihres Bodens ungebildet, doch von dem immerhin verstehen sie mehr als alle „gebildeten“ Völker. Ist das denn nicht auch eine Form von Kultur? Die Chinesen bearbeiten den Boden nach der Väter Sitte, und zwar so perfekt, dass sie es sogar ohne die Weisheiten und Erfindungen der Zivilisation mit uns aufnehmen können, ja, in mancher Hinsicht sogar weiter sind als wir. (Yablon- ska, China 92) […] Hätten wir die Ausdauer der Chinesen, wären wir mit unserer Schwarzerde in zehn Jahren die führenden Agrarnation in Europa. (ebd. 91) Jablons’ka stellt ihre persönlichen Beobachtungen und Grundannahmen über den Entwicklungsstand in China und in Europa gegenüber und operiert dabei mit den Kategorien „темний“ - „zurückgeblieben, finster, ungebildet“ und „освічений“ – „gebildet, aufgeklärt, kulturvoll“, wobei sie beide Adjektive in Anführungszeichen setzt, um zu signalisieren, dass sie die wertenden Facetten der Ausdrücke durch- aus in Frage stellt. So bildet das europäische Fortschrittsnarrativ zwar einerseits den Ausgangspunkt für ihre Beurteilungen, wird aber gleichzeitig durch ihre per- sönlichen Beobachtungen kritisch hinterfragt. Die Bezeichnung der Methoden der Bodenbearbeitung als „прадідні способи оброби землі“ – „nach der Väter Sitte“ implizieren Rückständigkeit gegenüber den nicht genauer ausgeführten Errungenschaften der ebenfalls nicht definierten Zivilisation. Jablons’ka versucht, ihre Beobachtungen in allgemeine Kontexte der technischen Entwicklung und in die konkreten Gegebenheiten in der Landwirtschaft in der Ukraine einzuordnen. Diese Einordnungen rekurrieren nur allgemein auf das Narrativ des technischen Fortschritts und der Fruchtbarkeit der Schwarzerdeböden, beinhalten aber keine genaue Beschreibung aktueller Praktiken der Bodenbearbeitung in der Ukraine. Jablons’ka unternimmt ihre Reisen von Frankreich aus, verfasst ihre Texte jedoch auf Ukrainisch, sie werden in L’viv veröffentlicht und richten sich aus- schließlich an eine Leserschaft in Ostgalizien. Aus diesem Grund nimmt sie in ihren Texten immer wieder Bezug auf die Lebenswirklichkeit in der Ukraine und bindet auf diese Weise die konkrete Erfahrungswelt der Leserschaft ein. Die teilnehmende Perspektive Sofija Jablons’kas Technikbegeisterung erstreckt sich neben der Freude an der Fortbewegung auf das Fotografieren und Filmen. Bei ihren Versuchen, ihre Ein- drücke nicht nur schriftlich, sondern mit den neuen Medien Foto und Film Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 215 4. 12. 2023 12:36:07 216 Claudia dathe festzuhalten, stößt sie in Yunnan auf den erbitterten Widerstand und die pani- sche Angst der örtlichen Bevölkerung. Niemand möchte sich fotografieren oder filmen lassen, ihre zahlreichen Überredungs- und Bestechungsversuche scheitern. In diesen Darstellungen tritt Jablons’ka aus der Beobachterposition heraus und wird selbst Teil des Geschehens: Etliche Male stand ich mit meiner Kamera an einer Kreuzung, die auf mehr- eren Quadratmetern von der Sonne beschienen wurde, und die Menschen har- rten stundenlang davor aus. Ich zeigte viel Ausdauer, doch ihre Ausdauer war stärker. Auch wenn keine Polizei kam und die Leute sich nicht trauten, mich zu verscheuchen, weil sie meinen Diener mit dem Gewehr sahen, war ich immer diejenige, die zuerst aufgab, die Chinesen ließen nämlich einfach ihre Ochsen halten und gingen ins nächstbeste Lokal Tee trinken. (Yablonska, China 60) Diese teilnehmende Perspektive fokussiert Aushandlungsprozesse zwischen ei- genkulturellen Erwartungen und fremdkulturellen Reaktionen. Jablons’ka be- schreibt diese Aushandlungsprozesse ausführlich und dokumentiert damit die konkrete Interaktion. Das Scheitern ist für sie ein Teil der transkulturellen Erfah- rung, die sie sich zugesteht. Die ukrainische Perspektive Jablons’ka schreibt als Europäerin, deren Perspektive von ihren Erfahrungen mit fragiler Staatlichkeit und wechselnder kulturell-territorialer Zugehörigkeit geprägt ist. Einerseits verleiht sie stets ihrer Gewissheit Ausdruck, dass Europa dem Rest der Welt technisch und zivilisatorisch überlegen ist. Andererseits re- flektiert sie kritisch die Praktiken der französischen Kolonialmacht in Marokko und Yunnan und zieht Parallelen zum Unabhängigkeitskampf der Ukraine und der gescheiterten Staatsbildung am Ende des Ersten Weltkriegs. Im Kapitel „Das Schachbrett“ im Marokko-Tagebuch widmet sie eine Passage dem Umstand, dass die Ukraine weder auf der mentalen Karte der Franzosen noch der Bewohner in Marokko verankert ist. Bei dem Besuch eines Kaids stellt dieser ihr seine europä- ische Sekretärin vor: „[…] Und jetzt wundern Sie sich, dass ich eine europäische Sekretärin habe. Ihre Verwunderung wird wahrscheinlich noch zunehmen, wenn ich Ihnen sage, dass Sie eine Landsmännin von Ihnen ist.“ […] „Sie ist Ukrainerin?“ „Nein“, antwortete er gedehnt, „Russin. Aber ist das nicht ein und dasselbe Land?“ Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 216 4. 12. 2023 12:36:07 217Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur ... Ich erklärte ihm den Unterschied zwischen uns und den Russen. Ich zeichnete eine Karte der Ukraine und ihrer Nachbarländer, damit er eine Vorstellung davon bekam, wo das Land lag; schließlich klärte ich ihn auf, dass es mehr als vierzig Millionen Ukrainer gab und dass das Land anderthalb Mal so groß wie Frankreich ist. Diese ganzen Fakten konnte ich herbeten, denn immer wieder musste ich Franzosen und andere Ausländer unterweisen, da sie die keine Ah- nung hatten, dass es dieses Land überhaupt gab. (Yablonska, Der Charme von Marokko 48) In der Auseinandersetzung mit dem Blick von außen auf die Ukraine ist das Stereotyp der Gleichsetzung mit Russland dominierend und so zentral, dass es immer wieder aufgegriffen und thematisiert wird. Es findet sich auch in Has’ka Šyjans Roman Hinter dem Rücken. Auch hier wird die Bezugnahme auf die Leser- schaft in der Ukraine deutlich, wenn Jablons‘ka vom „Unterschied zwischen uns und den Russen“ spricht, mithin ihre Zugehörigkeit zur ukrainischen Ethnie in Form des Pronomens klar deklariert. In ihrem Travelogue China, das Land von Reis und Opium reflektiert Jablons’ka auch über das Konzept des Imperiums und versucht, Parallelen zwischen China und Europa zu ziehen. Ihre Überlegungen sind allgemeiner Natur und speisen sich nicht aus einer Auseinandersetzung mit den damaligen Konzepten von Im- perium, Staat und Nation, ihnen liegt der Begriff einer gefühlten nationalen Zu- gehörigkeit zugrunde: Während ich in Büchern zur Geschichte des Fernen Ostens blätterte, kam ich irgendwann desillusioniert zu dem Schluss, dass es vielleicht sogar besser war, dass von den Dutzenden kriegerischen Stämmen, die pausenlos gegeneinander Krieg geführt hatten, nur noch einige wenige Staaten übrig geblieben waren, die nun in ihren Gebieten die Ordnung aufrecht erhielten. Je mehr Herrschafts- ansprüche, desto mehr Kriege, desto schlechter die Vorausset zungen für den Fortschritt, für die Zivilisation. Ein hartes Urteil, und vielleicht steht das je- mandem, der sich die Unabhängigkeit des eigenen unterdrückten Landes wün- scht und der die eigene Sprache, die eigenen Bräuche und das eigene Volk bewahrt sehen will, gar nicht zu. Ja und nein! Ich glaube, ein Mensch kann sich vom eigenen Ich lösen, und dann ist sein Urteil unweigerlich anders, härter und grausamer gegen sich selbst. Ich kann sehr gut verstehen, dass China Yunnan nicht den Lio-Lioten über- lassen möchte, genauso wenig wie Polen uns Galizien und Moskau uns die Ukraine überlassen möchte, andererseits ist es auch verständlich, dass die Ukraine frei sein will, dass sie seit Jahrhunderten für ihre Unabhängigkeit kämpft und weiterkämpfen wird. Würden wir passiv bleiben, wäre das ein Be- weis, dass unsere Unabhängigkeit, unsere souveräne Existenz jeglicher Grund- lage entbehrt. (Yablonska, China 42-43) Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 217 4. 12. 2023 12:36:07 218 Claudia dathe Auch hier wählt Jablon‘ska die Ukraine als Bezugspunkt für ihre Überlegungen und verortet sich als zu Sprache, Volk und Gebiet zugehörig. In ihren Anmer- kungen spiegelt sich die Relevanz des nationalstaatlichen Diskurses, der mit dem Zerfall des Habsburger Reiches und des Russischen Reiches am Ende des Ersten Weltkrieges und der darauffolgenden Bildung zahlreicher kleiner Nationalstaaten in den 1920er und 1930er Jahren bestimmend war. Mehrsprachige Perspektiven Jablons’ka verfasste ihre Text auf Ukrainisch, obwohl sie L‘viv 1926 verlassen hatte und abgesehen von wenigen Besuchsreisen in den 1930er Jahren dorthin nicht mehr zurückkehrte. Sie hatte keine ukrainische Schule absolviert, sondern Ukrainisch im Alltag gelernt. Im Polen der Zwischenkriegszeit wurde an allen Bildungseinrichtungen ausschließlich auf Polnisch unterrichtet. Jablons’kas Sprache geprägt von einer nicht normierten, unkonventionellen Mehrsprachigkeit. Die Autorin beherrscht Polnisch, Französisch und Ukrai- nisch, jedoch merkt man den ukrainischen Texten an, dass ihr die Geläufigkeit des ständigen Gebrauchs der Schriftsprache fehlt, zahlreiche Ausdrücke klingen ungewöhnlich, teils gekünstelt, sie entlehnt polnische, russische oder französische Wörter und flicht sie in den ukrainischen Text ein. So verwendet sie Wörter wie вінда von winda (Poln.) für „Fahrstuhl“, аманд von amande (Frz.) für „Mandel“, авторизація von autorisation (Frz.) für „Geneh- migung“, масакра von massacre (Frz.) für „Massaker“, терен von terrain (Frz.) für „Gebiet“ und розвой von rozwój (Poln.) für „Entwicklung“, Wörter, die im ukrainischen Wortschatz nicht vorhanden sind. Oftmals kreiert Jablons‘ka ukrainische Wörter, indem sie an einen lateinischen oder französischen Wortstamm eine ukrainische Endung anfügt und so ein neues ukrainisches Wort entstehen lässt. Auch Einsprengsel aus den Sprachen der Länder, die sie bereist, zum Beispiel aus dem Arabischen und Mandarin, arbeitet sie in ihre Texte ein. Im Kapitel „Berberische Gastlichkeit“ im Marokko-Tagebuch gibt sie ein gesungenes Lied zweisprachig wieder, in dem sie einige Zeilen in einem marokkanischen Dialekt einfügt: Не падає дощ на землю Аллах вас карає Не падає дрщ на землю! Алля, Алля, ін жімба хта Fällt kein Regen auf die Erde, straft euch Allah, fällt kein Regen auf die Erde Allah, Allah yidschib esch-Schta Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 218 4. 12. 2023 12:36:07 219Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur ... Вітер трави зеленькі Піском поливає! Не падає дощ на землю, Аллах вас карає! Аллах ін жімба хта. (Jablons’ka, Čar Maroka 149-150) Allah yidschib esch-Schta Der Wind träufelt Sand auf die grünen Halme! Fällt kein Regen auf die Erde, straft euch Allah! Allah yidschib esch-Schta.5 Jablons’ka schöpft in ihrem Sprachgebrauch aus ihrer Mehrsprachigkeit und ver- wendet Wörter, die ihr in der gegebenen Situation als passend und angemessen erscheinen. Ihr Wortschatz ist nicht nach einzelnen Sprachen getrennt, sondern durch freie Entlehnung verweben sich Wörter aus verschiedenen Sprachen zu ei- nem originellen mehrsprachigen Geflecht. Für die Übersetzung ins Deutsche ist das ein kompliziertes Phänomen, da sich im Deutschen weder Jablons’kas unkon- ventionelle Mehrsprachigkeit noch der mehrsprachige Resonanzraum der ausgang- sprachlichen Adressaten adäquat abbilden lassen. In der deutschen Übersetzung werden die Entlehnungen aus dem Französischen größtenteils übernommen, da viele deutschsprachige Leser über Französisch- und Lateinkenntnisse verfügen und daher Grundvoraussetzungen für das Verstehen der verwendeten Wörter mitbrin- gen. Auch lässt sich die Grundfärbung des Textes, die durch die starke Präsenz fremdsprachiger Wörter entsteht, durch die Entscheidung für französische Entleh- nungen, die im Deutschen durchaus zahlreich vorhanden sind, stützen. Mit den Entlehnungen aus dem Polnischen stellt sich die Situation grundle- gend anders dar. Jablons’kas Texte wurden explizit für Leser in L‘viv geschrieben, das in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte. Somit erleichterte nicht nur die enge Verwandtschaft zwischen dem Polnischen und Ukrainischen den damaligen Lesern das Verstehen, sondern auch der intensive Sprachkontakt, von dem die ostgalizische Stadt damals geprägt war. Im Deutschen sind diese Verstehensvor- aussetzungen nicht gegeben, deswegen werden die polnischen Entlehnungen ins Deutsche übersetzt. Der Eindruck der Mehrsprachigkeit wird von dieser Über- setzung allerdings geschmälert. HAS’KA ŠYJAN Has’ka Šyjan wurde 1980 in L‘viv geboren, sie wuchs auf in den letzten Jah- ren der Sowjetunion und den ersten Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit 5 Hier wird die Interlinearübersetzung zitiert, um die Gegenüberstellung hervorzuheben. In der veröffentlichten Übersetzung sind die arabischen Einsprengsel gestrichen. Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 219 4. 12. 2023 12:36:07 220 Claudia dathe auf, die geprägt waren von einem Zusammenbruch des politischen Systems, ei- nem Verlust der materiellen Lebensgrundlage und Orientierungslosigkeit. Die Unsicherheit und der materielle Mangel bei gleichzeitiger totaler Entwertung der geistigen Arbeit, wie sie Šyjan am Beispiel ihrer Eltern nach 1991 erleben musste, veranlassten die Autorin dazu, sich auf die Schaffung eines stabilen Einkommens zu konzentrieren. Das tat sie, indem sie zunächst in einem Lehr- buchvertrieb arbeitete und später in ihrem Geschäft Halynbook mit dem Ver- kauf von Lehrbüchern für Fremdsprachen ihr Einkommen sicherte. Sie sagt dazu in einem Interview: „Ich war so pragmatisch, weil ich gesehen hatte, wie schwer es meine intelligenten Eltern in den 1990ern hatten, und ich wollte nicht dieselben Erfahrungen machen wie sie, ich wollte finanziell unabhängig sein“ (Šyjan, „Ljudyna ne zobov‘jazana pyšatysja“ 2). Die Erfahrung der Insta- bilität, Desorientierung und des Mangels in den 1990er Jahren fließt an vielen Stellen in ihre Arbeit ein, so unter anderem im Roman Hinter dem Rücken, in dem die Protagonistin Marta sich mit einem gut dotierten Job als Personalma- nagerin die finanzielle Unabhängigkeit sichert und ihre Mutter als Pflegerin nach Neapel emigriert. Šyjan teilt diese Erfahrung mit anderen Autorinnen ihrer Generation. So greift etwa Tanja Maljarčuk, Jahrgang 1983, in der Erzäh- lung „Neunprozentiger Haushaltsessig“ ähnliche Erfahrungen auf. In ihren Texten, aber auch in ihren Beiträgen in aktuellen gesellschaftlichen Debatten widmet sich Šyjan den verschiedensten Facetten von Weiblichkeit und den gesellschaftlichen Veränderungen, die sich aktuell in der Ukraine in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und Körperlichkeit vollziehen. Sie beschreibt post- sowjetische Mannweiber, junge Mütter mit gut verdienenden Ehemännern, die in die Elternzeitfalle geraten und jegliche persönliche Ambitionen begraben, Ar- beitsmigrantinnen, die in den 1990ern in ausweglosen materiellen Situationen die Ukraine verlassen und sich dauerhaft oder zeitweise in Italien, Spanien und Portugal niedergelassen haben. Sie zeigt Frauen, die ihren Körper pflegen, um bei Männern gut anzukommen und in einer wohlkalkulierten Partnerschaft materiel- le Vorteile durch körperliche Wohlgestalt zu erlangen. Und Šyjan spricht über die alltägliche Gewalt gegen Frauen, die in der ukrainischen Gesellschaft weiterhin tabuisiert ist. Ihre Schreib- und Diskussionshaltung ist dabei immer geprägt von Offenheit und Neugier, sie möchte ihr Gegenüber nicht belehren, sondern zum Nachdenken über die eigenen Positionen, zur Reflexion bewegen. Ausgangspunkt dieser Haltung ist ihr Credo der Freiheit, das Leben gemäß der eigenen Werte und Ansichten zu gestalten, eine Freiheit, die sie auch allen anderen zugesteht. Wie Sofija Jablons’ka hat auch Has’ka Šyjan nach erfolgreicher unternehmeri- scher Tätigkeit ihre Heimatstadt L’viv verlassen und zahlreiche Reisen innerhalb und außerhalb Europas unternommen. Seit einigen Jahren lebt sie in Brüssel und spricht neben Ukrainisch und Russisch auch Englisch und Französisch. Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 220 4. 12. 2023 12:36:07 221Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur ... Im Jahr 2019 wurde Has’ka Šyjan für ihren Roman Im Rücken mit dem Eu- ropäischen Literaturpreis ausgezeichnet. Der Roman zeichnet ein Porträt der gegenwärtigen ukrainischen Gesellschaft, die noch immer im Prozess der post- sowjetischen Transformation steckt und mit dem im Osten des Landes bereits seit 2014 andauernden Krieg und dessen Folgen konfrontiert ist. Im Zentrum des Romans steht Marta, eine junge Frau, gut verdienende Personalmanagerin in einem aufstrebenden IT-Unternehmen. Ihr Freund, mit dem sie zusammenlebt, meldet sich als Freiwilliger für die ukrainische Armee. Marta akzeptiert diese Entscheidung, zeigt allerdings keine rückhaltlose Unterstützung. Zwar engagiert sie sich ehrenamtlich in einem Verein, der ukrainische Soldaten und ihre Fami- lien unterstützt, möchte aber ihre persönlichen Vorstellungen von einem glück- lichen Leben nicht aufgeben und verweigert sich der bedingungslosen Hingabe ans Vaterland. Perspektiven des Krieges Der seit 2014 in der Ostukraine herrschende Krieg erfährt in Šyjans Roman eine überwiegend indirekte Darstellung. Neben Marta werden Olka und Kat- rusja, deren Männer ebenfalls an der Front sind, sowie Ella, deren Mann dort gefallen ist, als Figuren eingeführt. Anders als Marta haben die drei anderen Frauen bereits eine Familie gegründet und Kinder zur Welt gebracht. Während Marta ständig die Sinnhaftigkeit des Einsatzes für die Gemeinschaft und die Nation in Frage stellt und sich in einer emotional labilen, zumeist depressiven Stimmung befindet, werden Olka, Katrusja und Ella als zupackende Frauen beschrieben, die ihren Alltag meistern, sich nicht allzu viele Gedanken über die Opposition von Individualität und Gemeinschaft machen und nicht ständig ihr persönliches Schicksal thematisieren. Bei einem gemeinsamen gemütlichen Abend blenden sie die persönlichen Situationen aus und erzählen sich stattdes- sen Begebenheiten von Bekannten und Freunden, die sich im Kontext des Krie- ges ereignen. Šyjan setzt in diesen Szenen die Wortwahl und die Perspektive ein, die für die Kommunikation über den Krieg nach 2014 und bis zum Februar 2022 typisch war. Das Geschehen in der Ostukraine und die Ereignisse an der Front wurden zumeist vage umschrieben, typisch waren Formulierungen wie: „Als all das begonnen hat“, „als er dorthin gegangen ist.“ Man vermied konkrete Beschreibungen und Bezeichnungen der militärischen Ereignisse und der da- mit verbundenen Folgen. Das zögerliche Sprechen über den Krieg war einer- seits dem Umstand geschuldet, dass einige politische Entwicklungen zunächst unklar blieben, es keine offizielle Kriegserklärung gab und Spekulationen über Ereignisse und Konstellationen vorherrschten. Andererseits war die Ukraine Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 221 4. 12. 2023 12:36:07 222 Claudia dathe zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit einem militärischen Konflikt im eigenen Land konfrontiert, und im offiziellen Diskurs scheute man sich, die Geschehnisse als Krieg zu bezeichnen. Darüber hinaus vermieden es die Sprecher bewusst, Vokabular aus dem Zweiten Weltkrieg unreflektiert zu verwenden, da sie die Ereignisse nicht in den Kontext des Narrativs der Heroi- sierung und Überhöhung, das ab den 1960er Jahren in der Sowjetunion offiziell propagiert wurde, stellen wollten. Der Krieg im Osten der Ukraine wurde und wird als ein Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine wahrgenommen, und die Sprecher wollen die Ereignisse in einer neuen Sprache schildern, die sich jedoch erst nach und nach herausbildet. Diese Suche nach einer neuen Sprache, die sich zunächst in verhüllendem Sprechen äußert, findet sich auch in Šyjans Roman: Wir waren ziemlich schnell betrunken, und dann kamen unweigerlich die Ge- schichten hoch von denen, die gegangen und zurückgekommen waren oder auch nicht.6 Weil wir unsere eigenen Traumata unberührt lassen wollten, redeten wir nicht über unsere Männer, sondern über irgendwelche abstrakten Fälle. Einer hatte ein gutgehendes Business verloren, während er dort war. (Shyyan 131) Das vage Sprechen impliziert zugleich einen gemeinsamen Diskursraum, in dem alle über die maßgeblichen Debatten und Entwicklungen auf dem Laufenden sind, weswegen gegangen nicht mit sich als Freiwilliger gemeldet und zurückgekom- men mit Dienst bis zu Ende abgeleistet expliziert werden muss. Perspektiven der Transformation Šyjan verankert ihre Protagonistin fest in der Erfahrungswelt der 1990er Jahre. Martas Eltern, die beide in einer Schwefelfabrik in einer Kleinstadt tätig waren, werden von den Folgen der Wirtschaftstransformation erfasst und verlieren erst ihr Einkommen und dann ihre Arbeit. Symbolisch für den Verlust von Einkom- men steht im Roman die Bezahlung der Tätigkeit in Erbsdosen und Mayonnai- se-Gläsern. Dieses Symbol durchzieht den gesamten Roman und wandelt sich vom Symbol der Armut zum Symbol der Nostalgie, als Marta zu einem Zeit- punkt, als sie sich bereits ein Leben im Wohlstand erarbeitet hat, an die nach Italien emigrierte Mutter Erbsdosen als Weihnachtspaket verschickt. 6 Meine Kursivierung. Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 222 4. 12. 2023 12:36:07 223Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur ... Fremdperspektiven Šyjan nutzt unterschiedliche Verfahren, um Reflexionen zur ukrainischen Ge- sellschaft einzuflechten. Zum einen führt sie Figuren ein, die Beobachtungen aus der Außenperspektive äußern. Ein überaus markantes Beispiel ist hier die Auseinandersetzung mit der Ukraine als weißem Fleck auf der mentalen Land- karte Europas, wie sie auch bei Jablons’ka zu finden ist. Šyjans Protagonistin reist nach Paris, und an einem Verkaufsstand auf der Straße spielt sich folgende Szene ab: Der Verkäufer fragt, vielleicht um uns von dem Vorfall abzulenken, auf Eng- lisch mit einem französischen Akzent, der seine facettenreiche Herkunft verrät: „Russian?“ „No. Ukrainienne“, antwortet Katrusja mit einer viel besseren Aussprache und leicht verärgert. „Ach, das ist doch dasselbe! Oder etwa nicht?“, hören wir aus der Intonation heraus, mit der er verwirrt etwas in einer uns unverständlichen Sprache in sei- nen Bart murmelt. Nachdem mein erster, reflexartiger Wutanfall abgeklungen ist, überlege ich: Warum sollte ich auf sie wütend sein? Wenn sie sich jeden Tag aus ihren öden Vorstädten auf den Weg ins Stadtzentrum machen müssen, um Crêpes zu backen. (Shyyan 250) Šyjan ruft in diesem Dialog das weit verbreitete Stereotyp auf, die Ukraine werde immer als Teil Russlands gesehen, sei kein eigener Staat und verfüge demzu- folge auch nicht über eine eigenständige Sprache und Kultur. In dieser Passage wird es von einer migrantisch markierten Person geäußert, Marta löst jedoch die Äußerungen des Crêpes-Verkäufers aus dem politisch-nationalen Kontext heraus und verknüpft sie mit Fragen des sozialen Status der in Paris lebenden Bewoh- ner mit migrantischem Hintergrund. Anders als bei Jablons’ka kommt es nicht zu einer rechtfertigenden Gegendarstellung. Dennoch wird in dieser Passage die Adressatenorientierung spürbar, die auf ähnliche Erfahrungen der ukrainischen Leserschaft rekurriert. Es kann angenommen werden, dass sowohl Jablons’ka als auch Šyjan in ihren Texten autobiografische Erfahrungen verarbeiten. Die Tatsache, dass sie Eingang in ihre literarischen Werke finden, verweist darauf, dass für die Autorinnen das Konzept der nationalen Zugehörigkeit und die äußeren Zuschreibungen eine wichtige Rolle in ihrer literarischen Auseinandersetzung spielen. Die nationale Zugehörigkeit ist eine wichtige Facette in der Identität der Protagonisten. Sie ist kein selbstverständlicher Bestandteil, sondern ständiger Gegenstand der Verge- genwärtigung und Repräsentation. Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 223 4. 12. 2023 12:36:08 224 Claudia dathe Zum anderen werden die Beobachtungen über Martas Reflexionen und In- teraktionen, die sich in Frankreich als fremdkulturellem Umfeld ereignen, in den Text eingespeist. Das fremdkulturelle Umfeld bildet die Voraussetzung, sich ab- grenzen zu können. Wie etwa in der folgenden Szene, in der die Protagonistin beschreibt, wie sie sich auf einer Party in Paris fühlt, zu der sie eingeladen wurde: Ich merke, dass ich die Situation zu Hause endlich mal von außen betrachten kann und mich das soziale Umfeld nicht dazu zwingt, eine patriotische Haltung einzunehmen. Keiner hier erwartet von mir einen Kranz auf dem Kopf, das Vorführen von Pooledance oder das Absingen von Volksliedern. (Shyyan 259) Im Gegensatz dazu wird die ukrainische Diaspora in Paris von Marta als über- identifiziert und hochgradig unkritisch gegenüber den politischen Ereignissen im Heimatland dargestellt: Die Diaspora ist etwas sehr Spezielles. Getrennt vom wirklichen Leben in der alten Heimat, erfüllt von einer Mischung aus Heimweh und Gewissensbissen, die sich zu übermäßigem Pathos auswachsen, belastet durch den Missbrauch an Volkssymbolen. […] Die Gespräche und Fragen ringsum klangen so, als hätten wir die Ukraine nie verlassen und als bestünde das Ziel unserer Reise nicht in der psychischen Erholung der Kinder, nicht im Tapetenwechsel, nicht im Vergessen, so kurz es auch sein mochte. Ich hatte den Eindruck, als seien wir in eine Sitzung des Ministerrats, der Werchowna Rada oder des Generalstabs geraten und als wüssten alle ganz genau, was in Politik, Wirtschaft und Krieg zu unternehmen sei. Zuallererst müsste natürlich das Roschen-Schokoladenwerk in Lypez‘ ab- gefackelt werden. Alle jonglierten mit Politikernamen und redeten über ihre Handtaschen und Herkunft. (Shyyan 237) Sprache als Ausdruck von Multiperspektivität Wie Sofija Jablons’ka spricht auch Has’ka Šyjan mehrere Fremdsprachen und begibt sich in und außerhalb Europas oft auf Reisen. Diese Weltgewandtheit spiegelt sich in ihren Texten in Form einer großen sprachlichen Durchlässigkeit. Sie verwendet Anglizismen, Gallizismen oder flicht ganze Repliken auf Englisch oder Französisch ein, um die Grundstimmung von Textpassagen zu modellieren. Im Originaltext wer- den die Einsprengsel in Fußnoten übersetzt. Auf die Vertrautheit mit der anderen Sprache setzt Šyjan, wenn sie an Stellen, an denen Russisch sprechende Figuren auftreten, ins Russische wechselt. In ihrem Roman thematisiert sie so unter ande- rem die ukrainische Binnenmigration, die in Folge des Krieges im Donbass und der russländischen Annexion der Krym dazu geführt hat, das hunderttausende Ukrainer, Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 224 4. 12. 2023 12:36:08 225Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur ... deren Muttersprache überwiegend Russisch war, die Krym und die Kriegsregion im Osten verlassen mussten und nun in der Westukraine ansässig sind. Anfangs spra- chen sie zumeist schlecht oder gar nicht Ukrainisch, weswegen sie im Alltag häufig diskriminiert wurden. Bisweilen werden Sprecher des Russischen auch als zugehörig zu den Sicherheitsorganen markiert, wie in folgendem Beispiel: Цей кулгавий і лисий дід з жабоподіюним обличчям і повадками самця, вбраний у модні джинси, сипав сентенціями про дєнєшки і дєвочек, а після тетьої ромашки напівпошепки, таким вкрадливим, таємничим тоном казав: «У нас школа хорошая была, нас всему учили, и языку вашему, и песням, и пословицам, я все это так умею, не отличишь!» (Šyjan, Za spynoju 126) Dieser hinkende und glatzköpfige alte Sack mit Krötengesicht und Hengst- gebaren, der moderne Jeans trug, schwadronierte über Dewotschki und Den- eschki, Girls und Geld, und nach dem dritten Glas sagte er in halblautem, kumpelhaftem, geheimnisvollem Ton: „Unsere Schule war gut, uns haben sie alles beigebracht, eure Sprache, eure Lieder, eure Sprichwörter, ich kann alles, eins wie’s andere!“ (Shyyan 109). Šyjan verwendet hier zum einen die Wörter дєнєшки und дєвочки, russische Wörter, die in ukrainischer Orthografie geschrieben sind, zum anderen ist die wörtliche Rede der Figur in Russisch eingefügt. Mit diesem Sprachwechsel wird die Figur zugleich sozial markiert. Der „alte Sack mit Krötengesicht und Hengst- gebaren“ gehört zu jener Gruppe von Ukrainern, die zu Sowjetzeiten durch An- passung, die sich auch im Sprachwechsel vom Ukrainischen ins Russische mani- festierte, in staatlichen Stellen Kariere machten und sich so eine höhere soziale Stellung erwarben. Der ukrainische Leser entnimmt diese Information allein aus der Verwendung der russischen Sprache durch den Sprecher. Die Übersetzung versucht hier, die stilistische Markierung anzudeuten, in- dem die Wörter „Dewotschki“ und „Deneschki“ entlehnt und mit einer die Iro- nie widerspiegelnden Erläuterung versehen werden. Der Sprachwechsel aus dem Ukrainischen ins Russische lässt sich in der Übersetzung nicht nachvollziehen, da die deutschsprachigen Adressaten nicht über eine zweite präsente Sprache in diesem Raum verfügen, die eine Wirkungsäquivalenz ähnlich dem Russischen in der Ukraine hervorrufen könnte. FAZIT Sofija Jablons’ka und Has’ka Šyjan präsentieren in ihren Werken verschie- dene Aspekte der Auseinandersetzung mit kulturellen Zugehörigkeiten und Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 225 4. 12. 2023 12:36:08 226 Claudia dathe Zuschreibungen. Zentral sind bei beiden Autorinnen Reflexionen zur nationalen Zugehörigkeit, die sie aus der Konfrontation mit dem Fehlen von Wissen über die Ukraine und die ukrainische Sprache heraus anstellen. Bemerkenswert daran ist, dass die stereotypen Vorstellungen, die Jablons’ka und Šyjan schildern und ge- gen die sie anschreiben, seit Ende der 1920er Jahre nahezu unverändert geblieben sind. Die Tatsache, dass sie von beiden Autorinnen thematisiert werden, verweist nicht nur auf die bis in unsere Tage hinein anhaltende fehlende Verankerung der Ukraine und ihrer Sprache auf der mentalen Karte Europas, sondern auch auf die nationale Selbstverortung der beiden Autorinnen, die sie – trotz ihrer transkultu- rellen Biografien – bewusst vornehmen und betonen. Sofija Jablons’ka und Has’ka Šyjan erweisen sich in ihren Texten als detailge- naue Beobachterinnen. Ihre gesellschaftlichen Schilderungen zeugen nicht nur von einem großen Interesse an der Verfasstheit verschiedener gesellschaftlicher Sphären, sondern auch von einer ausgeprägten Fähigkeit zur Distanzierung und Reflexion, aus denen heraus die Beobachtungen angestellt und festgehalten wer- den. Has’ka Šyjan zeichnet ein ethnografisches, viele Bereiche erfassendes Pano- rama der ukrainischen Gesellschaft der 2010er Jahre. Sowohl für die Reisetagebücher von Sofija Jablons’ka als auch für Šyjans Ro- man ist der Einfluss der Mehrsprachigkeit kennzeichnend. Die Wechsel zwi- schen den Sprachen, die Verwendung von Entlehnungen und die Einflechtung fremdsprachiger Wörter in die ukrainischen Texte verorten die Autorinnen klar in der mehrsprachigen Tradition Ostgaliziens und formen einen anspielungs- und bezugsreichen sowie stilistisch unverwechselbaren Rezeptionsraum. LITERATURVERZEICHNIS Primärliteratur Shyyan, Haska. Hinter dem Rücken. Übersetzt von Claudia Dathe. Berlin, Edition. fotoTAPETA, 2023. Šyjan, Has’ka. Za spynoju. Charkiv, Fabula, 2019. Yablonska, Sofia. China, das Land von Reis und Opium. Übersetzt von Claudia Dathe. Köln, Kupido, 2023. Yablonska, Sofia. Der Charme von Marokko. Übersetzt von Claudia Dathe. Köln, Kupido, 2020. Sekundärliteratur Anderson, Benedict. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/New York, Campus Verlag, 1996. Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 226 4. 12. 2023 12:36:08 227Mehrsprachigkeit in der ukrainischen Literatur ... Haleta, Olena. „Instead of a Novel. Sophia Yablonska’s Travellogues in the Histo- ry of Modern Ukrainian Literature.“ Aspasia, Jg. 14, 2020, S. 78-103. Jablons’ka, Sofija. Čar Maroka. Kyjiv, Rodovid, 2018. Kafka, Franz. Tagebücher 1909-1923. Frankfurt/Main, S. Fischer, 1997. Schahadat, Schamma und Annette Werberger (Hrsg.). Weltliteratur in der longue durée. Paderborn, Wilhelm Fink Verlag, 2021. Šyjan, Has’ka. „Ljudyna ne zobov‘jazana pyšatysja tym, ščo jij dano za defol’tom – jak misce narodžennja.“ Pen Ukraine, 24. Oktober 2019. Erhältlich un- ter: https://pen.org.ua/gaska-shyyan-lyudyna-ne-zobov-yazana-pyshaty- sya-tym-shho-dano-yij-za-defoltom-yak-mistse-narodzhennya (Zugriffsda- tum: 27.7.2023). Vogel, Debora. Die Geometrie des Verzichts. Gedichte, Montagen, Essays, Briefe. Wuppertal, Arco, 2016. Werberger, Annette. „Polyglottes Erbe. Mehrsprachigkeit in Geschichte und Lit- eratur der Ukraine.“ Osteuropa, Nr. 6-8 (2022), S. 41-51. Werberger, Annette. „Überlegungen zu einer Literaturgeschichte als Verflech- tungsgeschichte.“ Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität, hrsg. von Dorothee Kimmich und Schamma Schahadat, Bielefeld, transcript, 2012, S. 109-141. Werner, Klaus. Erfahrungsgeschichte und Zeugenschaft. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur aus Galizien und der Bukowina. München, IKGS Verlag, 2003. Claudia Dathe Europa-Universität Viadrina dathe@europa-uni.de Večjezičnost v ukrajinski književnosti na primeru avtoric Sofije Jablonske in Haske Šijan Izhajajoč iz nekaterih temeljnih premislekov o strukturi manj prisotnih, tako imenovanih „malih književnosti“ (Kafka), se članek ukvarja s pojavnimi, predstavnimi in refleksivnimi oblikami kulturne in nacionalne pripadnosti ter z večjezičnostjo v ukrajinski književnosti. Ukrajinski avtorici Sofija Jablonska in Haska Šijan v svojih avtobiografskih in fiktivnih besedilih raziskujeta vplive in predstave lastne in drugih kultur ter se ukvarjata z družbe- nimi opažanji in koncepti skupnosti, ki nastanejo na podlagi transkulturnih izkušenj. Za obe pisateljici je značilno, da sta ju zaznamovala večjezični prostor Galicije ter življenje v različnih kulturnih in nacionalnih prostorih. Prispevek na podlagi dveh potopisov, Čar Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 227 4. 12. 2023 12:36:08 228 Claudia dathe Maroka in Kitajska, dežela riža in opija, izpod peresa Sofije Jablonske, ter romana Za hrbtom Haske Šijan prikazuje različne perspektive in refleksije, ki se porajajo bralcu v ciljni kulturi, ter na podlagi prevodov v nemščino tematizira zorni kot naslovnika. Iz tega izhajajo različni pristopi k razumevanju in recepciji del Sofije Jablonske in Haske Šijan pri ciljnih bralcih, torej v drugih jezikovnih in kulturnih prostorih. Ključne besede: ukrajinska književnost, večjezičnost, prevajanje, kulturna pripadnost, transkulturne biografije Acta_Neophilologica_2023_FINAL.indd 228 4. 12. 2023 12:36:08